Bauschke_Weltethos 2010 - RPI

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Hans Küng und das Projekt Weltethos
— Dr. Martin Bauschke, Stiftung Weltethos, Berlin —
„Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.“ Dies sind die berühmten Eingangszeilen eines Buches von Hans Küng. Es gibt wohl
kaum ein Buch eines deutschsprachigen christlichen Theologen, das weltweit so schnell rezipiert und
in kürzester Zeit in so viele Sprachen übersetzt worden ist wie sein Buch von 1990 mit dem Titel: „Projekt Weltethos“. Daraus stammen die zitierten Worte – es sind die ersten drei Sätze, die den programmatischen, aufrüttelnden Charakter des ganzes Buches ankündigen.
Die Frage ist: welcher Dialog der Religionen ist für den Weltfrieden unverzichtbar? Was für eine Art
von Dialog soll zwischen religiösen Menschen geführt werden, wenn er denn ihrer aller friedensstiftendes Potential entbinden soll? Die doppelte Antwort lautet: Erstens, es darf dies kein dogmatischer,
weltanschaulicher Dialog sein („Was halten wir für wahr? Was glauben wir?“), sondern muß primär ein
ethischer Dialog sein: „Was können wir tun? Was sind die Maßstäbe unseres Handelns?“ Und zweitens: der Dialog sollte bei den Gemeinsamkeiten anfangen und die Unterschiede zurückstellen.
Diese Strategie, die genau umgekehrt vorgeht wie fundamentalistische Kultur- und Religionskampfszenarien, bestimmt das Selbstverständnis der „Erklärung zum Weltethos“. Sie wurde 1993 beim 2.
Weltparlament der Religionen in Chicago verabschiedet. Rund 7.000 VertreterInnen von 250 Religionen und religiösen Gruppen nahmen an der einwöchigen Versammlung teil. Am letzten Tag verabschiedete das Parlament die „Erklärung zum Weltethos“. Der erste Unterzeichner war nicht Hans
Küng, sondern der Dalai Lama. Unsere Weltgesellschaft ist dann zivilisiert, wenn sie über elementare
gemeinsame ethische Standards verfügt, die in den Köpfen und Herzen aller Menschen verankert
sind, gleich welcher Kultur, Religion, Hautfarbe oder Herkunft sie sind. Wie kann das gehen? Ein Kanon gemeinsamer Werte und Normen aller Menschen – ist das möglich?
Das griechische Wort „Ethos“ heißt „Haus“, im Plural auch Sitten, Normen, Wertmaßstäbe im Umgang
miteinander. Die Weltethos-Erklärung ist kein fertiges System, keine Weltethik und also auch kein Ersatz für die vorhandene Ethik der Bergpredigt, der Bhagavadgita oder des Korans. Es geht vielmehr
darum, Konvergenzen aufzuzeigen hinsichtlich zentraler ethischer Grundüberzeugungen – eine
Art moralischer Kern, der unsere Welt im Innersten zusammenhält. Bildlich gesprochen: Weltethos ist
die „Hausordnung“, sind die Spielregeln, die im „globalen Dorf“ gelten sollen. Entscheidend ist dabei:
die Erklärung formuliert diese ethischen Standards so, daß sie nicht auf eine religiöse Überzeugung
festlegt. Sie legt überhaupt nicht auf Religion fest. Das Wort „Gott” kommt nicht darin vor. Denn es
geht nicht darum, für eine bestimmte Religion zu werben oder gar für die Vereinigung aller Religionen
zu einer Einheitsreligion. Weltethos ist keine neue Religion, kein Moralgesetz, sondern eine freiwillige
Selbstverpflichtung möglichst vieler Menschen, auch solcher, die sich als Atheisten und Agnostiker
bezeichnen. Weltethos zielt auf eine Koalition von Glaubenden und Nichtglaubenden, sonst wäre es kein Ethos für alle. Bei Weltethos geht es nicht um weltanschauliche Wahrheitsfragen, nicht
um das, was wir glauben, sondern um gemeinsame Maßstäbe des Handelns als Basis für den Dialog
der Kulturen und als alternative Strategie zu Fanatismus und Krieg „im Namen Gottes“.
Die Erklärung will nicht ethisch „das Rad neu erfinden“, sondern sie macht nur bewußt, was den Kulturen und ethischen Traditionen im Kern längst bekannt und gemeinsam ist. Die Werte, welche die
Weltethos-Erklärung benennt, sind schon längst da. Neu ist ihre globale Geltung im Zeitalter der
Globalisierung. Wie soll das möglich sein? Wie können sich Vertreter ganz unterschiedlicher Traditionen auf gemeinsame Grund-Sätze einlassen, ohne ihre eigenen Überzeugungen zu verraten?
