Ausgabe 2012-2 - Ärztliche Akademie

Werbung
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
1
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
Angststörungen
im Kindes- und
Jugendalter
Symposion 2012
in Brixen
Inhalt:
Editorial 1
Einladung zur Weiterbildungswoche und zum Symposion:
»Angststörungen im Kindes- und Jugendalter«
1
Vorschau und Abstracts zum Symposion
2
Filmpremiere »Die zweite Geburt« 3
»Die zweite Geburt« Filmbeschreibung
3 – 5
Leitlinien in der Analytischen Kinderund Jugendlichenpsychotherapie
6
Buchbesprechung H. Hopf
6
Prävention von Schulabsentismus
7 – 9
Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen
10
Autismus-Spektrum-Störungen
11 – 15
Fortsetzung Literaturhinweise
16
Impressum
Herausgeber:Ärztliche Akademie für Psycho­therapie
von Kindern und Jugend­lichen e.V.
Spiegelstraße 5
D-81241 München
www.aerztliche-akademie.de
Redaktion:Markus Züger, Manfred Endres,
Renate Flügel, Birgit Schramm
[email protected]
Fotos:Krischan Dietmaier, Birgit Schramm, u.a.
Gestaltung: design stauss grillmeier, München
Auflage: 1.000 Exemplare
Chezzi Cohen
Foto: Krischan Dietmaier
Liebe Leserinnen und Leser,
bevor wir uns im Juli 2012 in Brixen wiedersehen, möchten wir noch
einmal auf das interessante Symposion in Benediktbeuren zurückblicken.
ÄRZTLICHE AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN E.V.
Dr. med. Manfred Endres
Spiegelstraße 5
D-81241 München
Tel +49 (0) 89 820 53 03
Fax +49 (0) 89 88 20 89
Das Thema lautete: „Kinderpsychiatrie und Kindertherapie im Dialog - Autismus, ADHS, Schulverweigerung“. Die ÄA bedankt sich
bei allen Referenten und Seminarleitern, die für das Gelingen des
Symposions, bei dem 340 Kolleginnen und Kollegen teilnahmen, beigetragen haben. Wir sind besonders dankbar, dass viele Referenten
der ÄA treu zur Seite stehen und sich immer wieder den Mühen der
Vorbereitung und Durchführung der Lehrveranstaltungen unterziehen. Aber nicht nur die altbekannten Referenten, auf die wir dankbar zurückgreifen wie Dagmar Lehmhaus, Eva Rass, Oliver BilkeHentsch und Klaus Räder haben ihren Beitrag geleistet, sondern es
gab in Bezug auf dieses spezielle Thema auch neue Vortragende. Eine
wohltuende Mischung! Heinrich Ricking, Petra Sobanski, Katrin
Gessl und Michele Noterdaeme haben interessante und praxisnahe
Vorträge über Schulabsentismus, ambulante bzw. stationäre Behandlung von Schulverweigerung und über Autismus-Spektrum-Störungen
gehalten. Daneben gab es statistisches Material über Suizidalität im
Kindes- und Jugendalter von Hellmuth Braun-Scharm, ein problematisches Thema für jeden Therapeuten, das aber gerne ausgeblendet
wird. Das Thema ADHS wurde anders als noch vor 10 Jahren, als es
schon einmal Thema bei einem Symposion war, sachlich und klar
dargestellt, ohne dass die früher häufig zu beobachtende Polarisierung bei diesem Thema auftrat. Hier sind die Beiträge von Klaus Räder und Matthias Wildermuth hervorzuheben. Insgesamt ist es gelungen die schwierige Gratwanderung zwischen stationärer und
ambulanter Behandlung, sowie zwischen medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung so zu bearbeiten, dass Brücken geschlagen wurden und den Teilnehmern verschiedene Behandlungsansätze vermittelt werden konnten. Einige der Vorträge sind in dieser
Ausgabe der Zeitung „Akademie Aktuell“ nachzulesen, oder auf der
Homepage der ÄA zu finden.
Da von den Vortragenden einige Buchempfehlungen ausgesprochen
wurden, finden Sie diese im Anhang.
[email protected]
www.aerztliche-akademie.de
Beim bevorstehenden Symposion in Brixen werden Angststörungen
im Kindes- und Jugendalter den Schwerpunkt bilden. Ging es in Benediktbeuren u.a. noch um Schulangst und Schulverweigerung wenden wir uns nun den Ängsten und den Angststörungen im Allgemeinen zu. Uns erwarten wieder interessante Vorträge und Seminare.
Wir freuen uns auf ein Wiedersehen in Brixen und hoffen auf rege
Beteiligung.
Markus Züger
Literaturhinweise auf Seite 16
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 1
»Angststörungen im Kindes- und Jugendalter«
Symposion vom 6.–8. 7. 2012 in Brixen
Im Jahre 1998 begegnete ich Chezzi Cohen zum ersten Mal. Auf unserem Symposion in Brixen berichtete er über die stationäre Behandlung von traumatisierten Kindern im Heim, dessen Konzept er
maßgeblich gestaltet hat. Chezzi Cohen beeindruckte
mich bereits damals durch sein liebenswertes zugewandtes und bescheidenes Wesen. Seitdem verbindet
uns eine langjährige Freundschaft. In mehreren Besuchen vor Ort konnte ich sein Konzept für die Behandlung traumatisierter Kinder im Heim persönlich
kennen lernen. Bei den Besuchen entstand die Idee
einen Dokumentarfilm zu drehen, der das Leben
Chezzi Cohens und das Behandlungskonzept der von
ihm über viele Jahre geleiteten Einrichtung zeigt.
Dieses Projekt konnte nun realisiert werden, wir werden einen Rohschnitt des Films auf dem Symposion
in Brixen zeigen und mit Chezzi Cohen seinen 80.
Geburtstag feiern.
Das Symposion am Ende der Weiterbildungswoche
wird sich mit Angststörungen im Kindes- und Jugendalter beschäftigen. Angststörungen zählen sowohl im Kindes- und Jugendalter wie auch im Erwachsenenalter zu den häufigsten psychischen
Erkrankungen. Die Häufigkeit im Kindes- und Jugendalter wird auf 5 – 10 % geschätzt. Ähnliche
Schätzungen existieren für das Erwachsenenalter. Damit stellen die Angststörungen eine der häufigsten
Indikationen für eine psychotherapeutische Behandlung dar. Angststörungen sind überaus facettenreich,
wie Hans Hopf in seinem lesenswerten Buch „Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen“, erschienen
bei Brandes & Apsel, darstellt:
„Angst ist ein affektiver Zustand, der mit dem Gefühl, bedrängt und bedroht zu sein sowie mit körperlichen Begleiterscheinungen verbunden ist. Ängste
sind somit wichtiger Bestandteil der affektiven
Grundausstattung eines jeden Menschen. Sie warnen
vor Gefahren, sichern damit das Überleben und dienen der sozialen Anpassung an die äußere Realität
sowie an die Forderungen des Über-Ichs. Hier sind
vor allem Trennungs- und Verlustangst, Schuldangst,
Angst vor Kränkungen, Angst vor Liebesverlust,
Schamangst, Kastrationsangst, Angst vor Autonomie
und Autonomieverlust zu nennen. Reale Angst –
auch Furcht genannt – ist ein wichtiges Sensorium,
welches ein Individuum vor ganz realen Bedrohungen und Gefahren warnt und schützt. Störend sind
lediglich ein zuviel oder ein zuwenig an Angst sowie
unbegründete, der Situation unangepasste Ängste.“
Auf dem Symposion werden wir diagnostische und
differentialdiagnostische Fragen behandeln und vor
allem die Behandlungstechnik diskutieren. In Seminaren besteht die Möglichkeit eigene Behandlungsfälle im Kollegenkreis zu diskutieren.
In Brixen beginnen wir mit einer neuen Fortbildung
in Eltern-Kleinkind-Psychotherapie. Im nächsten Jahr
besteht die Möglichkeit mit Fortbildungen in Psychosomatischer Grundversorgung und in Traumatherapie
zu beginnen. In Benediktbeuern diesen Jahres haben
wir erstmals eine Fortbildung in Gruppentherapie für
Kinder und Jugendliche angeboten, die auf große Resonanz gestoßen ist. Die Fortbildung in Gruppentherapie bieten wir in drei Blöcken an. Nächstes Jahr in
Brixen besteht wieder die Möglichkeit mit der Fortbildung in Gruppenpsychotherapie für Kinder und
Jugendliche zu beginnen.
Manfred Endres
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
2
Sommersymposion 2012 –
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter
Angststörungen bei Kindern
und Jugendlichen – Diagnose
und Psychotherapie
Abstract zum Vortrag am 6.7.2012
Angststörungen gehören zu den
am häufigsten diagnostizierten
Störungen im Kindes- und Jugendalter. In dem Vortrag wird
über psychoanalytisches Verstehen
von Ängsten, über unterschiedliche Angstarten sowie über Entstehung, Diagnose und psychoanalytische sowie tiefenpsychologisch
fundierte Behandlungen von
Angststörungen referiert. Die folgenden Krankheitsbilder werden
vorgestellt: Trennungsangst, generalisierte Angst, Phobie mit
Schulphobie, Traumatische Ängste
und das Verschwinden von Realangst bei schweren narzisstischen
Störungen.
Der Vorstand der Ärztlichen Akademie: Dietmar Augustin, Manfred
Endres, Christian Rexroth, Markus Züger, Gabriele Fuhrmann
Literatur:
Heinemann, E., Hopf, H.: Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Symptome –
Psychodynamik – Fallbeispiele – psychoanalytische Therapie. Stuttgart, Berlin, Köln:
Verlag W. Kohlhammer, 4. Auflage, 2012.
Hopf, H.: Angststörungen bei Kindern und
Jugendlichen. Diagnose und Therapie. Verlag
Brandes & Apsel Frankfurt, 2. Auflage 2011
Wir freuen uns auf Ihr Kommen und
auf eine schöne und interessante
Weiterbildungswoche!
Referent
Dr. rer. biol. hum. Hans Hopf
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut
Seebachweg 14
74395 Mundelsheim
Leitlinie Angst: Zum Phänomen
Angst und zum Umgang mit
Angststörungen bei Kindern
und Jugendlichen
Abstract zu den Seminaren am 6.
und 7.7.2012
Fotos: Birgit Schramm
Ängste kann man vor allem haben. Sie schützen uns vor Gefahren und erhalten Leben. Oft genug aber hemmen sie uns auch
oder wirken gar zerstörerisch. Im
Seminar soll der ganzen Palette
möglicher Ängste bei Kindern
und Jugendlichen ebenso wie deren Ursachen, Bedingungen und
Folgen nachgegangen werden:
Ängste vor dem Leben und Vernichtungsangst, Angst vor Niederlagen, Misserfolgen, vor Strafe
und Missbilligung, vor dem Alleinsein und vor dem Verlust …
Es soll von der ganz normalen
(Real-) Angst, von der notwendigen Angst, von der entwicklungstypischen Angst, von der
Angst vor der Angst, von der
neurotischen Angst die Rede sein.
Vor diesem Hintergrund und entgegen dem verbreiteten Satz: „Da
musst Du doch keine Angst haben!“ sollen Ängste verstehend
ausgelotet und entfaltet werden,
wie Kinder und Jugendliche mit
Ängsten angemessen begleitet
und behandelt werden können.
Referentin
Dipl.-Soz. Dagmar Lehmhaus
Analytische Kinder- und Jugendlichen-­
Psychotherapeutin
Im Sirrenberg 3
45549 Sprockhövel
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 2
Angstentwicklung durch Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation – eine Akkumulation
fortwährender Minimaltraumata
Abstract zum Vortrag am 7.7.2012
Heranwachsen in einem Zeitgeist
der Individualität verspricht und
verlangt und gleichzeitig die
Normfenster immer schmaler werden lässt, stellt für Heranwachsende mit konstitutionell bedingten
Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation eine sehr
schwere Entwicklungsaufgabe dar.
Von früh auf sind Flexibilität,
Selbstorganisation, frühe Selbstständigkeit und das Mitschwingen
im Kontext von Gruppen angesagt, was mit Schwächen in der
Wahrnehmungsorganisation zu
großen Ängsten, zu Verunsicherungen und häufig zu erheblichen
inneren Unruhezuständen führt.
Da diese Schwachpunkte häufig
unerkannt bleiben, der Heranwachsende somit weder Verstehen
noch Unterstützung erfährt,
gleicht sein Lebensalltag gelegentlich dem eines „Schwerarbeiters“.
Die vielen fortwährenden „kleinen“ Momente des Scheiterns –
quasi eine Akkumulation von Minimaltraumen – sowie auch
deutliche Momente des Versagens
führen zu einer hohen Schamsensitivität, um das instabile Selbst
zu schützen. Selten wird bei der
Diagnose im breiten Spektrum
der Angststörung an eine Störung
in der Wahrnehmungsorganisation
gedacht. Viel zu schnell wird die
Problematik „psychologisiert“ und
somit dem basalen sensorischen
Verarbeitungsstatus keine Aufmerksamkeit geschenkt. Da diese
Probleme nicht ungewöhnlich
sind – ca. 20 – 30% der Menschen
leiden unter diesen Schwachpunkten, was häufig Folgeerscheinungen in vielfältiger Form nach sich
ziehen kann – ist diese Thematik
nicht nur im Bereich der Pädiatrie
und der Therapie, sondern auch
von psychosozialer sozioökonomischer Bedeutung. Im Falle einer
umfassenden Diagnostik können
diese Kinder mit ihren Eltern
rechtzeitig einen therapeutischen
oder psychoedukativ-stützenden
ganzheitlichen Prozess durchlaufen, was dem Heranwachsenden
trotz dieser Schwächen dazu verhilft, einen angstfreieren und für
ihn stimmigen Entwicklungsweg
einzuschlagen.
Referentin
Dr. Eva Rass
Analytische Kinder- und
Jugendlichentherapeutin
Hochstadtstr. 36
74722 Buchen
Eins, zwei drei – Angst vorbei! –
Kinderängste im Bilderbuch
Abstract zum Vortrag am 7.7.2012
Entlang einer Auswahl von besonders gelungenen Kinderbüchern soll die kreative Umsetzung
des Themas „Angst“ im Bilderbuch sichtbar und erörtert werden, ob und wie Kinder und
­Jugendliche – aber auch Psychotherapeuten – durch diese Literatur im Gewahrwerden und Umgang mit ihren Ängsten hilfreich
begleitet werden können.
Referentin
Dipl.-Soz. Dagmar Lehmhaus
Analytische Kinder- und
Jugendlichen-Psychotherapeutin
Im Sirrenberg 3
45549 Sprockhövel
Einführung in den Umgang mit
dem ausgewählten Playmobilmaterial des Spielkastens der
Ärztlichen Akademie
Abstract zu den Seminaren am
7. und 8.7.2012
In dem Seminar werden die Teilnehmer mit dem Material und seiner Bedeutung vertraut gemacht.
Anhand der Achsen Beziehung,
Konflikt und Struktur des OPDKJ werden Auswertungsmöglichkeiten der Spielszenen aufgezeigt.
Es gibt Gelegenheit zur eigenen
Erprobung des Materials.
Referentin
Dipl.-Päd. Bertke Reiffen-Züger
Analytische Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin
Lieneschweg 101
49076 Osnabrück
Diagnostik und Therapie mit
dem Playmobil-Spielkasten der
Ärztlichen Akademie
Abstract zum Vortrag am 8.7.2012
Die ÄA hat in Kooperation mit
der Firma Playmobil einen Spielkasten entwickelt, in dem Materialien zur Diagnostik und Therapie
von Kindern und Jugendlichen
zusammengestellt sind.
Die ausgewählten Materialien
wurden zur Erprobung zunächst
zusätzlich zu den bisherigen projektiven Tests angewendet.
In dem Vortrag werden erste Ergebnisse der diagnostischen Arbeit mit dem Spielkasten dargestellt. Es wird Bezug genommen
auf die anderen bekannten projektiven Tests. Deren historischen
Entwicklung wird kurz dargestellt.
Der praktische Umgang mit dem
Spielkasten und die Deutungsmöglichkeit der Spielszenen werden in den vertiefenden Seminaren geübt.
Referentin
Dipl.-Päd. Bertke Reiffen-Züger
Analytische Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin
Lieneschweg 101
49076 Osnabrück
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Filmpremiere
»Die zweite Geburt«
(vorläufiger Arbeitstitel)
anlässlich des
80. Geburtstages von
Yecheskiel Cohen
Mit Spannung und großer Vorfreude erwarten wir im
Sommer die Fertigstellung des Dokumentarfilmes
„Die zweite Geburt“ über das Lebenswerk Chezzi
Cohens. Die letzten Schnitt- und Tonaufnahmen laufen auf Hochtouren und wir hoffen sehr, den Film
zumindest als Rohschnitt während des Symposions
2012 in Brixen anlässlich Chezzi Cohens 80. Geburtstag zeigen zu können.
Die erste Idee zum Film entstand bereits vor vielen
Jahren, als Manfred Endres das ursprüngliche Heim
und Chezzi Cohen besuchte. Über einen privaten
Kontakt von Birgit Schramm, die für die Ärztliche
Akademie für Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit
zuständig ist, konnte vor 2 Jahren die Filmproduktionsfirma Bilderfest GmbH in München (wir berichteten in einer früheren Ausgabe) gewonnen werden
und eine wunderbare Zusammenarbeit begann.
Dietmar Lyssy, der Geschäftsführer von Bilderfest
GmbH sowie der Redakteur und Kameramann Krischan Dietmaier begleiteten die Entstehung des Filmes von Anfang an mit großem Engagement, viel
Gefühl und Liebe zum Detail. Drei mal besuchte
Krischan Dietmaier das heutige Children’s Home des
Jerusalem Hills Therapeutic Centers für die Drehaufnahmen, näherte sich dabei gefühlvoll den Kindern
und Mitarbeitern im Heim und fing hervorragende
Szenen für den Film ein.
Wir möchten uns an dieser Stelle bei Herrn Lyssy
und Herrn Dietmaier für die großartige und bereichernde Zusammenarbeit und auch für die Unterstützung bei der Finanzierung des Filmes bedanken. Ihrem wohlwollenden Entgegenkommen haben wir zu
verdanken, dass der Film überhaupt realisiert werden
konnte.
Welche Ziele wollen wir mit dem Filmprojekt
erreichen?
1. Wir wollen mit dem Film einen Beitrag zur Völkerverständigung zwischen Deutschland und Israel
durch die Darstellung der Biographie Chezzi Cohens und seiner Bedeutung für Deutschland und
Israel leisten.
2. Wir wollen den Austausch über die psychotherapeutische Behandlung traumatisierter Kinder in
Heimen und die Weiterentwicklung therapeutischer Strategien fördern.
3. Wir wollen mit dem Film dazu beitragen, dass die
Resozialisierungsrate von traumatisierten Kindern
und Jugendlichen in die Gesellschaft verbessert
wird und dass ihnen durch die Schaffung einer soliden Lebensgrundlage ein späteres selbstständiges
und selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird.
4. Wir wollen aufzeigen, dass durch frühzeitige, professionelle Betreuung traumatisierter Kinder und
Jugendlicher, späteren, seelischen Erkrankungen
präventiv entgegengewirkt werden kann und Kosten im Gesundheitswesen eingespart werden können.
5. Wir wollen eine breite Öffentlichkeit in Deutschland und Israel über die Möglichkeiten einer stationären Behandlung von traumatisierten Kindern
und Jugendlichen informieren und erfolgreiche,
therapeutische Strategien aufzeigen. (Ein Begleitheft ergänzt den Dokumentarfilm)
Um unsere Ziele zu erreichen möchten wir an
dieser Stelle erwähnen, dass wir noch dringend
die Hilfe weiterer Spender und Sponsoren benötigen, um die bestehende Finanzierungslücke zu
schließen. Über Kontakte zu Stiftungen und potentiellen Unterstützern wären wir sehr dankbar.
Jede noch so kleine Spende zählt!
Einen Spendenbutton sowie in Kürze den Trailer
finden Sie auf unserer Homepage:
www.aerztliche-akademie.de.
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 3
3
»Die zweite Geburt«
Filmbeschreibung
Länge: ca. 45 Minuten
Format: High Definition
Produktion: Sommer 2011 – Frühling 2012
Fertigstellung: Sommer 2012
Vor den Toren Jerusalems geschehen jeden Tag
kleine Wunder. Auf einem unscheinbaren Gelände,
umgeben von einem hohen Zaun, bekommen 80
Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt
und Missbrauch, Vernachlässigung und Krieg wurden, ein neue Chance. Jerusalem Hills Therapeutic
Center heißt der Ort, an dem sie auf wundervolle
Weise in ein neues Leben geboren werden. Es ist
ein Auffangbecken für verwundete Seelen, die
durch alle sozialen Netze und Institutionen gefallen
sind und deren Wege unter normalen Umständen
in der Psychiatrie oder im Gefängnis enden würden. Es ist ein Kinderheim, das mittlerweile weit
über die Grenzen Israels bekannt ist - das Lebenswerk von Yecheskiel Cohen. Durch sein ganz eigenes und ganzheitliches psychoanalytisches Konzept
hat es der Psychoanalytiker geschafft, dass bis zu 80
Prozent der Kinder das Heim als gesunde und ganze Menschen verlassen – eine Erfolgsquote, die unter Fachleuten weltweit für Staunen und Bewunderung sorgt. Doch was ist das Geheimnis des
sanften Therapeuten aus Israel, der als Sohn deutscher Juden selbst eine traumatische Kindheit unter
der Herrschaft der Nationalsozialisten durchlebte?
natürlichen Zugang zu ihren Problemen und Schwächen zu finden und ihnen Sicherheit in ihrer Unsicherheit zu geben.
