Brennpunkt Osteopathie und Co. – überbewertet oder zu Recht geschätzt? Knacks weg? Kaum ein anderer Gesundheits-Bereich wandert derart zwischen Wunder und Wohltat wie die Behandlungen von Physiotherapeuten oder Osteopathen. Wir haben genau hingeschaut: Wo gibt es wirklich Hilfe? Wo ist die Grenze? Wie gut sind die Therapeuten? D er Traum klingt gut und günstig: ein Ruck, 100 Euro. Nach dem Einrenken klappt‘s auf dem Turnier auch wieder mit der Rechtsbiegung. Die Schleife ist dann goldfarben. Das Leben geht weiter wie bisher. Diese Art Wunderheilung gehört ins Reich der Phantasie. Oder findet ihren Platz in den unzähligen Internetforen. „Hol‘ mal den Osteopathen, der rückt das Pferd schon wieder gerade und renkt die Wirbel ein!“ Wer hat diesen Satz noch nie gehört? Osteopathie, Physiotherapie, Chiropraktik sind gefragt: Es sind Behandlungsmethoden, die „dopingfrei“ sind und vor allem keine Medikamenten-Flut nach sich ziehen. So prallen Unwissenheit und 28 Reiter Revue International 6/2012 Vorurteile aufeinander. Dabei steckt so viel Gutes drin. Die Osteopathie zum Beispiel wurde bereits vor weit über 100 Jahren begründet – als Behandlung für Menschen natürlich. Der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still soll mit seiner Idee auf die Wissenslücken der damaligen Schulmedizin reagiert haben. Entdeckt in den USA Ihm ging es um die Betrachtung des Organismus‘ als untrennbare Einheit und dessen Fähigkeit zur Selbstheilung. Die Chiropraktik kommt ebenfalls aus den USA, sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Daniel David Palmer fiel bei einer Untersu- chung der Zusammenhang zwischen dem Verschiebens eines Wirbels und dem Nervensystem auf. In den USA ist die Chiropraktik ein anerkannter Zweig der Medizin. Inzwischen werden diese Methoden längst in der Pferdegesundheit angewandt. Und trotzdem rumort es: Zum einen stöhnen Osteopathen über falsche Sättel und schlechtes Reiten. Zum anderen erwarten verzweifelte Pferdebesitzer auf die Heilung durch einmaliges Handauflegen. Darauf geht manch Berufs-Seiteneinsteiger mit zweifelhafter Ausbildung ein und lauscht dem Kunden gegenüber geduldig die vom Tierarzt ungehörten Geschichten der Pferdebesitzer an. Dieser zahlt und zahlt und bringt im Brennpunkt Foto: J. R au Hände massieren wohltuend. Kein Zweifel. Aber können sie Wirbel einrenken? Reiter Revue International 6/2012 29 Foto: J. R au Foto: J. R au Brennpunkt Klemmt das Illiosakralgelenk? Es muss nicht gleich die Rollkur sein, die Gelenke blockiert. Kann aber. schlimmsten Fall schließlich das immer noch lahmende Pferd in die nächste Klinik. Aus einer solchen klagt eine Tierärztin, die nicht genannt werden möchte: „Es dürfe nicht viel kosten, das sagen dann viele Pferdebesitzer, weil sie schon so viel Geld beim Heilpraktiker und Physiotherapeuten gelassen haben. Da denkt man sich so seinen Teil über diese sogenannten Therapeuten.