Nachstehend der Text eines am 23

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Nachstehend der Text eines am 23. August 2005 gehaltenen Vortrags. Die russischen Namen werden in
englischer Transkription wiedergegeben, weil das Manuskript ins Englische übersetzt werden sollte.
Dr.Gerhard Wettig
The Hitler - Stalin Pact in the Light of Historical Evidence and Portrayal
Договор Гитлер – Сталин как предмет истории и историографии
Das Zusammengehen der beiden Diktatoren und seine weltgeschichtlichen Folgen
Die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt schlug in der internationalen Öffentlichkeit ein wie eine
Bombe. Zwar bezog die UdSSR mit dem Nichtangriffsvertrag nach Moskauer Lesart eine
neutrale Position zwischen dem Deutschen Reich und den westeuropäischen Staaten
Großbritannien (Britain) und Frankreich, doch war jedem politisch Denkenden klar, dass eine
sehr weitreichende Vereinbarung mit einseitiger Ausrichtung worden war. Das entsprach
sowjetischer Absicht, wie die interne Rede von der "Neutralität besonderer Art" 1 erkennen
lässt. Stalin gab Hitler den Weg frei zum Angriff auf Polen und erteilte London und Paris eine
Absage, die mit seiner Regierung über den Aufbau einer Abwehrfront verhandelt hatten. Es
war anzunehmen, dass er für diese Unterstützung der Aggressionspolitik einen Preis gefordert
und erhalten hatte. Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs konnten sich
ausrechnen, worin dieser bestand: Ihre Weigerung, der Roten Armee den Zugang zu
ostmitteleuropäischen Ländern wie namentlich den baltischen Staaten zu gestatten, ohne dass
deren Einverständnis und irgendein Erfordernis vorlag, hatte die Einigung mit der UdSSR
verhindert.
Der Hitler-Stalin-Pakt veränderte die internationalen Verhältnisse von Grund auf:
• Erstens war das britisch-französische Bemühen um Konterung des deutschen
Expansionsstrebens gescheitert. Stalin hatte das Deutsche Reich und die beiden
westeuropäischen Staaten mit Erfolg gegeneinander ausgespielt und von Hitler erhalten,
was ihm die andere Seite nicht zu geben bereit war.
• Zweitens öffnete Stalin Hitler den Weg zum Krieg gegen Polen und dessen
westeuropäische Schutzmächte, indem er ihm die Sorge vor einem Zwei-Fronten-Krieg
nahm. Dieser war aufgrund der Erfahrung im Ersten Weltkrieg für die deutsche Seite ein
Alptraum. Niemals wieder sollte sich eine derartige militärische Situation wiederholen. Da
Hitler und die deutsche Militärführung darin übereinstimmten, dass Polen rasch
niederzuwerfen sein werde, war die Gefahr gebannt, als sich die UdSSR zu kriegerischer
Abstinenz verpflichtete.
• Drittens hatte die Sowjetunion seit dem Scheitern ihrer Bemühungen Anfang der
zwanziger Jahre keine Möglichkeit mehr gehabt, ihre Macht und ihr System auszudehnen.
Sie sah sich von kapitalistischen Staaten umgeben, die sich mittlerweile so weit
konsolidiert hatten, dass sie etwaigen Expansionsversuchen überlegenen Widerstand
entgegensetzen konnten. Mit der Parole des "Sozialismus in einem Lande" hatte Stalin
daraus die Konsequenz gezogen. Demnach herrschte bis auf weiteres "revolutionäre Ebbe".
Nunmehr kehrte die "revolutionäre Flut" kehrte zurück; das sowjetische Eingedämmtsein
1
A.N. Sakharov, Rossiia: Narod. Praviteli. Tsivilizatsiia, Moskau 2004, S. 366-367.