Die Geschichte
Mit sechs Jahren wird Yecheskiel Cohens Welt von
Gewalt erschüttert. Hasserfüllte nationalsozialistische
Schergen zerstören den Laden seines Vaters in Bernburg, unweit von Berlin. Für Cohen, oder Chezzi,
wie ihn seine Eltern liebevoll nennen und er noch
heute gerufen wird, bedeutet dies das Ende aller Sicherheiten.
Der Film
Der Film „Die zweite Geburt“ erzählt eine emotional
ergreifende und intellektuell spannende Geschichte
vom Menschwerden. Auf vier Ebenen, die harmonisch miteinander verwebt werden, nähern wir uns
der zentralen Frage des Films: Wer ist Yecheskiel Cohen und wie schafft er es, so erfolgreich traumatisierte Kinder zu therapieren?
Yecheskiel Cohen ist mit 79 Jahren immer noch als Psychotherapeut tätig
Mit seinen Eltern und zwei Geschwistern, einigen
wenigen Habseligkeiten und einer ungewisser Zukunft findet er sich auf einem Schiff Richtung Palästina wieder – auf der Flucht vor dem Tod. Es ist Oktober 1938 und wie sich später herausstellen wird,
Rettung in letzter Sekunde. Den Rest seiner Familie
sieht Chezzi nie wieder – sie sterben in den Gaskammern von Auschwitz. Es folgen schwere Jahre: Trennung von der Familie, Palästina-Krieg, Armut und
der stetige Kampf, sich in einer fremden Welt neu zu
finden. Eine traumatische Kindheit, die einen jungen
Mann hervorbrachte, der mit 19 Jahren, während seines Dienstes beim Militär plötzlich erkennt, dass er
mit einem seltenen Talent gesegnet ist: sich intuitiv
in junge Menschen hineinversetzen zu können, einen
Es ist die Geburtstunde für eine außergewöhnliche
Karriere. Den Rest seines Lebens wird Chezzi Cohen
von nun an damit verbringen, verletzten, traumatisierten und psychisch kranken Kindern dabei zu helfen, ganze, gesunde und selbstständige Erwachsene
zu werden. Er wird sich vom jungen Erzieher und
Studenten zum Leiter eines Kinderheims entwickeln,
das mit seinem theoretischen Konzept und seiner
praktischen und oftmals intuitiven Umsetzung desselben zu einem weltweit geachteten Beispiel für den
erfolgreichen Umgang mit schwersterziehbaren und
traumatisierten Kinder wird. Er wird sich zu einem
Menschen entwickeln, der mit seiner Arbeit und seiner Persönlichkeit das Leben vieler anderer prägen
wird, der zum Vater nicht nur seiner eigenen, sondern seiner vielen Heimkinder wird. Er wird zu einem Beispiel werden, wie das scharfsinnige Verständnis der menschlichen Psyche und ihrer Entwicklung
gepaart mit unablässiger Liebe und Intuition, immer
wieder aufs Neue Wunder vollbringen kann.
Chezzi Cohen in „seinem“ Kinderheim
Unsere erste Ebene ist die Biografie und Persönlichkeit Chezzi Cohens. Über Interviews, persönlichen
Begegnungen, Fotos und Archivmaterial lernen wir
seine inspirierende Lebensgeschichte mit Fokus auf
seine psychoanalytische Arbeit kennen. Was waren
Schlüsselmomente, wie hat die eigene Kindheit Arbeit und Wirken des israelischen Psychoanalytikers
geprägt? Muss man, um die Leiden anderen zu heilen, vielleicht selbst gelitten haben? Und wie sieht
das Vermächtnis des heute 79-Jährigen aus? Bis heute
praktiziert er als Psychotherapeut, besucht vor allem
Deutschland regelmäßig für Vorträge und Seminare
und hat dabei über die Jahre eine enge Beziehung zu
jenem Land aufgebaut, das ihn einst so drastisch verstoßen hatte.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Auf einer zweiten Ebene begleiten wir den Alltag im
Jerusalem Hills Therapeutic Center. Dort werden
traumatisierte Kinder und Jugendliche über 5-7 Jahre
kontinuierlich in Kleingruppen betreut. Das Heim
wurde 1943 gegründet und diente anfangs als Waisenhaus für die sogenannten „Teheran-Kinder“ - eine
Gruppe jüdischer Kinder, denen in einer mehrjährigen Odyssee die Flucht nach Palästina gelang. Die
Kinder waren von ihren Erlebnissen so schwer traumatisiert, dass die Verantwortlichen des Waisenhauses schnell merkten, dass sie mehr brauchten als ein
bloßes Dach über dem Kopf.
Chezzi Cohen leitete über 40 Jahre lang das Heim
und formte darin sein Konzept des „Heimes als Therapieform“. Obwohl Cohen mittlerweile aus der aktiven Heimleitung ausgeschieden und nur noch im
Vorstand tätig ist, orientiert sich das Programm der
Einrichtung nach wie vor eng an seinen über die Jahre entwickelten Leitideen.
Im Heim erleben wir den Alltag dieser außergewöhnlichen Therapie, wir erleben intime Momente mit
den Kindern und Betreuern, begleiten den feinen
und langwierigen Weg zu innerer Heilung und werden inspiriert von Menschen, die mit Verstand und
Leidenschaft, mit Liebe und Geduld, tiefe Wunden
und Verletzungen heilen. Wir lernen ein Konzept
kennen, das in Erfolg, Nachhaltigkeit und Professionalität seinesgleichen sucht. Selbst Hausmeister und
Köche sind hier mit in den Therapieprozess eingebunden. Jede Sekunde wird als therapeutische Situation bewertet, jedes Kind individuell behandelt. Dahinter steht die Idee, spezifische Entwicklungsdefizite
in der frühkindlichen Entwicklung eines jeden Kindes zu erkennen und ihm die Möglichkeiten zu eröffnen, diese essentiellen Erfahrungen in einem stabilen
und kontinuierlichen Umfeld systematisch nachzuholen. Ein Konzept, das von den Betreuern und Psychologen neben großer fachlicher Kompetenz enormes intuitives Einfühlungsvermögen erfordert und
nur durch regelmäßige Supervision und Selbstreflexion aufrecht zu erhalten ist.
Systematisch nähern wir uns der Arbeitsweise und
den Prinzipien des Heimes. Welchen Stellenwert bekommen Liebe, Intuition und Körperlichkeit? Gibt
es vielleicht eine spezifisch israelische Herangehensweise und wie können deutsche Einrichtungen davon
lernen?
Auf einer dritten Ebene lernen wir Tomer Boudhana
kennen. Tomer verbrachte seine Jugend in Chezzi
Cohens Heim und war eines seiner schwierigsten
Kinder. Heute ist er ein israelischer Nationalheld –
eine Kriegsverletzung brachte in auf Titelseiten, in
Talkshows und bis vor das israelische Parlament.
Doch nicht nur den Ärzten habe er sein Leben zu
verdanken, sagt Tomer, Chezzi Cohen habe ihm bereits viel früher sein Leben gerettet – als Ersatzvater
und bedeutsamster Mensch in seinem Leben. Ein bedeutsamer Erwachsener ist Tomer nun selbst für andere – er kümmert sich um Jugendliche mit sozialen
Problemen, überquert mit ihnen auch schon einmal
zu Fuß die Alpen oder verbringt mit ihnen stille
Nächte in der Wüste. Tomer hat sich viel mit seiner
eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt und versucht zu verstehen, was ihm selbst im Heim widerfahren ist. Was waren diese Schlüsselmomente? Und
wie konnte der einst so verletzte Junge so viel Kraft
gewinnen, dass er heute anderen davon abgeben
kann?
Auf einer vierten und abstrakten Ebene beschäftigt
sich der Film mit den theoretischen Ideen und
Grundlagen des Therapiekonzeptes. Chezzi Cohen
ist ein bekennender Anhänger des englischen Psychoanalytikers Donald Winnicott, der mit seinen
grundlegenden Erkenntnissen zur Entwicklung von
Kleinkindern zu einem der wichtigsten Begründer
der Kinderpsychotherapie gehört. Doch was bedeuten Konzepte wie „Übergangsraum“ und „Regression“? Welche Rolle spielen Liebe und Beziehungen in
der frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung? Mit
Schauspielern wandeln wir theoretische Ideen und
Erkenntnisse in emotional greifende Bilder und Symbolhandlungen um. Gibt es eine Blaupause auf dem
Weg zum psychisch intakten Menschen? Müssen wir
Menschen essentielle und universelle Erfahrungen in
unserer Kindheit machen, um unsere eigentlichen
Potentiale entfalten zu können und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen?
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 4
4
Die Produktion
Erstmals widmet sich der Film „Die zweite Geburt Der Psychoanalytiker Chezzi Cohen und die Kunst
aus zerbrochenen Kindern ganze Menschen zu machen“ ausführlich dem Lebenswerk Yecheskiel Cohens und erzählt als erster deutscher Film seine Geschichte. Über persönliche Kontakte besteht sowohl
ein enger Bezug zu dem israelischen Therapeuten, als
auch die einmalige Chance, im Jerusalem Hills Therapeutic Center zu filmen und dabei direkt und eindrücklich die Arbeit an traumatisierten Kindern
­sowie ihre persönlichen Geschichten und Entwicklungen mitzuerleben. Bei einem ersten Besuch im Januar 2011 konnten bereits Kontakte geknüpft, Drehorte besichtigt und Beziehungen aufgebaut werden.
Die volle Unterstützung sowohl von der aktuellen
Heimleitung, als auch von Yecheskiel Cohen ist dem
Projekt gewiss.
Das erfahrene Produktionsteam von BILDERFEST –
factual entertainment garantiert höchste erzählerische
und visuelle Ansprüche für international vermarktbare Dokumentationen. Durch den Einsatz spezieller
Filmadapter und mittels geschickter Verwendung von
CGI-Effekten entstehen Bilder von bestmöglicher
Filmästhetik im Rahmen eines Dokumentationsbudgets in High Definition. Die Kunst aus zerbrochenen
Kindern ganze Menschen zu machen wird so neben
der vorliegenden Faktendichte und ergreifenden
emotionalen Momenten zum ganzheitlichen filmischen Erlebnis.
Y. Cohen
ein Auszug aus dem Buch „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Band VIII, Brandes & Apsel, 2010
… Ich wurde im Juni 1932 in der deutschen Kleinstadt Bernburg a.d. Saale im heutigen Sachsen-Anhalt
geboren. Ich habe einen Bruder, der vier Jahre älter
und eine Schwester, die zwei Jahre jünger ist als ich.
Bernburg gehörte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Ostdeutschland, der späteren DDR. Meine
Eltern waren nach Bernburg gekommen, da mein Vater den Gemischtwarenladen seines Onkels übernommen hatte. Zuvor hatten sie in Halberstadt gelebt,
wo sie sich an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz, Fa.
Aaron Hirsch und Söhne, kennen gelernt hatten, einer Firma mit jüdischem Eigentümer. Die Eltern waren in Städten der Umgebung geboren, meine Mutter
in Hannover und mein Vater in Köthen.
Meine Mutter hatte vier Geschwister, während mein
Vater Einzelkind war. Ein Bruder meiner Mutter war
im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gefallen. Ihr
Vater war früh gestorben, so dass ihre Mutter, Oma
Rosalia, als Witwe mit vier Kindern zurückblieb, die
sich mit der Machtübernahme der Nazis über die
Welt verteilten. Ein Bruder meiner Mutter wanderte
in die Vereinigten Staaten aus, ein anderer nach Palästina und die jüngere Schwester ging mit Mann
und Tochter nach London in der Hoffnung, auf diesem Wege zu ihrem in den Staaten lebenden Bruder
zu gelangen, was sich aber nicht erfüllte.
Die Naivität der Juden Deutschlands fand auch in
unserer Familie ihren Ausdruck, in der Reise meiner
Großmutter Rosalia nach Palästina, um die Möglichkeit zu prüfen, sich der Familie ihres Sohnes anzuschließen, der bereits dort lebte, noch bevor unsere
Familie dorthin auswanderte. Meine Großmutter, die
sah, wie schwierig das Leben in Palästina war, ging
in ihrer Unschuld 1938 (!) nach Deutschland zurück,
vielleicht weil sie glaubte, dass ihr nichts Böses widerfahren würde, da sie einen Sohn für Deutschland
geopfert hatte. Zu unser aller großen Betrübnis wurde sie nach Theresienstadt verschleppt und fand dort
den Tod.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Die Mutter meines Vaters war früh gestorben, so
dass ich nur seinen Vater kennen lernte (Opa Adolf).
Auch dieser Großvater kam in Theresienstadt ums
Leben, da es ihm – anders als dem Rest meiner Familie – nicht gelungen war, Deutschland rechtzeitig
zu verlassen. Die gleiche Unschuld oder Naivität, die
ich bereits erwähnte, charakterisierte auch meine Eltern. Sie hatten noch im Jahre 1933, als die Nazis bereits an der Macht waren, als Angehörige einer jüdisch-zionistischen Bewegung (Blau-Weiß) Palästina
besucht. Zwar hatte damals die jüdische Einwanderung aus Deutschland nach Palästina bereits begonnen, jene Einwanderungswelle, die als „Fünfte Alijah“
bezeichnet wird. Unter den Einwanderern waren viele Ärzte, Akademiker, Musiker und andere Künstler,
Bankiers etc., die im Grunde in Palästina (d.h. im
späteren Israel) die Fundamente des Bankwesens, der
Industrie, der Kunst etc. aufbauten, wie z.B. die Israelische Philharmonie und weitere wesentliche Beiträge zum Aufbau des Landes leisteten. So auch im Bereich der Psychoanalyse – Max Eitingon gründete
1934 in Palästina die Palästinensische Psychoanalytische Gesellschaft, die zum großen Teil aus deutschen
Mitgliedern bestand (unter ihnen Erich Gumbel,
Ruth Jaffe u.a.) und aus einigen russischen Psychoanalytikern wie Mosche Wulff. Meine Eltern zählten
jedoch zu den Naiven unter den deutschen Juden, so
dass sie am Ende ihrer Reise, obgleich sie einer zionistischen Bewegung angehörten, die einen jüdischen
Staat in Palästina aufbauen wollte, mit dem Gefühl
nach Deutschland zurückkehrten, dass die Zeit für
eine Auswanderung noch nicht reif sei. Doch 1938
übten die Nazis bereits überall ihre Macht aus, auch
in Bernburg, wo wir wohnten. Zunächst wurde mein
Vater unter einem nichtigen Vorwand verhaftet und
während seiner Haft erschien eine Bande von Nazis
bei meiner Mutter und nötigte sie, den Gemischtwarenladen für einen lächerlichen Preis zu verkaufen.
Nach dem Verkauf und während mein Vater immer
noch inhaftiert war, gelang es meiner Mutter mit ihrem Organisationstalent, alle nötigen Papiere für das
britische Einwanderungszertifikat nach Palästina zu
beschaffen. Auch gelang es ihr, die nötigen Möbel
und Haushaltsgeräte zusammenzustellen, denn in
­jenen Tagen – etwa einen Monat vor der Reichspogromnacht – ließen es die Nazis noch zu, dass jüdische Familien mit ihrem gesamten Besitz auswanderten. Nach der Freilassung meines Vaters brachen wir
unverzüglich auf. Wir fuhren mit dem Zug nach
Triest in Italien und von dort weiter mit dem Schiff
nach Palästina. Im Oktober 1938 erreichten wir den
sicheren Hafen von Tel Aviv.
Ich habe von der gesamten Reise im Zug und auf
dem Schiff keinerlei Erinnerung bis auf eine Begebenheit, die mir lebhaft vor Augen steht. Auf der
Bahnfahrt nach Triest sah ich meinen Vater weinen –
eine ganz besondere Erfahrung, die tief in mir haften
geblieben ist. Vielleicht ist das der Grund, warum
alle anderen Erinnerungen völlig verblasst sind. Weder an die einwöchige Schiffsfahrt noch an die Ankunft in Tel Aviv kann ich mich erinnern, und alles
ist irgendwie in dem Weinen meines Vaters zusammengefasst, das ich mir nicht zu erklären vermochte.
Was immer ich mit dem Gedanken an dieses Weinen
verbinde, ist die Trennung von seinem Vater, denn
bei unserer Abreise wusste er, dass er ihn nicht wieder sehen würde.
In Palästina begann für uns ein völlig neuer Lebensabschnitt – eine Zeit großer Veränderungen, welche
ihren Ausdruck im Gebrauch der hebräischen Sprache, in der schwierigen wirtschaftlichen Situation und
in der Eingliederung in die hiesige Gesellschaft fand.
Meine Eltern hatten – so wie die meisten Juden aus
Deutschland, die hierher kamen – große Schwierigkeiten, die hebräische Sprache zu erlernen, die ihnen
völlig fremd war. Es gibt viele Beispiele jüdischer
Einwanderer aus Deutschland die die Sprache überhaupt nicht beherrschten und noch nicht einmal allein einkaufen gehen konnten. Meine Eltern hingegen besuchten bis an ihr Lebensende spezielle
Sprachkurse. Das Erlernen der Sprache fiel ihnen
zwar schwer wie auch der tägliche Umgang mit ihr,
aber sie lasen täglich hebräische Zeitungen und
konnten ihr Alltagsleben in der neuen Sprache meistern. Wir Kinder sprachen allerdings weiter Deutsch
mit den Eltern, untereinander jedoch Hebräisch, so
dass man bei uns am Tisch immer zwei Sprachen hören konnte …
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 5
Weiter zur Biographie:
Y. Cohen wuchs in Jaffa auf. Von 1950 bis 1953 diente er in der Armee. Anschließend arbeitete er als
Counselor in einer Einrichtung für Kinder mit Lernschwierigkeiten in Tel Aviv.
1957 absolvierte er seinen B.A. Degree in Erziehung
und Psychologie und im Anschluss seinen M.A. Degree in Psychologie und Special Education 1962 an
der Hebrew Universität.
Nachdem Y. Cohen einige Jahre im heutigen Jerusalem Hills Therapeutic Center arbeitete, übernahm er
mit 30 Jahren die Leitung des Heims. Herr Cohen
leitete die Einrichtung 35 Jahre lang. Während dieser
Zeit wurde er von der Psychoanalytischen Gesellschaft zum Zertifizierten Psychoanalytiker anerkannt.
Außerdem lehrte er an der Hebrew University of Jerusalem. 1997 verließ er das Heim als Direktor, ist
aber weiterhin als Vorsitzender des Executive Boards
des JHTC tätig.
Herr Cohen verfasste unzählige Artikel und Bücher.
Er ist verheiratet mit Talma, hat 4 Kinder und mehrere Enkelkinder.
Zum Konzept des Jerusalem Hills
Therapeutic Centers
(Auszug aus der von Sibylle Drews verfassten Laudatio für Dr. Y. Cohen an der 7. Sigmund Freud
Vorlesung 1994)
„Das Behandlungskonzept ist das Ergebnis von theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen
und basiert im Wesentlichen auf Sigmund Freud, Donald Winnicott, Melanie Klein und Joseph Sandler;
was das Setting betrifft auf Bettelheim, Trieshman
und Redel, entwicklungspsychologisch auf Margaret
S. Mahler, Daniel Stern und R. Emde und was die
speziellen israelischen Bedingungen betrifft, auf den
Arbeiten vor allem Carl Frankensteins.
Der zentrale Gedanke der Behandlung ist, daß alle
Aktivitäten im Heim integrale, untrennbare Facetten
der therapeutischen Arbeit sind.
Das Grundkonzept, auf dem die Arbeit Chezzy
­Cohens und seinem Team beruht, ist Winnicotts
„potential space“ (ich bleibe bei Winnicotts Originaltherminologie, da die deutsche Übersetzung „Möglichkeitsraum nicht so ganz geglückt sein dürfte“. Sie
sind der Überzeugung, daß RT diesen „potential
space“ zu erschaffen vermag, in dem das Kind seine
Individualität und ein „wahres Selbst“ i.S. Winnicotts
entfalten kann. Es sind 4 Prinzipien, die den „potential space“ ermöglichen sollen:
5
4. Zugehörigkeit und Fremdsein
Diese Kinder brauchen zunächst eine in gewissem
Sinne undifferenzierte Welt – wie das Neugeborene-, um alle Differenzierungen und Unterschiede
nach und nach selber zu entdecken und damit
auch ihre Selbst- und Objektrepräsentanzen zu
entwickeln. Jede der 5 Gruppen setzt sich konstant aus bestimmten Kindern und Erwachsenen
zusammen und hat ihren je eigenen, unverwechselbaren Lebensstil, ihre Gewohnheiten etc. Das
Kind lernt aber zugleich, daß die Erwachsenen
auch Bedürfnisse und Interessen haben, von denen es ausgeschlossen ist - das entspricht der normalen ödipalen Situation, in der es wahrnimmt,
daß es an Gemeinsamkeiten der Eltern durchaus
auch nicht teilhat - auch dies trägt zur Entwicklung eines eigenständigen Selbst bei, das wahrnehmen kann, daß Selbst und Objekt getrennt
sein, wie auch auf Grund dieses Getrenntseins
eine gegenseitige Beziehung haben können.
Dieses Behandlungskonzept verlangt den Mitarbeitern natürlich großes Engagement, viel Liebe und
Empathie für das jeweilige Kind ab, überdies aber
natürlich ein Gespür für unbewusste Prozesse - im
Kind wie im Erzieher. Das bedeutet, daß die Mitarbeiter ständig bereit sein müssen, ihre Gefühle für
und Probleme mit „ihrem“ Kind zu hinterfragen und
über sie sprechen.“
Kurzinformation über die Einrichtung:
Das Jerusalem Hills Therapeutic Center besteht heute aus drei Einrichtungen: Das Children’s Home am
Rande von Jerusalem gelegen, beherbergt 86 Kinder
und Jugendliche im Alter von 7 – 14. Das Kemper
Group House für heranwachsende Jungen, in der
Nachbarschaft von Gilo, Jerusalem gelegen beherbergt 14 Jugendliche im Alter von 14 – 18 Jahren.