“ Ziemlich viele Missverständnisse und Halbwahrheiten stecken in einem Thema, oder? Kein Wunder, dass sich um die Physiotherapie und die Osteopathie so viele Märchen ranken, Ängste geschürt und Hoffnungen geweckt werden. Eine, die seit 15 Jahren für die Methoden der Osteopathie hierzulande steht, ist Beatrix Schulte Wien. 1997 gründete sie das deutsche Osteopathie-Zentrum (DIPO) im westfälischen Dülmen, wo sie Osteotherapeuten ausbildet. Sie zieht ein Fazit ihrer bisherigen Tätigkeit: „Die Behandlungsmethoden sind in der modernen Pferdemedizin nicht mehr wegzudenken, sowohl in der Rehabilitation als auch in der Prävention. Es gibt kaum einen Spitzenreiter, der seine Pferde nicht regelmäßig physiotherapeutisch oder osteopathisch behandeln lässt.“ Tatsächlich können Gelenke blockieren, wenn sich zum Beispiel junge Hengste nach allen Regeln des Kampfspieles besteigen und sich überschlagen, oder wenn der Sattel sich tief in die Schulter bohrt, das Pferd in ein Loch tritt und stürzt, der Reiter selbst unter einer schiefen Wirbelsäule leidet, dauerhaft ungleich sitzt und das Pferd die einseitige Belastung ausgleicht und sich dabei verspannt. Das alles gibt es, doch oft äußern sich die Beschwerden nur unspezifisch und werden deshalb manchmal schlicht und ergreifend übersehen. 30 Reiter Revue International 6/2012 Bockt Ihr Pferd beim Angaloppieren? Der Therapeut kann vielleicht helfen. „Wenn man das Gefühl hat, dass das Pferd in seiner Bewegung plötzlich eingeschränkt ist, es sich schlecht biegen lässt, undefiniert lahm ist, plötzlich unwillig bei der Dressurarbeit ist oder immer beim Angaloppieren bockt, dann stimmt sehr oft etwas nicht“, erzählt DIPO-Osteotherapeutin Wanja Schumann aus ihrer Praxis. Ein Osteopath sucht dann im Idealfall nach der Ursache und löst die Bewegungseinschränkung auf, indem er sich um die Muskeln kümmert, um die Gelenke und die Faszien, das sind fasrige Bindegewebsanteile, die leicht verkleben. „Dauerhaft hilft aber eine Behandlung in den meisten Fällen wirklich nur, wenn ein Gesamtkonzept um das Pferd steht, wenn Sattler, Hufschmied, Zahnarzt, Tierarzt, der Reiter und sein Trainer alle zusammen arbeiten“, findet Wanja Schumann. Sie legt auch Wert darauf, dass das Pferd nach der Behandlung 48 Stunden Koppelgang verschrieben bekommt, damit die Selbstheilungskräfte angeregt werden. „Eine Woche soll das Pferd nur vorwärts-abwärts longiert werden, und dann bekommt der Besitzer einen Trainingsplan.“ Den muss ein Reiter auch einhalten können, deshalb sind gute Ausbilder für das gesunde Pferd mindestens ebenso wichtig wie Therapeuten. Wo aber sind die Grenzen der Methoden? „Die Indikation muss stimmen, bevor behandelt wird. Wenn zum Beispiel der Sattel nicht passt, nutzt eine Behandlung am Pferd ➤ Esther Weber-Voigt Foto: Privat Foto: Privat Foto:Privat Brennpunkt Marina Fuhrmann Timo Kaschel Kann man von der PferdePhysiotherapie leben? Was ist das größte Vorurteil gegenüber Osteopathen? Wie erkenne ich als HumanPatient einen Scharlatan? Esther Weber-Voigt aus Walldorf hat ein freies Lehrzentrum und eine Fahrpraxis für Osteopathie und Physiotherapie gegründet: „Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Drei bis vier Jahre braucht man, um in der Selbstständigkeit wirklich davon leben zu können. Der Markt ist einfach voll. Ich rate jedem, der sich an einer Schule einschreibt, zu kontrollieren, ob er sein Geld wiederbekommt, sollte während der Ausbildung die Schule insolvent werden.