war beendet. Stalin hatte erreicht, was er seit langem erhofft hatte: Die
"zwischenimperialistischen (mezhimperialisticheskie) Widersprüche", das heisst die
Konflikte zwischen den zu Imperialisten erklärten kapitalistischen Mächten, gingen in das
Stadium des Krieges über. Der Erste Weltkrieg hatte dem Sozialismus in Russland zum
Durchbruch verholfen; mit Hilfe eines zweiten großen Krieges würde der Sozialismus
endgültig den Sieg erringen. In seinem Verlauf würden sich die auswärtigen Staaten
gegenseitig so weit schwächen, dass die Sowjetunion den Streit mit überlegener Macht
entscheiden konnte. 2
• Viertens geriet Ostmitteleuropa einschließlich Finnlands in den Zangengriff der
expansionistischen Großmächte westlich und östlich der Region. Aufgrund der
geographischen Verhältnisse und der durch die Maginotlinie bestimmten
Verteidigungsstrategie konnten Großbritannien und Frankreich Polen keinen wirksamen
Beistand leisten. Die baltischen Länder, Finnland und Rumänien hatten nicht einmal
politische Unterstützung zu erwarten, wenn der beginnende Krieg mit dem Deutschen
Reich die beiden westeuropäischen Staaten voll in Anspruch nahm. Die baltischen Länder
standen der neuen Lage angesichts ihrer besonders geringen Bevölkerung und der
fehlenden strategischen Tiefe noch wehrloser gegenüber als die anderen Länder.
• Fünftens stiftete der Hitler-Stalin-Pakt Verwirrung unter den Anhängern beider Diktatoren.
Hitler hatte sein Regime weithin mit der Mission des "Kampfes gegen den
Bolschewismus"
gerechtfertigt,
während
Stalin
nach
Abbruch
des
Kooperationsverhältnisses durch Deutschland seine Politik seit 1935 unter die Parole des
"Kampfes gegen den [deutschen] Faschismus" gestellt und damit in der kommunistischen
Bewegung (die sich nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt sah) begeisterte
Zustimmung gefunden hatte. Wie sehr Stalin seine Anhänger vor den Kopf stiess, ist den
Erinnerungen von Wolfgang Leonhard, damals ein 18jähriger Kommunist im sowjetischen
Exil, zu entnhmen. 3 Die Moskauer Kominternführung, die sonst stets mit dem
bedingungslosen Gehorsam der auswärtigen Parteien rechnen konnte, brauchte längere
Zeit, bis sie die Linie der vorgeblichen Äquidistanz zu beiden "Imperialismen" durchsetzen
konnte, mit der faktisch Hitlers Eroberungskrieg unterstützt wurde. 4
Divergierende Interessen der beiden Diktatoren
Hitler und Stalin wirkten zwar auf der Grundlage der geheimen Protokolle zum Pakt
zusammen, betrachteten sich aber nach wie vor als Antagonisten. Nur momentane
Opportunität veranlasste sie dazu, sich bis auf weiteres wechselseitig zu unterstützen. Bei der
Aufteilung Ostmitteleuropas in "Interessensphären", das heisst faktisch in Gebiete, die sie
ihrer Herrschaft zu unterwerfen gedachten, waren beide bestrebt, den anderen zu übertölpeln.
2
Stalins Ansprache vor führenden Komintern-Funktionären, 7. September 1939, wiedergegeben von F.I. Firsov,
Arkhivy Komintern i vneshniaia politika SSSR v 1939-1941 gg., in: Novaia i noveishaia istoriia, 6/1992, S. 18f.
Statements by Stalin which contain this message, sind von den frühen dreissiger Jahren bis Ende 1952
nachweisbar.
3
4
Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln - [West-]Berlin 1955, S. 56f.
Bernhard H. Bayerlein / Mikhail Narinski / Brigitte Studer / Serge Wolikow (eds.), Moscou-Paris-Berlin.
Télégrammes chiffrés du Komintern (1939-1941), Paris 2003, S. 45-85.
Als Stalin sich den Löwenanteil der ostmitteleuropäischen Beute gesichert hatte, triumphierte
er, dass er Hitler über dem Tisch gezogen habe. 5 Diesem ging es freilich darum, Zeit zu
gewinnen, um zuerst Polen ausschalten und dann dessen Verbündete im Westen zu besiegen.