Es bedurfte einer unvorstellbaren Tragödie – ich meine den Zweiten Weltkrieg und insbesondere die
Shoa –, um die Menschheit zur Besinnung zu bringen. Um diese rivalisierenden, diese „mörderischen Identitäten“ – wie das Amin Maalouf in seinem wunderbaren gleichnamigen Essay ausgedrückt hat (2000) – durch eine gemeinsame Grundidentität zu ersetzen. Um endlich zu bekennen: wir
sind nicht in erster Linie Schwarze oder Weiße, Arme oder Reiche, Arier oder Nichtarier, Christen oder
Muslime, Deutsche oder Franzosen, Freunde oder Feinde, Inländer oder Ausländer. Sondern wir sind
in erster Linie und wir sind allesamt – Menschen. Der erste Leitwert der Weltethos-Erklärung ist das
Prinzip der Humanität im Sinne von Menschenwürde und Menschenrechten, wie sie in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 definiert wurden: „Jeder Mensch soll nicht barbarisch, sondern menschlich behandelt werden“ – weil er und sie als Mensch in seiner Würde unantastbar ist. Andere Identitätszuschreibungen, wie sie genannt wurden und von den Kulturkämpfern stets
an die erste Stelle gesetzt werden, sind hintanzustellen.
Das Problem freilich ist: allein Rechte zu haben oder zu beanspruchen, nützt mir wenig, solange es
keine Mitmenschen gibt, die meinen Anspruch auf eine menschliche Behandlung ernstnehmen und
als Verpflichtung für sich akzeptieren, mich auch tatsächlich human zu behandeln und mir nicht den
Schädel einzuschlagen. Darin besteht die Einseitigkeit der Menschenrechtserklärung, die in Artikel 29
auch eingestanden wird: es müsse eigentlich auch mit den zuvor benannten Rechten korrespondierende Verantwortlichkeiten geben. Doch die werden nicht benannt. Da kommt die Weltethos-Erklärung
ins Spiel. Sie setzt beim Humanitätsprinzip von 1948 ausdrücklich an, geht aber einen Schritt weiter.
Und wieder zeigt sich: es gibt kultur- und religionsübergreifend auch bei diesem zweiten Leitwert der
Reziprozität eine unerwartete Konvergenz. Ich meine die Goldene Regel. Ich habe ihr mein neues
Buch mit dem Titel „Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln“ (Okt. 2010) gewidmet. Die
Regel ist weltweit in zahllosen Varianten anzutreffen, und zwar auf drei Ebenen: 1. im Sprichwortschatz und Alltagsleben der Völker, 2. in ethisch-philosophischen Texten, und 3. in den Heiligen
Schriften und Traditionen der Religionen. Nicht nur in Deutschland, wie ich früher glaubte, sondern
weltweit findet sich das Sprichwort: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern
zu!“ Dafür gibt es im Alltag viele Beispiele. In den ICE-Zügen der deutschen Bahn finden Sie z.B. auf
der Zugtoilette ein Schildchen, auf dem in vier verschiedenen Sprachen zu lesen ist: „Bitte verlassen
Sie diesen Ort so, wie Sie ihn antreffen möchten.“ Das ist Goldene Regel konkret! Der Verhaltenscodex des Internet-Auktionshauses eBay (2006) hält fest: „Wir ermutigen Sie, andere so zu behandeln,
wie Sie selbst behandelt werden möchten.“ Ich übergehe den Bereich der Philosophie und weise noch
auf ein paar Varianten der Goldenen Regel in den Religionen hin, die sie auch in unserer Ausstellung
finden:
„Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an.“ (Konfuzius)
„Tue nicht anderen, was du nicht willst, daß sie dir tun.“ (Rabbi Hillel)
„Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen ebenso.“ (Jesus)
„Niemand von euch ist ein gläubiger Mensch, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er
sich selber wünscht.“ (Muhammad)
Die Goldene Regel ist der Eckpfeiler unseres moralischen Weltkulturerbes, das es zu bewahren, in
der Erziehung weiterzugeben und persönlich zu leben gilt. Wir dürfen sie nur auf eigene Gefahr hin
ausblenden. Aus diesen beiden Prinzipien eines Menschheitsethos – Humanität und Reziprozität
(Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit) – werden eine Reihe von Weisungen oder Selbstverpflichtungen, abgeleitet. Es sind im Grunde uralte Tabus, die es seit Menschengedenken überall auf der Welt
gegeben hat. Ohne sie ist ein Zusammenleben im Großen wie im Kleinen unmöglich.
(1) Die erste Weisung lautet: sich zu verpflichten auf Gewaltlosigkeit und die Ehrfurcht vor allem
Leben. Dahinter steht das uralte Gebot: „Du sollst nicht töten! Oder positiv: Habe Ehrfurcht vor allem
Leben!“ Was Naturvölker und die asiatischen Kulturen nie vergessen haben, wird uns im Westen erst
angesichts des gefährlichen Klimawandels wieder bewußt: die Vernetzung allen Lebens auf dieser
Erde. Entsprechend diesem vernetzten Denken formuliert die Weltethos-Erklärung: „Wir alle sind in
diesem Kosmos miteinander verflochten und voneinander abhängig. Jeder von uns hängt ab vom
Wohl des Ganzen. Deshalb gilt: Nicht die Herrschaft des Menschen über Natur und Kosmos ist zu
propagieren, sondern die Gemeinschaft mit Natur und Kosmos zu kultivieren.“
Vernetztes Denken geht von der Einsicht aus: in der einen Welt hängt alles mit allem zusammen.
