Louise Farrenc (1804 – 1875) - Frankfurter Orchester Gesellschaft

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Louise Farrenc (1804 – 1875)
„In den 1860er-Jahren genügte der bloße Name eines französischen Komponisten –
noch dazu eines lebenden – auf einem Konzertprogramm, um das Publikum in die
Flucht zu schlagen.“ So erinnert sich Camille Saint-Saëns an den damaligen
Musikbetrieb, und Richard Wagner schreibt 1860 aus Paris an Mathilde Wesendonck:
„Bedenken Sie, wie miserabel es mit aller französischen Kunst steht ... der Franzose
ist aber auch nicht eigentlich musikalisch.“
In den Jahrzehnten nach der Revolution von 1789 – die Musik von Couperin und
Rameau war längst von Hymnen und Chören, die Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit verkündeten, übertönt worden – gab es tatsächlich nur wenige
französische Komponisten, die die große Tradition fortsetzten. Ausländische Musiker
strömten nach Paris und gaben den Ton an: Rossini, Donizetti, Bellini, Meyerbeer,
Jaques Offenbach und Richard Wagner, Chopin und Liszt, sie alle kamen, schrieben
erfolgreiche Werke und wurden dann von den Franzosen sogar als „notre Rossini“,
„notre Meyerbeer“ gefeiert. Die „Grand Opéra“ – eben nicht von Franzosen
geschrieben – beherrschte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das französische
Musikleben, und Kammermusik und Sinfonien wurden zwar gespielt, aber vorwiegend
aus deutsch-österreichischer Produktion, d.h. von Haydn, Mozart und Beethoven.
Vor knapp 20 Jahren hat nun die deutsche Musikforschung mit Engagement und
Erfolg doch einen Namen aus dieser für Frankreich anscheinend wenig attraktiven
Epoche herauspräpariert: Louise Farrenc, eine Zeitgenossin von Clara Schumann und
Fanny Hensel geb. Mendelssohn.
Louise Farrenc wächst in einer Künstlersiedlung an der Sorbonne auf, bekommt schon
als Kind Klavierunterricht und beginnt als junges Mädchen ihre Studien bei Anton
Reicha, der seit 1818 als Professor am Conservatoire Komposition lehrt. Kontinuierlich
wächst ihr Werkkatalog, der am Ende 51 nummerierte Kompositionen verzeichnet:
zunächst Klavierstücke, Lieder, dann Chormusik, Orchesterstücke, Kammermusik und
schließlich drei Sinfonien. 1842 wird die sehr erfolgreiche Pianistin, Komponistin und
Musikwissenschaftlerin, als einzige Frau auf diesem Posten, Professorin für Klavier an
dem berühmten Pariser Institut (eine besondere Fußnote: Es dauert rund acht Jahre,
bis sie auch das entsprechende Gehalt bekommt). Parallel zur Konzert- und
Lehrtätigkeit arbeitet sie zusammen mit ihrem Mann an einer gigantischen Aufgabe:
„Le Trésor des Pianistes“, einer 23-bändigen Anthologie von Klaviermusik des 16. bis
19. Jahrhunderts, in der zusätzlich zum Notentext jedes Stück mit historischen,
biographischen und interpretatorischen Angaben versehen ist – eine richtungweisende
Dokumentation für die Wiederbelebung und Aufführungspraxis Alter Musik.
