AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 1 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 Angststörungen im Kindes- und Jugendalter Symposion 2012 in Brixen Inhalt: Editorial 1 Einladung zur Weiterbildungswoche und zum Symposion: »Angststörungen im Kindes- und Jugendalter« 1 Vorschau und Abstracts zum Symposion 2 Filmpremiere »Die zweite Geburt« 3 »Die zweite Geburt« Filmbeschreibung 3 – 5 Leitlinien in der Analytischen Kinderund Jugendlichenpsychotherapie 6 Buchbesprechung H. Hopf 6 Prävention von Schulabsentismus 7 – 9 Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen 10 Autismus-Spektrum-Störungen 11 – 15 Fortsetzung Literaturhinweise 16 Impressum Herausgeber:Ärztliche Akademie für Psycho­therapie von Kindern und Jugend­lichen e.V. Spiegelstraße 5 D-81241 München www.aerztliche-akademie.de Redaktion:Markus Züger, Manfred Endres, Renate Flügel, Birgit Schramm [email protected] Fotos:Krischan Dietmaier, Birgit Schramm, u.a. Gestaltung: design stauss grillmeier, München Auflage: 1.000 Exemplare Chezzi Cohen Foto: Krischan Dietmaier Liebe Leserinnen und Leser, bevor wir uns im Juli 2012 in Brixen wiedersehen, möchten wir noch einmal auf das interessante Symposion in Benediktbeuren zurückblicken. ÄRZTLICHE AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN E.V. Dr. med. Manfred Endres Spiegelstraße 5 D-81241 München Tel +49 (0) 89 820 53 03 Fax +49 (0) 89 88 20 89 Das Thema lautete: „Kinderpsychiatrie und Kindertherapie im Dialog - Autismus, ADHS, Schulverweigerung“. Die ÄA bedankt sich bei allen Referenten und Seminarleitern, die für das Gelingen des Symposions, bei dem 340 Kolleginnen und Kollegen teilnahmen, beigetragen haben. Wir sind besonders dankbar, dass viele Referenten der ÄA treu zur Seite stehen und sich immer wieder den Mühen der Vorbereitung und Durchführung der Lehrveranstaltungen unterziehen. Aber nicht nur die altbekannten Referenten, auf die wir dankbar zurückgreifen wie Dagmar Lehmhaus, Eva Rass, Oliver BilkeHentsch und Klaus Räder haben ihren Beitrag geleistet, sondern es gab in Bezug auf dieses spezielle Thema auch neue Vortragende. Eine wohltuende Mischung! Heinrich Ricking, Petra Sobanski, Katrin Gessl und Michele Noterdaeme haben interessante und praxisnahe Vorträge über Schulabsentismus, ambulante bzw. stationäre Behandlung von Schulverweigerung und über Autismus-Spektrum-Störungen gehalten. Daneben gab es statistisches Material über Suizidalität im Kindes- und Jugendalter von Hellmuth Braun-Scharm, ein problematisches Thema für jeden Therapeuten, das aber gerne ausgeblendet wird. Das Thema ADHS wurde anders als noch vor 10 Jahren, als es schon einmal Thema bei einem Symposion war, sachlich und klar dargestellt, ohne dass die früher häufig zu beobachtende Polarisierung bei diesem Thema auftrat. Hier sind die Beiträge von Klaus Räder und Matthias Wildermuth hervorzuheben. Insgesamt ist es gelungen die schwierige Gratwanderung zwischen stationärer und ambulanter Behandlung, sowie zwischen medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung so zu bearbeiten, dass Brücken geschlagen wurden und den Teilnehmern verschiedene Behandlungsansätze vermittelt werden konnten. Einige der Vorträge sind in dieser Ausgabe der Zeitung „Akademie Aktuell“ nachzulesen, oder auf der Homepage der ÄA zu finden. Da von den Vortragenden einige Buchempfehlungen ausgesprochen wurden, finden Sie diese im Anhang. [email protected] www.aerztliche-akademie.de Beim bevorstehenden Symposion in Brixen werden Angststörungen im Kindes- und Jugendalter den Schwerpunkt bilden. Ging es in Benediktbeuren u.a. noch um Schulangst und Schulverweigerung wenden wir uns nun den Ängsten und den Angststörungen im Allgemeinen zu. Uns erwarten wieder interessante Vorträge und Seminare. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen in Brixen und hoffen auf rege Beteiligung. Markus Züger Literaturhinweise auf Seite 16 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 1 »Angststörungen im Kindes- und Jugendalter« Symposion vom 6.–8. 7. 2012 in Brixen Im Jahre 1998 begegnete ich Chezzi Cohen zum ersten Mal. Auf unserem Symposion in Brixen berichtete er über die stationäre Behandlung von traumatisierten Kindern im Heim, dessen Konzept er maßgeblich gestaltet hat. Chezzi Cohen beeindruckte mich bereits damals durch sein liebenswertes zugewandtes und bescheidenes Wesen. Seitdem verbindet uns eine langjährige Freundschaft. In mehreren Besuchen vor Ort konnte ich sein Konzept für die Behandlung traumatisierter Kinder im Heim persönlich kennen lernen. Bei den Besuchen entstand die Idee einen Dokumentarfilm zu drehen, der das Leben Chezzi Cohens und das Behandlungskonzept der von ihm über viele Jahre geleiteten Einrichtung zeigt. Dieses Projekt konnte nun realisiert werden, wir werden einen Rohschnitt des Films auf dem Symposion in Brixen zeigen und mit Chezzi Cohen seinen 80. Geburtstag feiern. Das Symposion am Ende der Weiterbildungswoche wird sich mit Angststörungen im Kindes- und Jugendalter beschäftigen. Angststörungen zählen sowohl im Kindes- und Jugendalter wie auch im Erwachsenenalter zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Die Häufigkeit im Kindes- und Jugendalter wird auf 5 – 10 % geschätzt. Ähnliche Schätzungen existieren für das Erwachsenenalter. Damit stellen die Angststörungen eine der häufigsten Indikationen für eine psychotherapeutische Behandlung dar. Angststörungen sind überaus facettenreich, wie Hans Hopf in seinem lesenswerten Buch „Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen“, erschienen bei Brandes & Apsel, darstellt: „Angst ist ein affektiver Zustand, der mit dem Gefühl, bedrängt und bedroht zu sein sowie mit körperlichen Begleiterscheinungen verbunden ist. Ängste sind somit wichtiger Bestandteil der affektiven Grundausstattung eines jeden Menschen. Sie warnen vor Gefahren, sichern damit das Überleben und dienen der sozialen Anpassung an die äußere Realität sowie an die Forderungen des Über-Ichs. Hier sind vor allem Trennungs- und Verlustangst, Schuldangst, Angst vor Kränkungen, Angst vor Liebesverlust, Schamangst, Kastrationsangst, Angst vor Autonomie und Autonomieverlust zu nennen. Reale Angst – auch Furcht genannt – ist ein wichtiges Sensorium, welches ein Individuum vor ganz realen Bedrohungen und Gefahren warnt und schützt. Störend sind lediglich ein zuviel oder ein zuwenig an Angst sowie unbegründete, der Situation unangepasste Ängste.