Delfine mit Höckern

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Brandenburg - Delfine mit Höckern - BIZ - Printarchiv - Berliner Morgenpost
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BRANDENBURG
Delfine mit Höckern
Sonntag, 24. August 2008 03:15 - Von Uta Keseling
Katharina hat weiche Lippen mit einem zarten, blonden Flaum und warme, dunkelbraune Augen unter langen Wimpern.
Sie ist gut zwei Meter groß, hat einen Kugelbauch, dürre Beine und riesige Füße, etwa Schuhgröße 150. Eine Schönheit.
"Weiße Kamele gelten als die schönsten", sagt Gabriele Heidicke (43) und schiebt das mahlende Tier ein wenig beiseite.
Katharina spuckt abfällig. Sie hat noch nicht aufgegessen.
*
Kamele gelten als sehr geduldig, folgsam, freundlich, einfach zu reiten - allerdings auch als ziemlich verfressen. "In ihrer Heimat,
den Wüsten der Mongolei, Kasachstans oder Chinas gibt es oft wochenlang kein Futter", sagt Gabriele Heidicke. Das ist hier, auf
ihrem Kamelhof in Nassenheide bei Oranienburg, glücklicherweise anders. Mit Katharina wühlen sechs andere kugelbäuchige
Trampeltiere im Heuhaufen. Bis auf Katharina aus Kasachstan sind alle in Deutschland geboren. Drei der Kamelstuten erwarten
gerade wieder Nachwuchs - im kommenden März soll es soweit sein.
Auf der anderen Seite des Gatters haben sich Menschen versammelt, ein älteres Ehepaar, eine Frau Mitte 40, ein junger
Bankangestellter. Einige streichen vorsichtig über strubbelige Kamelfrisuren, bewundern die gespaltenen Lippen, mit denen die
Tiere auch die letzten Hälmchen vom Boden greifen. Kamelreiten, das klingt nach einer exotischen Spaß-Idee adrenalinsüchtiger
Großstädter, die Hochhäuser erklimmen, sich von Brücken fallen lassen oder zum Schrei-Seminar in den Wald fahren, um sich
selbst zu finden.
In der Tat sind gestresste Manager ein Teil der Kundschaft, die Gabriele Heidicke seit zwei Jahren auf ihren Hof zum Kamelreiten
empfängt. Nur etwa fünf Kamelhöfe gibt es in Deutschland, Kamelzucht ist möglicherweise eine Zukunftsbranche. "Bisher gibt es
über für Kamelhaltung weder deutsche Fachliteratur noch spezielle Ärzte", sagt Gabriele Heidicke. Und auch das Reiten auf den
Höckertieren werde gerade neu entdeckt, sagt sie. "Die wenigsten Menschen wissen, wie sehr es entspannt, auf einem Kamel
durch die Gegend zu schaukeln."
Doch um so großes Tier zu reiten, sein Fell zu striegeln, ihm einen Apfelschnitz zwischen die Samtlippen zu schieben, muss wohl
vor allem das Bedürfnis mitbringen, noch einmal Kind zu sein. Vielleicht auch eine gewisse Melancholie, einen Schmerz, der
Linderung sucht. Auch wenn man das vorher noch gar nicht weiß.
An diesem Sonntagmorgen kommen Herr und Frau Bergner aus Marzahn, die einmal im Jahr etwas Verrücktes tun. Eine
Ballonfahrt, eine Reise nach Paris, eine Fahrt auf einem vierrädrigen Motorrad. Diesmal sollen es die Kamele sein. Der Tag, den
sie so begehen, ist ihr Hochzeitstag, und es ist Herr Bergner, der jeweils die Überraschung auswählt. Das erzählt sie mit etwas
gequälter Miene, während er stolz tönt: "Meine Tochter ist in Ägypten im Urlaub mit 'nem Kamel jeritten, seitdem jibt'se an wie
Bolle. Da ha'ck mir jedacht, det kann ick ooch."
Eine Helferin zeigt Frau Bergner die zierliche Suleika. "Ein sehr welterfahrenes Kamel", betont die Helferin. Frau Bergner schaut
trotzdem skeptisch, als das Tier sich auf Sofahöhe vor ihr hinkniet. Zusammenfaltet, muss man wohl eher sagen. Kamele haben
Kugelgelenke und einen zusätzlichen Knochen, die ihnen diese seltsame Hockstellung erlauben. Tagelang können sie so
ausharren. In der Wüste, im Sturm, bei Kälte. Kamele sind Extreme gewöhnt. Berliner eher nicht. Vielleicht war der Kamelritt als
Überraschung für seine Frau doch keine so gute Idee, überlegt Herr Bergner, während er auf Aladin klettert, das größte Kamel der
Herde.