Dank ihrer professionellen Position und ihrer in Technik und Stil perfekt gearbeiteten
Kompositionen wurden ihre Stücke immer in entsprechendem Rahmen gespielt. Die
Uraufführung der 3. Sinfonie war dann allerdings ein besonderer Höhepunkt: Das
Werk wurde innerhalb der Subskriptionskonzerte der Société des Concerts du
Conservatoire Paris, die für ihre Beethoven-Aufführungen europaweit berühmt war, im
April 1849 einem fachkundigen Publikum vorgestellt. Kommentar: „... ein starkes und
mutiges Werk, in dem der Glanz der Melodien mit der Vielfalt der Harmonie
wetteiferte.“
Nach einer kurzen Einleitung, die wie mit einer Frage beginnt, bereitet eine ständig
intensiver und in sich schneller werdende Kreiselbewegung den Einsatz des markanten,
von allen Streichern gespielten Hauptthemas vor:
Nach klassischem Vorbild folgt ein Seitenthema, linear und leicht im Ton, von den
Oboen gespielt:
Im weiteren Verlauf des Satzes werden diese Elemente sehr kunstvoll in virtuosen
Bläserpartien und Streicherabschnitten verarbeitet. Auch die Orchesterbesetzung –
Streicher, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Clarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner und Pauken –
entspricht ganz Haydnscher Tradition. Im Gegensatz zu ihrem Zeitgenossen Hector
Berlioz, der sein Publikum immer wieder mit grandiosen Einfällen überrascht und auch
irritiert, bleibt Louise Farrenc am klassischen Vorbild orientiert.
Der 2. Satz beginnt
mit einer wunderschönen
Klarinettenmelodie über weichen Horn- und Fagott-Akkorden mit harmonisch
eingefügten Paukentupfern und entwickelt sich bis auf einen kurzen dramatischen
Ausbruch fein ziseliert im leisen Register.
Der 3. Satz, ein Scherzo, gibt dem Konzertbesucher eine hörbare Vorstellung von
französischem Esprit:
Federleicht, mit hohem Tempo,
beginnt das Streichorchester, elegant übernehmen die Bläser. Triller, Stakkati, weite
Sprünge, hohe Lagen, das alles erzeugt ein Klangbild, das auch an Mendelssohn
denken lässt. Im Trio – eigentlich sieht das Notenbild ganz simpel aus – zeigt Madame
Farrenc, wie raffiniert sie spezifischen Bläserklang mit typischer Streichertechnik zu
einem überraschenden Effekt kombiniert.
Das Finale beginnt mit den Streichern und wie im 1. Satz auch wieder energisch im
Unisono:
Unmittelbar nach diesem
1. Thema, das zunächst stufenweise nach oben steigt, folgt sofort das 2., das sich in
Synkopen abwärts bewegt:
Aus diesem
kontrastreichen Material entwickelt sich ein kurzweiliges Dialogisieren mit
imposanten Tutti-Stellen und kammermusikalischen Einwürfen.
Henri Duparc (1848 – 1933)
Die Anregung zur Komposition der Sinfonischen Dichtung „Lénore“ geht – wie auch
„Der Zauberlehrling“ seines Zeitgenossen Paul Dukas – von einer Textvorlage aus.
Goethes Ballade, eine dramatische Geschichte aus Neugierde und
Selbstüberschätzung, Machtrausch und Angst, Wut, Verzweiflung und einem
überraschendem Happy End – von Dukas kongenial in eine musikalische Form
übersetzt – wird zur Freude der Konzertbesucher immer wieder gespielt.
Und Bürgers Ballade „Lenore“, eine dramatische Geschichte aus Liebe und
Enttäuschung, Erwartung und Erfüllung, Grauen, Schrecken und einem tödlichen
Ende – von Duparc ebenso genial in Musik übersetzt – ist fast unbekannt.
Gottfried August Bürger veröffentlichte 1773 im Göttinger Musenalmanach, einer
Zeitschrift, die mit großem Engagement die Werke aktueller Dichter und Schriftsteller
des „Sturm und Drang“ herausbrachte, seine Ballade „Lenore“. Diese unheimliche
Schauergeschichte wurde wegen ihrer Dynamik, ihrem dichterischen Schwung und
ihrer mitreißenden Leidenschaft begeistert aufgenommen und machte ihn – heute
gerade noch präsent durch „Die Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“ –
damals international bekannt.