“ Marina Fuhrmann, Vorsitzende des (Human-) Verbands der Osteopathen Deutschland (VOD): „Ein großes Vorurteil heißt ‚Osteopathen = Wunderheiler‘. Osteopathen sind weder Heiler noch Wunderheiler. Dank langjähriger Ausbildung und ihren fundierten Kenntnissen in Physiologie und Anatomie sorgen sie dafür, dass sich die Körper der Patienten wieder selbst regulieren können.“ Timo Kaschel, Vorsitzender der Deutschen Chiropraktoren Vereinigung: „Wie überall gibt es auch im Gesundheitswesen Leute, die haben das Talent, sich nur gut zu verkaufen – da muss man vorsichtig sein. Wenn Sie als Patient die Behandlungskosten nicht arm machen und wenn die medizinische Seite nicht ausgeschlossen wird – warum nicht ausprobieren? Ein Therapeuth, der sich in Ruhe die alten Befunde anhört und in Betracht zieht, eine sinnvolle körperliche Untersuchung macht und Sie über mögliche Grenzen und Risiken aufklärt – das ist schon ein gutes Zeichen.“ Was machen eigentlich Osteopathie und Co? Osteopathie: Marina Fuhrmann vom Verband der (Human-) Osteopathen Deutschland definiert das so: „Die Osteopathie dient dem Erkennen und Behandeln von Funktionsstörungen. Dazu nutzt sie eigene Techniken, die ausschließlich mit den Händen ausgeführt werden. Die Osteopathie kann Bewegungseinschränkungen aufspüren und lösen. Sie beschäftigt sich nicht mit der Behandlung einzelner Symptome, sondern will immer die Ursachen von Beschwerden aufspüren und behandeln. Osteopathen fördern die selbstregulierenden Kräfte.“ Manuelle Medizin: „Während die Manuelle Medizin hauptsächlich das muskuloskelettale System mit seinen Störungen behandelt, ist die Osteopathie auf die gesamten Funktions- und Regelkreise des Organismus ausgerichtet“, sagt Fuhrmann. Chiropraktik: Der TätigkeitsSchwerpunkt liegt auf den Gelenken der Wirbelsäule. Chiropraktiker diagnostizieren und behandeln mechanische Probleme an Gelenken, Muskeln, Sehnen und Bändern sowie die Auswirkungen, die diese Probleme auf die Funktion des Nervensystems haben können. Die Wirkung einer Gelenkmobilisierung passiert weniger in der Muskulatur, sondern setzt am Nervensystem an. Timo Kaschel erklärt aus seiner Sicht als Human-Chiropraktor – in dem Bereich heißt es Chiropraktor, in der Veterinärmedizin spricht man von Chiropraktikern: „Chiropraktoren geben über einen Impuls am Gelenk einen Reiz ans Gehirn. In Sachen Schmerzgedächtnis gehen viele Erkenntnisse in unsere Richtung. Bewegungsreize sind für das Gehirn interessanter als Schmerzreize. Die beste Möglichkeit, das Gehirn zu fordern und damit zu trainieren, sind komplexe Bewegungsreize.“ Physiotherapie: Physiotherapie meint im Humanbereich Krankengymnastik, Massage, Bewegungstherapie oder die physikalische Therapie mit mechanischen oder thermischen Reizen oder mit Wasser. Reiter Revue International 6/2012 31 Foto: J. R au Foto: PRIVAT Foto: M. gr. Feldhaus Brennpunkt Dr. Sybil Moffatt Wanja Schumann Kann man ausgerenkte Wirbel und Gelenke überhaupt einrenken? Sieht eine chiropraktische Behandlung immer so spektakulär wie im TV aus? Haben Sie schon mal eine Behandlung an den Tierarzt abgegeben? Beatrix Schulte Wien, Gründerin und Leiterin des Deutschen Instituts für Pferde-Osteopathie (DIPO) Dülmen: „Das Missverständnis des ausgerenkten Wirbels zeigt die verbreitete Unkenntnis. Der Begriff ‚Einrenken‘ ist umgangssprachlich, aber