Später, als die Kamele aneinander gebunden durch die Wiesen von Nassenheide traben, wird auch Herr Bergner etwas leiser.
Vielleicht, weil die weite Auenlandschaft plötzlich so viel größer erscheint als er, der Himmel so viel höher als selbst der Rücken
des stolzesten Kamels. Die Tiere schreiten im Passgang, zwei rechts, zwei links, die Großstädter oben schaukeln leise mit und
formulieren Worte wie "Schlüsselblume" oder Kumuluswolke", die irgendwo aus dem Unterbewussten auftauchen. Hände streichen
über warme, haarige Höcker. Die Stadt rückt weiter und weiter in die Ferne, bis sie sich auf ein Rauschen reduziert, das die zweite
Karawane von Nassenheide verursacht: die Blechlawine auf der B 96, die sich Stoßstange an Stoßstange von Berlin gen Ostsee
schiebt.
Die Kamele dagegen sind leise. "Trampeltiere" werden die zweihöckrigen Kamele genannt, die in der freien Wildbahn fast
ausgestorben sind. Eigentlich ein gemeines Wort für die bis zu 700 Kilo schweren Wesen, denn ihre gewaltigen Füße bestehen
aus weichen Polstern, die sie vorsichtig auf den Boden setzen. "Trampeln tun sie nur, wenn sie Schlangen oder Skorpione
vermuten", sagt die Kamelführerin. Zwar sind Kamele im Gegensatz zu Pferden keine Fluchttiere. Doch die Panik anderer Tiere
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kann auch sie irritieren. Im Wald bittet Frau Heidicke deshalb um laute Gespräche, "damit das Wild im Gebüsch bleibt". Doch nur
ein Vogel singt. Die Großstädter schweigen entrückt.
Am Nachmittag werden manche von ihnen immer noch an den Tischen des Fleckschnupphofes sitzen, zwischen herumpickenden
Hühnern, dem fetten Minischwein F6 und einer vielköpfigen Meerschweinchenfamilie. Sie werden warme Eierkuchen essen oder
Bockwurst und immer noch ein wenig schaukeln, zumindest innerlich.
Katharina, das Kamel, hat noch eine zweite Verabredung. Monika Siegert, 49 Jahre alt, kommt aus Wedding mit ihrem Mann Ingo
und im Rollstuhl. Ein Schlaganfall hat sie halbseitig gelähmt. "Das war am 13. Januar 2002", das Datum hat Frau Siegert präsent
wie den Geburts- oder Todestag eines nahen Verwandten, und vielleicht ist es auch so. An jenem Sonntagmorgen hörte die
Friseurin Monika Siegert auf zu existieren, der Sprache beraubt am Boden liegend im Bad, nach 28 Jahren im Beruf. Sie sagt:
"Wenn Ingo mich nicht gefunden hätte, wäre ich tot." Er senkt den Blick auf die kleine Digitalkamera in seinen Händen. Die Frau,
die er heute fotografieren will, ist eine andere als damals. "Ich würde mich das nicht trauen, obwohl ich gar nicht behindert bin",
sagt er bewundernd, als sie, von ihrer Physiotherapeutin und einem Stock gestützt, Richtung Kamel humpelt.
Es gibt Hippotherapie für Schlaganfallpatienten, autistische Kinder schwimmen mit Delfinen, Alzheimerkranke profitieren von
Kaninchen. Die Berliner Physiotherapeutin Jacqueline Majumder hat das Kamelreiten für ihre Schlaganfall- und MS-Patienten
entdeckt. "Schon nach zehn Minuten Reiten erreiche ich mit ihnen einen Effekt wie sonst nach drei Therapiesitzungen, dazu
kommt die seelische Wirkung." Frau Siegert ist bereits zum zweiten Mal da. Drei Personen assistieren ihr beim Aufsitzen. Kamel
Katharina steht auf. Erst die Hinterbeine, dann vorn, was selbst gesunde Menschen irritiert. Für jemanden, der schon beim Laufen
kaum die Balance halten kann, ist es ein schwieriger Moment. "Auf einem Kamel sitzen die Patienten aber viel sicherer eingebettet
als auf einem Pferd", erklärt Jacqueline Majumder, als Katharina lostrabt.