Ob die UdSSR zunächst ein grösseres Territorium erwarb, erschien unwichtig, denn was
Deutschland jetzt nicht erhielt, würde er nach Erweiterung seiner Macht ohne Mühe erobern
können. Stalin dagegen legte seinem Kalkül die Überlegung zugrunde, dass die Ausdehnung
seiner Herrschaft auf möglichst viele Gebiete den entscheidenden Vorteil darstellte. Gemäss
marxistisch-leninistischer Lehre sah die Ausbreitung des Sowjetsystems als geschichtlichen
Auftrag und wollte zugleich die imperiale Tradition der Zaren fortsetzen. 6 Damit würde er
zudem eine günstige Ausgangsposition für den Waffengang gegen Deutschland erlangen, den
er für unausweichlich hielt. Dabei dachte er freilich an eine ungleich längere Frist als die
Zeitspanne bis Juni 1941. Die Absichten beider Diktatoren waren damit zwar gegeneinander
gerichtet, doch ergänzten sich ihre Interessen, solange sie in Zeit versus Raum ihre
Präferenzen sahen.
Die Übereinstimmung begann sich nach wenigen Monaten abzuschwächen. In Berlin war
man unangenehm über die Raschheit und Radikalität überrascht, mit der Stalin die ihm
zugestandenen Vorteile wahrnahm und stellenweise sogar darüber hinausging. Hitler nahm
zwar, nachdem er sich mit dem Kreml über die Ausreise der Deutschbalten geeinigt hatte,
keinen Anstoss an der Brutalität des Vorgehens in den baltischen Ländern, war aber verärgert,
weil ihm die UdSSR bei der Aufteilung Litauens nur einen kleinen Zipfel liess, und wertete
den Umstand, dass Rumänien nicht nur, wie in den geheimen Protokollen vorgesehen, zur
Abtretung Bessarabiens, sondern auch der nördlichen Bukowina veranlasst wurde, als
Anzeichen sowjetischer Balkan-Ambitionen. In dieser Region aber wollte er das alleinige
Sagen haben. In Moskau dagegen rief die rasche Eroberung des westeuropäischen Festlands
durch die Wehrmacht im Frühjahr und Frühsommer 1940 Erschrecken hervor. Das Deutsche
Reich hatte damit ohne grössere Mühe eine enorme Machtposition gewonnen, statt, wie
erwartet und erhofft. in einen kräftezehrenden Krieg ohne militärische Entscheidung
verwickelt zu werden. Stalin veranlasste daraufhin die kommunistischen Parteien in den
besetzten Ländern zu dem Angebot an die deutschen Behörden, sie gegen die Zusicherung
minimaler Existenzrechte voll zu unterstützen. Nachdem die deutsche Seite dies abgelehnt
hatte, legte er eine Linie fest, welche die Zusammenarbeit mit sowohl den Besatzern als auch
den Widerstandsgruppen offenhielt. 7 Stalin verfolgte seine Expansionsziele weiter, vor allem
auf dem Balkan und am Schwarzen Meer, suchte aber zugleich Berlin durch Erfüllung aller
Wünsche nach Lieferung von Rohstoffen und Energie zufriedenzustellen. Bis zur letzten
Minute war er davon überzeugt, auf absehbare Zeit den offenen Konflikt mit Hitler vermeiden
zu können.
Die geheimen Protokolle als Quelle sowjetischer Verlegenheit in der Anti-Hitler-Koalition
5
N.S. Khrushchev, Vospominaniia. Vremia, liudi, vlast', Vol I, Moskau 1999, S. 227f.
6
See Stalin's toast at a meal with his aides on the twentieth anniversary of the October Revolution, 7 November
1937: Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933-1943, ed. by Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000, p. 162.
7
Bayerlein / Narinski / Studer / Wolikow, a.a.O., S. 193-424.
Nachdem deutsche Überfall die UdSSR zum Verbündeten der Westmächte gemacht hatte,
war das vorangegangene Zusammengehen mit Hitler gegen den Westen für den Kreml
naturgemäss peinlich. Es entsprach den Usancen des sowjetischen Regimes, unangenehme
Sachverhalte propagandistisch schönzureden oder durch Verschweigen zu tabuisieren. Der
Vertrag vom 23. August 1939, dessen Existenz sich nicht in Abrede stellen liess, wurde unter Leugnung des Umstandes, dass sich die UdSSR damit faktisch auf die Seite Hitlers und
seiner Kriegspolitik gestellt hatte - als kluge Massnahme hingestellt, mit der Stalin seinem
Land Zeit zur Vorbereitung auf die bevorstehende faschistische Aggression verschafft habe.