eben sachlich falsch. Es ist nichts ausgerenkt – sonst wären die Schmerzen unvorstellbar groß. Es ist eher so, dass sich ein Gelenk oder ein Wirbel verkantet hat oder blockiert ist, vergleichbar mit einer klemmenden Schublade. Es geht deshalb auch nicht ums Einrenken, sondern darum, das Gelenk wieder beweglich zu machen, mit einem kurzen Stoß, der mit hoher Geschwindigkeit erfolgt und in einer bestimmten Richtung am Gelenk ankommt. Nicht nur, dass viele denken, dass ein Gelenk ausgerenkt ist, schlimmer ist der Glauben, dass einmal ‚Einrenken‘ reicht und am nächsten Wochenende geht es wieder aufs Turnier. Da wird die Rechnung ohne die Muskeln gemacht. Ein krankhaft veränderter Muskel muss sich auch erst regenerieren. Dass wirklich eine Blockade vorliegt, die mit einer Behandlung weg ist, kommt vor, aber das ist selten. Häufiger geht es um chronische Schmerzpatienten. Deshalb sollte sich einer osteopathischen Behandlung eine physiotherapeutische anschließen.“ Dr. Sybil Moffatt, Tierärztin der „International Academy of Veterinary Chiropractic“, Freetz: „Die Wirkung der Chiropraktik basiert auf funktioneller Neurologie: Durch einen Impuls am Gelenk werden die Rezeptoren angesprochen, die geben die Info weiter ans Gehirn, dass das ehemals unbewegliche Gelenk nun wieder beweglich ist. Die Wirkung passiert also weniger über die Muskulatur. Wenn aber jemand am Huf zieht, um einen Wirbel zu bewegen, ist das sehr unspezifisch, da können unzählige Muskeln und Gelenke dazwischen ein Mikrotrauma bekommen. Deshalb arbeitet der gute Chiropraktor, indem er einen Impuls mit möglichst kurzen Hebeln nahe am betroffenen Wirbel oder Gelenk praktiziert.“ Wanja Schumann ist DIPOOsteotherapeutin aus Wiesbaden und arbeitet seit Jahren mit Tierärzten zusammen: „Ich hatte einen Fall, da knirschte es bei der Untersuchung im Becken. Das Pferd habe ich sofort in eine Klinik geschickt, um abzuklären, ob es sich um eine Fraktur handelt. Da ist Schluss für Osteopathen.“ Sie habe auch einmal ein Pferd erlebt, dass bereits bei der Berührung der Schweifrübe derart das Schwitzen vor Schmerzen anfing. „Wir holten einen Tierarzt dazu, mein Verdacht einer Schweifrübenfraktur hat sich bestätigt.“ Beatrix Schulte Wien 32 Reiter Revue International 6/2012 Was die Human-Osteopathie der Pferde-Osteopathie voraus hat Zwar ist die Berufsbezeichnung des Human-Osteopaths ebenso wenig geschützt wie bei den Therapeuten fürs Pferd, aber es gibt zum einen die klare Aussage: „Die Osteopathie gilt als Medizin und darf daher nur von Ärzten oder Heilpraktikern ausgeübt werden. Wer weder Arzt noch Heilpraktiker ist, darf nur im so genannten Delegationsverfahren, also auf Anweisung eines Arztes oder Heilpraktikers, osteopathisch arbeiten“. Und es gibt einen Bundesverband, den Verband der Osteopathen Deutschland (VOD) e.V., dessen Vorsitzende Marina Fuhrmann beschreibt ihn so: „1994 wurde der Verband in Wiesbaden gegründet. Eines seiner Ziele ist die Anerkennung des Osteopathen als eigenständiger Beruf. Denn in Deutschland sind weder der Beruf des Osteopathen noch dessen Ausbildung staatlich (außer in Hessen durch die Weiterbildungs- und Prüfungsordnung WPO Osteo) geregelt. Da eine staatliche Regelung fehlt, betreibt der VOD Qualitätssicherung im Interesse der Patienten. Dazu führt der Verband unter anderem eine Therapeutenliste. Sie enthält ausschließlich Mitglieder, ... qualifizierte Osteopathen mit einer mindestens vierjährigen Aus- und Weiterbildung, zur ständigen Weiterqualifikation verpflichtet.