Globalisierung kommt vom lat. globus (Kugel), meint also wörtlich Verkugelung. Das heißt so viel wie
„Wechselwirkung“ oder „Rückkoppelung“: was auch immer wir tun, fällt auf uns selber zurück, im Guten wie im Bösen. Die Folgen unseres Handelns sind nicht linear, sondern „rund“ und kehren zu uns
zurück. Die Goldene Regel wird zur ethischen Pointe der Globalisierung. Nachbarschaftshilfe
bzw. Gemeinwohlorientierung und Eigeninteresse schließen sich nicht notwendig aus. Denn langfristig
tut das, was ich dem anderen zugute kommen lasse, auch mir selber gut. Und was wir dem anderen
oder auch der Natur zufügen, das fügen wir uns letztlich selber zu. Deshalb formulieren die Naturvölker die Goldene Regel folgendermaßen: „Wir sind in dem Maße lebendig, wie wir die Erde lebendig
halten“ (Chief Dan George).
(2) Der zweite Imperativ lautet: „Du sollst nicht stehlen! Oder positiv: Handle gerecht und fair!“ Hier
geht es darum, sich zu verpflichten auf Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. Ohne
Gerechtigkeit zwischen Armen und Reichen, ohne eine faire Globalisierung wird es keinen wirklichen,
dauerhaften Frieden geben.
(3) Die dritte Weisung lautet: sich zu verpflichten auf Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. Dahinter steht das uralte Tabu: nicht zu lügen „oder positiv: Rede und handle wahrhaftig!“ Diese Wei-
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sung zielt auf die Massenmedien, auf Kunst, Literatur und Wissenschaft, auf die Politiker wie auch auf
die Repräsentanten der Religionen.
(4) Die vierte Selbstverpflichtung zielt auf die Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann
und Frau. Dahinter steht das Tabu: „Du sollst die Sexualität nicht mißbrauchen! Oder positiv: Achtet
und liebet einander!“
Daß das Weltethos schon vorhanden und bekannt sei, damit können wir uns natürlich nicht zufrieden
geben. Wir müssen es einsetzen und umsetzen. Das globale Projekt Weltethos muß allerorts konkretisiert werden, z.B. als Unternehmensethos oder als Schulethos. Dabei gilt, wie die WeltethosErklärung sagt: „Auf der Ebene der Nationen und Religionen kann nur praktiziert werden, was auf der
Ebene der persönlichen und familiären Beziehungen bereits gelebt wird.“ – Oder, etwas lapidarer mit
Erich Kästner formuliert: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.” Weltethos fängt nicht in Chicago
beim Religionenparlament oder bei der UNO in New York an, sondern bei mir, bei dir, bei jedem Einzelnen. Wir selber müssen den Anfang machen und mit gutem Beispiel vorangehen. Oder mit den
Worten Gandhis: „Du mußt die Veränderung sein, die du in der Welt sehen möchtest.”
Skeptiker mögen sagen: das ist schön und gut, hat aber keine Aussicht auf Erfolg! Diese Skepsis ist ja
uralt. Schon Mose am Berg Sinai, die beiden Tafeln mit den 10 Geboten zerschmetternd, hat sie gekannt. Oder die Visionäre, die 1948 gegen viel Widerstand die Menschenrechtserklärung bei der UNO
durchgefochten haben. Sollen wir auf derlei Errungenschaften der Ethik verzichten, nur weil sie oft
genug mißachtet werden? Das wäre zynisch und hieße, die Welt sich selbst – also den Starken, den
Mächtigen, den Egoisten, den Reichen, den Kriegstreibern – zu überlassen. Mehr denn je brauchen
wir heute die drei Vs: Visionäre, Vordenker, Vorbilder, die aller Skepsis zum Trotz ihren Weg gehen und die Völker, die Religionen, die Schulen, die Gemeinden nach sich ziehen. Ein weltethischer
Visionär ist z.B. Jakob von Uexküll. Er gründete 1980 eine Stiftung für den alternativen Nobelpreis.
Die Devise Uexkülls, mit der ich schließe, könnte so auch Hans Küng gesagt haben: „Es gibt zu viele
Möglichkeiten, als dass man Pessimist sein kann. Es gibt natürlich auch allzu viele Krisen, als dass
man einfach Optimist sein kann. Ich sage immer, ich bin Possibilist – ich sehe die Möglichkeiten.“
Tg-Weltmythos/Bauschke_Weltethos 2010
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