Kurz der Inhalt, eine Episode aus dem Siebenjährigen Krieg: Lenore, mit Wilhelm
verlobt, wartet sehnsüchtig auf seine Rückkehr aus der Schlacht bei Prag, die
Friedrich II. gegen die Österreicher sehr verlustreich gewonnen hat. Vergebens,
Lenore ist verzweifelt: „Bist untreu, Wilhelm oder todt?“
Eines Nachts erscheint
„Und außen, horch! ging’s trap trap trap,
Als wie von Rosseshufen;
Und klirrend stieg ein Ritter ab,
An des Geländers Stufen;
dann endlich der Geliebte, als Geist:
„Muß heut noch hundert Meilen
Mit dir in’s Brautbett eilen.“
Und damit beginnt ein gespenstischer Ritt:
Wie flogen rechts, wie flogen links
Gebirge, Bäum’ und Hecken!
Wie flogen links, und rechts, und links
Die Dörfer, Städt’ und Flecken! –
Er endet mit einer grausamen Entdeckung:
Ha sieh! Ha sieh! im Augenblick,
Huhu, ein gräßlich Wunder!
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab, wie mürber Zunder.
Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf;
Sein Körper zum Gerippe,
Mit Stundenglas und Hippe.
Duparc macht aus der mit 32 Strophen sehr langen Ballade ein knappes Drehbuch,
reduziert die phantastische Vorgeschichte und das makabre Ende auf einen
schmalen Textrahmen und stellt die 12 Zeilen, die den wilden Ritt beschreiben, in
den Mittelpunkt.
Lénore jammert um ihren im Kriege gefallenen Wilhelm. Wilhelm zu Ross als
Geistererscheinung:
Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang
Sich auf das Roß behende;
Wohl um den trauten Reiter schlang
Sie ihre Lilienhände.
Wie flog, was rund der Mond beschien,
Wie flog es in die Ferne!
Wie flogen oben über hin
Der Himmel und die Sterne!
„Graut Liebchen auch? … Der Mond scheint hell!
Hurrah! die Todten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Todten!“
„O weh! Laß ruhn die Todten!“
Die Geister verfolgen sie mit Geheul. Mit dem Schlage der Mitternachtsstunde wird Ross und
Reiter zu Asche. Lenore stirbt.
Nach dieser nun griffigen Textvorlage schreibt Duparc eine kunstvoll instrumentierte,
eingängig illustrative Musik und beginnt das Stück mit einem wirklich jammervollen
Motiv in den Celli,
das mit immer neuen chromatischen
Verrenkungen Lénores verzweifelte Situation beschreibt. Ein kurzes, gespanntes
Atemholen, dann das Klappern
der Pferdehufe, und ab geht der wilde
Ritt, von zwei Posaunen im Fortissimo angeführt:
Mit satten Farben legt Duparc die gespenstische Szenerie an: Rhythmisch betonte
Streicherfiguren, Glissandi, Tremoli, weit gespannte chromatische Holzbläserskalen,
schwergewichtige Blecheinwürfe, Tempowechsel, heftige Dynamik mit grellen
Akzenten und verhauchten, chromatischen Seufzern lassen den Hörer kaum zu Atem
kommen. Virtuos spielt das groß besetzte Orchester in an Wagner erinnerndem
Tonfall auf. Und dann das Finale: ein gewaltiger Tutti-Akkord ... einsame
Paukenschläge ... die Posaunen verkünden den Tod – und mit drei ganz leise
gezupften Akkorden endet das Stück.
Henri Duparc gehörte schon mit 20 Jahren zu den bekannten Komponisten
Frankreichs. Als einer der ersten Schüler von César Franck, befreundet mit Camille
Saint-Saëns, Ernest Chausson und Edouard Lalo – sie waren alle Mitglieder der 1871
gegründeten „Société Nationale de Musique“ – machte er schon früh mit kunstvollen
Liedern und Kammermusik auf sich aufmerksam, und durch „Lénore“, 1875
uraufgeführt, wurde er mit einem Schlage berühmt. Heute sind nur wenige Werke von
ihm erhalten, vieles hat er selber vernichtet, geblieben sind 17 Lieder, ein paar
Klavierstücke, eine Cellosonate und glücklicherweise „Lénore“, neben zwei kleineren
Orchesterstücken das wichtigste Werk.