“ Foto: J. R au Foto: J. R au Brennpunkt Wölbt sich das Pferd gleichmäßig auf? Die Kontrollbewegung nur für Fachleute: Ist So entdeckt der Physiotherapeut Schiefe. das Kreuzbein mobil oder blockiert? nichts, weil die äußere Faktoren einfach nicht stimmen.“ Schulte Wien hat die Erfahrung gemacht, dass 80 Prozent aller Sättel nicht passen und deshalb können Pferde Beinprobleme bekommen, die eigentlich vom Rücken herrühren. Dann nutzt aber die Osteopathie nichts, weil erst ein passender Sattel an der Reihe wäre. Oder wenn das Pferd wegen falscher Fütterung und wegen falscher Haltung Magengeschwüre hat – da findet der Osteopath zwar sicher einen Defekt am Rücken, aber die ursächlichen Gründe sind nicht die Knochen! Oder wenn der Armkopfmuskel verspannt ist, weil die Zehe an den Hufen zu lang ist: Dann muss erst einmal der Hufschmied an die Arbeit und nicht zuvor der Physiotherapeut! Das hat natürlich wenig mit der Praxis der sogenannten Knochenbrecher oder umherreisenden „AutobahnTherapeuten“ zu tun, die suggerieren: Einmal renken, alles gut. Zumal es den ausgerenkten Wirbel gar nicht gibt, das ist wohl das größte Missverständnis rund um diese Therapieformen. Es gibt allenfalls Blockaden (siehe Seite 32). Und die werden vermutlich nicht gelöst, indem einer wie der XXL-Ostfriese aus dem Fernsehen, Tamme Hanken, am Hinterhuf zieht, das Pferd sich im Rücken durchdrückt und oft noch einen Satz nach vorne macht. Auf solche Geschichten reagieren gelernte Therapeuten zunehmend ungehaltener. Vor allem, wenn sie ausgebildete Human-Physiotherapeuten oder studierte Tierärzte sind, die nach vielen Jahren Lernen eine Weiterbildung zum Physiotherapeuten, Chiropraktiker oder Osteopathen aufs Studium gesattelt haben. Das tun übrigens immer mehr Veterinärmediziner. Dr. Sybil Moffatt spricht für den Bereich der VeterinärChiropraktiker und erklärt, dass in ihrer „International Academy of Veterinary Chiropractic“ (IAVC) in den Kursen 50 Prozent Fachtierärzte mit orthopädischem Hintergrund sitzen. Diese Ausbildung ist auch nur offen für Tierärzte und studierte Humanchiropraktoren (DC). Darunter waren beispielsweise die Mannschaftstierärzte der Championats-Springpferde und der -Vierspänner-Pferde, Dr. Jan-Hein Swagemakers und Dr. Marc Koene, die heute mit den Techniken in der ➤ Reiter Revue International 6/2012 33 Foto: J. R au Brennpunkt Massage ist eine Wohltat, das allein kann fürs Pferd schon ein besseres Wohlbefinden bringen – ohne Wunderheilung. Praxis arbeiten. Zurück zu dem Irrtum, man könne ein Pferd heilen, indem man am Hinterhuf zieht. Viele Experten werfen Tamme Hanken vor, dass er keine entsprechende Ausbildung habe, dass er keine Diagnosen stelle und auch keine Trainingspläne erarbeite. Als Reiter Revue International bei Tamme Hanken anrief, war gerade das Fernsehen auf seinem Hof. Keine Zeit zum Telefonieren. Auch auf eine Antwort auf die E-Mail mit der Frage nach seiner Ausbildung warten wir noch vergebens. Wo liegt