“ Auf dem Symposion werden wir diagnostische und differentialdiagnostische Fragen behandeln und vor allem die Behandlungstechnik diskutieren. In Seminaren besteht die Möglichkeit eigene Behandlungsfälle im Kollegenkreis zu diskutieren. In Brixen beginnen wir mit einer neuen Fortbildung in Eltern-Kleinkind-Psychotherapie. Im nächsten Jahr besteht die Möglichkeit mit Fortbildungen in Psychosomatischer Grundversorgung und in Traumatherapie zu beginnen. In Benediktbeuern diesen Jahres haben wir erstmals eine Fortbildung in Gruppentherapie für Kinder und Jugendliche angeboten, die auf große Resonanz gestoßen ist. Die Fortbildung in Gruppentherapie bieten wir in drei Blöcken an. Nächstes Jahr in Brixen besteht wieder die Möglichkeit mit der Fortbildung in Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche zu beginnen. Manfred Endres 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 2 Sommersymposion 2012 – Angststörungen im Kindes- und Jugendalter Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen – Diagnose und Psychotherapie Abstract zum Vortrag am 6.7.2012 Angststörungen gehören zu den am häufigsten diagnostizierten Störungen im Kindes- und Jugendalter. In dem Vortrag wird über psychoanalytisches Verstehen von Ängsten, über unterschiedliche Angstarten sowie über Entstehung, Diagnose und psychoanalytische sowie tiefenpsychologisch fundierte Behandlungen von Angststörungen referiert. Die folgenden Krankheitsbilder werden vorgestellt: Trennungsangst, generalisierte Angst, Phobie mit Schulphobie, Traumatische Ängste und das Verschwinden von Realangst bei schweren narzisstischen Störungen. Der Vorstand der Ärztlichen Akademie: Dietmar Augustin, Manfred Endres, Christian Rexroth, Markus Züger, Gabriele Fuhrmann Literatur: Heinemann, E., Hopf, H.: Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Symptome – Psychodynamik – Fallbeispiele – psychoanalytische Therapie. Stuttgart, Berlin, Köln: Verlag W. Kohlhammer, 4. Auflage, 2012. Hopf, H.: Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen. Diagnose und Therapie. Verlag Brandes & Apsel Frankfurt, 2. Auflage 2011 Wir freuen uns auf Ihr Kommen und auf eine schöne und interessante Weiterbildungswoche! Referent Dr. rer. biol. hum. Hans Hopf Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Seebachweg 14 74395 Mundelsheim Leitlinie Angst: Zum Phänomen Angst und zum Umgang mit Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen Abstract zu den Seminaren am 6. und 7.7.2012 Fotos: Birgit Schramm Ängste kann man vor allem haben. Sie schützen uns vor Gefahren und erhalten Leben. Oft genug aber hemmen sie uns auch oder wirken gar zerstörerisch. Im Seminar soll der ganzen Palette möglicher Ängste bei Kindern und Jugendlichen ebenso wie deren Ursachen, Bedingungen und Folgen nachgegangen werden: Ängste vor dem Leben und Vernichtungsangst, Angst vor Niederlagen, Misserfolgen, vor Strafe und Missbilligung, vor dem Alleinsein und vor dem Verlust … Es soll von der ganz normalen (Real-) Angst, von der notwendigen Angst, von der entwicklungstypischen Angst, von der Angst vor der Angst, von der neurotischen Angst die Rede sein. Vor diesem Hintergrund und entgegen dem verbreiteten Satz: „Da musst Du doch keine Angst haben!“ sollen Ängste verstehend ausgelotet und entfaltet werden, wie Kinder und Jugendliche mit Ängsten angemessen begleitet und behandelt werden können. Referentin Dipl.-Soz. Dagmar Lehmhaus Analytische Kinder- und Jugendlichen-­ Psychotherapeutin Im Sirrenberg 3 45549 Sprockhövel 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 2 Angstentwicklung durch Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation – eine Akkumulation fortwährender Minimaltraumata Abstract zum Vortrag am 7.7.2012 Heranwachsen in einem Zeitgeist der Individualität verspricht und verlangt und gleichzeitig die Normfenster immer schmaler werden lässt, stellt für Heranwachsende mit konstitutionell bedingten Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation eine sehr schwere Entwicklungsaufgabe dar. Von früh auf sind Flexibilität, Selbstorganisation, frühe Selbstständigkeit und das Mitschwingen im Kontext von Gruppen angesagt, was mit Schwächen in der Wahrnehmungsorganisation zu großen Ängsten, zu Verunsicherungen und häufig zu erheblichen inneren Unruhezuständen führt. Da diese Schwachpunkte häufig unerkannt bleiben, der Heranwachsende somit weder Verstehen noch Unterstützung erfährt, gleicht sein Lebensalltag gelegentlich dem eines „Schwerarbeiters“. Die vielen fortwährenden „kleinen“ Momente des Scheiterns – quasi eine Akkumulation von Minimaltraumen – sowie auch deutliche Momente des Versagens führen zu einer hohen Schamsensitivität, um das instabile Selbst zu schützen. Selten wird bei der Diagnose im breiten Spektrum der Angststörung an eine Störung in der Wahrnehmungsorganisation gedacht. Viel zu schnell wird die Problematik „psychologisiert“ und somit dem basalen sensorischen Verarbeitungsstatus keine Aufmerksamkeit geschenkt. Da diese Probleme nicht ungewöhnlich sind – ca. 20 – 30% der Menschen leiden unter diesen Schwachpunkten, was häufig Folgeerscheinungen in vielfältiger Form nach sich ziehen kann – ist diese Thematik nicht nur im Bereich der Pädiatrie und der Therapie, sondern auch von psychosozialer sozioökonomischer Bedeutung. Im Falle einer umfassenden Diagnostik können diese Kinder mit ihren Eltern rechtzeitig einen therapeutischen oder psychoedukativ-stützenden ganzheitlichen Prozess durchlaufen, was dem Heranwachsenden trotz dieser Schwächen dazu verhilft, einen angstfreieren und für ihn stimmigen Entwicklungsweg einzuschlagen. Referentin Dr. Eva Rass Analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin Hochstadtstr. 