Ernest Chausson (1855 – 1899)
„In meinem Poème wird nichts geschildert, es gibt keine Story, alles ist Gefühl“ – und
so könnte sich der Hörer eigentlich entspannt zurücklehnen und genussvoll den
hochromantischen Klängen lauschen, wenn es da nicht doch eine Geschichte gäbe ...
Chausson, als Sekretär der Société Nationale de Musique ein geschätztes Mitglied
der Pariser Gesellschaft, lud regelmäßig die künstlerische Elite in seinen Salon ein,
und alle kamen: Musiker, Schriftsteller und Maler, auch Iwan Turgenjew, dieser
„Mensch mit merkwürdiger Neigung zu außersinnlichen, parapsychologischen,
magischen und abergläubischen Erfahrungswelten". Turgenjew war durch seine
Gedichte, Novellen, Erzählungen und Romane bereits international bekannt und
lebte seit vielen Jahren in Paris, um seiner Geliebten, der damals berühmten, aber
leider verheirateten Sängerin Pauline Viardot nahe zu sein. In der Kurzgeschichte
„Das Lied der triumphierenden Liebe“, die er kurz vor seinem Tod noch schreibt,
macht er seine leidvollen Erfahrungen – die unglückliche Dreiecksbeziehung dauerte
fast vierzig Jahre – zum Thema:
In eine andere Zeit und auch an einen anderen Ort verlegt, spielt die mystische
Liebesgeschichte im Ferrara des 16. Jahrhunderts. Die beiden Freunde Fabio und
Muzio lieben Valeria, Fabio gewinnt und Muzio tritt enttäuscht eine Reise in den
Orient an. Als er nach vier Jahren zurückkehrt, wird er vom glücklichen, aber noch
immer kinderlosen Paar mit offenen Armen aufgenommen. Er verzaubert die beiden
mit abenteuerlichen Reiseberichten und zeigt ihnen „Teppiche, Seidentücher,
Gewänder aus Samt und Brokat, Waffen, Schalen, Schüsseln, mit Email verzierte
Becher, goldene und silberne, mit Perlen und Türkisen besetzte Kostbarkeiten,
Kästchen aus Bernstein und Elfenbein, geschliffene Flaschen, Gewürze,
Räucherwerk, Fell wilder Tiere, Federn unbekannter Vögel und zahlreiche andere
Gegenstände, deren Verwendungszweck geheimnisvoll und nicht zu erraten war.“
Von seinem Diener lässt er sich „seine indische Geige zu bringen, die den
europäischen ähnelte, nur war sie mit einer bläulichen Schlangenhaut bezogen,
besaß statt vier nur drei Saiten, und am äußersten Ende des dünnen, halbkreisförmig
geschwungenen Rohrbogens funkelte ein feingeschliffener Diamant.“... „Als er mit
dem letzten Lied begann, schwollen diese Töne an und vibrierten hell und stark. Eine
leidenschaftliche Weise wurde von den breiten Bogenstrichen getragen und schien
sich in ihren Schwingungen wie jene Schlange zu winden, mit deren Haut die Geige
bespannt war.“ Und auf Fabios Frage nach dem Ursprung dieser faszinierenden
Melodie antwortet Muzio: „Dieses Lied hörte ich zum erstenmal auf der Insel Ceylon.