Jeder Hinweis auf Absprachen über eine Aufteilung der ostmitteleuropäischen Region wurde
strikt vermieden. Auf entsprechende Vermutungen oder Angaben des Auslands reagierte man
mit der Anschuldigung, dass es sich um Verleumdungen durch Feinde des Sowjetstaates und
des Sozialismus handele. Der Anschluss Ostpolens, der baltischen Länder und der anderen
Gebiete an die UdSSR war vorgeblich zu deren Schutz vor faschistischer Aggression und auf
Wunsch der jeweiligen Bevölkerung erfolgt.
Die angelsächsischen Verbündeten kannten jedoch die geheimen Vereinbarungen. Die USA
hatten von Existenz und Inhalt der Protokolle bereits 1939 durch einen Hitlergegner in der
deutschen Botschaft zu Moskau erfahren - was vermutlich die Grundlage dafür bildete, dass
sie die Annexion der baltischen Länder niemals anerkannten. Auch den Briten war die
tatsächliche Sachlage klar. Während des Zweiten Weltkriegs kamen sie zudem in den Besitz
eines Mikrofilms der Protokolle. Gleichwohl hielten es beide Mächte um der
Bündnissolidarität willen für richtig, von ihrer Kenntnis nichts verlauten zu lassen. Während
des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, als die Politik des NS-Regimes öffentlich zur
Diskussion stand, war die amtliche Moskauer These nicht länger aufzurechterhalten. Wie sehr
sich auch das sowjetische Personal bemühte, die Protokolle liessen sich nicht aus den
Aussagen der Angeklagten und Zeugen heraushalten. Die Einflussnahmen auf die westliche
Seite verhinderten nur Erwähnungen im offiziellen Prozessbericht zu verhindern. In der
Presse erschienen jedoch Artikel, die zum Teil sehr genaue Angaben enthielten. Nach Ende
des Prozesses wurde sogar der Text des Protokolls vom 23. August 1939 publiziert, dem
freilich die amtliche Bestätigung versagt blieb. Im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges
erwog das Foreign Office in London Anfang 1947 eine Veröffentlichung, doch brachte erst
das amerikanische State Department im Januar des folgenden Jahres einen Dokumentenband
"Nazi - Soviet Relations" heraus, der unter anderem die geheimen Protokolle vom 23. August
und 28. September 1939 enthielt. 8
Die sowjetische Reaktion war heftig. Die amtliche Nachrichtenagentur TASS publizierte eine
umfangreiche Erklärung "Geschichtsfälscher", die später auch als Broschüre erschien.
Solange Stalin lebte, waren die deutsch-sowjetischen Vereinbarungen über die Aufteilung
Ostmitteleuropas stets ein absolutes Tabu. Die Mitarbeiter des Außenministeriums wurden auf
strikte Geheimhaltung verpflichtet, als ihnen die Protokolle im April 1949 zur Aufbewahrung
im Archiv übergeben wurden. Unter Khrushchev wurde das Tabu gelockert. Außenminister
8
Jan Lipinsky, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August
1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt/Main 2004, S. 277-295,
331-376.