36 74722 Buchen Eins, zwei drei – Angst vorbei! – Kinderängste im Bilderbuch Abstract zum Vortrag am 7.7.2012 Entlang einer Auswahl von besonders gelungenen Kinderbüchern soll die kreative Umsetzung des Themas „Angst“ im Bilderbuch sichtbar und erörtert werden, ob und wie Kinder und ­Jugendliche – aber auch Psychotherapeuten – durch diese Literatur im Gewahrwerden und Umgang mit ihren Ängsten hilfreich begleitet werden können. Referentin Dipl.-Soz. Dagmar Lehmhaus Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Im Sirrenberg 3 45549 Sprockhövel Einführung in den Umgang mit dem ausgewählten Playmobilmaterial des Spielkastens der Ärztlichen Akademie Abstract zu den Seminaren am 7. und 8.7.2012 In dem Seminar werden die Teilnehmer mit dem Material und seiner Bedeutung vertraut gemacht. Anhand der Achsen Beziehung, Konflikt und Struktur des OPDKJ werden Auswertungsmöglichkeiten der Spielszenen aufgezeigt. Es gibt Gelegenheit zur eigenen Erprobung des Materials. Referentin Dipl.-Päd. Bertke Reiffen-Züger Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Lieneschweg 101 49076 Osnabrück Diagnostik und Therapie mit dem Playmobil-Spielkasten der Ärztlichen Akademie Abstract zum Vortrag am 8.7.2012 Die ÄA hat in Kooperation mit der Firma Playmobil einen Spielkasten entwickelt, in dem Materialien zur Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen zusammengestellt sind. Die ausgewählten Materialien wurden zur Erprobung zunächst zusätzlich zu den bisherigen projektiven Tests angewendet. In dem Vortrag werden erste Ergebnisse der diagnostischen Arbeit mit dem Spielkasten dargestellt. Es wird Bezug genommen auf die anderen bekannten projektiven Tests. Deren historischen Entwicklung wird kurz dargestellt. Der praktische Umgang mit dem Spielkasten und die Deutungsmöglichkeit der Spielszenen werden in den vertiefenden Seminaren geübt. Referentin Dipl.-Päd. Bertke Reiffen-Züger Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Lieneschweg 101 49076 Osnabrück 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Filmpremiere »Die zweite Geburt« (vorläufiger Arbeitstitel) anlässlich des 80. Geburtstages von Yecheskiel Cohen Mit Spannung und großer Vorfreude erwarten wir im Sommer die Fertigstellung des Dokumentarfilmes „Die zweite Geburt“ über das Lebenswerk Chezzi Cohens. Die letzten Schnitt- und Tonaufnahmen laufen auf Hochtouren und wir hoffen sehr, den Film zumindest als Rohschnitt während des Symposions 2012 in Brixen anlässlich Chezzi Cohens 80. Geburtstag zeigen zu können. Die erste Idee zum Film entstand bereits vor vielen Jahren, als Manfred Endres das ursprüngliche Heim und Chezzi Cohen besuchte. Über einen privaten Kontakt von Birgit Schramm, die für die Ärztliche Akademie für Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, konnte vor 2 Jahren die Filmproduktionsfirma Bilderfest GmbH in München (wir berichteten in einer früheren Ausgabe) gewonnen werden und eine wunderbare Zusammenarbeit begann. Dietmar Lyssy, der Geschäftsführer von Bilderfest GmbH sowie der Redakteur und Kameramann Krischan Dietmaier begleiteten die Entstehung des Filmes von Anfang an mit großem Engagement, viel Gefühl und Liebe zum Detail. Drei mal besuchte Krischan Dietmaier das heutige Children’s Home des Jerusalem Hills Therapeutic Centers für die Drehaufnahmen, näherte sich dabei gefühlvoll den Kindern und Mitarbeitern im Heim und fing hervorragende Szenen für den Film ein. Wir möchten uns an dieser Stelle bei Herrn Lyssy und Herrn Dietmaier für die großartige und bereichernde Zusammenarbeit und auch für die Unterstützung bei der Finanzierung des Filmes bedanken. Ihrem wohlwollenden Entgegenkommen haben wir zu verdanken, dass der Film überhaupt realisiert werden konnte. Welche Ziele wollen wir mit dem Filmprojekt erreichen? 1. Wir wollen mit dem Film einen Beitrag zur Völkerverständigung zwischen Deutschland und Israel durch die Darstellung der Biographie Chezzi Cohens und seiner Bedeutung für Deutschland und Israel leisten. 2. Wir wollen den Austausch über die psychotherapeutische Behandlung traumatisierter Kinder in Heimen und die Weiterentwicklung therapeutischer Strategien fördern. 3. Wir wollen mit dem Film dazu beitragen, dass die Resozialisierungsrate von traumatisierten Kindern und Jugendlichen in die Gesellschaft verbessert wird und dass ihnen durch die Schaffung einer soliden Lebensgrundlage ein späteres selbstständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird. 4. Wir wollen aufzeigen, dass durch frühzeitige, professionelle Betreuung traumatisierter Kinder und Jugendlicher, späteren, seelischen Erkrankungen präventiv entgegengewirkt werden kann und Kosten im Gesundheitswesen eingespart werden können. 