16 Hintergrund 17. März 2013 Ostschweiz am Sonntag Die Kardinäle wählten diese Woche vor den Augen der Welt den neuen Papst. Dass eine Religion eine fast allmächtige Einzelfigur an der Spitze hat, ist ein Einzelfall. Dies zeigt ein Blick in die Organisationsstruktur anderer Konfessionen und Religionen. Die grosse Macht des Papstes ist ein Sonderfall KATHARINA BAUMANN UND DANIEL KLINGENBERG D ie Welt schaute diese Woche nach Rom, der Zentrale der Katholiken. Gespannt, wann über der Sixtinischen Kapelle weisser statt schwarzer Rauch aufsteigt. Gebannt, als der Kardinalprotodiakon die berühmten Worte «habemus Papam» sprach. Als der Name des neuen Papstes am Mittwoch feststand, jubelte die Menge. Auch Religionswissenschafter Rafael Walthert von der Universität Zürich verfolgte die Wahl. Die Organisationsstruktur der katholischen Kirche bezeichnet er als einmalig für eine religiöse Gruppierung. Erstens, weil sie global agiert und der Vatikan zentralistisch regiert. Zweitens wegen der Rechtsmittel, die der Leitung zur Verfügung stehen. Und drittens wegen des hohen Alters der katholischen Kirche: Seit rund 1500 Jahren hat der Papst in der Kirche das letzte Wort. Bis in die allerletzte Kirchgemeinde hinein. Keine andere Religion kennt eine derart zentralistische Macht. Die Grafik unten zeigt einen Überblick über die wichtigsten Religionen und deren Organisation. Wie ist der Hype um eine absolutistische Führungsfigur im modernen, aufgeklärten Westen erklärbar? «Katholiken gibt es überall, es ist eine globalisierte Religion – aber mit einem klaren Zentrum», sagt Walthert. Dies mit dem Papst als charismatischer Figur, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Schon das Wahlverfahren mit den Ritualen, den Gewändern und dem Rauch schafft einen Zauber, der Medien und Menschen gleichermassen fesselt. Die Faszination ist auch historisch erklärbar: «Die katholische Kirche ist eigentlich die Fortführung des Römischen Reiches», sagt Walthert. «Der Papsttitel, ‹pontifex maximus›, war einst der Titel des römischen Kaisers.» Und diese uralten Organisationsstrukturen halten die katholische Kirche noch heute zusammen. Zauber, Rituale und Gewänder Und doch hat sich im Lauf der Jahrhunderte einiges verändert. «Die Kämpfe zwischen Staat und Kirche gab es, sind aber vorbei», sagt Walthert. Der Zugriff der Kirche auf Gläubige sei heute nicht mehr so absolut wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Denn wer sich in der Kirche nicht mehr wohl fühlt, kann austreten. Im Gegensatz zur Theatralik der Katholiken wirkt die reformierte Kirche der Schweiz sehr nüchtern. Weil die Geistlichen nicht höhergestellt sind als die Laien, gibt es keine entsprechenden Hierarchien. Daher entsteht viel weniger Aufsehen um einzelne Personen und Ämter. Das Lachen ist sein Markenzeichen Die Reformierten organisieren ihre Kirche demokratisch. Sie ist stark an die Staatsform angelehnt. Die Mitglieder wählen Pfarrer und Kirchenvorsteherschaft, die Exekutive der Gemeinde. Sie wählen auch die Synodalen, die Mitglieder des kantonalen Parlaments. Dieses Synode genannte Gremium wählt dann die kantonale Exekutive, den Kirchenrat. Der Kirchenratspräsident als Vorsitzender hat keine höhere geistliche Würde als andere Pfarrer. Ein Bischofsamt gibt es in der reformierten Kirche nicht – auch wenn das der höchste Schweizer Protestant, Gottfried Locher, einst anregte. Dies unter anderem, um die mediale Strahlkraft der Reformierten zu erhöhen. So ist es unter den St. Galler Reformierten ein Thema, dass die Medien häufiger über den Bischof als den Kirchenratspräsidenten berichten. «Die katholische Kirche ist eigentlich die Fortführung des Römischen Reiches.» Rafael Walthert Religionswissenschafter Ähnliche Aufmerksamkeit wie der Papst erregt am ehesten das religiöse Oberhaupt des tibetischen Buddhismus. Doch steht der Dalai Lama nicht wie der Papst einer