also das Problem von Osteopathie und Co.? Der Haken sind die „Berufsbezeichnungen“, die jeder annehmen kann, weil sie ungeschützt sind. Ebenso wie die Namen mancher Privatschulen, die mit Bezeichnungen wie „Akademie“ oder „Institut“ Seriosität vorgaukeln. Pferde-Osteopath Stefan Stammer beklagt: „Andere Länder wie England, Holland oder Belgien haben es geschafft, rechtzeitig eine staatlich anerkannte Ausbildungsstruktur für die Physiotherapie am Pferd zu schaffen, um die Arbeit vergleichbar zu machen. In Deutschland gibt es das nicht. Jeder einzelne ist für seine Ausbildung selbst verantwortlich und die Berufsbezeichnung ‚Osteopathie/Physiotherapie für Tiere‘ ist weder anerkannt noch vergleichbar.“ Das schafft leider auch grundsätzliche Probleme bei der Anerkennung der Arbeit von ausgebildeten Therapeuten. Wer einen vertrauenswürdigen Die Grenzen der Therapien? Es gibt Krankheitsbilder, die sind und bleiben ein Fall für den Tierarzt, etwa: Kolik, Hufrehe, Arthrose – die man zudem oft nur auf einem Röntgenbild erkennen kann, Entzündungen, Prellungen, Sehnen-, Muskel- oder Bänderrisse oder Anrisse, Fissuren oder Frakturen. Marina Fuhrmann, Human-Osteopathin: „Akute lebensbedrohende Notfälle oder schwere Pathologien wie zum Beispiel Tumorerkrankungen ge- 34 Reiter Revue International 6/2012 hören nicht primär in den Bereich der osteopathischen Medizin.“ Dr. Sybil Moffatt, Tiermedizinerin, Chiropraktorin: „Meiner Erfahrung nach kommen 80 Prozent der Lahmheiten aus den Beinen und die sollten tiermedizinisch untersucht werden. Nur fünf Prozent der lahmenden Pferde haben die Ursache an Halswirbelsäule oder Becken. Unsere Schüler lernen, was sie wirklich können und wo Schulmedizin gefragt ist.“ Therapeuten sucht oder gar eine Ausbildung machen möchte, sollte sich umfassend informieren. Die Warnglocken müssen schrillen, wenn auf der Homepage eines Instituts zu lesen ist: „Wir möchten es auch therapeutisch talentierten ‚Pferdemenschen‘ ohne medizinische Vorkenntnisse ermöglichen, eine Ausbildung in der Pferdephysiotherapie zu absolvieren. Eine mindestens fünfjährige Erfahrungszeit mit dem Pferd muss nachgewiesen werden“ – das ist keine wirkliche Voraussetzung, um später mit der komplexen Thematik umgehen zu können. Auch die Ausbildung an der EWV-Schule, die Esther Weber-Voigt gründete, klingt nicht eben vertrauenserweckend: „300 Stunden in zwölf Monaten, dazu kommen Pflicht-Praktika, das kostet 3.000 Euro inklusive Skripte und Prüfungen“. Das wären, eine 40-Stunden-Woche zugrunde gelegt, gerade mal siebeneinhalb Wochen Ausbildung. Inklusive Anatomie-Wissen, Massagegriffe, DoppelLongen-Arbeit und mehr. „Das Jahr reicht, wenn die Schüler mitarbeiten und ihre Hausaufgaben machen. Das ist ja in jedem Job so.“ Da mag WeberVoigt Recht haben: Wer gut in seinem Beruf ist, muss viel selbst einbringen. Ob man allerdings für eine Ausbildung Tausende von Euro hinblättern sollte? Ein anderes Beispiel: „Wir bilden aus in 11 x 4 Tagen, alle zwei Monate in einem Zeitraum von zwei Jahren ... Man zahlt ... insgesamt dann 4.950 Euro ... dazu kommen noch Anfahrt, Hotel und Fachbücher“, so Tanja Richter vom Institut für Pferde-Physiotherapie (IPP). Auf ihrer Homepage warnt sie: „Pferdephysiotherapie ist eine zusätzliche schöne Tätigkeit, aber kein Vollzeitberuf.