5. Wir wollen eine breite Öffentlichkeit in Deutschland und Israel über die Möglichkeiten einer stationären Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen informieren und erfolgreiche, therapeutische Strategien aufzeigen. (Ein Begleitheft ergänzt den Dokumentarfilm) Um unsere Ziele zu erreichen möchten wir an dieser Stelle erwähnen, dass wir noch dringend die Hilfe weiterer Spender und Sponsoren benötigen, um die bestehende Finanzierungslücke zu schließen. Über Kontakte zu Stiftungen und potentiellen Unterstützern wären wir sehr dankbar. Jede noch so kleine Spende zählt! Einen Spendenbutton sowie in Kürze den Trailer finden Sie auf unserer Homepage: www.aerztliche-akademie.de. 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 3 3 »Die zweite Geburt« Filmbeschreibung Länge: ca. 45 Minuten Format: High Definition Produktion: Sommer 2011 – Frühling 2012 Fertigstellung: Sommer 2012 Vor den Toren Jerusalems geschehen jeden Tag kleine Wunder. Auf einem unscheinbaren Gelände, umgeben von einem hohen Zaun, bekommen 80 Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt und Missbrauch, Vernachlässigung und Krieg wurden, ein neue Chance. Jerusalem Hills Therapeutic Center heißt der Ort, an dem sie auf wundervolle Weise in ein neues Leben geboren werden. Es ist ein Auffangbecken für verwundete Seelen, die durch alle sozialen Netze und Institutionen gefallen sind und deren Wege unter normalen Umständen in der Psychiatrie oder im Gefängnis enden würden. Es ist ein Kinderheim, das mittlerweile weit über die Grenzen Israels bekannt ist - das Lebenswerk von Yecheskiel Cohen. Durch sein ganz eigenes und ganzheitliches psychoanalytisches Konzept hat es der Psychoanalytiker geschafft, dass bis zu 80 Prozent der Kinder das Heim als gesunde und ganze Menschen verlassen – eine Erfolgsquote, die unter Fachleuten weltweit für Staunen und Bewunderung sorgt. Doch was ist das Geheimnis des sanften Therapeuten aus Israel, der als Sohn deutscher Juden selbst eine traumatische Kindheit unter der Herrschaft der Nationalsozialisten durchlebte? natürlichen Zugang zu ihren Problemen und Schwächen zu finden und ihnen Sicherheit in ihrer Unsicherheit zu geben. Die Geschichte Mit sechs Jahren wird Yecheskiel Cohens Welt von Gewalt erschüttert. Hasserfüllte nationalsozialistische Schergen zerstören den Laden seines Vaters in Bernburg, unweit von Berlin. Für Cohen, oder Chezzi, wie ihn seine Eltern liebevoll nennen und er noch heute gerufen wird, bedeutet dies das Ende aller Sicherheiten. Der Film Der Film „Die zweite Geburt“ erzählt eine emotional ergreifende und intellektuell spannende Geschichte vom Menschwerden. Auf vier Ebenen, die harmonisch miteinander verwebt werden, nähern wir uns der zentralen Frage des Films: Wer ist Yecheskiel Cohen und wie schafft er es, so erfolgreich traumatisierte Kinder zu therapieren? Yecheskiel Cohen ist mit 79 Jahren immer noch als Psychotherapeut tätig Mit seinen Eltern und zwei Geschwistern, einigen wenigen Habseligkeiten und einer ungewisser Zukunft findet er sich auf einem Schiff Richtung Palästina wieder – auf der Flucht vor dem Tod. Es ist Oktober 1938 und wie sich später herausstellen wird, Rettung in letzter Sekunde. Den Rest seiner Familie sieht Chezzi nie wieder – sie sterben in den Gaskammern von Auschwitz. Es folgen schwere Jahre: Trennung von der Familie, Palästina-Krieg, Armut und der stetige Kampf, sich in einer fremden Welt neu zu finden. Eine traumatische Kindheit, die einen jungen Mann hervorbrachte, der mit 19 Jahren, während seines Dienstes beim Militär plötzlich erkennt, dass er mit einem seltenen Talent gesegnet ist: sich intuitiv in junge Menschen hineinversetzen zu können, einen Es ist die Geburtstunde für eine außergewöhnliche Karriere. Den Rest seines Lebens wird Chezzi Cohen von nun an damit verbringen, verletzten, traumatisierten und psychisch kranken Kindern dabei zu helfen, ganze, gesunde und selbstständige Erwachsene zu werden. Er wird sich vom jungen Erzieher und Studenten zum Leiter eines Kinderheims entwickeln, das mit seinem theoretischen Konzept und seiner praktischen und oftmals intuitiven Umsetzung desselben zu einem weltweit geachteten Beispiel für den erfolgreichen Umgang mit schwersterziehbaren und traumatisierten Kinder wird. Er wird sich zu einem Menschen entwickeln, der mit seiner Arbeit und seiner Persönlichkeit das Leben vieler anderer prägen wird, der zum Vater nicht nur seiner eigenen, sondern seiner vielen Heimkinder wird. Er wird zu einem Beispiel werden, wie das scharfsinnige Verständnis der menschlichen Psyche und ihrer Entwicklung gepaart mit unablässiger Liebe und Intuition, immer wieder aufs Neue Wunder vollbringen kann. Chezzi Cohen in „seinem“ Kinderheim Unsere erste Ebene ist die Biografie und Persönlichkeit Chezzi Cohens. Über Interviews, persönlichen Begegnungen, Fotos und Archivmaterial lernen wir seine inspirierende Lebensgeschichte mit Fokus auf seine psychoanalytische Arbeit kennen. Was waren Schlüsselmomente, wie hat die eigene Kindheit Arbeit und Wirken des israelischen Psychoanalytikers geprägt? Muss man, um die Leiden anderen zu heilen, vielleicht selbst gelitten haben? Und wie sieht das Vermächtnis des heute 79-Jährigen aus? Bis heute praktiziert er als Psychotherapeut, besucht vor allem Deutschland regelmäßig für Vorträge und Seminare und hat dabei über die Jahre eine enge Beziehung zu jenem Land aufgebaut, das ihn einst so drastisch verstoßen hatte. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Auf einer zweiten Ebene begleiten wir den Alltag im Jerusalem Hills Therapeutic Center. Dort werden traumatisierte Kinder und Jugendliche über 5-7 Jahre kontinuierlich in Kleingruppen betreut. Das Heim wurde 1943 gegründet und diente anfangs als Waisenhaus für die sogenannten „Teheran-Kinder“ - eine Gruppe jüdischer Kinder, denen in einer mehrjährigen Odyssee die Flucht nach Palästina gelang. Die Kinder waren von ihren Erlebnissen so schwer traumatisiert, dass die Verantwortlichen des Waisenhauses schnell merkten, dass sie mehr brauchten als ein bloßes Dach über dem Kopf. Chezzi Cohen leitete über 40 Jahre lang das Heim und formte darin sein Konzept des „Heimes als Therapieform“. Obwohl Cohen mittlerweile aus der aktiven Heimleitung ausgeschieden und nur noch im Vorstand tätig ist, orientiert sich das Programm der Einrichtung nach wie vor eng an seinen über die Jahre entwickelten Leitideen. Im Heim erleben wir den Alltag dieser außergewöhnlichen Therapie, wir erleben intime Momente mit den Kindern und Betreuern, begleiten den feinen und langwierigen Weg zu innerer Heilung und werden inspiriert von Menschen, die mit Verstand und Leidenschaft, mit Liebe und Geduld, tiefe Wunden und Verletzungen heilen. Wir lernen ein Konzept kennen, das in Erfolg, Nachhaltigkeit und Professionalität seinesgleichen sucht. Selbst Hausmeister und Köche sind hier mit in den Therapieprozess eingebunden. Jede Sekunde wird als therapeutische Situation bewertet, jedes Kind individuell behandelt. Dahinter steht die Idee, spezifische Entwicklungsdefizite in der frühkindlichen Entwicklung eines jeden Kindes zu erkennen und ihm die Möglichkeiten zu eröffnen, diese essentiellen Erfahrungen in einem stabilen und kontinuierlichen Umfeld systematisch nachzuholen. Ein Konzept, das von den Betreuern und Psychologen neben großer fachlicher Kompetenz enormes intuitives Einfühlungsvermögen erfordert und nur durch regelmäßige Supervision und Selbstreflexion aufrecht zu erhalten ist. Systematisch nähern wir uns der Arbeitsweise und den Prinzipien des Heimes. Welchen Stellenwert bekommen Liebe, Intuition und Körperlichkeit? Gibt es vielleicht eine spezifisch israelische Herangehensweise und wie können deutsche Einrichtungen davon lernen? Auf einer dritten Ebene lernen wir Tomer Boudhana kennen. Tomer verbrachte seine Jugend in Chezzi Cohens Heim und war eines seiner schwierigsten Kinder. Heute ist er ein israelischer Nationalheld – eine Kriegsverletzung brachte in auf Titelseiten, in Talkshows und bis vor das israelische Parlament. Doch nicht nur den Ärzten habe er sein Leben zu verdanken, sagt Tomer, Chezzi Cohen habe ihm bereits viel früher sein Leben gerettet – als Ersatzvater und bedeutsamster Mensch in seinem Leben. Ein bedeutsamer Erwachsener ist Tomer nun selbst für andere – er kümmert sich um Jugendliche mit sozialen Problemen, überquert mit ihnen auch schon einmal zu Fuß die Alpen oder verbringt mit ihnen stille Nächte in der Wüste. Tomer hat sich viel mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt und versucht zu verstehen, was ihm selbst im Heim widerfahren ist. Was waren diese Schlüsselmomente? Und wie konnte der einst so verletzte Junge so viel Kraft gewinnen, dass er heute anderen davon abgeben kann? Auf einer vierten und abstrakten Ebene beschäftigt sich der Film mit den theoretischen Ideen und Grundlagen des Therapiekonzeptes. Chezzi Cohen ist ein bekennender Anhänger des englischen Psychoanalytikers Donald Winnicott, der mit seinen grundlegenden Erkenntnissen zur Entwicklung von Kleinkindern zu einem der wichtigsten Begründer der Kinderpsychotherapie gehört. Doch was bedeuten Konzepte wie „Übergangsraum“ und „Regression“? Welche Rolle spielen Liebe und Beziehungen in der frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung? Mit Schauspielern wandeln wir theoretische Ideen und Erkenntnisse in emotional greifende Bilder und Symbolhandlungen um. Gibt es eine Blaupause auf dem Weg zum psychisch intakten Menschen? Müssen wir Menschen essentielle und universelle Erfahrungen in unserer Kindheit machen, um unsere eigentlichen Potentiale entfalten zu können und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen? 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 4 4 Die Produktion Erstmals widmet sich der Film „Die zweite Geburt Der Psychoanalytiker Chezzi Cohen und die Kunst aus zerbrochenen Kindern ganze Menschen zu machen“ ausführlich dem Lebenswerk Yecheskiel Cohens und erzählt als erster deutscher Film seine Geschichte. Über persönliche Kontakte besteht sowohl ein enger Bezug zu dem israelischen Therapeuten, als auch die einmalige Chance, im Jerusalem Hills Therapeutic Center zu filmen und dabei direkt und eindrücklich die Arbeit an traumatisierten Kindern ­sowie ihre persönlichen Geschichten und Entwicklungen mitzuerleben. Bei einem ersten Besuch im Januar 2011 konnten bereits Kontakte geknüpft, Drehorte besichtigt und Beziehungen aufgebaut werden. Die volle Unterstützung sowohl von der aktuellen Heimleitung, als auch von Yecheskiel Cohen ist dem Projekt gewiss. Das erfahrene Produktionsteam von BILDERFEST – factual entertainment garantiert höchste erzählerische und visuelle Ansprüche für international vermarktbare Dokumentationen. Durch den Einsatz spezieller Filmadapter und mittels geschickter Verwendung von CGI-Effekten entstehen Bilder von bestmöglicher Filmästhetik im Rahmen eines Dokumentationsbudgets in High Definition. Die Kunst aus zerbrochenen Kindern ganze Menschen zu machen wird so neben der vorliegenden Faktendichte und ergreifenden emotionalen Momenten zum ganzheitlichen filmischen Erlebnis. Y. Cohen ein Auszug aus dem Buch „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Band VIII, Brandes & Apsel, 2010 … Ich wurde im Juni 1932 in der deutschen Kleinstadt Bernburg a.d. Saale im heutigen Sachsen-Anhalt geboren. Ich habe einen Bruder, der vier Jahre älter und eine Schwester, die zwei Jahre jünger ist als ich. Bernburg gehörte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Ostdeutschland, der