organisierten Kirche mit Mitgliedern vor, sondern einer besonders wichtigen Schule innerhalb des tibetischen Buddhismus, differenziert Walthert. Der Dalai Lama sei vor allem in der westlichen Medienwelt und vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen China und Tibet zu einer weltbekannten Figur aufgestiegen. Auch durch seinen Pazifismus bekommt er viel Anerkennung, zudem ist sein Lachen ein Markenzeichen geworden. Der Papst und der Dalai Lama sind Vorsteher von lediglich zwei von Hunderten verschiedener Religionen. Sie lassen sich einerseits in monotheistische Gruppen wie Judentum, Christentum und den Islam einteilen. Ihnen ist gemeinsam, dass die Gläubigen nur einen Gott verehren. Den Hohepriester gibt es nicht mehr Das Judentum ist die älteste monotheistische Religion. Heute ist das Judentum nicht mehr hierarchisch strukturiert, daher gibt es auch keine zentrale höchste Instanz. Bis zur Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus entschied der Hohepriester über Fragen der Religion. «Das Judentum ist primär eine Religion der Tat und weniger ein Glauben», heisst es beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund. «Daher stellen sich Glaubensfragen im Sinne eines Credo nicht. Es geht hauptsächlich um juristische Fragen, die verschiedene Gelehrte in Rechtsgutachten fallweise beantworten.» Beim Islam hat die Frage nach der religiösen Führung sogar zu einer Spaltung geführt. Sinn des Lebens und Angst vor dem Tod Anderseits gibt es polytheistische Religionen wie den Hinduismus und teilweise den Buddhismus. Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus: Das sind die grössten Religionen. Getrieben von der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Angst vor dem Tod, so eine gängige Umschreibung über die Entstehung der Religionen, hat sich aber eine Vielzahl von weiteren Gruppierungen gebildet. Die ganze religiöse Vielfalt mit all ihren Ausprägungen und Besonderheiten lässt sich jedoch nicht in einer Abbildung einfangen. Das wird zum Beispiel an der Verbreitung der Protestanten sichtbar. Was einheitlich hellblau dargestellt ist, ist in Wahrheit ein Sammelsurium verschiedener Konfessionen, die aus der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts entstanden sind. Protestantische Gebiete in der Schweiz sind hellblau markiert, es leben jedoch auch viele Konfessionslose dort. Hellblau sind aber auch die Amischen in den USA eingezeichnet, die ihre Wurzeln in der reformatorischen Täuferbewegung Europas haben und viele Seiten des technischen Fortschritts ablehnen. Heute buddhistisch, morgen taoistisch Ein anderes Beispiel ist China: «In China sind viele Menschen nicht einer bestimmten Religion zugehörig», sagt Walthert. Stattdessen gibt es verschiedene, mehr oder weniger religiöse Traditionen, darunter zum Beispiel Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus und verschiedene lokale Götterverehrungen. «Die Leute gehen heute in einen buddhistischen Tempel und morgen in einen taoistischen, sind aber nirgendwo Mitglied», sagt er. Eine reiche, lebendige, doch schwierig abzubildende Vielfalt. Viktor Orban tritt die Rechtsstaatlichkeit mit Füssen. Bilder: epa/Imre Foldi, ap/Geert Vanden Wijngaert Demokratie – ein fragiles Gut auch in Europa Protestantische Kirche Orthodoxe Kirche Oberhaupt: Geistlich jeder einzelne Gläubige, organisatorisch verschiedene demokratische Gremien. Einzelne Gemeinde wichtiger als die Dachstruktur. Oberhaupt: Die verschiedenen Ostkirchen werden von Patriarchen, Erzbischöfen oder Metropoliten geführt. Für einige gilt der Patriarch von Konstantinopel als «Ehrenoberhaupt». Funktion: Es gilt das Priestertum aller Gläubigen, Pfarrer haben spezielle Kompetenzen in Lehre, Ritualen und Gemeindeleitung. Funktion: Patriarchen sind die Oberhäupter der Priesterschaft und der Liturgie. Glaube: Im Gegensatz zu den Westkirchen gelten religiöse