Gromyko wies 1957 intern darauf hin, die Leugnung der Existenz der Protokolle lasse sich
angesichts entgegenstehender Tatsachen kaum aufrechterhalten. In der amtlichen "Geschichte
des Großen Vaterländischen Krieges" von 1960 gab es erstmals Andeutungen zu den
getroffenen Übereinkünften. Gleichwohl durfte von den Protokollen weiterhin keine Rede
sein. Die sowjetischen Historiker hatten daher in internationalen Diskussionen über das
Thema regelmässig einen schweren Stand. 9
Erst unter Gorbachev begannen ernsthafte interne Erörterungen darüber, ob man am
bisherigen Standpunkt festhalten solle. Hochrangige Funktionäre (wie insbesondere
Aussenminister Shevardnadze und Gorbachevs Berater Aleksandr Jakovlev) und Historiker
(wie Vladislav Dashichev und Roi Medvedev) setzten sich dafür ein, die Wahrheit nicht
länger zu verschweigen. Schon vorher hatte Aleksandr Nekrich die Vorgänge unverblümt
dargestellt - freilich um den Preis, dass seine Werke nur im westlichen Ausland erscheinen
konnten. Der Widerstand vonseiten der Vertreter des "alten Denkens" war jedoch
ausserordentlich gross. Vor allem die führenden "Germanisty" im Außenministerium,
Valentin Falin und Vladimir Semënov, und einschlägig verbundene Historiker wie Lev
Bezymenskij bestanden darauf, dass dieses Geheimnis nicht preisgegeben werden könne. Der
Öffentlichkeit erklärte man, es seien keine Originale zu finden. Erst 1989 wurden die
Dokumente nach zähem internen Ringen "gefunden". Die konservativ-ideologische Seite
errichtete bis zum Zusammenbruch der UdSSR 1991 weiterhin Barrieren gegen eine volle
Anerkenntnis der Wahrheit. In den russischen Schulbüchern findet sich auch heute noch kaum
etwas über die politischen Zusammenhänge des Hitler-Stalin-Pakts. 10
Der Hitler-Stalin-Pakt in der sowjetischen Historiographie
Die sowjetische Geschichtsschreibung wurde von den Vorgaben des Kreml bestimmt und
machte sich daher die Rechtfertigungsthese zu eigen, dass es Stalin um eine Atempause zur
Vorbereitung auf die künftige deutsche Aggression ging. Dem Vorwurf westlicher Historiker,
die UdSSR habe durch die Vereinbarung mit Hitler die Abwehrfront gegen dessen
Aggressionspolitik aufgebrochen, suchte sie durch Reihe willkürlich aufgestellter
Behauptungen zu entkräften. Es hiess etwa, Großbritannien und Frankreich hätten insgeheim
zusammen mit Deutschland die Aufteilung der Sowjetunion beabsichtigt, was Stalin nur
durch den Nichtangriffsvertrag habe verhindern können. Dadurch seien, wie A.M. Deborin
schrieb, die "weitere imperialistische Aufteilung von Staaten und die Versklavung von
Völkern verhindert" worden. Nach der These von I.M. Majskij wurde die "Sphäre der
Ausweitung des deutsch-polnischen Konflikts" begrenzt.
Andere erklärten, der Vertrag habe der faschist. Aggression erstmals "eine klare Grenze
gesetzt". "Dank der harten Position" Moskaus sei 1939 die von den Deutschen geplante
Eroberung, Besetzung und Annexion der baltischen Staaten verhindert worden. Stalins
Entscheidung, sich mit Hitler statt mit den westlichen Regierungen zu einigen, wurde auch
9
Ebd., S. 379-391.
10
Ebd., S. 391-428; Mavrik Vulfson, Schicksale mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg, Riga - Hamburg -
Rostock 2002, S. 14-17.
darauf zurückgeführt, dass dieser die UdSSR als gleichberechtigten Partner behandelt habe.
Er habe Konzessionen mit Konzessionen beantwortet, wie sich besonders deutlich in den
Vereinbarungen über die baltischen Länder gezeigt habe. Generell wurde betont, dass sich die
Sowjetunion nicht fremdes Gebiet angeeignet habe, sondern als Befreier aufgetreten sei. Die
Wiedervereinigung der ehemaligen russischen Westgebiete mit der UdSSR habe historische
Gerechtigkeit hergestellt. Die - zum Teil oben genannten - sowjetischen Historiker, die nicht
in die amtliche Apologetik einstimmten, sondern sich einen unabhängigen Blick bewahrten,
konnten ihre Aufassungen nur im Westen publizieren. Nachdem der Kreml die Existenz der
geheimen Protokolle endlich zugegeben hatte, bemühten sich die Vertreter der offiziellen
Linie, ihnen eine freundliche Deutung zu geben. 11 Diese Tendenz, die das imperiale
Ausgreifen Stalins rechtfertigen soll, hat sich in letzter Zeit verstärkt. Waren anfänglich sogar
Autoren wie etwa Mikhail Semiriaga, die grundsätzlich dem Sowjetsystem positiv
gegenüberstanden, bereit gewesen, den Gewaltcharakter des Vorgehens in den baltischen
Ländern einzuräumen, 12 ist nunmehr in den Darstellungen, die mit höherer Auflage
erscheinen, von "Befreiung" die Rede.