Zusätzlich das Goldie Kassell Center, welches 1999
gegründet wurde, dient Institutionen, Familien, öffentlichen Organisationen und Individuen als ambulante Einrichtung.
Mehr Informationen unter:
www.childrenshome.org.il
1. R
esidential treatment ist weder ein Replikat
der Realität noch eine imaginäre Einheit
Das heißt: Ein neu aufgenommenes Kind muss
sich den Normen und Rollen im Heim nicht sofort anpassen, sie werden zwischen dem Kind
und seinem Betreuer überhaupt erst erschaffen, so
daß das Kind sich als aktiven Partner in einem gemeinsamen Prozeß erlebt und so seinen eigenen
Anteil entdeckt - wie es in der frühen MutterKind-Beziehung normalerweise sein sollte - und
mit seiner Umwelt realitätsangemessener umgehen kann.
2.Die Trennungslinien zwischen Zeit
und Raum bleiben vage
Das heißt: Eine klare Zeiteinteilung ist zwar
grundsätzlich wichtig für die Stabilität dieser Kinder und ihrer Vorstellung von Konstanz, dennoch
spielt sie in diesem Heim kaum eine Rolle bei der
Bestimmung etwa der Aufenthaltsdauer eines
Kindes, die Kriterien dafür bleiben zunächst offen. Auch sein Alter spielt für die Zuordnung zu
einer Klasse keine Rolle, wohl aber seine ganz individuellen Möglichkeiten. Der Grundgedanke dabei ist, dem Kind Situationen anzubieten, in denen die Trennungslinien verwischt sind und dies
ihm die Möglichkeit gibt, ein Gefühl von Einheit
und Getrenntsein zu erleben. Ihre herkömmlichen
Vorstellungen von Zeit und Raum müssen die
Mitarbeiter natürlich erst mal revidieren.
Fotos: Krischan Dietmaier.
Birgit Schramm
Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit
Mail: [email protected]
telefonisch bei Fragen zu erreichen unter 089-45209893.
3.Der Prozeß, nicht das Resultat steht im Mittelpunkt
Zentral ist der Arbeitsprozeß des Lehrers mit dem
Kind: er weiß niemals etwas im voraus, vielmehr
entwickelt er das Wissen mit dem Kind zusammen, das dabei allmählich lernt, zwischen sich
und dem anderen bzw. zwischen seinem Anteil
und dem des anderen zu unterscheiden.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Leitlinien in der Analytischen Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie
Der Arbeitskreis „Leitlinien der analytischen Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie“ wurde im Jahr
2003 gegründet, um ausgehend vom gegenwärtigen
Stand der Theorie, Praxis und Forschung
–Wege in der Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen der Kinder und Jugendlichen mit
ihren Familien, die eine analytische/tiefenpsychologische Psychotherapie benötigen, zusammenzustellen und zu veröffentlichen,
–in der fachlichen Öffentlichkeit die Arbeit der
analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten darzustellen,
–zu verdeutlichen, bei welchen Störungsbildern
eine analytische/tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie indiziert ist und
–bereits vorhandene Leitlinien, die Ansätze der
analytisch/tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wenig einbeziehen, zu ergänzen.
Leitlinien können als grobe Orientierungshilfen und
Wegweiser angesehen werden, die immer wieder neu
in Theorie und Praxis in Abstimmung mit den Wissens- und Forschungsständen erweitert und korrigiert
werden sollten.
Weitere Leitlinien sind in Bearbeitung, wie ADHS,
Depression und Essstörungen. Die Leitlinien Angst
wurden von Dietmar Borowski, Hans Hopf und
Thomas Hüller verfasst. Nach einem einleitenden
Kapitel „Allgemeines zur Angst aus psychoanalytischer Sicht“, in dem eine Begriffsbestimmung, Symptomatik, Komorbidität, ICD-10-Korrespondenzen
und Erklärungsmodelle zu finden sind beschäftigt
sich das zweite Kapitel mit den Krankheitsbildern,
die jeweils in Begriffsbestimmung, Symptomatik, Erklärungsmodelle, Diagnostik, Psychotherapie, Prognose und Prävention gliedern. Dazu einen Auszug
aus den Leitlinien 2.2 Generalisierte Angst:
2.2.1 Begriffsbestimmung
Die generalisierte Angst ist eine anhaltende Angst,
die sich nicht auf eine bestimmte Situation beschränkt. Die Angst ist frei flottierend. Es ist meist
eine „unvorstellbare“ Angst. Wie bei der panischen
Angst fehlt der Angst der Signalcharakter, sie bleibt
jedoch nicht auf ein episodisches Angsterleben begrenzt wie die ≥ panische Angst. Die Angst entspricht einer diffusen, körpernahen Angst.
2.2.2 Symptomatik
Das Angsterleben der generalisierten Angst ist in seiner Intensität schwankend und neigt zur Chronifizierung. Es bezieht sich auf Befürchtungen, es könnte
einem selbst oder einem anderen irgendetwas Schweres, z.B. eine todbringende Erkrankung, zustoßen,
ohne dass eine konkrete Vorstellung darüber besteht.
Letztlich verknüpft sich die Angst mit einer großen
Anzahl von wechselnden Sorgen und Vorahnungen.
Oft rückt das Erleben verschiedenster somatischer
Beschwerden wie Zittern, Muskelspannungen,
Schwitzen, Herzklopfen oder Bauchbeschwerden in
den Vordergrund. Das somatische Erleben kann sich
mit vielfältigen vegetativen Symptomen verbinden.
Die generalisierte Angststörung ist oft Teilsymptomatik einer aktuellen Belastungsreaktion (F43.0); einer
posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1); bei desintegrativen Störungen (F20-F29 und F84) und oft mit
depressiver Störung gemischt (F41.2) (≥ Depression).
ICD 10: Generalisierte Angststörung (F41.1); andere
emotionale Störungen des Kindesalters (Überängstlichkeit F93.8).
2.2.3 Erklärungsmodell
Die psychodynamischen Überlegungen entsprechen
weitgehend denen der panischen Angst mit anhaltender Bereitschaft zur diffusen psychotischen Angst
(≥ panische Angst), bei einem stabileren Strukturniveau denen der Angstneurose, mit Angst vor Objektverlust und Selbstverlust.
Die generalisierte Angststörung gehört zu einem frühen Angsttypus (≥ Allgemeiner Teil).
Die Fähigkeit der Steuerung des Selbst- und Objekterlebens sowie die kommunikative Fähigkeit, relativ zur Altersstufe, sind gestört. Damit sind die Integrationsfähigkeiten des Ichs und der Kontakt zur
Realität bedroht. Die Signalfunktion der Angst geht
verloren. Stattdessen droht das System zusammenzubrechen. Auslösende Ereignisse sind oft in Relation
zur Stärke des Ichs traumatischer Natur.
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 6
2.2.4 Diagnostik
Die Schwere der generalisierten Angst wird über die
Angstart deutlich (wie namenlose Angst, „Ängste der
Psychose“, „Ängste der Angstneurose“), im Verhältnis
zur Ich-Entwicklung und den Objektbeziehungen
(≥ Allgemeiner Teil und panische Angst).
Strukturelle Überlegungen orientieren sich an den
Ich-Fähigkeiten in Relation zu den Erwartungen und
Belastungen seitens der Umwelt, insbesondere auf
die Fähigkeit, negative Affekte zu puffern und die erworbenen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung.
Von Bedeutung ist, inwieweit ein Zusammenbruch
der Integrationsfähigkeit des Ichs in einen zeitlichen
Zusammenhang zu stellen ist. Auf Seiten des Umfeldes geht es um Klärung von aktuellen und langfristigen Belastungen. Es geht auch um die Gestaltung
der Beziehungen zu den Bezugspersonen, insbesondere inwieweit diese den Integrationsaufgaben des
Ichs des Kindes beistehen und u.a. Selbstobjektfunktion übernehmen.
2.2.5 Therapie
Die psychoanalytische Behandlung folgt dem jeweiligen, zwischen Patienten und Therapeuten gefundenen triebpsychologischen, ich-psychologischen,
­objektbeziehungstheoretischen oder selbstpsycholo­
gischen Blickwinkel (≥ Allgemeiner Teil).
Schwere strukturelle Defizite machen eine Berücksichtigung der Affektdifferenzierung notwendig, damit beispielsweise namenlose Angst einen Namen
finden kann. Konzepte des Containments, der Symbolisierungsfähigkeit und der Mentalisierung (Allgemeiner Teil) sind hier von wesentlicher Bedeutung.
So wird aus einem namenlosen Angstgefühl und einem körperlich erlebten Gefühl eine differenzierte
Wahrnehmung der Angst als Signal. Konkrete Hinweise auf Differenzierungsmerkmale zwischen Körpergefühl entsprechendem Affekt sind ebenfalls
wichtig. (So kann z.B. Herzklopfen als Angst missgedeutet werden, obwohl es dafür andere Gründe gibt,
wenn z.B. ein Mensch zu schnell die Treppe hochgegangen ist, dessen Kreislauf wenig Anstrengungen
verträgt.)
Bei akuten Belastungsreaktionen und posttraumatischen Störungen muss die aktuelle Situation berücksichtigt werden. Im Vordergrund steht die Wiederherstellung der Integrationsfähigkeit des Ichs, die
Vermittlung einer Fähigkeit zur Selbstberuhigung, die
Unterscheidung von Phantasie und Realität sowie die
Nutzung von Übergangsphänomenen. Die mitunter
schweren Einschränkungen der integrativen Funktionen des Ichs erfordern, dass der Therapeut zeitweilig
eine Hilfs-Ich-Funktion übernimmt (Allgemeiner Teil
≥ Affektregulation). Bei der somatisierten Angst
wird die Angst als biopsychosoziales Warnsystem mit
seinen neurophysiologischen Aspekten deutlich. Eine
gleichzeitige medikamentöse Behandlung kann eine
Bewältigung der Ängste erleichtern.
Kinder mit generalisierter Angststörung behalten
ihre Symptomatik wesentlich häufiger als Kinder mit
Trennungsangststörung. Die Entwicklung ist mit dem
Risiko der Entwicklung einer Depression und Somatisierungsstörung belastet.
Die Lektüre der bisherigen Leitlinien erweisen sich
als sehr hilfreich für die Ausbildung von Kolleginnen
und Kollegen in tiefenpsychologisch fundierter und
analytischer Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Sie stellen aber auch für den praktisch tätigen niedergelassenen eine Hilfe für die tägliche Praxis dar. Sie können aus dem Internet herunter
geladen und ausgedruckt werden und in den unter
Umständen dürftig bestückten QM-Ordner eingeheftet werden.
Manfred Endres
6
Buchbesprechung
Hans Hopf – Angststörungen bei
Kindern und Jugendlichen
Diagnose, Indikation, Behandlung
Brandes & Apsel 2009
Obwohl Angststörungen zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter zählen
gibt es nur wenige Publikationen, die sich umfassend
mit Angststörungen im Kindes- und Jugendalter aus
psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer Sicht
beschäftigen. Das von Hans Hopf bei Brandes & Apsel, 2009, heraus gegebene Buch Angststörungen bei
Kindern und Jugendlichen stellt auch drei Jahre nach
dem Erscheinen das Standardwerk zu Angststörungen
dar. Es ist nach wie vor von hoher Aktualität. Das
Buch zeichnet sich durch eine klare Gliederung und
durch insbesondere für die Praxis nutzbare praxisbezogene Kapitel aus. Die Aktualität des Buches spiegelt
sich auch dadurch wieder, als Hans Hopf Mitautor
der Leitlinien für die Behandlung von Angststörungen herausgegeben vom Arbeitkreis der VAKJP ist
und darüber hinaus in dem Buch immer wieder Bezug sowohl auf die ICD 10 Normenklautur als auch
auf die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik genommen wird. Nach der Einleitung und einem Exkurs zur ICD 10 findet sich ein historischer
Ausflug zu den Angsttheorien Sigmund Freuds. Im
folgenden werden dann ausführlich die unterschiedlichen Formen der Angst aus der Sicht der Psychoanalyse dargestellt. Hier werden die unterschiedlichen
Formen von Ängsten während der Frühindividuation,
der Autonomieentwicklung und der ödipalen Entwicklung dargestellt. Die explizite entwicklungspsychologische Ausrichtung des Buches zeigt sich im Kapitel über die zentralen Entwicklungsbereiche für die
Entstehung von Trennungsangst. Ein weiteres Kapitel
beschäftigt sich mit der Angst aus Sicht der Bindungsforschung. In den weiteren Kapiteln werden die
unterschiedlichen Formen von Angststörungen entsprechend der Kategorisierung aus der ICD 10 in eigenen Kapiteln behandelt und psychodynamisch erläutert. Ausführliche Fallbeispiele tragen wesentlich
zum Verständnis bei und machen so das Buch zu einem hilfreichen Ratgeber für den praktisch tätigen
Kindertherapeuten. Auch andere Fragestellungen wie
Elternarbeit, fehlende Angst bei Kindern oder auch
die Angst des Therapeuten werden in eigenen Kapiteln behandelt. Aufgrund der umfassenden Darstellung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter
ist das Buch aufgrund seiner umfassenden Darstellung
und des Praxisbezugs uneingeschränkt zu empfehlen.
Leseprobe:
Von den Trennungsängsten zu den generalisierten
Ängsten wird die Fähigkeit von Ich- und Selbststruktur, Ängste bewältigen zu können, erkennbar immer
geringer. Trennungsängste und generalisierte Ängste
sind dennoch im Grunde fast identische Angststörungen. Die grundlegenden Ängste bei fast allen Angststörungen sind letztendlich die Ängste der Achtmonatsangst, entweder vor Trennung und Verlust oder
vor dem Fremden und allzu großer Nähe. Sowohl bei
der Trennungsangst als auch bei der generalisierten
Angststörung besteht das wesentliche Ziel darin,
ängstliche und aggressive Affekte aus dem Bewusstsein auszumerzen und dauerhaft fern zu halten. Dies
geschieht bei den Ängsten über Verdrängung, über
phobische Pseudoobjektivierung, über hypochondrische Befürchtungen sowie über Somatisierungen. Besondere letztere führen dazu, dass der gefährliche
Konflikt unkenntlich gemacht wird. Die manifesten
Ängste sind bereits in unterschiedlicher Weise verarbeitete unbewusste Ängste. Die aggressiven Affekte
werden über Projektionen sowie über Zwangsbildungen zu bewältigen gesucht. Diese Abwehr schafft jedoch andauernd neue Konflikte, so dass die IchStruktur immer wieder labilisiert wird.
Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass die
generalisierte Angststörung der Kindheit oder Jugend
mit einem höheren Risiko für die Entwicklung von
depressiven und Angststörungen im Erwachsenenalter
und einem späteren Beginn einer unabhängigen, selbständigen Lebensführung assoziiert ist.
Manfred Endres
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
7
Prävention von Schulabsentismus
Prävention von Schulabsentismus
Schulabsentismus – das unrechtmäßige Versäumen
von Unterricht – zeigt sich unter wissenschaftlicher
Perspektive als komplexes Phänomen mit vielfältigen
Einflussfaktoren auf sozialer, familiärer, schulischer
und individueller Ebene. Zwar stellt sich das Phänomen in seiner Symptomatik relativ ähnlich dar, basiert aber als Entwicklungsergebnis auf ganz unterschiedlichen Problemkonstellationen zwischen
Schüler- und Umfeldvariablen. Die schulmeidenden
Verhaltensmuster lassen sich hinsichtlich der Bedingungskonstellationen in drei Formgruppen, das
Schulschwänzen, die Schulverweigerung und das Zurückhalten untergliedern, wobei Mischformen möglich sind (vgl. Kearney, 2007; Ricking, 2003). Einen
Ausgangspunkt zur näheren Bestimmung der Zielgruppen bildet die Erfahrung mit Schülern, die im
Rahmen einer schulaversiven Einstellung die Schule
als Ganzes, Unterricht oder Lehrer dauerhaft und
nachdrücklich ablehnen und dies auf der Verhaltensebene durch Fernbleiben vom Unterricht, Zuspätkommen oder geringe Intensität der Mitarbeit zum
Ausdruck bringen. Für manche dieser Schüler sind
die elterliche Wohnung, die belebten Plätze der
Stadt, die Einkaufsmeilen oder der abgelegene Fußballplatz attraktive Alternativen zur negativ erlebten
Unterrichts- und Schulsituation. Praktiker berichten
zudem nicht selten von Schülern, die zwar dem Unterricht fernbleiben, sich jedoch auf dem Gelände der
Schule, z. B. in der Raucherecke oder im Schulcafé
aufhalten. Für sie spielt die Schule weniger als Bildungseinrichtung denn als sozialer Raum eine Rolle,
der Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglicht. In diesem
Zusammenhang findet der Begriff des Schulschwänzens Verwendung, der Schulversäumnissen vorbehalten ist, von denen die Erziehungsberechtigten häufig
keine Kenntnis haben, die auf das Betreiben des
Schülers zurückgehen und bei denen er während des
Vormittags einer attraktiveren Beschäftigung außerhalb des elterlichen Hauses nachgeht. Schulschwänzen nimmt mit dem Alter zu und steht aus schulischer Sicht in engem Zusammenhang mit schulischen
Versagenserlebnissen (Ricking, 2003). Es wird in einer Fülle von Untersuchungen mit weiteren im Erziehungskontext problematischen Verhaltensweisen aus
dem dissozialen Formenkreis in Verbindung gebracht.
Im Zentrum stehen jugendliche Delinquenz, aggressive Konfliktregelung und Drogenmissbrauch (Jenkins,
1995; Prichard, Cotton & Cox 1992; Wilmers & Greve, 2002).
Tab. 1: Bedingungszusammenhänge
beim ­S chulschwänzen
Schulschwänzen
Sind die Versäumnisse
­entschuldigt?
Zumeist nicht, ggf. fingierte
Entschuldigungen
Wissen die Eltern vom
Absentismus?
Häufig nicht, abhängig von der
Rückmeldung durch die Schule
Aufenthaltsort während der
Schulzeit ?
Oft außerhäuslich, mit
Mitschülern
Lern- und Leistungsmotivation?
i.d.R. niedrig
Welche Begleit- und
Bedingungsfaktoren liegen vor?
Höhere Wahrscheinlichkeit von
Schulaversion, Delinquenz,
Schulversagen,
Disziplinproblemen,
Drogenmissbrauch, aggressiven
Verhaltensmustern
Erziehung in der Familie?
Tendenz zu Mangel an Aufsicht
und Unterstützung
Eine weitere Formgruppe bildet angstinduziertes
Schulmeidungsverhalten, bei der Furcht und Angst
vor der Schule bzw. vor Personen in der Schule von
wesentlicher Relevanz sind, die sich in Merkmalen
wie Traurigkeit, Rückzug aus sozialen Bezügen und
auch extremen emotionalen Ausbrüchen vor Schulbeginn niederschlagen können (Phelps, Cox & Bajorek, 1992). Diese Kinder und Jugendlichen haben
aufgrund inneren Angsterlebens immense Schwierigkeiten, den Unterricht zu besuchen, somatisieren
emotionale Probleme (u. a. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen) und verbringen den Schulvormittag in der elterlichen Wohnung (Kearney, 2001,
2007). Generell wird von den Fachleuten zur Behandlung von schwerwiegenden emotionalen Störungen mit Schulmeidungsverhalten eine therapeutische
Behandlung beim Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiater empfohlen. Der Begriff angstinduziertes Schulmeidungsverhalten (synonym oft „Schulverweigerung“ und „Schulphobie“) umfasst verschiedene
Teilaspekte, die in Tab. 2 zusammengefasst sind (vgl.
Blagg, 1987).
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 7
Tab. 2: Bedingungszusammenhänge für angstinduziertes Schulmeidungsverhalten
Angstbedingtes Schulmeidungsverhalten
Trennungsangst
Angst des Kindes, durch den Schulbesuch von
der Mutter getrennt zu werden, z.B. da ihr
während der Abwesenheit etwas zustoßen
könnte
Mobbing/
Gewalt
Meidungsverhalten gegenüber systematischem
Drangsalieren durch Mitschüler(-gruppe) auf dem
Schulweg, in den Pausen etc. (vgl. Alsacker, 2003)
Lehrerangst
Vermeiden von Lehrern, die drohen,
unter Druck setzen, erniedrigen
Versagensangst
Vermeiden von Lernkontrollen
Soziale Angst
Rückzugsverhalten, vermeiden sozialer Situationen
mit vielen Menschen (Klasse, Schulhof, Bus, …)
Beim Zurückhalten schließlich geht die Initiative für
die Schulversäumnisse von den Erwachsenen aus
oder wird durch ein diskretes Übereinkommen zwischen Eltern(-teil) und Schüler bedingt. Als kausale
Einflussgrößen werden verschiedene Problemstellungen in der Literatur angesprochen, z. B. Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Aversionen der Erziehungsberechtigten, kulturelle Divergenzen, die dazu führen,
dass eine weitere Beschulung des Kindes nicht für
notwendig erachtet wird (Ricking 2006; Schulze &
Wittrock 2005). Die Aufzählung (Tab. 3) weist das
Zurückhalten als lose Sammelkategorie aus, wobei
die genannten Einflussgrößen auch in Kombinationen auftreten können.