Im Volksmund heisst es ‚Das Lied der glücklichen, triumphierenden Liebe’.“
Eines Nachts sieht Fabio seine Frau im Schlaf aus dem Bett steigen und folgt ihr in
den Garten, wo sie auf den ebenfalls schlafwandelnden Muzio trifft. Wutentbrannt
sticht er ihn nieder. Das Ehepaar findet sein Glück wieder, und eines Tages, „an
einem herrlichen Herbsttag, Valeria saß vor der Orgel, ihre Hände glitten über die
Tasten ... Und plötzlich erklang, ohne ihren Willen, das ‚Lied der triumphierenden
Liebe’, das Mucius einst gespielt hatte. In diesem Augenblick spürte sie zum
erstenmal seit ihrer Heirat die zarten Regungen eines neuen, keimenden Lebens in
sich ... Valeria fuhr zusammen ... Was bedeutet das? Ob etwa wirklich?“
Soweit Iwan Turgenjew, und nun zu Ernest Chausson: Sein Freund Eugène Ysaÿe,
dem er 1890 schon das Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett D-Dur op. 21
gewidmet hatte, bat ihn ein paar Jahre später, ein Konzert für Violine und Orchester
zu schreiben. In seinem Tagebuch notiert Chausson, der natürlich Turgenjews
Novelle kannte, er habe sein Hauptthema zum „Lied der triumphierenden Liebe“ mit
einem befreundeten Geiger probiert. Mit der bis dahin üblichen dreisätzigen Form
hatte Chausson allerdings große Probleme: „Ich weiß kaum, wo ich mit dem Konzert
anfangen soll, eine wahre Herkulesaufgabe“, deshalb konzentrierte er das Stück auf
einen Satz, der in seiner Urfassung von 1893 dann auch mit „Das Lied der
triumphierenden Liebe“ überschrieben war. Durch mehrere Überarbeitungen – es gibt
eine Fassung für Klavier und Violine und eine Kammermusikfassung – wurde auch
der Titel reduziert: von zunächst „Poème symphonique“ auf schließlich „Poème“. Mit
großem Erfolg spielte im Dezember 1896 Ysa e die Uraufführung des ihm
gewidmeten Werks im Konservatorium von Nancy, und bis heute gehört es zum
Repertoire der Geigenvirtuosen.
Lento e misterioso, dunkel getönt mit leisen, tiefen Streichern und Bläsern beginnt
das Stück, das uns für eine Viertelstunde in eine fantastische Klangwelt entführt.
Nach einer zweimaligen Frage der Celli hebt sich aus einem lang gehaltenen Ton
das erste Thema, „Valerias“ Thema, heraus,
das anschließend vom Streichorchester wie mit einem Choral beantwortet wird. In
einer ersten Solopassage stellt die Solovioline nach einer chromatischen Sequenz
das Thema – diesmal mit kunstvollem Rankenwerk verziert – noch einmal vor, und
das Orchester nimmt in einem impressionistisch anmutenden Satz Motive aus dem
nun schon bekannten Thema auf. Das Poème wird weitergesponnen, schemenhaft
taucht in der Solovioline das zweite Thema „Muzio“ auf und wird dann im Unisono
von Solobratsche und Oboe
komplett vorgestellt:
Mit diesen beiden Themen, in immer neuen Verwandlungen, Umspielungen und oft
auch nur angedeutet, mal in der Solovioline, mal auch im Orchester, schreibt
Chausson die mythische Geschichte noch einmal neu. Turgenjew, der 1883 starb,
hat „Das Lied der triumphierenden Liebe“ nie gehört.
Édouard Lalo (1823 – 1892)
Die „Société Nationale de Musique“ – eine sehr einflussreiche Institution in der so
genannten „belle époque“ – vertrat den Anspruch, die „ars gallica“ zu neuem Leben
zu erwecken, und leitete damit die fruchtbarste Periode der französischen
Musikgeschichte ein. Édouard Lalo, Mitglied der Société, sah sich im erlauchten
Kreis um César Franck bescheiden als Autodidakt, denn er war vorwiegend als
Orchester- und Kammermusiker und als Lehrer tätig. 1875 überraschte er seine
Kollegen dann doch mit seiner „Symphonie espagnole“, einem Konzert für den
Violinvirtuosen Pablo de Sarasate. Im gleichen Jahr begann er die Arbeit an der
Oper „Le Roi d´Ys“, eine gewaltige Anstrengung, die erst 13 Jahre später nach vielen
geplatzten Terminen und Umarbeitungen mit einer ziemlich chaotischen, aber
durchaus geglückten Uraufführung in der Pariser Opéra Comique beendet war. Im
folgenden Jahr stand die Oper dort rund einhundert Mal auf dem Programm, ein
großer Erfolg.