Zur internationalen Geschichtsschreibung
Als Entscheidung, die das Tor zum Zweiten Weltkrieg öffnete, hat der Hitler-Stalin-Pakt
unter den Historikern sehr grosses Interesse gefunden. Wegen der Vielzahl der einschlägigen
Publikationen kann hier nur auf eine kleine Auswahl Bezug genommen werden. Unter
seriösen Autoren, auch solchen in Russland wie beispielsweise Leonid Gibianskii und
Vladimir Volkov, 13 ist unstrittig, dass die den Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich
folgende territoriale Ausdehnung der UdSSR ohne Zustimmung der betroffenen Staaten und
Völker erfolgte und auf Gewalt und Unterdrückung. beruhte. Kontrovers ist dagegen, wann
Stalin den Entschluss zum Zusammengehen mit Hitler fasste und welche Motive dafür
bestimmend waren. Eine Minderheit - Ingeborg Fleischhauer 14 und Gabriel Gorodetsky 15 glauben, dass Stalin eigentlich gegen Hitler auf die Seite Grossbritanniens und Frankreichs
treten wollte und erst durch deren fehlende Bereitschaft zum Eingehen auf seine Wünsche
dazu bewogen wurde, den Vertrag mit Deutschland zu schließen. Demnach war er
grundsätzlich zur Bildung einer Abwehrfront gegen das offensive NS-Regime und zur
Beteiligung an der Verteidigung Polens bereit, machte aber zur Bedingung, dass die UdSSR
für ihren Einsatz eine Gegenleistung erhalten müsse.
11
12
13
Nach den Angaben bei Lipinsky, a.a.O., S. 379-428.
M.I. Semiriaga, Tainy stalinskoi diplomatii 1939-1941, Moskau 1992.
Leonid Gibianskii / Vladimir Volkov, Vostochnaia Evropa mezhdu Gitlerom i Stalinym, 1939-1941gg.,
Moskau 1999.
14
Ingeborg Fleischhauer, Der Pakt. Hitler, Stalin, und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938-39, Berlin
1990.
15
Gabriel Gorodetsky, Grand Delusion, New Haven/CT 1999.
Die grosse Mehrheit der Historiker - etwa Aleksandr Nekrich, 16 Mikhail Semiriaga, Jonathan
Haslam, 17 Geoffrey Roberts, 18 Bianka Pietrow-Ennker 19 und Laure Castin-Chaparro 20 vertritt die Ansicht, dass Stalin von Anfang an auf die deutsche Option hinarbeitete. Es sei
ihm darum gegangen, die UdSSR aus der Lage einer von außen her eingedämmten, an
offensivem Vorgehen gehinderten Macht zu befreien mit dem doppelten Ziel, Macht und
System auszudehnen und in der Außenwelt Krieg zu stiften. Die Grundlage der
Zusammenarbeit sei das gemeinsame Interesse an der Veränderung des Status quo gewesen.
Jan Lipinsky vermeidet eine klare Stellungnahme, doch legt seine Darstellung den Schluss
nahe, dass die zweite Auffassung als sehr wahrscheinlich zutreffend anzusehen ist. Dagegen
meint Donal O'Sullivan, 21 Stalin habe lange Zeit zwei Optionen nebeneinander verfolgt, bis
klar war, welche davon für ihn vorteilhafter war.