späteren DDR. Meine Eltern waren nach Bernburg gekommen, da mein Vater den Gemischtwarenladen seines Onkels übernommen hatte. Zuvor hatten sie in Halberstadt gelebt, wo sie sich an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz, Fa. Aaron Hirsch und Söhne, kennen gelernt hatten, einer Firma mit jüdischem Eigentümer. Die Eltern waren in Städten der Umgebung geboren, meine Mutter in Hannover und mein Vater in Köthen. Meine Mutter hatte vier Geschwister, während mein Vater Einzelkind war. Ein Bruder meiner Mutter war im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gefallen. Ihr Vater war früh gestorben, so dass ihre Mutter, Oma Rosalia, als Witwe mit vier Kindern zurückblieb, die sich mit der Machtübernahme der Nazis über die Welt verteilten. Ein Bruder meiner Mutter wanderte in die Vereinigten Staaten aus, ein anderer nach Palästina und die jüngere Schwester ging mit Mann und Tochter nach London in der Hoffnung, auf diesem Wege zu ihrem in den Staaten lebenden Bruder zu gelangen, was sich aber nicht erfüllte. Die Naivität der Juden Deutschlands fand auch in unserer Familie ihren Ausdruck, in der Reise meiner Großmutter Rosalia nach Palästina, um die Möglichkeit zu prüfen, sich der Familie ihres Sohnes anzuschließen, der bereits dort lebte, noch bevor unsere Familie dorthin auswanderte. Meine Großmutter, die sah, wie schwierig das Leben in Palästina war, ging in ihrer Unschuld 1938 (!) nach Deutschland zurück, vielleicht weil sie glaubte, dass ihr nichts Böses widerfahren würde, da sie einen Sohn für Deutschland geopfert hatte. Zu unser aller großen Betrübnis wurde sie nach Theresienstadt verschleppt und fand dort den Tod. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Die Mutter meines Vaters war früh gestorben, so dass ich nur seinen Vater kennen lernte (Opa Adolf). Auch dieser Großvater kam in Theresienstadt ums Leben, da es ihm – anders als dem Rest meiner Familie – nicht gelungen war, Deutschland rechtzeitig zu verlassen. Die gleiche Unschuld oder Naivität, die ich bereits erwähnte, charakterisierte auch meine Eltern. Sie hatten noch im Jahre 1933, als die Nazis bereits an der Macht waren, als Angehörige einer jüdisch-zionistischen Bewegung (Blau-Weiß) Palästina besucht. Zwar hatte damals die jüdische Einwanderung aus Deutschland nach Palästina bereits begonnen, jene Einwanderungswelle, die als „Fünfte Alijah“ bezeichnet wird. Unter den Einwanderern waren viele Ärzte, Akademiker, Musiker und andere Künstler, Bankiers etc., die im Grunde in Palästina (d.h. im späteren Israel) die Fundamente des Bankwesens, der Industrie, der Kunst etc. aufbauten, wie z.B. die Israelische Philharmonie und weitere wesentliche Beiträge zum Aufbau des Landes leisteten. So auch im Bereich der Psychoanalyse – Max Eitingon gründete 1934 in Palästina die Palästinensische Psychoanalytische Gesellschaft, die zum großen Teil aus deutschen Mitgliedern bestand (unter ihnen Erich Gumbel, Ruth Jaffe u.a.) und aus einigen russischen Psychoanalytikern wie Mosche Wulff. Meine Eltern zählten jedoch zu den Naiven unter den deutschen Juden, so dass sie am Ende ihrer Reise, obgleich sie einer zionistischen Bewegung angehörten, die einen jüdischen Staat in Palästina aufbauen wollte, mit dem Gefühl nach Deutschland zurückkehrten, dass die Zeit für eine Auswanderung noch nicht reif sei. Doch 1938 übten die Nazis bereits überall ihre Macht aus, auch in Bernburg, wo wir wohnten. Zunächst wurde mein Vater unter einem nichtigen Vorwand verhaftet und während seiner Haft erschien eine Bande von Nazis bei meiner Mutter und nötigte sie, den Gemischtwarenladen für einen lächerlichen Preis zu verkaufen. Nach dem Verkauf und während mein Vater immer noch inhaftiert war, gelang es meiner Mutter mit ihrem Organisationstalent, alle nötigen Papiere für das britische Einwanderungszertifikat nach Palästina zu beschaffen. Auch gelang es ihr, die nötigen Möbel und Haushaltsgeräte zusammenzustellen, denn in ­jenen Tagen – etwa einen Monat vor der Reichspogromnacht – ließen es die Nazis noch zu, dass jüdische Familien mit ihrem gesamten Besitz auswanderten. Nach der Freilassung meines Vaters brachen wir unverzüglich auf. Wir fuhren mit dem Zug nach Triest in Italien und von dort weiter mit dem Schiff nach Palästina. Im Oktober 1938 erreichten wir den sicheren Hafen von Tel Aviv. Ich habe von der gesamten Reise im Zug und auf dem Schiff keinerlei Erinnerung bis auf eine Begebenheit, die mir lebhaft vor Augen steht. Auf der Bahnfahrt nach Triest sah ich meinen Vater weinen – eine ganz besondere Erfahrung, die tief in mir haften geblieben ist. Vielleicht ist das der Grund, warum alle anderen Erinnerungen völlig verblasst sind. Weder an die einwöchige Schiffsfahrt noch an die Ankunft in Tel Aviv kann ich mich erinnern, und alles ist irgendwie in dem Weinen meines Vaters zusammengefasst, das ich mir nicht zu erklären vermochte. Was immer ich mit dem Gedanken an dieses Weinen verbinde, ist die Trennung von seinem Vater, denn bei unserer Abreise wusste er, dass er ihn nicht wieder sehen würde. In Palästina begann für uns ein völlig neuer Lebensabschnitt – eine Zeit großer Veränderungen, welche ihren Ausdruck im Gebrauch der hebräischen Sprache, in der schwierigen wirtschaftlichen Situation und in der Eingliederung in die hiesige Gesellschaft fand. Meine Eltern hatten – so wie die meisten Juden aus Deutschland, die hierher kamen – große Schwierigkeiten, die hebräische Sprache zu erlernen, die ihnen völlig fremd war. Es gibt viele Beispiele jüdischer Einwanderer aus Deutschland die die Sprache überhaupt nicht beherrschten und noch nicht einmal allein einkaufen gehen konnten. Meine Eltern hingegen