Tab. 3: Gründe für das Zurückhalten von Schülern
durch Erziehungsberechtigte
Gründe für Zurückhalten
Gleichgültigkeit gegenüber
schulischer Ausbildung des
Kindes
dem Kind wird freigestellt zur Schule
zu gehen, oft vor dem Hintergrund
eigener negativer Schulerfahrungen
Kulturelle Differenzen
zugewanderte Eltern erachten die
Schulpflicht als unangemessen lang (z.
B. für Mädchen)
Beeinträchtigung und
Krankheit
psychische Erkrankungen,
Drogenabhängigkeit oder
Alkoholismus der
Erziehungsberechtigten bedingen
erzieherische Insuffizienz
Kinderarbeit
Schüler arbeiten auch während des
Vormittags, müssen u. U. zum
Unterhalt der Familie beitragen, im
Haushalt helfen oder Geschwister
beaufsichtigen
Religiöse Differenzen
Biologie- oder Religionsunterricht wird
als unvereinbar mit der eigenen
Auffassung angesehen
Schulkritische Haltung der
Erziehungsberechtigten
Schule wird allgemein als schädlich für
das Kind eingeschätzt
Missbrauch,
Verwahrlosung
Verletzungen sollen verborgen oder
Aussagen des Kindes verhindert
werden
Fehlquoten und Entwicklungen
Quoten illegitimer Versäumnisse – im Primarbereich
noch gering – steigen ab Klasse 5 deutlich an und erreichen zumeist in den letzten Jahrgängen die höchsten Werte. Eine aktuelle Totalerhebung an allen Förder- und Hauptschulen Schleswig-Holsteins belegt
diesen Trend eindrucksvoll. Der Zuwachs ist zwischen Klasse 6 und 7 am größten.
Tab. 4: Anteil der Förderschüler (Lernhilfe) und
Hauptschüler mit einer Fehlquote > 10 % (Rat für
Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007,
33, 49).
Klassen 5
Förderschüler
Hauptschüler
15,7 %
8,5 %
Klassen 6
Klassen 7
10,4 %
20,7 %
Klassen 8
Klassen 9
15,3 %
26,7 %
Klassen 10
gesamt
13,7 %
15,1 %
17,9 %
20,0 %
13,2 %
Geschlechtsspezifische Unterschiede liegen zumeist
im marginalen Bereich, mitunter werden bei Schülerinnen höhere Quoten ermittelt (Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007). Ein Mi­
grationshintergrund bildet einschlägigen Studien
zufolge einen Bedingungsfaktor für im Vergleich höhere Fehlquoten, was für andere europäische Staaten
(Bos, Ruijters & Visscher, 1990; Grewe, 2005; Reid,
2003) und die USA ebenso zutrifft (Rosenthal, 1998;
Rumberger, 1995). Massive Formen von Schulabsentismus bekunden zumindest zeitweilig etwa 5 % eines
Jahrgangs, in dieser Gruppe sind Jungen überreprä-
sentiert (Stamm, 2007). Während der Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (2007) in
den Förderschulen die höchsten Werte ermittelt,
konstatieren Wagner, Dunkake & Weiß (2004, S.
483): „Hauptschüler verweigern mit 14,5 % am häufigsten die Schule, gefolgt von den Sonderschülern
(12,8 %), Realschülern (6,1 %) und Gymnasiasten (4,7
%)“.
Auch hinsichtlich der Fehlintensität sind Differenzierungen bei Falleinschätzungen geboten. Das gelegentliche Aussetzen des Schulbesuchs, selten und in
geringem zeitlichen Umfang, unterläuft einem großen
Teil der Schülerschaft (ca. 35-50 % im Halbjahr zuvor) und wird vielfach als Bagatelle interpretiert
(Stamm, 2007). Auch wenn jedes Versäumnis ernst
genommen werden sollte: Ein deutlicher Interventionsbedarf besteht, wenn sich die Fehlzeiten in der
schulischen Leistungsbilanz niederschlagen, weitere
problematische und eskalierende Verhaltensmuster
damit einhergehen und generell die Entwicklung des
Heranwachsenden gefährdet ist. Vor diesem Hintergrund ist Schulabsentismus einzubetten in den Bereich schulaversiver Verhaltensmuster, bei denen physische Präsenz aber innere Ablehnung schulischen
Prozessen und häufig lehrer- oder fachspezifischen
Anforderungen gegenüber erkennbar ist. Als häufig
anzutreffende Merkmale können Lernverweigerung,
Rückzug und Gleichgültigkeit gegenüber der Schule
genannt werden, aber auch wiederholtes Zuspätkommen und deutliche Unterrichtsstörungen (evt. als
Zeichen einer stofflichen oder sozialen Abkopplung)
sowie unangemessen lange Fehlzeiten aufgrund von
Bagatellkrankheiten (die als Initial für angstbedingtes
Meidungsverhalten mit psychosomatischen Anteilen
verstanden werden können). Diese Verhaltensmuster
sollten von Lehrkräften als Warnsignale wahrgenommen werden, die für sich genommen schon schulisches Risikoverhalten darstellen, aber auch zu manifestem Schulabsentismus führen können. Reids
(1999) Erkenntnissen zufolge verschieben sich die
Einstiegsphasen und Altersschwerpunkte nach unten,
sodass Schüler mit unregelmäßigem Schulbesuch jünger werden und die Grundschulen zunehmend in
den Blickpunkt geraten. Diese sind angesichts des
fachlichen Gebots der Prävention und frühen Intervention bei Schulabsentismus ein hochbedeutsames
Handlungsfeld (Kirsch & Hansen, 2002). Gelingt es
nicht bereits in der Grundschule, eskalierenden Entwicklungen Einhalt zu gebieten, kann eine zunehmende Entfremdung von der Schule einsetzen (s.
Tab. 5).
Tab. 5: Stadien der Entkopplung von Schule
Stadium
Merkmale
1. Schulaversion
Negative Stimmung gegenüber schulischen
Anforderungen, Schulunlust,
Motivationsprobleme, Lernverweigerung,
Zuspätkommen, Unterrichtsstörungen,
Schulversagen, Schulangst
2. Schulschwänzen In unterschiedlicher Intensität wiederkehrende
Versäumnisphasen, Schulversagen, Kontakt zu
schulaversiven Peers, weiteres Risiko-Verhalten
(z. B. Aggressivität, Delinquenz,
Drogenkonsum)
3. Dropout
Weitgehende oder völlige Entkopplung von der
Schule, Abbruch des Schulbesuchs
Schulabsentismus ist als zentraler Prädiktor für Dropout evident (Hammond, Linton, Smink & Drew,
2007). Ein beträchtlicher Anteil der Schüler mit hohen Fehlquoten erwirbt den Schulabschluss nicht,
verlässt die Schule vorzeitig und weist sehr viel
schlechtere Integrationschancen für das Berufsleben
auf (Bos et al., 1990; Hibbett & Fogelman, 1990; LeCompte & Dworkin, 1991; zusammenfassend: Hillenbrand & Ricking, 2011).
Bedingungsfaktoren
Schulabsentismus kann als multikausal bedingtes Verhalten aufgefasst werden, bei dem die relevanten Einflussgrößen aus unterschiedlichen Settings in komplexen Relationen kumulieren und in dynamischem
Interaktionszusammenhang stehen (vgl. Kearney,
2007; Ricking, 2003; Rosenthal, 1998). In der Entwicklung schulmeidender Verhaltensmuster sind Risikoeinflüsse v. a. hinsichtlich psycho-sozialer Dispositionen des Schülers, familiärer Interaktions- und
Lebensbedingungen, schulischer Rahmungen und
Bindungen sowie Wirkungszusammenhängen zu berücksichtigen, die von Gleichaltrigen(gruppen) ausgehen. Neuere Erklärungsansätze bezüglich Schulab-
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
sentismus und Dropout lassen Komplexität zu und
gelangen so zu einer angemessenen Einschätzung des
Verhaltens (vgl. Schulze, Ricking & Wittrock 2000;
Stamm, 2007).
tung einbezogen werden, bewirken hiernach einen
besseren Lernerfolg, eine höhere Anwesenheit, ein
angemessenes Schülerverhalten sowie eine niedrigere
Delinquenzrate“ (S. 20).
Individuelle Faktoren
Schulangst gilt als gewichtiges Motiv für schulbezogenes Meidungsverhalten, sodass Schüler unter starker Angstbelastung in der Schule eher geneigt sind,
die subjektiv bedrohliche Situation zu vermeiden,
statt sich ihr zuzuwenden und das Problem zu verbalisieren (Reid, 2002). Forschungsergebnisse bestätigen den engen Zusammenhang zwischen Schulversagen, Angst in und vor der Schule und
Schulverweigerung (Kaiser, 1983; Overmeyer,
Schmidt, Blanz & Lotz, 1994).
Regelmäßige Schulschwänzer sind – so der internationale Forschungsstand – fast ausschließlich unter den
Verlierern im schulischen Leistungswettbewerb zu
finden (Grewe, 2005; Reid, 1999; Stamm, 2007). Für
die deutschen Schulen bestätigen Forschungsergebnisse von Schulze und Wittrock (2000), Wagner et al.
(2004), und dem Rat für Kriminalitätsverhütung in
Schleswig-Holstein (2007) das gemessene Leistungsdefizit. Die vergleichbaren Resultate früherer Studien
von Klauer (1963), Hildeschmidt (1979) und Kaiser
(1983) stützen die Befunde. Die Forschung hat belegt, dass das stabile Merkmal Schulversagen als einer
der bedeutendsten Risikofaktoren für Schulschwänzen angeführt werden kann. Anhaltender Schulerfolg
besitzt eine starke präventive Wirkung (Ricking,
2003).
Peers
Gesellschaftliche Veränderungen haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einer funktionalen Aufwertung des Freizeitsettings mit Medien, Freunden oder
der Clique gegenüber dem familialen und schulischen
Setting geführt. Neuere Studien, die sich mit Bedingungsfaktoren von Schulabsentismus befassen, zeigen
die überaus große Bedeutung der Gleichaltrigengruppe/Peer-Group (Puhr, Knopf, Gallschütz, Häder &
Müller, 2001; Wagner et al., 2004). So deuten einige
empirische Forschungsergebnisse darauf hin, dass sie
bei der Initiierung und Stabilisierung von Schulversäumnissen v. a. im Bereich des Schwänzens hohe
Relevanz beanspruchen können (Schreiber-Kittl &
Schröpfer, 2002). Die Wirkung schulaversiver Cliquen wird als problematisch eingeschätzt, insbesondere auf Mitschüler, die die Schule noch regelmäßig
besuchen, jedoch schon erheblichen Meidungsdruck
spüren. Jugendliche, die in einer solchen Clique sind
– so Wagner et al. (2004) – sind einem sehr deutlich
erhöhten Absentismusrisiko ausgesetzt.
Familie
Armut und Deprivation in benachteiligten Milieus
bedingen Erziehungs- und Entwicklungsrisiken, die
psycho-soziale Problemlagen, Schulversagen und unerlaubte Schulabwesenheit nach sich ziehen können.
Es werden in den einschlägigen Studien elende
Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, problembelasteter Stadtteil wie auch bildungs- und schulaversive
Einstellungen bei den Eltern mit Schulabsentismus in
Verbindung gebracht (vgl. Fogelman, Tibbenham &
Lambert, 1980; Prichard et al., 1992; Reid, 1999). Die
Untersuchungen liefern vor diesem Hintergrund prägnante Hinweise auf z. T. massive Belastungslagen
auf Elternseite, die die Erziehungskompetenz und
-performanz sowie Möglichkeiten eigener Verhaltenssteuerung einschränken (Epstein & Sheldon, 2002).
Als multipel wirkende Stressoren im Primärmilieu
stehen beispielsweise Delinquenz der Eltern, Drogenkonsum (vgl. Beekhoven & Dekkers, 2005; Prichard et al., 1992), psychische Störungen, gewalttätige Konfliktregelung sowie chronische Krankheiten
(Farrington, 1980) als bedeutsame Einflussfaktoren
im Zentrum der Studien. Diese Rahmenbedingungen
führen oft zu mangelnder familiärer Kohärenz und
zu einem Erziehungsverhalten, das durch wenig emotionale Wärme im Eltern-Kind-Verhältnis, geringe
Aufmerksamkeit hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse, unzureichende Aufsicht und Unterstützung, z.
B. bei den Hausaufgaben, gekennzeichnet sein kann
(Epstein & Sheldon, 2002).
Schule
Auch wenn zum Komplex schulischer Wirkungen
auf das Schulbesuchsverhalten der Schüler aufgrund
des Forschungsstandes kaum präzise Aussagen möglich sind, kann als gesichert betrachtet werden, dass
sich auch formgleiche Schulen in ihren Anwesenheitsquoten unterscheiden (Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007; Wagner et al.,
2004). Verantwortlich dafür gemacht werden einerseits unveränderliche Strukturbedingungen (wie die
Lage im ländlichen oder städtischen Umfeld), das soziale Gefüge des Einzugsgebiets oder die Nähe zu
großen Einkaufszentren und andere für Schüler attraktive Ziele; andererseits aber auch veränderbare
Aspekte wie die Qualität des pädagogischen Angebots, die konzeptionelle Ausrichtung auf die Schülerklientel sowie das konkrete Management von Anund Abwesenheit in der Einrichtung (vgl. Collins,
1998; Gullat & Lemoine, 1997; Ricking, 2006). Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang ältere
Forschungsergebnisse von Rutter, Manham, Mortimore und Ouston (1980). Hartke (2005) fasst die Ergebnisse dieser Studie wie folgt zusammen: „Schulen,
in denen ein Klima der Kooperation zwischen Lehrkräften und zwischen Lehrkräften und Schülern
herrscht, in denen Lehrer die Unterrichtszeit für
schulisches Lernen nutzen, positive Leistungen gefordert und beachtet sowie Schüler in die Verantwor-
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 8
Prävention und Intervention in Schulen
Schulabsentismus ist nicht nur ein schulisches Problem, doch die Forschungsergebnisse zeigen deutlich
auf, dass Schulen im Rahmen ihrer Möglichkeiten die
Anwesenheit und die Teilhabe von Schülern deutlich
beeinflussen und angesichts der extrem negativen
Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen
ihren Beitrag dazu leisten können, illegitime Schulversäumnisse zu minimieren (Collins, 1998; Ricking,
2006; Schultz, 1987). Die Verbesserung der jetzigen
Situation erfordert intensive wissenschaftliche wie
praktisch-pädagogische Anstrengungen und eine eindeutige Zielausrichtung: Eine niedrige Fehlquote
muss als wesentliches Qualitätskriterium für Schulen
betrachtet werden (Mutzeck, Popp, Franzke & Oehme, 2004; Ricking, Thimm & Kastirke, 2004). Auch
vor dem Hintergrund notwendiger Integrationsprozesse ist es Aufgabe der Schule, randständige Schüler
wirksam einzubinden und so die Anwesenheit und
innere Teilhabe am Unterricht zu fördern. Hier findet
sich der eigentliche pädagogische Ansatzpunkt, denn
es geht nicht allein um physische Anwesenheit, sondern darum, den Kindern durch positiv erlebte Beziehungen und eine stimulierende Umgebung Lernund Entwicklungsprozesse zu ermöglichen (Kastirke
& Ricking, 2004; Reid, 2003).
Zur Frage schulischer Handlungsmöglichkeiten liegen
einige Konzeptentwürfe vor, nur wenige sind in kleinem Rahmen zumeist unter spezifischen Bedingungen evaluiert (Michel, 2005; Mutzeck et al., 2004; Ricking, 2006). Fachwissenschaftlich ist der
Evidenznachweis der entwickelten Konzepte und
Programme unentbehrlich. Es ist der Frage nachzugehen, ob ein abgestimmtes Konzept in praxi zu einer
signifikanten Verringerung des Absentismusaufkommens, zu einer höheren schulischen Partizipation sowie zu einer höheren Schulzufriedenheit bei den
Schülern führt. Die wissenschaftliche Aufgabenstellung, theoretisch fundiertes Praxiswissen bereit zu
stellen, ist in noch erheblichem Maße zu leisten.
Nach eingehender Analyse der einschlägigen Forschungsliteratur und vor dem Hintergrund von Zielperspektiven werden von Ricking et al. (2004) pädagogische Standards formuliert, die zur Minderung
von Schulabsentismus beitragen und darüber hinaus
positive Wirkungen in Schulen freisetzen. Dabei werden die bedeutsamen Ebenen Klasse, Schule und
System angesprochen (vgl. Ricking, 2007).
Ebene Klasse
Durch ihr Handeln sollten Lehrkräfte klar vermitteln,
dass sie nicht bereit sind, Schulabsentismus zu dulden. Die grundlegende Haltung der Pädagogen den
Schülern gegenüber, jedes Kind der Lerngruppe als
wichtiges Element im System zu betrachten, ist von
elementarer Bedeutung. Daher sollte, um Lern- und
Gewöhnungsprozesse zu vermeiden, auf unerlaubtes
Fehlen ohne Zeitverzug eine Reaktion der Schule folgen, wie beispielsweise ein Telefonat mit den Erziehungsberechtigten oder den Schüler zu Hause aufzusuchen, anzusprechen und abzuholen. Das frühe
Kontaktieren und das Halten der Verbindung ist eine
entscheidende Bedingung für geeignete pädagogische
Maßnahmen. Der Schüler gleitet nicht aus dem Blick,
bleibt im Focus und eine Begleitung des Reintegrati-
8
onsprozesses ist möglich. Durch ein derartiges Vorgehen unterstreicht die Schule die Bedeutung, die sie
der Anwesenheit jedes einzelnen Schülers zumisst
und signalisiert gleichzeitig ihre Problemkenntnis sowie hierzu eine klare Haltung (vgl. Ricking, 2007).
Schüler mit schulischem Meidungsverhalten benötigen schulische Erfolge und angemessene fachliche
Unterstützung. Dabei ist an unterrichtliche Maßnahmen der Differenzierung zu denken, individualisierte
Bewertungsmodalitäten (z. B. Nutzung der individuellen Bezugsnorm, kurzfristige Rückmeldung per
Feedback-Bogen) oder auch an Optionen intensiver
Kleingruppen- und Einzelförderung (vgl. Ricking,
2006).
Ebene Schule
Voraussetzung für eine wirksame Prävention und Intervention in der Ebene Schule sind eine Schulleitung und ein Kollegium, die die komplexe Genese
von Schulabsentismus und damit auch schulische
Faktoren berücksichtigen und mit dem Ziel arbeiten
die Anwesenheit und Partizipation von Schülern zu
verbessern bzw. auf einem hohen Niveau zu stabilisieren. Es ist vor diesem Hintergrund bedeutsam den
Kenntnisstand im Kollegium sowie die praktische
Handlungskompetenz zu erhöhen. Das Thema Schulabsentismus ist weitaus deutlicher als bisher in Ausund Fortbildung zu verankern. Überdies kann es sehr
vorteilhaft sein, eine Lehrkraft aus dem Kollegium,
die sich intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt
hat und über Beratungskompetenz verfügt, als Experten aufzubauen.
Angesichts der erheblichen Dunkelziffer nicht entdeckter Fehlzeiten ist ein Augenmerk auf die Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung von Schulabsentismus zu legen (Wilmers & Greve, 2002). Bei der
Aufnahme und Interpretation von Daten zur Anund Abwesenheit handelt es sich um eine zentrale
Prämisse illegitimen Versäumnissen vorzubeugen.
Aus den Analysen dieser Daten lassen sich relevante
Informationen über Bedingungsfelder und Entwicklungen ableiten und mit weiteren Kenntnissen verknüpfen, sodass Zusammenhänge über das Zustandekommen der Fehlzeiten erkennbar werden.
Differenzierte Informationen ermöglichen so Erkenntnisse über das Ausmaß und die Verteilung in
einer Schule, des Prozentsatzes von Fehlstunden in
einem definierten Zeitabschnitt (Fehlquote), der
Dauer einzelner Versäumnisphasen (z. B. schwerpunktmäßig stunden-, tage- oder wochenweise) und
der Verteilung der Fehlzeiten auf Klassen und Jahrgänge (Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007).
Eine weitere Prämisse für gelingende Lernprozesse
und eine gesunde psycho-soziale Entwicklung ist das
Gefühl von Sicherheit und des Angenommenseins in
der Schule. Diese sind gefährdet durch gewaltförmige
Interaktionsprozesse oder durch das längerfristige
subtile Bedrohen und Erniedrigen einzelner Personen, die dann angstbesetzte Situationen in der Schule
(z.B. unbeaufsichtigte Schulwege, Gänge, Schulhöfe)
meiden. Insofern sollten Lehrkräfte darüber hinaus
erste Anzeichen von Mobbing erkennen und geeignete Maßnahmen ergreifen (Alsacker, 2003).
Ebene System
Eine enge Kooperation zwischen den beiden zentralen Bezugssystemen des Schülers – Elternhaus und
Schule – gilt als eines der effektivsten Mittel zur Absentismusprävention und -intervention. Studien weisen darauf hin, dass gezielte Rückmeldungen an die
Erziehungsberechtigten positive Effekte auf den
Schulbesuch zeitigen (Reid, 1999). Eltern und Lehrkräfte sollten Vereinbarungen treffen, die den gegenseitigen Austausch strukturieren und so die Basis
schaffen für eine gesicherte und verbindliche Interaktion (vgl. Schultz, Jacobs & Schulze, 2006). Es ist
hilfreich ein Rückmeldesystem zu installieren, das
nach festen Regeln für einen optimalen Informationsstand auf allen Seiten sorgt. Regelmäßige Telefonate,
E-Mail-Kontakte oder Notizen im Mitteilungsheft
haben sich als geeignete Mittel im schulischen Alltag
erwiesen. Dabei sollten im Sinne der vielfach notwendigen Verstärkung von zielannäherndem Verhalten Entwicklungsfortschritte betont werden wie eine
höhere Anwesenheitsquote oder eine verbesserte
Unterrichtsbeteiligung.