Ich will versuchen, aus der bisherigen Diskussion der Historiker ein Fazit zu ziehen. Gegen
die Ansicht von Ingeborg Fleischhauer und Gabriel Gorodetsky spricht generell, dass die
UdSSR in der gesamten Zwischenkriegszeit eine Anti-Status-quo-Macht war, die nur durch
die internationalen Machtverhältnisse an der aktiven Verfolgung offensiver Bestrebungen
gehindert wurde. 22 Vor diesem Hintergrund ist es wenig wahrscheinlich, dass der Kreml für
die Verteidiger des Status quo Partei ergreifen wollte. Man mag einwenden, dass Stalin
gehofft haben könnte, expansive Ziele im Einvernehmen mit den Regierungen in London und
Paris zu erreichen, als er diese vor die Wahl stellte, entweder seine Forderungen zu
akzeptieren oder machtlos gegenüber Hitler dazustehen. Das aber erscheint aus zwei Gründen
wenig plausibel. Zum einen war auch dann, wenn sich die Briten und Franzosen unter dem
Druck der Lage zum Eingehen auf sowjetisches Verlangen entschlossen, zu erwarten, dass sie
mit Zugeständnissen weit mehr geizen würden als Hitler, der keine humanitären Hemmungen
kannte. Zum anderen war, wie interne Aussagen vor und nach 1939 belegen, Polen in der
16
Aleksandr M. Nekrich, The Two Nazi-Soviet Pacts and their Consequences, in: David Wingate Pile (ed.): The
Opening of the Second World War, New York 1991.
17
Jonathan Haslam, The Soviet Union and the Struggle for Collective Security in Europe, 1933-1939, London
1984.
18
Geoffrey Roberts, The Soviet Union and the Origins of the Second World War. Russo-Geman Relations and
the Road to War, 1933-1941, New York 1995.
19
Bianka Pietrow-Ennker, Stalinistische Aussen- und Deutschlandpolitik 1919-1941, in: Bianka Pietrow-Ennker
(ed.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt/Main 2000.
20
Laure Castin-Chaparro, Puissance de l'URSS, miseres de l'Allemagne. Staline et la question allemande, 1941-
1955, Paris 2002.
21
Donal O'Sullivan, Stalins "Cordon sanitaire". Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des
Westens 1939-1949, Paderborn 2003.
22
Diese Interessenlage wurde eindringlich vor dem internationalen Hintergrund analysiert durch Klaus
Hildebrand, Der Weg in den Zweiten Weltkrieg. Betrachtungen über den Kampf der Kulturen in der
Zwischenkriegsära des 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung
der jüngeren Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen, red. von Eberhard Kuhrt, Bd. I, Berlin 2002. S.
62-75. [russ. Fassung: Klaus Khil'debrand, Na puti ko Vtoroi mirovoi voine - razmyshleniia o bor'be kultur v
mezhvoennuiu epokhu XX veka, in: Soobshcheniia Sovmestnoi komissii po izucheniiu noveishei istorii
rossiisko-germanskikh otnoshenii, pod redakttsiei Eberkharda Kurta, Tom I, Berlin 2002, str. 67-85]
Sicht Stalins ein zutiefst feindseliges Land an, an dessen Verteidigung folglich kein Interesse
bestand. Der mehrfach geäußerte interne Kommentar der sowjetischen Führung zum Verlauf
der Verhandlungen mit Grossbritannien und Frankreich, diese wollten lediglich die UdSSR
für ihre Zwecke ausnutzen, macht den prinzipiellen Gegensatz der Interessen auf beiden
Seiten deutlich.
Demgegenüber war der Wille, den Status quo zu beseitigen, ein starkes einigendes Band
zwischen Moskau und Berlin. Dagegen schien die militärische Austragung des Macht- und
Systemkonflikts, von dem beide Seiten grundsätzlich ausgingen, vorerst nicht aktuell. Stalin
hatte schon früher die Bereitschaft bekundet, dem momentanen Interesse am Zusammengehen
mit Deutschland gegen den Westen Vorrang gegenüber langfristigen Erwägungen
einzuräumen: Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 hatte er noch zwei lange
Jahre trotz aller Zurückweisung am Willen zur beiderseitigen Zusammenarbeit festgehalten
und sich nicht daran gestört, dass das NS-Regime im Innern einen scharf
"antibolschewistischen" Kurs verfolgte, die kommunistische Partei zerschlug und deren
Mitglieder und Anhänger brutal verfolgte. In gleichem Sinne handelte er auch 1939, als er
deutsche Kommunisten, die in der UdSSR Zuflucht gesucht hatten, bedenkenlos ihrem
Erzfeind auslieferte.
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