Aus einer alten bretonischen Sage – es geht um den Untergang der verwunschenen
Stadt Ys, die in der Bucht von Douarnenez gelegen haben soll – hat Édouard Blau,
ein bekannter Theaterjournalist, Lyriker und Dramatiker, ohne komplizierte
historische Verwicklungen ein einfach gebautes Libretto für die dreiaktige Oper „Le
Roi d´Ys“ entwickelt:
1. Akt
Nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem feindlichen Prinzen Karnac
bietet der König von Ys dem Sieger seine Tochter Margared zur Frau an, um den
schon lange währenden Konflikt endlich friedlich zu beenden. Margared ist
verzweifelt und beichtet ihrer Schwester Rozenn, dass ihr Herz noch immer an dem
vor Jahren verschollenen Krieger Mylio hängt. Die Hochzeitsfeierlichkeiten sind
bereits in vollem Gang, als Mylio tatsächlich wohlbehalten zurückkehrt. In aller
Öffentlichkeit verweigert Margared den geforderten Hochzeitskuss, und der
verschmähte Karnac, zuerst hofiert und dann missachtet, bebt vor Zorn.
2. Akt
Margarete stellt fest, dass Mylio nicht sie, sondern ihre Schwester Rozenn liebt. Als
der König davon erfährt, bietet er Mylio die Hand Rozenns unter der Bedingung an,
Karnacs anrückende Armee abzuwehren. Mylio willigt ein, gewinnt die Schlacht und
kehrt siegreich heim. Die gedemütigte Margared sucht blind vor Wut und Eifersucht
den geschlagenen Karnac auf, um gemeinsam mit ihm die Vernichtung der Stadt zu
planen. Margared will ihm die Schlüssel für die Schleusentore der Dämme geben, die
die Stadt vor den Fluten schützen.
3. Akt
Am Tag der Hochzeit Mylios und Rozenns kommen Margared Zweifel an ihrem
Racheplan, doch Karnac kann sie von der Richtigkeit ihres Vorhabens überzeugen
und bekommt die Schlüssel. In heller Verzweiflung verkündet Margared der
Hochzeitsgesellschaft, dass die Stadt verloren ist. Mylio tötet Karnac, doch das
Unheil nimmt seinen Lauf, denn die Schleusen sind geöffnet. Große Teile der Stadt
sind bereits verwüstet und viele Bewohner ertrunken, da stürzt sich Margared, um
Vergebung und Gnade flehend, ins tobende Meer. Mit einem mächtigen „Gloire à
Dieu“ des Chors fällt der Vorhang.
Diese Oper, eigentlich „Margared d'Ys", denn die Rolle des Königs beschränkt sich
auf wenige kleine Auftritte, überzeugt durch klare Handlungsstrategie und eine sehr
farbenreiche, dramatische Musikausgestaltung. Mit der Ouvertüre, die die wichtigsten
Motive wie in einem Brennglas konzentriert, wird der Hörer in nur zehn Minuten auf
das Kommende perfekt vorbereitet – allerdings nicht synchron zum Szenenablauf:
Lalo beginnt die Ouvertüre mit dem Vorspiel zum 2. Akt: Wir befinden uns in dem
Palast des Königs und nähern uns mit leisen Schritten dem dramatischen
Geschehen:
Trompetenfanfaren kündigen das nächste Bild an. In der Partitur spielt das Blech
übrigens eine besonders wichtige Rolle: Zum ohnehin groß besetzten Orchester
gehören 4 Trompeten, 4 Hörner, 3 Posaunen und eine Tuba, die mit dem immer
wieder auftauchenden Triolenmotiv die einzelnen Abschnitte strukturieren:
Zwischen lyrischen Teilen – da wird zum Beispiel das Duett Margared/Rozenn aus
dem 1. Akt zitiert:
– bricht immer wieder das Meermotiv mit einem eindrucksvollen Unisono von
Streichern und Bläsern durch:
Ganz überraschend erklingt ein Zitat aus Richard Wagners „Tannhäuser“, der Beginn
des Pilgerchors, und mit einer Stretta im dreifachen Fortissimo endet die Ouvertüre
zu „Le Roi d’Ys“.
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