Sind die schulischen Möglichkeiten ausgeschöpft und
der Schüler zeigt weiterhin große Schwierigkeiten die
Schule regelmäßig zu besuchen, ist zusätzliche Unterstützung angezeigt. Im Sinne der Förderung der betroffenen Schüler ist es geboten, dass sich Schulen
vernetzen, weitere außerschulische Kompetenzen
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
nutzen und entsprechend in ein lebendes System
professioneller Hilfen eingebunden sind. Maßnahmen
im Kontext von Schulabsentismus basieren häufig
auf der Kooperation von Jugendhilfe und Schule
(Thimm, 2000; Schulze & Wittrock, 2004).
Interventionskonzepte
In der anglo-amerikanischen Literatur werden bereits
erprobte Präventions- und Interventionsprogramme
empfohlen, bei denen in zumeist behavioral-kognitiv
orientierten Ansätzen vorübergehend externe Verstärker systematisch eingesetzt werden, um Lernverhalten und Anwesenheit zu fördern (Bell, Rosén &
Dynlacht, 1994; Cobb, Sample, Alwell & Johns,
2005). Insbesondere Schulschwänzer benötigen mehr
Kontakte zu bzw. Beziehungsangebote von Pädagogen, eine engere Führung und mehr Aufsicht als die
Schule üblicherweise bietet. So beinhalten viele Programme Anteile von Kontrolle und Verstärkung des
Zielverhaltens im Rahmen eines Verhaltensvertrages
(Eastwold, 1989; Evelo, Sinclair, Hurley, Christenson
& Thurlow, 1996).
Das Programm „Check & Connect“ von Evelo, Sinclair, Hurley, Christenson & Thurlow (1996) richtet
sich an Pädagogen, die mit Schülern arbeiten, die
von schulischer Desintegration bedroht sind, bereits
deutlich Schulversäumnisse aufweisen oder kurz vor
dem Schulabbruch (Dropout) stehen. Es geht davon
aus, dass ein multimodaler Ansatz nötig ist, um das
Ziel der besseren Selbststeuerung des Schulbesuchsverhaltens zu erreichen und weist dazu zwei zentrale
Komponenten aus: „Check“ und „Connect“. „Check“
ist ein Instrument der regelmäßigen Dokumentation
des Engagement sowie die Risikoindikatoren (Verspätungen, Fehlen, Suspendierung vom Unterricht,
Disziplinarmaßnahmen) eines Schülers durch einen
Beobachtungsbogen. Dadurch lässt sich ein differenziertes Bild über die Häufigkeit und Struktur des Verhaltens erstellen, das in der Folge mit dem Schüler
selbst, den Eltern und weiteren Fachkräften erörtert
wird (Sinclair, Christenson, Evelo & Hurley, 1998).
Die zweite Komponente „Connect“ dient in einem
abgestuften Prozess der Beratung und Beziehungsgestaltung zwischen Pädagogen und Heranwachsenden
und bietet systematisches Feedback und Verstärkung
erwünschten Verhaltens im schulischen Kontext. In
gezielten Gesprächen werden die dokumentierten
Beobachtungen diskutiert, den Schülern wie deren
Eltern wird die Bedeutung des Schulbesuchs und –
abschlusses verdeutlicht und das weitere Vorgehen
geplant. Darauf aufbauend schafft ein spezifisches
Problemlösetraining einen Rahmen, individualisiert
alltägliche Probleme zu bearbeiten und zu lösen. Für
Schüler mit massiven Schulbesuchsproblemen erhöht
sich durch spezifische Maßnahmen die Intensität und
der Grad der Individualisierung der Intervention (z.
B. morgendliche Anrufe in der Familie, Hausbesuche,
Bereitstellung von Lernunterstützung). Evaluationen
des Programms bestätigen die Abnahme von Schulabsentismus und Dropout, einen positiven Einfluss
auf den Lernerfolg der Schüler und eine Zunahme
der Schulabschlüsse (Lehr, Sinclair & Christenson,
2004; Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007).
Ein weiteres empfehlenswertes Programm ist das sog.
Ampelsystem, das in einer Schule wertvolle Dienste
zur Verbesserung der Anwesenheitsquote leisten
kann. Es handelt sich dabei um das „traffic lights
(TL) scheme“ nach Reid (2003) und bietet ein proaktives, gestuftes Handlungsmuster, das die Reaktionsweise von Lehrkräften in Abhängigkeit von der eingeschätzten Problemintensität des
Schulbesuchsverhaltens ausrichtet. Schüler werden
nach Anwesenheitsquote vier Gruppen (rot: Anwesenheit <70 %; blau zwischen 71 und 84 %; gelb zwischen 85 und 95 %; grün über 96 %) zugeordnet,
können entsprechend ihrem Schulbesuchsverhalten
zwischen den Gruppen wechseln und sollen sich in
Richtung grün orientieren. Es bedingt die fortlaufende Beobachtung und enge Begleitung der Schüler im
Reintegrationsprozess und schafft eine Verbindung
zu angemessenen Interventionsmustern, z. B. zeitnahe Reaktion der Schule, systematische Beratung von
Schülern und deren Bezugspersonen bei erhöhten
Risiken schulischen Scheiterns, Problemen und Konflikten, insbesondere bei Anzeichen von Unterrichtsbzw. Schulaversion, Einbeziehen von sozialpädagogischen Fachkräften mit der Schule kooperierender
Jugendhilfeträger oder auch in Abstimmung und Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Jugendhilfe wie
dem ASD und der Erziehungsberatung.
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 9
9
Autor:
PD Dr. Heinrich Ricking
Universität Oldenburg
F 1 – Sonder- und Rehabilitationspädagogik
26111 Oldenburg
[email protected]
Literatur
Alsacker, F. (2003). Quälgeister und ihre Opfer: Mobbing unter Kindern – und wie man damit umgeht. Bern: Huber.
Anderson, A. R., Christenson, S. L., Sinclair, M. F., & Lehr, C. A.
(2004). Check & Connect: The importance of relationships for promoting engagement with school. Journal of School Psychology, 42, 2, 95113.
Beekhoven, S. & Dekkers, H. (2005). The Influence of Participation,
Identification, and Parental Resources on the Early School Leaving of
Boys in the Lower Educational Track. European Educational Research
Journal, 4, 3, 195-207.
Bell, A. J., Rosén, L. A. & Dynlacht, D. (1994). Truancy Intervention.
The Journal of Research and Development in Education, 27, 203-211.
Blagg, N. (1987). School Phobia and its Treatment. London: Croom
Helm.
Bos, K.T., Ruijters, A.M. & Visscher, A.J. (1990). Truancy, Drop-Out,
Class Repeating and their Relation with School Characteristics. Educational Research, 32, 175-185.
Cobb, B., Sample, P., Alwell, M. & Johns, N. (2005). Effective Interventions in Dropout Prevention: A Research Synthesis – The Effects
of Cognitive-Behavioral Interventions on Dropout for Youth with
Disabilities. National Dropout Prevention Center for Students with
Disabilities.
Collins, D. (1998). Managing Truancy in Schools. London: Cassell.
Eastwold, P. (1989). Attendance is important: Combating truancy in
the Secondary school. National Association of Secondary School Principals Bulletin, 4, 28-31.
Epstein, J.L. & Sheldon, S.B. (2002). Present and accounted for: Improving student attendance through family and community involvement. The Journal of Educational Research, 95, 5, 308-318.
Evelo, D., Sinclair, M., Hurley, C., Christenson, S. & Thurlow, M.
(1996). Using Check & Connect for Dropout Prevention. Minneapolis:
University of Minnesota
Farrington, D. (1980): Truancy, Delinquency, the Home, and the
School. In L. Hersov & I. Berg (Eds.), Out of School (pp. 49-63). Chichester: Wiley.
Fogelman, K., Tibbenham, A., Lambert, L. (1980): Absence from
School: Findings from the National Child Developmental Study. In L.
Hersov & I. Berg (Eds.), Out of School (pp. 25-48). Chichester: Wiley.
Grewe, N. (2005). Absenteeism in European Schools. Münster: Lit.
Gullat, D.E. & Lemoine, D.A. (1997). Truancy: What’s a Principal to
Do? American Secondary Education, 26, 7-12.
Hammond, C., Linton, D., Smink, J., & Drew, S. (2007). Dropout
Risk Factors and Exemplary Programs. Clemson, SC: National Dropout Prevention Center.
Hartke, B. (2005). Schulische Prävention – welche Maßnahmen haben
sich bewährt? In S. Ellinger & M. Wittrock (Hrsg.), Sonderpädagogik
in der Regelschule. Konzepte – Forschung – Praxis (11-37). Stuttgart:
Kohlhammer.
Hibbett, A. & Fogelman, K. (1990). Future lives of truants: Familiy
Formation and Health-Related Behaviour. British Journal of Educational Psychology, 60, 171-179.
Hildeschmidt, A. (1979). Verbreitung und Bedingungen unregelmäßigen Schulbesuchs. In: Hildeschmidt, A., Meister, H., Sander, A. &
Schorr, E. (1979). Unregelmäßiger Schulbesuch. Weinheim: Beltz, 84110
Hillenbrand, C. & Ricking, H. (2011). Schulabbruch: Ursachen – Entwicklung – Prävention. Ergebnisse us-amerikanischer und deutscher
Forschungen. Zeitschrift für Pädagogik, 57, 2, 153-172
Jenkins, P.H. (1995). School Delinquency and school commitment.
Sociology of Education, 68, 3, 221-239.
Kaiser, H. (1983). Schulversäumnisse und Schulangst. Frankfurt: Lang.
Kastirke, N. & Ricking, H. (2004). Involvement bei schulaversivem
Verhalten – Aspekte bedürfnisorientierter Einbindung von Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zur Partizipation. In H. Schnoor & E.
Rohrmann (Hrsg.), Sonderpädagogik: Rückblicke Bestandsaufnahmen
Perspektiven (S. 317-324). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Kearney, C.A. (2001). School Refusal Behavior in Youth. Washington:
APA.
Kearney, C.A. (2007). Forms and functions of school refusal behaviour in youth: an empirical analysis of absenteeism severity. Journal of
Child Psychology and Psychiatry, 48, 53-61.
Kirsch, B. & Hansen, I. (2002). Schulunlust – ein mögliches Initialsymptom für Schulvermeidung – untersucht an Schülern vor dem
Übergang von der 6. zur 7. Klasse. Heilpädagogische Forschung, 53, 2,
58-68.
Klauer, K.J. (1963). Das Schulbesuchsverhalten von Volks- und Hilfsschulkindern. Ratingen: Henn.
LeCompte, M.D. & Dworkin, A.G. (1991). Giving up on School: Student Dropouts and Teacher Burnouts. Newbury Park: Corwin Press.
Lehr, C. A., Sinclair, M. F., & Christenson, S. L. (2004). Addressing
student engagement and truancy prevention during the elementary years: A replication study of the Check & Connect model. Journal of
Education for Students Placed At Risk, 9, 3, 279-301.
Michel, A. (Hrsg.). (2005). Den Schulausstieg verhindern. München:
DJI.
Mutzeck, W., Popp, K., Franzke, M. & Oehme, A. (2004). Umgang
mit Schulverweigerung. Weinheim: Beltz.
Overmeyer, S., Schmidt, M.H., Blanz, B. & Lotz, M. (1994). Schulverweigerung. Unterschiede zwischen der sogenannten Schulphobie
und der sogenannten Schulangst. pädiatrische praxis, 47, 27-36.
Phelps, L., Cox, D. & Bajorek, E. (1992). School Phobia and Separation Anxiety: Diagnostic and Treatment Comparisons. Psychology in
the Schools, 29, 384-394.
Prichard, C., Cotton, A. & Cox, M. (1992). Truancy and illegal Drug
use, and Knowledge of HIV-Infection in 932 14-16-year-old Adolescents. Journal of Adolescence, 15, 1-17.
Puhr, K., Knopf, H., Gallschütz, C., Häder, K. & Müller, A. (2001).
Pädagogisch-psychologische Analysen zum Schulabsentismus. Halle:
druck-zuck.
Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (2007). Konzept gegen Schulabsentismus. Kiel.
Reid, K. (1999). Truancy and Schools. London: Routledge.
Reid, K. (2002). Truancy: Short and long-terms solutions. London:
Routledge.
Reid, K. (2003). Strategic Approaches to Tackling School Absenteeism
and Truancy: the traffic lights (TL) scheme. Educational Review, 3,
305-321.
Ricking, H. (2003). Schulabsentismus als Forschungsgegenstand. Oldenburg: BIS.
Ricking, H. (2006). Wenn Schüler dem Unterricht fernbleiben. Schulabsentismus als pädagogische Herausforderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Ricking, H. (2007). Bausteine der schulischen Prävention und frühen
Intervention bei Schulabsentismus. Zeitschrift für Heilpädagogik, 58, 2,
42-50.
Ricking, H. (2008). Schulabsentismusprävention. In J. Borchert, B.
Hartke & P. Jogschies (Hrsg.), Frühe Förderung entwicklungsauffälliger
Kinder und Jugendlicher (S. 235-247). Stuttgart: Kohlhammer
Ricking, H., Thimm K. & Kastirke, N. (2004). Schulische Qualitätsstandards bei Schulabsentismus. In Herz, B., Puhr, K. & Ricking, H.
(Hrsg.), Problem Schulabsentismus – Wege zurück in die Schule (S.
241-253). Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Ricking, H., Schulze, G. & Wittrock, M. (2009). Schulabsentismus
und Dropout: Strukturen eines Forschungsfeldes. In H. Ricking, M.
Wittrock & G. Schulze (Hrsg.), Schulabsentismus und Dropout. Erscheinungsformen Erklärungsansätze Intervention (S. 13-48). Paderborn: Schöningh (UTB)
Rosenthal, B.S. (1998). Nonschool correlates of dropout: An integrative review of the literature. Children and Youth Services Review, 20, 5,
413-433.
Rumberger, R.W. (1995). Dropping out of middle school: A multilevel analysis of students and schools. American Educational Research
Journal, 32, 3, 583-625.
Rutter, M., Maughan, B., Mortimer, P. & Ouston, J. (1980). Fünfzehntausend Stunden. Weinheim: Beltz.
Schreiber-Kittl, M. & Schröpfer, H. (2002). Abgeschrieben? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über Schulverweigerer. München:
Deutsches Jugendinstitut.
Schultz, R. (1987). Truancy: Issues and Interventions. Behavioral Disorders, 12, 117-130.
Schultz, A., Jacobs, G., Schulze, G. (2006). Kooperation zwischen Familien und Schulen bei drohendem Schulabsentismus im Übergang
Schule/Beruf. Zeitschrift für Heilpädagogik, 57, 9, 332-344.
Schulze, G. & Wittrock, M. (2005). Wenn Kinder nicht mehr in die
Schule wollen. In: S. Ellinger & M. Wittrock (Hrsg.). Sonderpädagogik
in der Regelschule. Stuttgart: Kohlhammer, 121-138
Schulze, G. & Wittrock, M. (2000). Schulaversives Verhalten. Abschlussbericht zum Landesforschungsprojekt. Universität Rostock.
Schulze, G. & Wittrock, M. (2004). Unterrichtsabsentismus – Ein pädagogisches Thema im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik
und Sozialpädagogik. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre
Nachbargebiete, 73, 3, 282-290.
Sinclair, M. F., Christenson, S. L., Evelo, D. L., & Hurley, C. M.
(1998). Dropout prevention for youth with disabilities: Efficacy of a
sustained school engagement procedure. Exceptional Children, 65,
7–21.
Stamm, M. (2007). Schulabsentismus. Eine unterschätzte pädagogische
Herausforderung. Die Deutsche Schule, 99, 1, 50-61.
Thimm, K. (2000). Schulverweigerung. Zur Begründung eines neuen
Verhältnisses von Sozialpädagogik und Schule. Münster: Votum.
Wagner, M., Dunkake, I. & Weiß, B. (2004). Schulverweigerung. Empirische Analysen zum abweichenden Verhalten von Schülern. Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3, 457-489.
Wilmers, N. & Greve, W. (2002). Schwänzen als Problem. Report
Psychologie, 27, 7, 404-413.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
10
Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen
Suizid in der Literatur
–Thomas Chatterton (1752-1770)
–Werther (Goethe) nach Karl Wilhelm Jerusalem
–Unterm Rad (Hesse 1903)
–Der Schüler Gerber (1930 Torberg)
–Die Verwirrungen des Zöglings Törless (Musil 1906)
–Anna Karenina (Tolstoi) etc.
–Automutilation – Selbstschädigung ohne suizidale Intention
–Suizidversuch – Handlung mit suizidaler Intention ohne tödlichen
Ausgang
–Suizid – Handlung mit suizidaler Intention und tödlichem Ausgang
–(Parasuizid)
Nicht zur Suizidalität zählen
–Riskanter Lebensstil
–Extremsportarten
–Anorexie, Adipositas …
–Schädlicher Substanzgebrauch
–Selbstmordkommando und politischer Suizid
–Terminologie
–Erweiterter Suizid
–Suizidpakt, Partner-, Doppelsuizid
–Peer-suicide, cyber-suicide
–Suicide by cop, Amok
–Massensuizid
–Bilanzsuizid
–Antizipatorischer Suizid
Neuer Gliederungsvorschlag (Lester 2010)
–
A Suizide
–
B autodestruktiv-dysfunktionales Verhalten: suizidale Gedanken,
­Affekte, selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche
Problematik allgemeiner suizidpräventiver Empfehlungen
–Fehlende Altersspezifik
–Fehlende Störungsspezifik
–„eminence based“ statt „evidence based“
–Schematisches statt gezieltes Vorgehen
Ziel
–Leicht anwendbare
–Leicht akzeptierbare (von Patienten und Mitarbeitern)
–Wirksame
–Durch andere Verfahren ergänzbare
–individuell gestaltbare
Psychotherapieverfahren
Medikation
Therapeutische Intervention bei akuter Suizidgefährdung kann auch eine
Medikation erfordern:
Tranquillanzien
Niedrigpotente Neuroleptika
Antidepressiva sind keine Notfallmedikamente
Die größte Herausforderung im stationären Bereich
–Wiederholte, frequente Suizidversuche
–Borderline-Struktur
–Geringe Motivation für Pädagogik oder klassische Psychotherapie
–Geringe Motivation für Psychopharmakologie
–Aggravation im stationären Milieu
Prof. Dr. med. Hellmuth Braun-Scharm, LMU
[email protected]
Altersschwerpunkte
Im Kindesalter nahezu keine Suizidversuche oder Suizide.
Im Jugendalter zahlreiche Suizidversuche, vor allem bei Mädchen.
Sowie Zunahme der Suizide, vor allem bei Jungen.
Ungarisches Muster
Suizidversuchsrate (SVR): wesentlich höher als Suizidrate, am höchsten in der Adoleszenz, kontinuierlich abnehmend, 2-3 mal häufiger beim
weibl. Geschlecht.
Suizidrate (SR): wesentlich höher als SVR, am höchsten im Alter, kontinuierlich zunehmend, 2-3 mal häufiger beim männl. Geschlecht.
Ursachen der Suizidalität:
–Familiäre Belastungen
–Streit, Gewalt, Abwertung, Trennung, Tod …
–Sonstige psychosoziale Belastungen: Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit,
Drogen …
–Psychische Störungen
Prognose der Suizidalität
Als ungünstige Faktoren gelten:
–Harte Suizidmethoden
–Ernsthaftigkeit und genaue Planung
–Wiederholte Suizidversuche
–Anhaltende Belastungen
–Schwere psychiatrische Störungen
–Männliches Geschlecht
–Höheres Alter
Epidemiologie/Suizide
–1970/80: Suizidmaximum 20 000/Jahr
–Seitdem deutliche Abnahme und Plateau in den letzen Jahren
–Aktuell 2010: 10 021 Suizide
–Jugendliche bis 20 Jahre: 189
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 10
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
11
Autismus-Spektrum-Störungen
Ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand
Einleitung
Der Begriff „Autismus“ wurde im Jahr 1911 von dem
Psychiater Bleuler als medizinischer Fachbegriff geprägt und dem Bereich der schizophrenen Erkrankungen zugeordnet. Nach Bleuler sind autistische
Verhaltensweisen dadurch gekennzeichnet, dass bei
den betreffenden Personen Kontaktschwierigkeiten
und Rückzugstendenzen sowie Störungen des Realitätsbezugs bestehen.
Im Jahr 1943 berichtete der amerikanische Kinderpsychiater Kanner über 11 Kinder, die deutliche Auffälligkeiten in der Sprache und der Kommunikation
zeigten. Diese Kinder hatten auch massive Kontaktund Beziehungsstörungen. „The outstanding, ‚pathognomonic‘ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to
people and situations from the beginning of life.“
Kanner vermutete, dass es sich um eine angeborene
Störung im Bereich des affektiven Kontakts handelt.
„We must, then, assume that these children have
come into the world with innate inability to form
the usual, biologically provided affective contact with
people, just as other children come into theworld
with innate physical or intellectual handicaps“ [1].
Klassifikation und Symptomatik
Die Diagnose einer autistischen Störung beruht auf
der Beschreibung des Verhaltens. Seit der Arbeit von
Wing und Gould [4] werden autistische Verhaltensweisen in 3 Kernbereiche gegliedert, die oft als klassische Trias bezeichnet werden. Diese Triade ist charakterisiert durch das Vorhandensein von qualitativen
Beeinträchtigungen im Bereich der sozialen Interaktion und der Kommunikation sowie durch eingeschränkte, sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten [4].