Monika Siegert legt nach Anweisung ihre Arme auf den Höcker, wiegt mit dem Oberkörper im Takt, streicht mit den Händen übers
Fell. Nach zehn Minuten lässt ihre Kraft nach. Frau Siegert hat von der Auenlandschaft nicht viel gesehen, auch nicht die
Regenwolken, die sich über ihr zusammenballen. Ihr Gehirn hat stattdessen unschätzbare Informationen wiedergefunden. Etwa,
wie der Körper beidseitig bewegt, was durch die Gangbewegung des Tiers stimuliert wird. Oder die Körpermitte: Die Orientierung
am Höcker hilft, wieder ein Gefühl für sie zu bekommen. Die verkürzten Muskeln haben sich entspannt, die Spastiken sind gelöst.
Monika Siegert macht sich auf den Weg zurück zum Rollstuhl, erschöpft, erleichtert, stolz. Ihr Stock lehnt arbeitslos am Zaun. Ihr
Mann knipst noch ein Bild mit der Kamera, und im Kopf entwirft er ein weiteres: Sie beide, in einem kleinen Häuschen im Grünen,
und nahebei die Kamele... "Vielleicht, wenn ich mal in Rente bin", er seufzt. Er ist Maurer. "Da ist nicht mal an Sommerurlaub zu
denken".
Monika Siegert wird noch Tage nach dem Ausritt begeistert erzählen, wie sehr der Schmerz in den verkrampften Gliedern seitdem
nachgelassen hat. "Ich kann allein durch die Wohnung laufen, gerade putze ich meine Schuhe" - Kleinigkeiten, deren Wert kaum
zu ermessen ist. Drei Jahre hat es sie allein gekostet, wieder sprechen zu lernen. "Man hat mir prophezeit, ich würde nie mehr
laufen können", sagt sie. Ihre Zweifel daran sind deutlich zu hören. Sie sind neu. Jacqueline Majumder, die ihre Patientin schon
seit Jahren betreut, erinnert sich an eine mutlose Frau, die sie heute nicht wieder erkennt. Sie schwärmt: "Kamele sind ein
bisschen wie Delfine mit Höckern".
Wer zum Kamelreiten auf den Fleckschnupphof kommen möchte, sollte sich anmelden. Die Therapiestunden werden nicht von der
Kasse bezahlt, sie kosten 115 Euro - für 40 Minuten Reiten plus Vorbereitung. Zweimal die Woche ist auch zum Tieregucken
geöffnet. Die restliche Zeit bleiben die Bewohner unter sich. Zwar sei das Ausreiten auch für die Kamele "Wellness", sagt Frau
Heidicke, "von sich aus bewegen die sich ja nicht, denn als Wüstentiere sind sie absolute Energiesparer."
Aber Mensch und Tier brauchen auch Ruhe. Neben den Kamelen leben auf dem Fleckschnupphof Schweine, Ziegen, Schafe,
Hund Ida und das gepunktete Pferd Theodor, das aussieht wie der "Kleine Onkel" aus "Pippi Langstrumpf" und dem der Hof seinen
lustigen Namen verdankt. Eigentlich haben sie diese Rasse, die Knappstrupper, züchten wollen, sagt Gabriele Heidicke, die von
Beruf Gebrauchsgrafikerin ist. Als sie vor acht Jahren mit ihrem Mann, einem Architekten, aus Berlin-Kaulsdorf nach Nassenheide
zog, kamen die Kamele dazu. "Sie waren ein Kindheitstraum meines Mannes", sagt Gabriele Heidecke. Ihr Mann ist im
vergangenen Jahr gestorben. "Aber die Kamele waren da längst auch meine Tiere", sagt sie und legt die Hände auf zwei
neugierige Nasen. Die Kamele lassen entspannt die Unterlippen hängen, so dass es fast aussieht, als ob sie lächeln.
Die österreichische Dichterin Friederike Mayröcker hat dem Kamel einen Gedichtband gewidmet, "Notizen auf einem Kamel". Aber
darin geht es gar nicht um Kamele. Sondern um den Menschen, der auf dem Kamelrücken schaukelnd zu sich selbst findet: "Was
brauchst du - einen Baum, ein Haus zu ermessen wie groß wie klein ein Leben als Mensch ..."
Fleckschnupphof, Am Dorfanger 12, 16775 Löwenberger Land, OT Nassenheide. Geöffnet: Mi., 10-13 Uhr und So., 15-18 Uhr.
Geführter Kamelritt, eine Stunde: 49 Euro pro Person, Tel. 0177/ 301 95 30; www.fleckschnupphof.de ; www.therapeutischeskamelreiten.de
Kamele können Extreme ab, Berliner eher nicht
Das Ausreiten ist Wellness - auch für die Kamele
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