besuchten bis an ihr Lebensende spezielle Sprachkurse. Das Erlernen der Sprache fiel ihnen zwar schwer wie auch der tägliche Umgang mit ihr, aber sie lasen täglich hebräische Zeitungen und konnten ihr Alltagsleben in der neuen Sprache meistern. Wir Kinder sprachen allerdings weiter Deutsch mit den Eltern, untereinander jedoch Hebräisch, so dass man bei uns am Tisch immer zwei Sprachen hören konnte … 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 5 Weiter zur Biographie: Y. Cohen wuchs in Jaffa auf. Von 1950 bis 1953 diente er in der Armee. Anschließend arbeitete er als Counselor in einer Einrichtung für Kinder mit Lernschwierigkeiten in Tel Aviv. 1957 absolvierte er seinen B.A. Degree in Erziehung und Psychologie und im Anschluss seinen M.A. Degree in Psychologie und Special Education 1962 an der Hebrew Universität. Nachdem Y. Cohen einige Jahre im heutigen Jerusalem Hills Therapeutic Center arbeitete, übernahm er mit 30 Jahren die Leitung des Heims. Herr Cohen leitete die Einrichtung 35 Jahre lang. Während dieser Zeit wurde er von der Psychoanalytischen Gesellschaft zum Zertifizierten Psychoanalytiker anerkannt. Außerdem lehrte er an der Hebrew University of Jerusalem. 1997 verließ er das Heim als Direktor, ist aber weiterhin als Vorsitzender des Executive Boards des JHTC tätig. Herr Cohen verfasste unzählige Artikel und Bücher. Er ist verheiratet mit Talma, hat 4 Kinder und mehrere Enkelkinder. Zum Konzept des Jerusalem Hills Therapeutic Centers (Auszug aus der von Sibylle Drews verfassten Laudatio für Dr. Y. Cohen an der 7. Sigmund Freud Vorlesung 1994) „Das Behandlungskonzept ist das Ergebnis von theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen und basiert im Wesentlichen auf Sigmund Freud, Donald Winnicott, Melanie Klein und Joseph Sandler; was das Setting betrifft auf Bettelheim, Trieshman und Redel, entwicklungspsychologisch auf Margaret S. Mahler, Daniel Stern und R. Emde und was die speziellen israelischen Bedingungen betrifft, auf den Arbeiten vor allem Carl Frankensteins. Der zentrale Gedanke der Behandlung ist, daß alle Aktivitäten im Heim integrale, untrennbare Facetten der therapeutischen Arbeit sind. Das Grundkonzept, auf dem die Arbeit Chezzy ­Cohens und seinem Team beruht, ist Winnicotts „potential space“ (ich bleibe bei Winnicotts Originaltherminologie, da die deutsche Übersetzung „Möglichkeitsraum nicht so ganz geglückt sein dürfte“. Sie sind der Überzeugung, daß RT diesen „potential space“ zu erschaffen vermag, in dem das Kind seine Individualität und ein „wahres Selbst“ i.S. Winnicotts entfalten kann. Es sind 4 Prinzipien, die den „potential space“ ermöglichen sollen: 5 4. Zugehörigkeit und Fremdsein Diese Kinder brauchen zunächst eine in gewissem Sinne undifferenzierte Welt – wie das Neugeborene-, um alle Differenzierungen und Unterschiede nach und nach selber zu entdecken und damit auch ihre Selbst- und Objektrepräsentanzen zu entwickeln. Jede der 5 Gruppen setzt sich konstant aus bestimmten Kindern und Erwachsenen zusammen und hat ihren je eigenen, unverwechselbaren Lebensstil, ihre Gewohnheiten etc. Das Kind lernt aber zugleich, daß die Erwachsenen auch Bedürfnisse und Interessen haben, von denen es ausgeschlossen ist - das entspricht der normalen ödipalen Situation, in der es wahrnimmt, daß es an Gemeinsamkeiten der Eltern durchaus auch nicht teilhat - auch dies trägt zur Entwicklung eines eigenständigen Selbst bei, das wahrnehmen kann, daß Selbst und Objekt getrennt sein, wie auch auf Grund dieses Getrenntseins eine gegenseitige Beziehung haben können. Dieses Behandlungskonzept verlangt den Mitarbeitern natürlich großes Engagement, viel Liebe und Empathie für das jeweilige Kind ab, überdies aber natürlich ein Gespür für unbewusste Prozesse - im Kind wie im Erzieher. Das bedeutet, daß die Mitarbeiter ständig bereit sein müssen, ihre Gefühle für und Probleme mit „ihrem“ Kind zu hinterfragen und über sie sprechen.“ Kurzinformation über die Einrichtung: Das Jerusalem Hills Therapeutic Center besteht heute aus drei Einrichtungen: Das Children’s Home am Rande von Jerusalem gelegen, beherbergt 86 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 – 14. Das Kemper Group House für heranwachsende Jungen, in der Nachbarschaft von Gilo, Jerusalem gelegen beherbergt 14 Jugendliche im Alter von 14 – 18 Jahren. Zusätzlich das Goldie Kassell Center, welches 1999 gegründet wurde, dient Institutionen, Familien, öffentlichen Organisationen und Individuen als ambulante Einrichtung. Mehr Informationen unter: www.childrenshome.org.il 1. R esidential treatment ist weder ein Replikat der Realität noch eine imaginäre Einheit Das heißt: Ein neu aufgenommenes Kind muss sich den Normen und Rollen im Heim nicht sofort anpassen, sie werden zwischen dem Kind und seinem Betreuer überhaupt erst erschaffen, so daß das Kind sich als aktiven Partner in einem gemeinsamen Prozeß erlebt und so seinen eigenen Anteil entdeckt - wie es in der frühen MutterKind-Beziehung normalerweise sein sollte - und mit seiner Umwelt realitätsangemessener umgehen kann. 2.Die Trennungslinien zwischen Zeit und Raum bleiben vage Das heißt: Eine klare Zeiteinteilung ist zwar grundsätzlich wichtig für die Stabilität dieser Kinder und ihrer Vorstellung von Konstanz, dennoch spielt sie in diesem Heim kaum eine Rolle bei der Bestimmung etwa der Aufenthaltsdauer eines Kindes, die Kriterien dafür bleiben zunächst offen. Auch sein Alter spielt für die Zuordnung zu einer Klasse keine Rolle, wohl aber seine ganz individuellen Möglichkeiten. Der Grundgedanke dabei ist, dem Kind Situationen anzubieten, in denen die Trennungslinien verwischt sind und dies ihm die Möglichkeit gibt, ein Gefühl von Einheit und Getrenntsein zu erleben. Ihre herkömmlichen Vorstellungen von Zeit und Raum müssen die Mitarbeiter natürlich erst mal revidieren. Fotos: Krischan Dietmaier. Birgit Schramm Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit Mail: [email protected] telefonisch bei Fragen zu erreichen unter 089-45209893. 