Die Kategorie der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen umfasst verschiedene Subgruppen (Tab. 1).
Entsprechend dem aktuellen Forschungsstand werden der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Asperger-Syndrom
(F84.5), die nicht näher bezeichnete (F84.9) und
sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.8)
unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen
(ASS) zusammengefasst und somit von den anderen
tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem RettSyndrom (F84.2), der desintegrativen Störung (F84.3)
oder der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) abgegrenzt.
In seiner 1944 veröffentlichten Habilitationsschrift
beschrieb Asperger eine Reihe von Kindern im Alter
von 6–11 Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer erheblichen Störung der Beziehung zu anderen
Menschen und im sozialen Kontakt bestand. Es waren fast ausschließlich Jungen betroffen, die meist
normal oder hoch begabt waren, einige hatten zudem eine Sonderbegabung. Asperger beschrieb das
Auftreten von auffälligen Persönlichkeiten in den Familien. Auch er ging von einer Vererbung aus.
„Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und
darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine
eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang
aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden“ [2].
Die einzelnen Verhaltensweisen, die zu den 3 Kernbereichen gehören, sind in Tab. 2 – 4 und Abb. 1 – 3
dargestellt. Für die verschiedenen Diagnosen/Subtypen innerhalb des autistischen Spektrums müssen
unterschiedliche Schweregrade und Zusammensetzungen von Symptomen aus dem Kernbereich sowie
bestimmte Entwicklungsaspekte vorliegen. Der frühkindliche Autismus (F84.0) gilt als Prototyp der ASS,
alle anderen ASS zeigen wesentliche phänotypische
Überschneidungen mit dem frühkindlichen Autismus; deren Definitionen in der ICD-10 können als
Varianten des frühkindlichen Autismus verstanden
werden. In der vorläufigen Fassung des DSM-V wird
der Begriff „Autismus-Spektrum-Störungen“ offiziell
in die Klassifikation aufgenommen und die Einteilung in die verschiedenen Subtypen aufgelöst.
Da Aspergers Arbeit lange ignoriert wurde, orientierte sich die Forschung um das diagnostische Konzept
„Autismus“ erst einmal an Kanners Arbeit. Die
Schwere der autistischen Störung ließ zunächst vermuten, dass es sich um eine sehr früh beginnende
Form der Schizophrenie handele. Deshalb wurde in
der ICD_9 der Autismus nahe an den Psychosen
klassifiziert. Die Studien von Rutter [3] zeigten aber
deutlich, dass Autismus eine eigenständige nosologische Entität ist. Diese Feststellung bildete die Basis
für die Einführung der Kategorie „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ in der ICD-10 (ICD: International
Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems) und im DSM-IV (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), in
dem alle Formen der autistischen Störungen klassifiziert werden.
Für die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ (F84.0)
gelten folgenden Kriterien:
–Von den insgesamt 12 aufgelisteten Symptomen
der 3 Kernbereiche müssen mindestens 6 vorhanden sein, davon mindestens 2 aus dem Bereich
sozialer Interaktion und mindestens je 1 Symptom
aus den Bereichen Sprache/Kommunikation, Stereotypien und Sonderinteressen.
1979 führten Wing und Gould [4] eine epidemiologische Untersuchung durch, in der sie Kinder erfassten, die ein auffälliges Sozialverhalten zeigten. Sie beschrieben eine Gruppe von Kindern, die nicht dem
typischen frühkindlichen Autismus zugerechnet werden konnten, die aber klinisch so auffällig waren,
dass eine psychiatrische Diagnose gerechtfertigt erschien. Sie sprachen von einem autistischen Spektrum. Dies führte in den Klassifikationen zu der Untergruppe des atypischen Autismus (ICD-10) und
zum „Pervasive Developmental Disorder Not Otherwise Specified“ (PDDNOS; DSM-IV) [5–6].
Tiefgreifende Entwicklungsstörung (TE)
Autismus-SpektrumStörungen (ASS)
F84.0
F84.5
F84.1
F84.8
F84.9
frühkindlicher Autismus
Asperger-Syndrom
atypischer Autismus
sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung
nicht näher bezeichnete tiefgreifende
Entwicklungsstörung
Andere tiefgreifende
Entwicklungsstörungen
F84.2
F84.3
F84.4
Rett-Syndrom
desintegrative Störung
überaktive Störung mit Intelligenzminderung
und Stereotypien
Tabelle 2
Qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion.
Tiefgreifende Entwicklungsstörung (TE)
Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer
Interaktionen zu verwenden
Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen
Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen
Verhaltens
Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z. B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen
oder zu erklären)
Geplante DSM-V-Änderungen
Folgende Änderungen werden voraussichtlich im DSM-V
vorgenommen (Quelle: http://www.dsmr.org):
– Autismus-Spektrum-Störungen. Zusammengefasst werden:
frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, desintegrative
Störungen, atypischer Autismus und nicht näher bezeichnete
tiefgreifende Entwicklungsstörung
– Statt der klassischen Trias werden 2 Kernbereiche definiert:
– qualitative Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation
– repetitive Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen
– Beginn der Störung: Symptome müssen in der frühen Kindheit
vorhanden sein
– zusätzliche Codes für Komorbiditäten (Sprachstörung, Regression,
Intelligenzminderung)
– Schweregradeinteilung ist vorgesehen
–Eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung
(Verzögerung in der Sprachentwicklung, Auffälligkeiten im Spielverhalten) muss bereits vor dem 3.
Lebensjahr erkennbar sein.
–Das klinische Erscheinungsbild kann nicht durch
andere psychische Störungen (z. B. Psychosen,
elektiver Mutismus, Zwangsstörungen) erklärt
werden.
Bei der genauen Betrachtung der aufgeführten Merkmale fällt auf, dass die Symptomkonstellation sehr
unterschiedlich sein kann und somit das klinische Erscheinungsbild von ASS sehr variabel ist: Einige Kinder sind sehr zurückgezogen (Abb. 1a), verwenden
kaum aktive Sprache und zeigen viele motorische
Stereotypien. Andere Kinder suchen auf eine eigenartige, teilweise distanzlose Art aktiv Kontakt
(Abb. 1c), sind verbal auffällig geschickt, im Ausdruck aber pedantisch, floskelhaft und wenig kommunikativ, sie zeigen zwanghafte Verhaltensweisen
oder spezielle Sonderinteressen. Eine dritte Gruppe
verhält sich im Kontakt eher passiv (Abb. 1b).
Das Asperger-Syndrom (F84.5) ist, wie der frühkindliche Autismus, gekennzeichnet durch eine Störung der sozialen Interaktion, durch eingeschränkte,
sehr umschriebene Interessen und stereotype Verhaltensweisen. Als obligates Kriterium wird eine normale frühe Sprachentwicklung verlangt. Darüber hinaus
wird definitorisch festgelegt, dass das adaptive Verhalten und die Neugierde an der Umgebung in den
ersten 3 Jahren einer normalen Entwicklung entsprechen müssen. Es wird zurzeit diskutiert, inwieweit es
sich beim Asperger-Syndrom tatsächlich um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Nachdem die
Evidenz bis jetzt nicht für eine valide nosologische
Abgrenzung reicht, erscheint die im DSM-V vorgeschlagene Klassifikation in einer zusammenfassenden
Kategorie „Autismus-Spektrum-Störungen“ sinnvoll.
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 11
Tabelle 1
Klassifikation tiefgreifender Entwicklungsstörungen.
Tabelle 3
Qualitative Beeinträchtigung der Sprache und der Kommunikation.
Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht
begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur
Kommunikation (vorausgehend fehlendes kommunikatives Geplapper)
Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten, bei
dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt
Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen
Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder sozialen Imitationsspielen
Tabelle 4
Eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.
Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen,
die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich aber auch um ein oder mehrere
Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln
Zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale
Stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers
Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder Vibration)
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
a
b
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
c
Abb. 1 a bis c Formen
der Kontaktstörung
(vgl. Tab. 2).
Abb. 2 a und b Das Kind spricht unablässig über ein Thema, es entsteht keine aufeinander bezogene Kommunikation (vgl. Tab. 3).
Die diagnostischen Kriterien des atypischen Autismus (F84.1) entsprechen den Kriterien des Autismus
(F84.0), jedoch ist das Manifestationsalter verspätet
(nach dem 3. Lebensjahr) und/oder einer der 3 Kernbereiche bleibt unauffällig. Die Diagnose einer nicht
näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung ist ähnlich, aber noch vager definiert. In der Regel wird diese Diagnose vergeben, wenn Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion vorliegen und die
Kriterien für einen der beiden anderen Bereiche erfüllt sind.
Das Rett-Syndrom kommt fast ausschließlich bei
Mädchen vor. Die Inzidenz wird mit 1:10000 bis
1:15000 angegeben, ist aufgrund der Varianz des klinischen Phänotyps jedoch möglicherweise höher zu
vermuten. Ursache des Rett-Syndroms sind Mutationen und Deletionen im MECP2-Gen (Methyl-CpGbinding Protein 2), das auf dem Langarm des XChromosoms in Position q28 lokalisiert ist. Das
nahezu ausschließliche Auftreten bei Mädchen lässt
sich durch eine X-chromosomal dominante Vererbung erklären, bei der die Mutation im männlichen
Geschlecht (mit nur einem X-Chromosom) in der
Regel einen Letalfaktor darstellt. Es kommt zu einem
Stillstand der bis dahin normalen Entwicklung zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat und danach zu
zunehmendem Verlust des Handgebrauchs, der Sprache und der Lokomotion. Die mit abnehmender
Handfunktion klassischerweise in Erscheinung tretenden reibenden, wringenden Handbewegungen und
ein fast zwanghaft erscheinendes, stereotypes Lutschen oder Beißen an den Händen, sobald die Arme
nicht zur Stützfunktion eingesetzt werden oder der
Mund nicht mit Schnuller besetzt ist, geben diesem
Verhalten einen charakteristischen, fast syndromspezifischen Wiedererkennungswert.
Die anderen desintegrativen Störungen des Kindesalters sind gekennzeichnet durch eine Phase einer
eindeutig normalen Entwicklung bis zum 3. Lebensjahr, gefolgt von einem relativ schnellen Abbau der
erworbenen Fähigkeiten in der Sprache, im Spiel, im
sozialen Kontakt und in lebenspraktischen Fertigkeiten. Das klinische Bild ähnelt später dem des frühkindlichen Autismus in Kombination mit einer
schweren geistigen Behinderung.
Die überaktive Störung mit Intelligenzminderung
und Bewegungsstereotypien wird bereits in der
ICD-10 als eine schlecht definierte Störung mit fraglicher Validität beschrieben. Es handelt sich um Patienten mit einer schweren Intelligenzminderung (IQ
< 35), einer ausgeprägten Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen.
Variabilität der ASS
Die große phänotypische Variabilität der ASS ist
unzureichend bekannt und mitverantwortlich für
eine verzögerte Früherkennung.
Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen
Neben der Kernsymptomatik zeigen Personen mit
ASS häufig eine große Zahl verschiedener Begleitsymptome. Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören weitere Entwicklungsstörungen (z. B. motorische
Störungen, Sprachstörungen, Intelligenzminderungen), neurologische (z. B. Epilepsien), somatische
und genetische/ chromosomale Erkrankungen und
das gleichzeitige Vorliegen von psychiatrischen Symptomen, die nicht zur Kernproblematik der autisti-
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 12
12
Abb. 3 a und b Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (a) und bewegt Gegenstände stereotyp
(z. B. Drehen wie ein Kreisel) (b) (vgl. Tab. 4).
Tabelle 5
Komorbidität und Differenzialdiagnose im Überblick.
Alter
Komorbidität
Differenzialdiagnose
Vorschulalter
Schlaf- und Essstörungen, Regulationsstörungen, allgemeine
Unruhe
Bindungsstörungen
allgemeine Entwicklungsverzögerung (Sprache, Motorik,
Spiel) i. S. einer Intelligenzminderung
Intelligenzminderung ohne ASS, genetisch-somatische Erkrankungen
Intelligenzminderung mit spezifischen neurologischen Symptomen oder genetischen Syndromen (Epilepsie, Zerebralparese, Fragiles-X-Syndrom, tuberöse Sklerose, Makro- oder Mikrozephalie)
spezifische genetische Syndrome ohne ASS, Epilepsiesyndrome ohne ASS, Sinnesbeeinträchtigungen (v. a. Höroder Sehstörungen)
Regression
desintegrative Störung, Rett-Syndrom, neurologische Erkrankungen, Landau-Kleffner-Syndrom
autoaggressives, aggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen
oppositionelle Störung, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Intelligenzminderung
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, oppositionelles
Verhalten
ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Mutismus
Lernstörungen
umschriebene Sprachentwicklungsstörung, Intelligenzminderung/Lernbehinderung
Ticstörungen
Tourette-Syndrom
Ängste, Depression oder Zwänge, Essstörungen
Angststörung, Phobien, Zwangsstörung, Anorexia nervosa,
Persönlichkeitsstörungen
akute Belastungsreaktionen bei jahrelang bestehender kognitiver/sozialer Überforderung
(schizophrene) Psychosen, psychotische Episoden, bipolare
Störungen
Schulalter
Jugendalter/
Erwachsenalter
schen Störungen gehören (z. B. hyperkinetische Symptome, Angststörungen, depressive Verstimmungen).
Die wichtigsten Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen sind in Tab. 5 zusammengefasst [24].
Die Komorbidität zwischen Autismus und einer Intelligenzminderung ist gut dokumentiert. Ging man
früher davon aus, dass bei mindestens 80% aller Personen mit einer autistischen Störung ebenfalls eine
Intelligenzminderung vorlag, liegen bei neueren Untersuchungen die durchschnittlichen Angaben bei
etwa 50% [8].
Allgemein wird angenommen, dass zwischen 5 und
10% der Kinder mit ASS und einer zusätzlichen Intelligenzminderung an einem bekannten genetischen
Syndrom erkrankt sind. Man spricht dann von einem
„syndromalen Autismus“. Zu den bekanntesten monogen vererbten Syndromen, die im Zusammenhang
mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen erwähnt
werden, zählen die tuberöse Sklerose, das Fragile-XSyndrom, und das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom. Andere zu erwägende bekannte Syndrome sind durch
Mikrodeletionen/-duplikationen bedingt und in ihrem klinischen Bild etwas heterogener, da nicht nur
ein Gen betroffen ist: Mikrodeletion 22q11.2, PhelanMcDermid-Syndrom (del 22q13), Angelman-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom (del 15q11–13), SmithMagenis-Syndrom (del 17p11.2) und das
Potocki-Lupski-Syndrom (dup17p11.2). Die Häufigkeit des Auftretens dieser Syndrome innerhalb des
autistischen Spektrums ist eher gering [9].
Definition der ASS
ASS werden als komplexe, neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörungen definiert. Das Vorliegen einer ASS sollte als ein Risikofaktor für
das Vorhandensein von weiteren Erkrankungen
oder Störungsbildern gewertet werden.
Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass bei
ASS eine höhere Rate an Epilepsien anzutreffen ist.
Je nach Untersuchung liegen die Häufigkeitsangaben
zwischen 11 und 39%. In Studien, die auch Personen
mit einer schwereren Form der Intelligenzminderung
und/oder mit zusätzlichen körperlichen Erkrankungen oder Syndromen einschließen, liegen die Häufigkeitsangaben höher als in Studien, die vor allem Personen mit einem hochfunktionalen Autismus
untersuchen. Bezüglich des Manifestationsalters lässt
sich eine bimodale Verteilung nachweisen. Der 1.
Manifestationsgipfel liegt zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr, der 2. oberhalb des 10. Lebensjahres [10].
Die Komorbidität zwischen Autismus und Epilepsie
hat sehr früh zur Postulierung der biologischen
Grundlage der ASS geführt. Bis heute gibt es aber
keine überzeugende Evidenz, dass epileptische Syndrome oder pathologische EEG-Veränderungen ein
wesentlicher ursächlicher Faktor in der Entstehung
der ASS sind. Generell wird angenommen, dass die
Assoziation zwischen Autismus und Epilepsie indirekt über die zugrunde liegende, gemeinsame Ätiologie der beiden Krankheitsbilder vermittelt wird. Der
idiopathische Autismus ist eine komplexe Entwicklungsstörung des Zentralnervensystems, deren Ursache durch genetische Faktoren bedingt wird, die
ebenfalls in der Genese von Epilepsiesyndromen von
Bedeutung sein könnten.
Kinder mit einer ASS und einer durchschnittlichen
Intelligenz können eine Vielzahl von komorbiden
psychopathologischen Symptomen/Syndromen zeigen, die ihren Entwicklungsverlauf beeinträchtigen.
Im Grundschulalter gehören die typischen Kernsymptome einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (Aufmerksamkeitsdefizite, motorische
Unruhe, Impulsivität) zu den am häufigsten erwähnten Begleitsymptomen einer autistischen Störung.
Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass mindestens
30–80% der Kinder mit ASS die Kriterien einer
ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder)
erfüllen [11].
ASS und ADHD
Kinder mit der Diagnose ASS oder ADHD sollten systematisch auf das Vorliegen einer Doppeldiagnose „ASS und ADHD“ untersucht werden.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Insbesondere in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter ist die Depression vor allem beim
Asperger-Syndrom eine bedeutende Komorbidität. In
dieser Zeit nimmt der Vergleich mit anderen Jugendlichen zu, die Identitätssuche setzt ein, die psychosexuelle Entwicklung beginnt, was häufig zu Krisen
führt. Der Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom
wird sich seiner Andersartigkeit bewusst, der
Wunsch nach sozialem Kontakt und die Anzahl der
damit zusammenhängenden Frustrationen steigen.
Die Anzahl der Depressionen und Angststörungen
nimmt zu, auch die Suizidgefahr steigt in dieser Zeit.
Die typischen Symptome einer Depression finden
sich in einer deutlich veränderten Stimmungslage,
Selbstabwertung, reduziertem Appetit, Schlafstörungen, einer Zunahme von zwanghaftem Verhalten [12].
In den letzten Jahren hat das Auftreten von bipolaren Störungen in der frühen Kindheit und im Jugendalter mehr Aufmerksamkeit bekommen. Einige
Studien untersuchen gezielt die Häufigkeit von affektiven Störungen bei Menschen mit ASS. In einer Studie an 44 Menschen mit einer autistischen Störung
wurde bei 36,4% der Probanden eine affektive Störung diagnostiziert. Bei 4 Probanden wurde eine depressive Störung festgestellt und bei 12 Patienten
eine bipolare Störung. Die Autoren stellen die Hypothese auf, dass eine vergleichbare genetische Vulnerabilität in der Ätiopathogenese von autistischen Störungen und bipolaren Störungen eine Rolle spielen
könnte [13].
Verhaltensmerkmale der ASS
Kein Verhaltensmerkmal ist pathognomonisch für
ASS, jedes Symptomkann auch in annähernd vergleichbarer Form bei anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern vorliegen.
Im Vorschulalter müssen ASS differentialdiagnostisch vor allem von sensorischen Beeinträchtigungen
(Hör- und Sehstörungen), Sprachentwicklungsstörungen und Intelligenzminderungen ohne ASS abgegrenzt werden.
Kinder mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen zeigen
vereinzelt Verhaltensweisen, die dem Verhalten autistischer Kinder ähneln. Bei Personen mit Sehbehinderung können der fehlende Blickkontakt, das distanzlose Kontaktverhalten sowie ein besonderes Interesse
an akustischen oder sensorischen Reizen an eine ASS
denken lassen. Bei hörbeeinträchtigten Personen fallen vor allem Sprachentwicklungsstörungen sowie
eine fehlende Reaktion auf Ansprache oder Rückzugsverhalten auf.Wenn die Sinnesbeeinträchtigung
im Rahmen einer Mehrfachbehinderung (zusätzliche
geistige und/oder körperliche Behinderung) auftritt,
können auch vermehrt stereotype Bewegungsmuster
und gelegentlich autoaggressive Verhaltensweisen das
Erscheinungsbild prägen. Durch genaue Sinnesprüfungen mit subjektiven und vor allem objektiven
Verfahren lassen sich Sinnesbeeinträchtigungen meist
problemlos von ASS abgrenzen.
Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen sind in einem hohen Prozentsatz auch in ihrem Verhalten auffällig. Speziell die rezeptiven
Sprachentwicklungsstörungen können zu Problemen
in der Differenzialdiagnose führen, da die betroffenen Kinder häufig ein repetitives Spiel und zwanghafte Verhaltensweisen zeigen. Die kommunikativen
Fähigkeiten sind aufgrund der schweren Sprachstörung oft sehr eingeschränkt, jedoch durch nonverbale
Kommunikationsmittel (Gestik, Mimik) kompensiert.
13
Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit guter
kognitiver Entwicklung kann die differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen einem Asperger-Syndrom und einer Persönlichkeitsstörung schwierig
sein. Gemäß der ICD-10 wird eine Persönlichkeitsstörung (F60) diagnostiziert, wenn bei einem Individuum rigide und wenig angepasste Verhaltensweisen
vorliegen, die eine hohe zeitliche Stabilität aufweisen,
situationsübergreifend auftreten und zu persönlichem
Leid und/oder gestörter sozialer Funktionsfähigkeit
führen. Sie beginnen in der Kindheit und Jugend,
nehmen eine lebenslange Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form auf Dauer im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter. Laut ICD-10 ist die
Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluss
der Pubertät wahrscheinlich unangemessen. Wichtigstes Instrument ist die frühkindliche Anamnese, in
der sich die typische Verhaltenskonstellation des Asperger-Syndroms abbildet. Meist fehlt bei den Persönlichkeitsstörungen die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation.