Bilder, «Ikonen», nicht als blosse Abbildungen, sondern als authentische Verkörperung der jeweiligen Heiligen oder von Jesus. Islam Glaube: Ausgelöst durch die Kirchenkritik Martin Luthers entstand ab 1517 aus der katholischen die protestantische Kirche. In viele Konfessionen aufgesplittert. Grundgedanke: Es braucht keine Kirche als Heilsvermittlerin, jeder Mensch hat direkten Zugang zu Gott. Gläubige: 400–600 Millionen. Oberhaupt: Gemeinden werden von einem Vorbeter, meist als Imam bezeichnet, geführt. Die Frage nach der obersten Führung der Tradition hat zur Spaltung geführt. Sunniten: Seit dem Ende des Osmanischen Reiches 1924 kein übergreifendes Kalifat (Nachfolger Mohammeds) mehr. Schiiten: Imamat, wobei vielen der letzte, 12. Imam, als Erlöser gilt, aber «verborgen» und unbekannt ist. Funktion: Der Kalif ist weltlicher und administrativer Führer. Der Imam ist ein unfehlbares, gottähnliches Oberhaupt. Die Religionsgelehrten im Islam bezeichnet man als Ulama, zu ihr zählen die Vorbeter (Imame) in den einzelnen Gemeinden. Die Ulama ist jedoch nicht zentral organisiert. Glaube: Der Islam beruht auf der Verkündigung des Propheten Mohammed, die im Koran festgehalten ist. Moslems glauben an Allah und halten sich an die fünf Säulen: Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosen, Fasten, Pilgerfahrt. Gläubige: 1,5 Milliarden. Gläubige: 300 Millionen. Hinduismus Katholische Kirche Oberhaupt: Papst (pontifex maximus): Franziskus (Jorge Mario Bergoglio). Funktion: Nachfolger von Petrus, Bischof von Rom, geistliches und weltliches Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche als Stellvertreter Christi. Glaube: «katholisch» (griech.) als «allumfassende Kirche», direkte Verbindung zu den Aposteln über ununterbrochene Nachfolgeregelung, Sakramente als sichtbares und heilbringendes Handeln Gottes, neben der Bibel hat die Tradition nahezu gleichrangige Autorität. Gläubige: 1,2 Milliarden. Grafik: Ostschweiz am Sonntag/Stefan Bogner, Bilder: Keystone Judentum Oberhaupt: Es gibt keine übergreifende Institution, organisatorische Strukturen sind Tempel, Klöster und religiöse Gemeinschaften, die jeweils eigene Oberhäupter haben. Oberhaupt: Gemeinden werden von einem Rabbiner geleitet. Eine übergreifende religiöse Organisation fehlt weitgehend. Funktion: Rabbiner leiten die Gemeinden rechtlich und geistlich. Glaube: Im Lauf der 3000jährigen Geschichte haben sich verschiedene Strömungen entwickelt. Grundlage aller Strömungen ist die Halacha (Rechtslehre). Sie basiert auf der schriftlichen («Tora», fünf Bücher Mose) und mündlichen Lehre (verschriftlicht im Talmud). Gläubige: 15 Millionen. Funktion: Priester führen Rituale durch, meist in den Tempeln. Daneben unterweisen verschiedene Gurus ihre Anhängerschaften. Glaube: Der Hinduismus besteht aus verschiedenen, sehr uneinheitlichen Strömungen, verschiedenen Philosophien und Göttern. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass Leben und Tod ein sich ständig wiederholender Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) ist sowie die Vorstellung, in eine Ordnung geboren zu werden, die die Gesellschaft und das Leben bestimmt (Dharma). Gläubige: 900 Millionen. Buddhismus Oberhaupt: Verschiedene Strömungen ohne einheitliches Dach. Prominent: Tibetischer Buddhismus mit dem Dalai Lama als Oberhaupt der wichtigsten Mönchshierarchie. Funktion: Zentral ist die Unterscheidung zwischen Laien und Mönchen (nicht: Priestern), die für die Durchführung von bestimmten Ritualen notwendig sind. Die Klöster der Mönche werden von Äbten verwaltet. Glaube: Die Buddhisten berufen sich auf die Lehren des Siddharta Gautama, der in Nordindien lebte. Darin geht es um die Erkenntnis, dass das Dasein Leiden und die Überwindung dieses Daseins erstrebenswert ist. Gläubige: 230–500 Millionen. W ie eine Regierung den freiheitlichen Rechtsstaat mit formal-demokratischen Mitteln angreift: Die Pressefreiheit wird eingeschränkt, das Verfassungsgericht seiner Kompetenzen beraubt. Nein, die Rede ist nicht von Ägypten oder irgendeinem anderen afrikanischen Land. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht in Stein gemeisselt, sie müssen verteidigt werden – auch in Europa. Die Rede ist von Ungarn. Um es vorwegzunehmen, in Budapest regiert eine demokratisch gewählte Regierung. Sie tut dies, gestützt auf eine rechtskonservative Zweidrittelmehrheit im Parlament, die ihr auch Verfassungsänderungen ermöglicht. Auch dies ist Volkes Wille. mität zu überprüfen. Die jüngste Verfassungsänderung, die das ungarische Parlament diese Woche beschlossen hat, stellt diese Grundsätze auf den Kopf. Sie entzieht dem Verfassungsgericht de facto seine Grundkompetenz – die Überprüfung der Regierungspolitik auf ihre Vereinbarkeit mit dem geltenden Grundgesetz. Orbans Sündenfälle Um zu erkennen, wie diese Entmachtung des Verfassungsgerichts die Demokratie im Kern trifft, genügt ein Blick darauf, wogegen sich die höchsten Richter bisher verwahrt hatten: Ï Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, die private und oppositionelle Medien staatlicher Kontrolle unterstellen. Ï Zwangs-Frühpensionierung, um der Regierung als unbotmässig geltende Macht und Verantwortung Richter aus dem Amt zu entfernen. Ï Die vor allem die Roma-Minderheit Wer aber so viel Macht hat wie und Arme betreffende Stigmatisierung Ungarns Premierminister Viktor von Obdachlosigkeit als Straftat. Orban mit seiner Partei Fidesz, trägt Ï Kopfprämien, die auswanderungsgrosse Verantwortung im Umgang willige Akademiker zahlen sollen. mit dieser Macht. Demokratische Ï Verlust des bisherigen Rechtsstatus Verfassungen sind als Ausdruck für 300 Religionsgemeinschaften. eines gesellschaftlichen Konsenses Ï Erhöhte Hürde zum Wahlrecht. über Werte, Pflichten und und All diese zum Teil rückwirkenden Rechte aller Bürger eines Staates geÄnderungen wurden als verfassungsdacht. Sie sollten keine Kampfinstruwidrig beurteilt. Nun mente im politischen Da wird das aber hat sich die RegieStreit sein. Und sie dürfen nicht den ZieGrundgesetz einer rung Orban solche Kritik wiederum per Verfaslen einer Partei dieDemokratie zur sungsänderung verbeten. nen, auch wenn diese beliebigen Was den Richtern bleibt, mit noch so grosser Gesetzessammlung ist die Überprüfung, ob Mehrheit regiert. die Verfahren der GesetzDenn jede demokragebung oder der Verfassungsänderung tische Macht ist nur eine geliehene – korrekt verlaufen – aber das ist mit der absehbar jeweils nur auf eine LegisMehrheit der Regierung Orban faktisch laturperiode von vier bis fünf Jahren. immer gegeben. In dieser Kadenz kann die jeweils regierende Kraft ihre politischen Eine Gefahr für ganz Europa Zielsetzungen auf dem Weg der parWer so politisiert, degradiert demolamentarischen Gesetzgebung kratisches Grundrecht zur beliebigen durchsetzen. Gesetzessammlung und versucht, seine Und hier setzt die Kritik an den Macht über das vom Volk geliehene Regierenden in Budapest an. Vermischt eine Regierung Gesetzgebung Mandat hinaus zu zementieren. Kommende Regierungen können dies nur und Verfassung, beginnt sie geltenkorrigieren, wenn sie ebenfalls über des Grundrecht ohne einen neuen eine Zweidrittelmehrheit verfügen – gesellschaftlichen Konsens zu und damit derselben Versuchung erlieändern und gerät in den Ruch der gen könnten – mit anderen politischen Willkür. Um diese Gefahr einzugrenZielen. Dies begründet, weshalb die zen, kennen repräsentative, parlarechtsgerichtete Regierung Ungarns ein mentarische – also nicht direkte – gefährliches Vorbild für Populisten in Demokratien die Kontrollinstanz ganz Europa abgibt. einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie hat sowohl umWalter Brehm strittene Gesetze als auch Änderunwalter.brehmytagblatt.ch gen im Grundgesetz auf ihre Legiti-