“ Ein wichtiger Hinweis – allerdings wird es das Ziel der meisten Auszubildenden sein, eines Tages mit der teueren Ausbildung die täglichen Brötchen zu verdienen und nicht nur das eigene Pferd therapieren können. Es sind genau solche Aussagen, die im Widerspruch stehen und noch mehr Verwirrung stiften! Dem Pferdebesitzer bleibt nur hartnäckiges Nachfragen, wenn er einen vertrauenswürdige Therapeuten finden will. Viel Cornelia Höchstetter Glück! Brennpunkt Foto: c. Höchstet ter Was kann passieren, wenn Pfuscher am Werk sind? Stefan Stammer Stefan Stammer, seit zwölf Jahren als Pferde-Osteopath tätig: „Bei einem ‚Hobby-Therapeuten‘ kann der Fehler darin liegen, dass dem Pferd eine professionelle Behandlung verwehrt wird. Es passiert zwar selten etwas Schlimmes, aber stellen Sie sich vor, das Pferd hat eine Grunderkrankung wie etwa eine Hufrollenentzündung. Besonders im Freizeitbereich gehen solche Pferde nicht gleich lahm sondern reagieren eher mit verkrampfter Muskulatur. Ein Therapeut entspannt die Muskulatur, es wird erst besser, dann wieder schlechter, der Therapeut kommt wieder, es geht immer weiter, ohne dass die eigentliche Erkrankung, die Hufrolle, überhaupt diagnostiziert wird! Bei den ‚Knochenbrechern‘ kann eine Behandlung schlichtweg tierschutzrelevant sein und gegen Paragraph eins des Tierschutzgesetzes verstoßen: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Auch an der Wirbelsäule gibt es Grunderkrankungen wie Arthrose an den Wirbelgelenken. Manipulationen über lange Hebel wie etwa das unkontrollierte ruckartige Ziehen am Hinterbein sind erstens als Therapie weder anerkannt noch werden sie an irgendeiner Schule der Welt gelehrt. Zweitens können durch solche wilden Methoden Schmerzen ausgelöst werden. Diese Art und Weise entspricht nicht den Grundsätzen von therapeutischem Handeln und ist aus meiner Sicht deshalb als grob fahrlässig zu bezeichnen. Gelenkmanipulationen dürfen grundsätzlich nur nach eingehender manueller Untersuchung und im Zweifel nach einer Röntgendiagnostik durch den Tierarzt durchgeführt werden.“ Wie schätzt der Tierarzt die Osteopathie ein? Dr. Andreas Bolte aus Lengerich in Nordrhein-Westfalen, Tierarzt, arbeitet auch chiropraktisch und ist Trainer von Rennpferden: „Moderne Pferdekliniken beschäftigen inzwischen fast alle einen eigenen Os- teopathen, Physiotherapeuten oder Akupunkteur oder haben zumindest einen festen Tag, an dem ein solcher Spezialist vor Ort ist. Das Behandlungsspektrum ist ausgeweitet, die Tierärzte wissen um diese Entwicklung.“ Adressen, die helfen Für den Menschen: Verband der Osteopathen Deutschland, www.osteopathie.de. Deutsche Chiropraktoren-Gesellschaft, www.chiropraktik.de Fürs Pferd: Die Deutsche Reiterliche Vereinigung bietet eine Zusatzausbildung zum FN-Pferdpyhsiotherapeuten an. Voraussetzung ist unter anderem der Nachweis der staatlichen Anerkennung als Physiotherapeut oder ein Studium der Tiermedizin. Therapeutenlisten gibt es unter: www.pferd-aktuell.de/ ausbildung/fn-pferdpyhsiotherapeut/fn-pferdpyhsiotherapeut International Veterinary Chiropractic Association (IVCA), Therapeutenlisten gibt es unter: www.ivca.de Reiter Revue International 6/2012 35