Diagnostische Vorgehensweise
Trotz des frühen Beginns von ASS wird die Diagnose leider deutlich verspätet gestellt. Bei frühkindlichen autistischen Störungen vom Kanner-Typ (frühkindlicher Autismus mit deutlicher
Entwicklungsverzögerung) wird die Diagnose meist
um das 6. Lebensjahr, bei autistischen Störungen
ohne Entwicklungsverzögerung (sog. hochfunktionalen autistischen Störungen, wie z. B. dem AspergerSyndrom) wird die Diagnose noch später gestellt, um
das 12. Lebensjahr [14].
Die diagnostische Einschätzung im frühen Alter ist
ein komplexer Prozess, der meist in mehreren Schritten stattfindet. Die in Tab. 6 zusammengefasste Vorgehensweise macht deutlich, dass es sich um einen
zeitintensiven und sehr differenzierten Prozess handelt. Es gibt keinen „Labortest“ für den frühkindlichen Autismus. Im Rahmen der Abklärung nehmen
neben allgemeinen Verfahren die autismusspezifischen Verfahren eine zentrale Rolle ein.
Wenn Eltern wegen Auffälligkeiten beunruhigt sind,
ist die erste Anlaufstelle der Kinderarzt. Dort wird
aufgrund der Schilderungen der Eltern und durch Beobachtung des Kindes der erste Verdacht auf eine
ASS formuliert und mit den Eltern besprochen. Der
2. Schritt besteht in einer Vorstellung des Kindes bei
spezialisierten Zentren mit dem Ziel, eine umfassende Diagnostik zu veranlassen.
Angaben von Eltern bzw.
engsten Bezugspersonen
∏ Fragebogen bis zu 36. Lebensmonat
Die Modified Checklist for Autism in Toddlers (MCHAT) ist ein Fragebogen, bestehend aus 23 Ja/
Nein-Fragen zur Früherkennung von ASS imAlter
von 24 Monaten. Es gibt keine direkte Beobachtung
des Kindes in der Untersuchungssituation. Die Spezifität (Anzahl der richtig erkannten gesunden Kinder) (99%) und die Sensitivität (Anzahl der richtig
erkannten Kinder mit ASS) (97%) für die untersuchten Stichproben sind gut. Entsprechend kann der
Fragebogen als Screeninginstrument in Praxen eingesetzt werden [15]. Folgt man den Ergebnissen der
verschiedenen Studien zur M-CHAT, ergibt sich eine
Liste von 6 Symptomen, die als Warnsignale für das
Vorliegen einer Störung aus dem autistischen Spektrumzuwerten sind.Wenn mindestens 2 Symptome
dieser Liste auffällig sind, sollte eine genaue diagnostische Einschätzung vorgenommen werden (Tab. 7).
Die M-CHATund die Anleitung zur Anwendung
können auf der Homepage der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Frankfurt abgerufen werden (http://www.klinik.uni-frankfurt.de/
zpsy/kinderpsychiatrie/Downloads/M-CHAT_dt.pdf).
∏ Fragebogen für ältere Kinder
Einer der am meisten verwendeten Fragebogen ist
der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation
(FSK), der für Kinder ab dem 36. Lebensmonat eingesetzt werden kann. Der FSK-Fragebogen ist aus
dem ADI-R (Autism Diagnostic Interview-Revised)
abgeleitet und besteht aus 40 Items, die von den
engsten Bezugspersonen des Kindes bewertet werden müssen. Die Durchführung des FSK dauert etwa
20 Minuten. Das Itemformat ist binär („ja/nein“). Die
Interpretation des FSK hinsichtlich des Vorliegens
einer Störung aus dem autistischen Spektrum wird
Alter bei Beginn der Probleme
frühe Entwicklungsgeschichte (Kleinkindzeit, Kindergartenzeit)
aktuelle Entwicklungen
Angaben von Kindergarten, Tagestätte, Schule etc. im Hinblick auf Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und im Verhalten
Familienanamnese, insbesondere das Vorhandensein von Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderungen,
psychiatrischen Störungen
medizinische Anamnese
Beobachtung/psychiatrische
Evaluation
Kernsymptomatik, insbesondere die Art der sozialen Probleme (aloof, passiv oder odd), Vorhandensein von
ängstlich-zwanghaftem Verhalten (ADOS-G, ADI-R, SRS, FSK, MBAS)
zusätzliche psychiatrische Probleme, insbesondere Aufmerksamkeitsprobleme, Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten oder Angst und Depression im Jugendalter
regelmäßige psychiatrische Follow-ups nach der Initialdiagnose
Neuropsychologische Evaluation
Intelligenzniveau, Profil (Anwendung von mehrdimensionalen Verfahren)
Sprache und Kommunikation
– Sprachentwicklung auf lexikalischer und syntaktischer Ebene, expressiv und rezeptiv
– Sprachentwicklung auf pragmatischer Ebene (Verstehen von Turntaking im Gespräch, später Verstehen
von Witz, Humor und Ironie, Doppelbedeutungen etc.)
Theory of Mind (Erkennen von Mimik und Emotionen, soziale Situationen)
Exekutivfunktionen (Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Handlungsplanung)
zentrale Kohärenz
adaptives Verhalten, Funktionsniveau im Alltag
Medizinische Evaluation
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 13
Einsatz von Fragebögen
Fragebögen dienen primär als Screeninginstrument, zum Generieren von Verdachtsdiagnosen.
Eine umfassende Diagnostik anhand von Elterninterviews und Beobachtungsskalen kann durch
Fragebögen keineswegs ersetzt werden.
Tabelle 6
Diagnostische Bausteine bei ASS.
Stark vernachlässigte, misshandelte oder deprivierte
Kinder können im Querschnittsbild autistischen
Kindern sehr ähnlich sein. Hier muss die Vorgeschichte zur Klärung der Diagnose beitragen. Meist
tritt bei diesen Kindern eine deutliche Veränderung
der Interaktion unter entsprechender Förderung und
adäquatem Beziehungsaufbau ein.
Ängstliche, zurückgezogene, mutistische, gehemmte
oder zwanghafte Kinder können, besonders in der
Gruppe, in ihrem sozialen Verhalten an autistische
Kinder erinnern. Die Vorgeschichte, das Verhalten in
anderen Situationen, insbesondere auch in der Familie, und das Ansprechen auf eine Behandlung sind
für die diagnostische Abgrenzung wichtige Faktoren.
Fragebögen als Screeninginstrument
Fragebogenverfahren haben den Vorteil, dass in kurzer Zeit ohne großen Zeitaufwand auf standardisierte
Weise viel Information über ein Kind gewonnen
werden kann. Es besteht aber die Gefahr, dass Fragen seitens der Eltern falsch oder gar nicht verstanden werden. Ebenso können bestimmte Probleme
aggraviert oder dissimuliert werden.
Ausschluss von Hör- und Sehstörungen
Stoffwechselscreening
entwicklungsneurologische und körperliche Untersuchung
EEG (Schlafableitung), evtl. CCT/MRI
genetisches Konsil (z. B. Fragiles-X-, Rett-, Angelman-Syndrom, tuberöse Sklerose o. ä.)
ADOS-G: Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic; ADI-R: Autism Diagnostic Interview-Revised; SRS: Social Responsiveness
Scale; FSK: Fragebogen zur Sozialen Kommunikation; MBAS: Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Tabelle 7
Warnsignale für eine ASS.
1. Das Kind zeigt kein Interesse an anderen Kindern.
werden können. Das ADOS-G und das ADI-R sind
inzwischen die meistverwendeten Instrumente in der
Diagnostik autistischer Störungen.
2. D
as Kind benutzt den Zeigefinger nicht, um auf etwas zu zeigen oder um Interesse für
etwas zu bekunden (kein protodeklaratives Zeigen).
3. Das Kind bringt keine Gegenstände, um sie den Eltern zu zeigen.
4. Das Kind imitiert die Eltern nicht (z. B. bei Grimassen schneiden).
5. Das Kind reagiert nicht auf seinen Namen, wenn die Eltern es rufen.
6. D
as Kind schaut nicht hin, wenn die Eltern auf ein Spielzeug am anderen Ende des
Zimmers zeigen.
auf der Basis des Summenwerts der „Lebenszeit“-Fassung vorgenommen. Wird der Schwellenwert von 15
erreicht, ist eine Störung aus dem Spektrumwahrscheinlich, wird der Schwellenwert 16 erreicht, so ist
die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ im engeren
Sinne wahrscheinlich und eine weiterführende Diagnostik indiziert [16].
Die Marburger Beurteilungsskala zum AspergerSyndrom (MBAS) ist ein Fragebogen für Personen
zwischen 6 und 24 Jahren mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten. Der Bogen besteht aus 57 Beschreibungen, die auf einer 5-stufigen Skala von einer
Bezugsperson eingeschätzt werden sollen (von „niemals“ bis zu „immer“). Es gibt 37 Verhaltensbeschreibungen für das aktuelle Verhalten, 14 Verhaltensbeschreibungen für das 4.–5. Lebensjahr und 6 Fragen
zu Sprachbeginn und sprachlichen Auffälligkeiten.
Die einschätzende Bezugsperson sollte nach Möglichkeit täglich mit dem Kind/Jugendlichen zusammen
sein und mit dem üblichen Verhalten des Betroffenen
vertraut sein. Der Gesamtschwellenwert liegt bei 103.
Die Verdachtsdiagnose Asperger-Syndrom wird vergeben, wenn der Gesamtscore über dem Schwellenwert liegt und keine Sprachentwicklungsverzögerung
festzustellen ist [17].
Mit der Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität
(SRS) wird ein Fragebogen eingeführt, der den Anspruch erhebt, Autismus als ein dimensionales, in der
Allgemeinbevölkerung normalverteiltes Merkmal abzubilden. Besondere Bedeutung hat der SRS bei der
Auffindung von Personen mit leichteren, jedoch
durchaus behandlungsbedürftigen ASS im Übergangsbereich vom subklinischen zum klinischen Bereich. Die SRS ist als Elternfragebogen zur Beurteilung von Kindern oder Jugendlichen konzipiert. Die
Skala erfasst soziale, kommunikative und rigide Verhaltensweisen bei Probanden zwischen 4 und 18 Jahren im Sinne einer dimensionalen Diagnostik von
Autismus. Der Fragebogen besteht aus 65 Items, die
auf einer 4-stufigen Skala (0 = „trifft nicht zu“ bis 3
= „trifft fast immer zu“) eingeschätzt werden sollen.
Die Bearbeitung der SRS beansprucht etwa 15–20
Minuten. Die Interpretation der Rohwerte erfolgt
über die Zuordnung von T-Normen, die eine Einschätzung der berichteten autistischen Verhaltensweisen in Relation zu Kindern und Jugendlichen der
Allgemeinbevölkerung ermöglichen. Zudem liegen
Autismusnormen auf der Basis einer Stichprobe von
Kindern und Jugendlichen mit ASS vor (Autismus,
Asperger-Syndrom, atypischer Autismus, nicht näher
bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung) [18].
Diagnostikinstrumente
Als Goldstandards in der Diagnostik von ASS gelten
das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R)
und Autism Diagnostic Oberservation Schedule-Generic (ADOS-G) [19, 20]. Das ADI-R ist ein standardisiertes, halbstrukturiertes untersuchergeleitetes
Interview, basierend auf Angaben der Eltern bzw. der
engsten Bezugsperson des Kindes. Das Interview
dauert etwa 2–3 Stunden. Dabei werden für den Autismus typische Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung erfragt. Anhand der verschiedenen Fragen
wird am Schluss des Interviews mithilfe eines Algorithmus eine Summe für die 3 Verhaltensbereiche
„soziale Interaktion“, „Kommunikation“ und „repetitives Verhalten“ gebildet. Bei Überschreiten eines
Grenzwerts in allen 3 Bereichen erfolgt dann die Zuordnung der Diagnose „frühkindlicher Autismus“.
Das ADOS-G ist ein halbstandardisiertes Spielinterview mit dem Kind, in dem Situationen geschaffen
werden, die normalerweise soziale Interaktion hervorrufen. Das Interview dauert etwa 30–45 Minuten
und besteht aus 4 Modulen, die je nach kognitiver
und sprachlicher Entwicklung der Kinder eingesetzt
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 14
ADOS-G und ADI-R
ADOS-G und ADI-R ergeben in der Hand eines
geschulten und erfahrenen Untersuchers, der
über Erfahrung mit differentialdiagnostisch relevanten Störungen bei Kleinkindern verfügt, eine
recht sichere Diagnose.
Epidemiologie
Der frühkindliche Autismus galt lange als eine sehr
seltene Erkrankung mit einer Häufigkeit von 0,04 %.
Die erste epidemiologische Studie wurde 1966 von
Lotter durchgeführt [21]. Die Mehrzahl der älteren
Studien machen nur Angaben zur Häufigkeit des
frühkindlichen Autismus. Angaben zu anderen ASS
finden sich erst durch die Einführung des SpektrumBegriffs durch Wing und Gould. In neueren epidemiologischen Untersuchungen lässt sich ein deutlicher Anstieg der Prävalenzraten für Störungen aus
dem autistischen Spektrum feststellen. Die stetige
Zunahme der Prävalenz begann bereits vor der Jahrtausendwende. Die Studien von 1966–1973 ergaben
eine Prävalenz von 0,05%, während für Studien aus
den Jahren 1990–1997 eine höhere Rate von 0,1% errechnet wurde. In epidemiologischen Untersuchungen seit 2000 ist die Prävalenz für das autistische
Spektrum deutlich angestiegen. Zusammenfassend ergeben diese neuen Studien eine Prävalenzrate für Autismus von ca. 0,3% und für die anderen ASS von
insgesamt 0,9 %.
Die Häufigkeitsverteilung (4 :1) zugunsten der Jungen bei ASS scheint in Abhängigkeit vom Intelligenzniveau zu variieren. Die Geschlechtsunterschiede
sind geringer in der Gruppe der Menschen, die eine
mittelgradige bis schwere Form der Intelligenzminderung zeigen (2 : 1), während im normativen Intelligenzbereich das Verhältnis Jungen zu Mädchen bei
6:1 liegt [7, 22, 23].
Zunahme der Prävalenzrate
ASS sind keine seltenen Störungen. Die Zunahme
der Prävalenzrate ist durch veränderte Definitionen in den Klassifikationen und durch eine frühere und bessere Diagnostik zu erklären, nicht durch
eine tatsächliche Zunahme der Erkrankungen.
Ätiologie
Genetische Faktoren
Bereits in den Erstbeschreibungen von Kanner und
Asperger wurden genetische Faktoren ursächlich für
ASS postuliert. Zwillingsstudien zeigten, dass die
Konkordanzraten bei monozygoten Zwillingen zwischen 36 und 96% lagen, im Gegensatz zu den dizygoten Zwillingen, bei denen die Konkordanzraten
bei 0% nachzuweisenwaren,was auf eine Erblichkeit
von über 90% schließen lässt. Die Tatsache, dass die
Konkordanzrate der eineiigen Zwillinge nicht bei
100% liegt, deutet aber auch darauf hin, dass neben
genetischen Faktoren auch in geringerem Ausmaß
exogene Faktoren bei der Entstehung der autistischer
Störungen eine Rolle spielen [24].
Fortschritte in der zytogenetischen, molekularzytogenetischen und molekulargenetischen Diagnostik haben die Kenntnisse über Ursachen der ASS v.a. in
den letzten 5–10 Jahren stark erweitert. Dabei wurde
erwartungsgemäß „das Autismus-Gen“ nicht gefunden, da sowohl die früheren Zwillings- und Familienuntersuchungen als auch die aktuellen molekulargenetischen und Array-CGH-Studien (CGH:
Comparative genomic Hybridization) auf eine genetische Heterogenität hinweisen, die der klinischen Heterogenität entspricht. Die bisher gefundenen De-novo-Mutationen und Syndrome sind insgesamt bei
10–20% der Patienten mit ASS ursächlich, wobei die
einzelnen genannten Störungen jeweils nur 1–2% aller Fälle verursachen. Somit bleiben weiterhin 80–
90% der Fälle ursächlich unklar.
In Familienstudien finden sich Wiederholungsrisiken
von ca. 3% bei Geschwistern von Betroffenen. Dieses
Risiko ist ca. 50-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die großen Unterschiede von Konkordanzraten bei monozygoten und dizygoten Zwillingspaaren
14
sowie das stark abfallende Wiederholungsrisiko bei
zweit und drittgradigen Verwandten sprechen gegen
einen Defekt in einem Gen. Gegenwärtig wird von
einem signifikanten Beitrag von 3–4 Genen ausgegangen.
Heterogenes Krankheitsbild
ASS sind ein klinisch und genetisch heterogenes
Krankheitsbild. Die Genese ist multifaktoriell mit
starker genetischer Komponente. In den meisten
Fällen bleibt auch mit moderner Diagnostik die
Ursache unklar.
Psychosoziale und biologische Umweltfaktoren
Im Rahmen der Ätiologie psychiatrischer Erkrankungen können sowohl psychosoziale als auch biologische Risikofaktoren genannt werden. Im Hinblick auf
ASS sind in Bezug auf psychosoziale Risiken vor allem extremste Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren beschrieben worden, wie sie z. B. in rumänischen Kinderheimen vorgefunden wurde. Diese
Lebensbedingungen beinhalteten Unter- und Fehlernährung, eine hohe Rate an Infektionen, keine festen
Bezugspersonen, keine Spielmöglichkeiten. Studien
zeigen, dass die Rate an autismusspezifischen Verhaltensweisen deutlich erhöht war, wenn Kinder dieser
extremen Form der Vernachlässigung länger als 2 Jahre ausgesetzt waren. Da aber derartige Formen der
Deprivation extrem selten sind, ist davon auszugehen, dass emotionale und körperliche Vernachlässigungen bei den meisten Kindern mit ASS keine Ursache der Erkrankung darstellt.
Differenzialdiagnostisch muss allerdings bei Kleinkindern immer auch an eine Bindungsstörung gedacht werden.
Eine Vielzahl an biologischen Risikofaktoren ist
ebenfalls untersucht worden,wobei nur wenige Faktoren als ursächlich in der Entstehung von ASS belegt werden konnten. Ein erhöhtes mütterliches und
väterliches Alter ist als Risikofaktor repliziert worden. Möglicherweise findet sich eine erhöhte Rate
von zytogenetischen Veränderungen bei höherem Alter der Eltern als Ursache der ASS.
Virusinfektionen in der Schwangerschaft wurden vielfach untersucht. Lediglich für die Rötelninfektion
konnte eine höhere Rate von ASS nachgewiesen
werden. Aufgrund der derzeitigen Studienlage kann
aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere
Viruserkrankungen der Mutter in der Schwangerschaft eine ASS verursachen kann.
Auch bezüglich der Auswirkungen von Medikamenteneinnahme existieren nur vereinzelt Studien. In
Langzeitstudienwurde nachgewiesen, dass Thalidomid und VPA mit erhöhten ASS-Raten einhergehen.
Oft wird vermutet, dass Geburtskomplikationen eine
Rolle in der Entstehung von ASS spielen. Meist sind
aber bei Kindern mit einer genetischen Veränderung
schwierige Geburtsverläufe die Folge dieser Veränderung und nicht die Ursache der Störung. In einigen
Fällen kann aber eine starke Gehirnblutung um die
Geburt herum eine ASS mitverursachen. Diese Störungen werden als Zerebralparesen definiert und
kommen bei etwa 2% der Kinder mit ASS vor. Eine
kürzlich durchgeführte Untersuchung bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g bezifferte das Risiko, autistische Symptome zu entwickeln,
mit 26%. Dabei wurde deutlich, dass vor allem Kinder mit einem sehr niedrigen Geburtsgewicht, abnormen Befunden in der zerebralen Bildgebung, perinatalen Infektionen, Hirnblutungen oder langfristigen
Sauerstoffgaben im durchschnittlichen Alter von 22
Monaten anhand der M-CHAT auffällige ScreeningWerte hatten [25].
Behandlungsschwerpunkte
Die Schwerpunkte der Behandlung liegen – insbesondere beim jüngeren Kind – im Aufbau sozialer und sprachlicher Fertigkeiten. Dabei werden
meist verhaltenstherapeutische oder heilpädagogische Methoden genützt und sehr viel aktivere
und direktivere Zugänge gewählt als bei nicht autistischen Kindern. Eltern haben eine große Bedeutung bei der Entwicklungsförderung und Generalisierung von Therapieschritten in die
Lebensumwelt des autistischen Kindes.
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
Therapie
Die Behandlung von Kindern mit ASS wird vom
Entwicklungsstand, von den individuellen Besonderheiten und Eigenheiten eines Kindes sowie von den
Möglichkeiten und Bedürfnissen seiner Familie bestimmt, weniger durch die Methodik. Es gibt keine
für autistische Störungen generell gültige und erfolgversprechende Therapie. Für jedes autistische Kind
muss ein individuelles Programm erstellt und im Verlauf seiner Entwicklung immer wieder adaptiert werden.
Die Schwerpunkte der Therapie liegen bei verhaltenstherapeutischen und heilpädagogischen Ansätzen
(Tab. 8). Die Ziele der Behandlung bestehen darin,
die soziale und kommunikative Entwicklung autistischer Kinder zu unterstützen, ihre allgemeine Lernund Problemlösefähigkeit zu fördern, Verhalten abzubauen, das mit Lernen und Zugang zu Möglichkeiten
normaler Erfahrung interferiert (Rigidität und Stereotypien), und Hilfen zur Bewältigung des Autismus
für Familien zu vermitteln. Zahlreiche Methoden,
Verfahren und Maßnahmen werden zur Behandlung
von Störungen aus dem autistischen Spektrum angewandt, manche mit unrealistisch hohen Erwartungen.
Eine Heilung der ASS ist bisher nicht möglich [26].
An einzelnen Interventionen und Maßnahmen seien
genannt: intensive verhaltenstherapeutische Frühförderprogramme (ABA), TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and Communication
handicapped Children), pädagogische Frühförderung,
Ergotherapie, Logopädie, Spieltraining, tiergestützte
Therapien und soziale Kompetenztrainings.
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist eher
selten indiziert, z. B. bei intellektuell gut entwickelten Jugendlichen oder Erwachsenen, die sich mit ihrer Behinderung auseinandersetzen. Musiktherapie
kann nonverbal oftmals einen ersten Zugang zu einem Kind ermöglichen.
Methoden, an die unrealistisch hohe Erwartungen gerichtet werden, sind u. a. das auditive Integrationstraining, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien,
die Festhaltetherapie, die gestützte Kommunikation,
die Irlen-Therapie.
Die kontinuierliche Eltern- und Familienarbeit ist
ein unverzichtbarer Schwerpunkt in der Behandlung
autistischer Menschen. Ziele bestehen in der Unterstützung im Umgang mit den oft unverständlichen
Verhaltensweisen der autistischen Familienmitglieder,
in der Entlastung von Schuldgefühlen, in der Vermittlung von Hilfen im täglichen Umgang und im
konkreten Einbeziehen in die Entwicklungsförderung
und Verhaltensstabilisierung. Die individuellen Belastungen und die Ressourcen einer Familie bilden die
Grundlage für beratende und ggf. therapeutische Interventionen. Selbsthilfegruppen wirken in dem Prozess der Auseinandersetzung mit der Erkrankung eines Familienmitglieds an frühkindlichem Autismus
entlastend und unterstützend.
Manche Patienten mit einer autistischen Störung bedürfen zumindest vorübergehend einer ergänzenden
medikamentösen Behandlung (Tab. 9). Hauptindikation für eine medikamentöse Therapie sind hyperaktive, aggressive und destruktive Verhaltensweisen,
selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien, Ängste
und Depressivität sowie Schlafstörungen. Eine Medikation muss in jedem Einzelfall sorgfältig überlegt,
Nutzen und Risiko abgewogen werden. Meist hat die
Pharmakotherapie den Charakter einer zeitlich befristeten Krisenintervention. Sie ist nicht kurativ und
hat nicht die Funktion einer Basistherapie [27, 28].
Tabelle 8
Übersicht über Therapieverfahren.
Empirisch gut abgesicherte
und anerkannt wirksame
Verfahren
verhaltenstherapeutische Verfahren und Therapieprogramme,
auch im Rahmen von Frühförderprogrammen, psychoedukative
Programme wie TEACCH, Medikation der Begleitsymptome
Empirisch mäßig abgesicherte Verfahren, aber potenziell
wirksam
Training der sozialen Kompetenz, auch anhand von Theoryof-Mind-Trainings, Social Stories, gruppentherapeutische Angebote
Empirisch nicht abgesicherte
Verfahren, aber potenziell
wirksam
Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Reittherapie, vor allem, wenn in die Behandlungseinheiten lerntheoretische Elemente eingebaut werden
Zweifelhafte Methoden ohne
empirische Absicherung und
ohne wissenschaftlich fundierten Hintergrund
Festhaltetherapie, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien,
Sekretin, auditives Integrationstraining, Irlen-Therapie
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 15
15
Tabelle 9
Medikamentöse Therapie bei autistischen Störungen.
Gruppe
Dosierung
Indikationsbereich
Nebenwirkungen
atypische Neuroleptica
Risperidon
Olanzapin
Quetiapin
Aripiprazol
0,25 – 2mg/Tag
2,5 mg/Tag
25 mg/Tag
2,5 – 5mg/Tag
motorische Unruhe, (auto-)aggressives Verhalten, repetitives Verhalten, Wutanfälle,
Reizbarkeit, Impulskontrollstörung
Gewichtszunahme, Müdigkeit, extrapyramidale Störungen (EPS), Prolaktinerhöhung,
Senkung der Krampfschwelle, sexuelle Dysfunktion
Stimulanzien
Methylphenidat
Atomoxetin
0,3 – 1mg/KG/Tag
0,5 – 1mg/KG/Tag
Aufmerksamkeitsstörungen, motorische
Unruhe, Impulsivität
Appetitminderung, Tics, Schlafstörungen, Tachykardie, Bauchschmerzen, Dysphorie
Antidepressiva
Fluoxetin
Fluvoxamin
Citalopram
Mirtazapin
20 – 60 mg/Tag
50 – 200 mg/Tag
20 – 60 mg/Tag
7,5 – 30 mg/Tag
Zwangsstörungen, Angst, depressive
Verstimmungen, Aggressionen, repetitives
Verhalten
Unruhe, Agitiertheit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Tremor, Schwindel, Schlafstörungen
andere
Melatonin
0,5 – 5 mg
Schlafstörungen
Tagesmüdigkeit
Verlauf und Prognose
Die langfristige psychosoziale Prognose von Menschen mit ASS ist sehr variabel. Etwa 15% gewinnen
eine als „gut“ zu bezeichnende Selbstständigkeit, mit
einem Arbeitsplatz auf dem 1. oder 2. Arbeitsmarkt,
sie wohnen selbstständig mit wenig Unterstützung
und haben soziale Kontakte zu Mitmenschen, mit
denen sie gemeinsame Interessen verfolgen und an
sozialen Aktionen teilnehmen. Dabei liegt der ausgeübte Beruf häufig deutlich unter dem, was man aufgrund der kognitiven Fähigkeiten und der Ausbildung erwarten würde. 25% der in der Kindheit
diagnostizierten Fälle mit einer ASS erreichen einen
Status, der als „fair“ bezeichnet wird, mit einem geschützten Arbeitsplatz, einer geschützten Wohnsituation und Kontakten zu Gleichaltrigen, die aber lose
sind. Etwa 60% brauchen als Erwachsene sehr viel
Hilfe im Alltag, leben in speziellen Einrichtungen
und haben keine Kontakte mit Gleichaltrigen außerhalb der Einrichtung [29].
Erreichbare Selbstständigkeit
Erwachsene Menschen mit einer ASS unterscheiden sich nur unwesentlich in ihrer Symptomatik
von Kindern mit dieser Diagnose. In der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter kommt es
bei etwa der Hälfte zu einer Verbesserung der
Symptomatik. Diese reicht aber nicht aus, um die
Anforderungen zu erfüllen, die an Selbstständigkeit und sozialen Fertigkeiten in diesem Alter erwartet werden. Auch Erwachsene mit einer
durchschnittlichen Intelligenz sind auf Hilfen und
Unterstützung angewiesen und brauchen eine
Umgebung, die auf ihre Besonderheiten Rücksicht nimmt. Etwa 15% der Erwachsenen erreichen eine weitgehende Selbstständigkeit.
Die Lebenssituation von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer ASS ist von vielen unterschiedlichen
Faktoren abhängig: Neben der Ausprägung der Kernsymptomatik der Störung spielen die kognitiven Fähigkeiten, das Vorhandensein von kommunikativen
Sprachfertigkeiten, das Vorliegen von neurologischen
und/oder psychiatrischen komorbiden Störungen und
das Ausmaß der erforderlichen Unterstützung eine
wesentliche Rolle. Diese Faktoren beeinflussen die
Selbstständigkeitsentwicklung, die Eingliederung im
Arbeitsprozess und somit die Zufriedenheit der Person bezüglich der eigenen Situation. Gute Ergebnisse
im Erwachsenenalter, d. h. ein Arbeitsplatz auf dem
1. Arbeitsmarkt und selbstständigesWohnen, werden
bei Menschen mit einem IQ unter 50 nicht erreicht,
dies gilt aber auch für Menschen ohne autistische
Störung. Ab einem IQ von über 60 können gute Ergebnisse erzielt werden. Auffallend ist, dass es offenbar keinen Unterschied im Ergebnis gibt zwischen
Menschen mit einem IQ von 70–79 und solchen mit
einem IQ über 100.
Bezüglich der Mortalitätsrate bei ASS zeigt sich vor
allem bei Betroffenen mit erheblichen Komorbiditäten wie einer Intelligenzminderung oder einer Epilepsie ein erhöhtes Risiko für frühzeitigen Tod. Ingesamt liegt die Mortalität bei ASS etwa doppelt so
hoch wie in der normalen Bevölkerung. Als Todesursachen werden Selbstverletzung, Epilepsie, Unfälle,
Ersticken durch Verschlucken gefährlicher Gegenstände, Infektionen und Suizid genannt [30].
Ausblick
ASS sind neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörungen, die stark genetisch determiniert sind. Die
Symptome werden schon in der frühen Kindheit
deutlich und sind vor allem durch Auffälligkeiten in
der sozialen Kommunikation und das Vorhandensein
von stereotypen Verhaltensweisen charakterisiert. Voraussichtlich werden im DSM-V die verschiedenen
Subkategorien der ASS zusammengefasst und die Triade durch eine duale Kernsymptomatik ersetzt. Eine
frühzeitige Diagnose verbessert die psychosoziale
Prognose von Menschen mit ASS. Die therapeutischen Ansätze basieren vor allem auf lerntheoretischen und strukturierenden heilpädagogischen Maßnahmen; die medikamentöse Behandlung ist lediglich
zur Behandlung von Komorbiditäten sinnvoll.
Über die Autorin
Michele Noterdaeme
Jahrgang 1956, Professorin an der LMU München.
Medizinstudium in Gent, Belgien. Weiterbildung am
Max-Planck-Institut für Psychiatrie, an der Universitätsklinik Dr. von Haunerschen Kinderspital und an
der Heckscher- Klinik in München. 1994 Fachärztin
für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. 2001 tiefenpsychologische Psychotherapeutin.
2003 Habilitation an der LMU. Forschungsschwerpunkte: umschriebene und tiefgreifende Entwicklungsstörungen, insbesondere Neuropsychologie und
Entwicklungspsychopathologie der Autismus-Spektrum-Störungen. Bis 2009 leitende Oberärztin des
Heckscher-Klinikums, München. Aufbau der Abteilung für Entwicklungsstörungen. 2008 Qualifikation
in der forensischen Psychiatrie. Seit 1. 1. 2010 Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie am Josefinum, Augsburg. Mitglied und Vertreterin Deutschlands im Management
Committee of COST Action BM1004: „Enhancing
the scientific study of early autism: A network to improve research, services and outcomes“.
Literatur siehe Seite 16
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der
Georg Thieme Verlag KG, Pädiatrietage 2011,
DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1256068
21.05.12 14:17
AKADEMIE AKTUELL
2012-2
ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE
VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
16
Fortsetzung von Seite 1
Fortsetzung von Seite 15
Literaturhinweise:
Literatur
Steven Pinker:
Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit,
S. Fischer-Verlag, Frankfurt 2011
Kurzbeschreibung:
Die Geschichte der Menschheit eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter und Vergewaltigung. Und es wird immer schlimmer.
Denken wir. Doch ist das richtig?
In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, untersucht der weltbekannte Evolutionspsychologe Steven Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit
bis heute und in allen ihren individuellen und kollektiven Formen.
Unter Rückgriff auf eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen beweist
er anschaulich und überzeugend, dass die Menschheit dazulernt und
Gewalt immer weniger als Option wahrgenommen wird. Pinkers Darstellung verändert radikal den Blick auf die Welt und uns Menschen.
Und sie macht Hoffnung und Mut.
Über den Autor:
Steven Pinker, geboren 1954, studierte Psychologie in Montreal und an
der Harvard University. 20 Jahre lange lehrte er am Department of
Brain and Cognitive Science am MIT in Boston und ist seit 2003 Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Forschungen
beschäftigen sich mit Sprache und Denken, außerdem schreibt er regelmäßig für die „New York Times“, „Time“ und „The New Republic“.
Sein Werk ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
James R. Rogers, David Lester:
Understanding Suicide, Hogrefe Publishing GmbH, 2010
A provocative look at research and practice in suicide prevention – a
„must read“ for all concerned.
This provocative and erudite book highlights theoretical and methodological challenges that have plagued and continue to plague the field
of suicidology. The basic premise is that recent research has not served
to advance our understanding of suicidal behavior, but tends to repeat
older research, often apparently without awareness that we are often
merely „reinventing the wheel“. As the authors maintain: „Very little
of consequence has appeared in suicidology for many years - no new
theory and no ground-breaking research.“
The book discusses the contributions that each of the major disciplines have made to suicidology (is there a misplaced devotion to
Durkheim‘‘s 100-year-old theories?), and provide an overview of research and theories in some typical areas. Drawing from this, specific
recommendations as to what researchers and theorists can do in the
future to advance our understanding of suicide and suicide prevention
are offered. It is hoped that these recommendations will stimulate research and theorizing so that our understanding of suicide will progress.
David Weikert:
High/Scope Perry Preschool Project 1962
Dr. Peter J. Uhlhaas, Prof. Dr. Kerstin Konrad:
Das adoleszente Gehirn, Kohlhammer Verlag, 2011
Der Band gibt einen umfassenden, interdisziplinären Überblick aktueller Befunde aus Neurowissenschaften, Psychologie und Psychiatrie zum
Thema Adoleszenz. Teil 1 betrachtet psychologische Veränderungen,
v.a. bezüglich der Identitätsentwicklung, insbesondere aus Sicht der
Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse. Teil 2 widmet sich den
Neurowissenschaften. Beiträge zu hormonellen Veränderungen und zur
Entwicklung zentraler Neurotransmittersysteme werden verbunden mit
Erkenntnissen aus anatomischer und funktioneller Bildgebung. Ein Fokus des Werkes ist der Zusammenhang zwischen der Biologie und
Psychologie der Adoleszenz und der Entwicklung psychiatrischer Störungen.
Das High/Scope Perry Preschool Project wurde 1962 von David Weikert gestartet. Er arbeitete für den Ypsilanti Public School District und
bemerkte, dass sich Kinder aus armen Nachbarschaften in der Schule
schwer taten. Zusammen mit einigen Rektoren von Grundschulen
gründete er ein Komitee, um diesen Kindern zu helfen. 123 Kinder
meist afroamerikanischer Abstammung, welche in armen Nachbarschaften geboren waren, nahmen an dem Experiment teil. Davon wurden
58 gefördert. Der Rest bildete die Kontrollgruppe.
Im Alter von 27 Jahren wurden die Personen, die an der Vorschulgruppe teilgenommen hatten, mit einer Kontrollgruppe verglichen. Dabei
konnte festgestellt werden, dass das Projekt erfolgreich war:
–7 % der Personen der Vorschulgruppe wurden fünfmal oder öfter
von der Polizei verhaftet. Im Gegensatz dazu wurden 35 % der
Personen aus der Kontrollgruppe fünfmal oder öfter von der Polizei verhaftet.
–7 % der Personen aus der Vorschulgruppe wurden mindestens einmal für Straftaten, die mit Drogen zu tun hatten, verhaftet. Bei 25
% aus der Kontrollgruppe war dies der Fall.
–Personen aus der Vorschulgruppe verdienten viermal so oft 2.000
US$ oder mehr pro Monat als Personen aus der Kontrollgruppe
(29 % vs. 7 %).
–Sie hatten fast dreimal so oft ein eigenes Haus wie Personen aus
der Kontrollgruppe (36 % vs. 13 %)
–59 % der Leute aus der Vorschulgruppe waren mindestens einmal
seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr von der Sozialhilfe abhängig
gewesen. Dies war bei 80 % der Leute aus der Kontrollgruppe der
Fall.
–Leute aus der Vorschulgruppe hatten öfter einen Highschool-Abschluss als Leute aus der Kontrollgruppe (71 % vs. 54 %)
–40 % der Frauen aus der Vorschulgruppe waren verheiratet. Dies
traf nur auf 8 % der Frauen aus der Kontrollgruppe zu.
–57 % der Frauen aus der Vorschulgruppe waren alleinerziehende
Mütter. Das war bei 83 % der Frauen aus der Kontrollgruppe der
Fall.
Barnett zieht folgendes Resümee: „Für viele Kinder aus sozial benachteiligten Familien ist der Aufenthalt in einem gut ausgestatteten Kinderzentrum von schicksalhafter Bedeutung. Teilnehmen oder NichtTeilnehmen an einem Vorschulprogramm bedeutet für diese Kinder, in
der Schule oder im Beruf erfolgreich zu sein oder zu scheitern und kriminell zu werden“.
1Kanner L. Autistic disturbances of affective contact. Nervous
Child 1943; 2: 217 – 250
2Asperger H. Die autistischen Psychopathien im Kindesalter. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1944; 117: 76 – 136
3Rutter M. Diagnosis and definition. In: Rutter M, Schopler E, eds.
Autism: a reappraisal of concepts and treatment. New York: Plenum, 1978
4Wing L, Gould J. Severe impairment of social interaction and associated abnormalities in childen: epidemiology and classification.
Journal of Autism and Developmental Disorders 1979; 9: 11 – 29
5Saß H, Wittchen H, Zaudig M. Diagnostisches und Statistisches
Manual Psychischer Störungen. DSM-IV. Göttingen: Hogrefe, 1996
6Dilling H, Mombour W, Schmidt M. Internationale Klassifikation
psychischer Störungen, ICD 10 Kapitel V. Klinisch-Diagnostische
Leitlinien. Göttingen: Huber, 1991
7Noterdaeme M, Wriedt E. Begleitsymptomatik bei tiefgreifenden
Entwicklungsstörungen I. Intelligenzminderung und psychiatrische
Komorbidität. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie 2010; 38: 257 – 266
8Fombonne E. Epidemiological Surveys of Autism and Other Pervasive Developmental Disorders: An Upgrade. Journal of Autism
and Developmental Disorders 2003; 33: 365 – 382
9Rost I. Neurobiologische Erklärungsansätze: Genetik und Autismus-Spektrum-Störungen. In: Noterdaeme M, Enders A, Hrsg. Autismus-Spektrum-Störungen: ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 2010
10Steffenburg S, Steffenburg U, Gillberg C. Autism spectrum disorders in children with active epilepsy and learning disability. Comorbidity, pre- and perinatal background, and seizure characteristic. Developmental Medicine and Child Neurology 2003; 45:
724 – 730
11Holtmann M, Bölte S, Poustka F. Attention Deficit Hyperactivity
Disorder symptoms in pervasive developmental disorders: association with autistic behavior domains and coexisting psychopathology. Psychopathology 2007; 40: 172 – 177
12Ghaziuddin M, Greden J. Depression in children with autism/pervasive developmental disorders: a case-control family history study. Journal of Autism and Developmental Disorders 1998; 28:
111 – 115
13Munesue T, Ono Y, Mutoh K et al. High prevalence of bipolar
disorder comorbidity in adolescents and young adults with high
functioning autism spectrum disorder: A preliminary study of 44
outpatients. Journal of Affective Disorders 2008; 111: 170 – 175
14Noterdaeme M, Hutzelmeyer-Nickels A. Early symptoms and recognition of pervasive developmental disorders in Germany. Autism
2010; 5: 1 – 15
15Robins D, Fein D, Barton M et al. The Modified Checklist for Autism in Toddlers: An initial study investigating the early detection
of autism and pervasive developmental disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders 2001; 31: 131 – 148
16Bölte S, Poustka F. FSK Fragebogen zur sozialen Kommunikation.
Bern: Huber, 2006
17Kamp-Becker I, Mattejat F, Wolf-Ostermann K et al. Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS): Ein Screeningverfahren für autistische Störungen auf hohem Funktionsniveau. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie 2005; 33: 15 – 26
18Bölte S, Poustka F. SRS-Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität.
Bern: Huber, 2008
19Bölte S, Rühl D, Schmötzer G, Poustka F. ADI-R Diagnostisches
Interview für Autismus – Revidiert. Bern: Huber, 2006
20Rühl D, Bölter S, Feineis-Matthew S, Schmötzer G. Diagnostische
Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS). Bern: Huber, 2004
21Lotter V. Epidemiology of Autistic Conditions in Young Children.
Soc Psychiat 1966; 1: 124 – 137
22Gillberg C, Wing L. Autism: not an extremely rare disorder. Acta
Psychiatrica Scandinavia 1999; 99: 399 – 406
23Prior M. Is there an increase in the prevalence of autism spectrum
disorders? Journal of Paediatric Child Health 2003; 39: 81 – 82
24Freitag C. Neurobiologie; Umweltfaktoren, Immunsystem, Neuroanatomie, Neurochemie und Neurophysiologie. In: Bölte S, Hrsg.
Autismus: Spektrum Ursachen, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Bern: Huber, 2009
25Limperopoulos C, Bassan H, Sullivan N et al. Positive screening
for autism in ex-preterm infants: prevalence and risk factors. Pediatrics 2008; 121: 758 – 65
26Noterdaeme M, Enders A. Therapie autistischer Störungen. Pädiatrische Praxis 2008; 72: 605 – 618
27Remschmidt H, Kamp-Becker I. Tief greifende Entwicklungsstörungen: Autimus-Spektrum-Störungen. In: Remschmidt H, Mattejat F, Warnke A, Hrsg. Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein integratives Lehrbuch für die Praxis.
Stuttgart: Thieme, 2008: 134 – 147
28Bölte S, Poustka F. Interventionen bei autistischen Störungen.
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
2002; 30: 271 – 280
29Howlin P, Goode S, Hutton J et al. Adult outcome for children
with autism. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2004; 45:
212 – 229
30Mouridsen S, Brynnum-Hansen H, Rich B et al. Mortality and causes of death in autism spectrum disorders. An update. Autism
2008; 12: 403 – 414
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Michele Noterdaeme
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie
Kapellenstrasse 30
86154 Augsburg
Telefon: 0821/2412461
E-mail: [email protected]
01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 16
21.05.12 14:17
Herunterladen