3.Der Prozeß, nicht das Resultat steht im Mittelpunkt Zentral ist der Arbeitsprozeß des Lehrers mit dem Kind: er weiß niemals etwas im voraus, vielmehr entwickelt er das Wissen mit dem Kind zusammen, das dabei allmählich lernt, zwischen sich und dem anderen bzw. zwischen seinem Anteil und dem des anderen zu unterscheiden. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Leitlinien in der Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Der Arbeitskreis „Leitlinien der analytischen Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie“ wurde im Jahr 2003 gegründet, um ausgehend vom gegenwärtigen Stand der Theorie, Praxis und Forschung –Wege in der Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen der Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien, die eine analytische/tiefenpsychologische Psychotherapie benötigen, zusammenzustellen und zu veröffentlichen, –in der fachlichen Öffentlichkeit die Arbeit der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten darzustellen, –zu verdeutlichen, bei welchen Störungsbildern eine analytische/tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie indiziert ist und –bereits vorhandene Leitlinien, die Ansätze der analytisch/tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wenig einbeziehen, zu ergänzen. Leitlinien können als grobe Orientierungshilfen und Wegweiser angesehen werden, die immer wieder neu in Theorie und Praxis in Abstimmung mit den Wissens- und Forschungsständen erweitert und korrigiert werden sollten. Weitere Leitlinien sind in Bearbeitung, wie ADHS, Depression und Essstörungen. Die Leitlinien Angst wurden von Dietmar Borowski, Hans Hopf und Thomas Hüller verfasst. Nach einem einleitenden Kapitel „Allgemeines zur Angst aus psychoanalytischer Sicht“, in dem eine Begriffsbestimmung, Symptomatik, Komorbidität, ICD-10-Korrespondenzen und Erklärungsmodelle zu finden sind beschäftigt sich das zweite Kapitel mit den Krankheitsbildern, die jeweils in Begriffsbestimmung, Symptomatik, Erklärungsmodelle, Diagnostik, Psychotherapie, Prognose und Prävention gliedern. Dazu einen Auszug aus den Leitlinien 2.2 Generalisierte Angst: 2.2.1 Begriffsbestimmung Die generalisierte Angst ist eine anhaltende Angst, die sich nicht auf eine bestimmte Situation beschränkt. Die Angst ist frei flottierend. Es ist meist eine „unvorstellbare“ Angst. Wie bei der panischen Angst fehlt der Angst der Signalcharakter, sie bleibt jedoch nicht auf ein episodisches Angsterleben begrenzt wie die ≥ panische Angst. Die Angst entspricht einer diffusen, körpernahen Angst. 2.2.2 Symptomatik Das Angsterleben der generalisierten Angst ist in seiner Intensität schwankend und neigt zur Chronifizierung. Es bezieht sich auf Befürchtungen, es könnte einem selbst oder einem anderen irgendetwas Schweres, z.B. eine todbringende Erkrankung, zustoßen, ohne dass eine konkrete Vorstellung darüber besteht. Letztlich verknüpft sich die Angst mit einer großen Anzahl von wechselnden Sorgen und Vorahnungen. Oft rückt das Erleben verschiedenster somatischer Beschwerden wie Zittern, Muskelspannungen, Schwitzen, Herzklopfen oder Bauchbeschwerden in den Vordergrund. Das somatische Erleben kann sich mit vielfältigen vegetativen Symptomen verbinden. Die generalisierte Angststörung ist oft Teilsymptomatik einer aktuellen Belastungsreaktion (F43.0); einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1); bei desintegrativen Störungen (F20-F29 und F84) und oft mit depressiver Störung gemischt (F41.2) (≥ Depression). ICD 10: Generalisierte Angststörung (F41.1); andere emotionale Störungen des Kindesalters (Überängstlichkeit F93.8). 2.2.3 Erklärungsmodell Die psychodynamischen Überlegungen entsprechen weitgehend denen der panischen Angst mit anhaltender Bereitschaft zur diffusen psychotischen Angst (≥ panische Angst), bei einem stabileren Strukturniveau denen der Angstneurose, mit Angst vor Objektverlust und Selbstverlust. Die generalisierte Angststörung gehört zu einem frühen Angsttypus (≥ Allgemeiner Teil). Die Fähigkeit der Steuerung des Selbst- und Objekterlebens sowie die kommunikative Fähigkeit, relativ zur Altersstufe, sind gestört. Damit sind die Integrationsfähigkeiten des Ichs und der Kontakt zur Realität bedroht. Die Signalfunktion der Angst geht verloren. Stattdessen droht das System zusammenzubrechen. Auslösende Ereignisse sind oft in Relation zur Stärke des Ichs traumatischer Natur. 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 6 2.2.4 Diagnostik Die Schwere der generalisierten Angst wird über die Angstart deutlich (wie namenlose Angst, „Ängste der Psychose“, „Ängste der Angstneurose“), im Verhältnis zur Ich-Entwicklung und den Objektbeziehungen (≥ Allgemeiner Teil und panische Angst). Strukturelle Überlegungen orientieren sich an den Ich-Fähigkeiten in Relation zu den Erwartungen und Belastungen seitens der Umwelt, insbesondere auf die Fähigkeit, negative Affekte zu puffern und die erworbenen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung. Von Bedeutung ist, inwieweit ein Zusammenbruch der Integrationsfähigkeit des Ichs in einen zeitlichen Zusammenhang zu stellen ist. Auf Seiten des Umfeldes geht es um Klärung von aktuellen und langfristigen Belastungen. Es geht auch um die Gestaltung der Beziehungen zu den Bezugspersonen, insbesondere inwieweit diese den Integrationsaufgaben des Ichs des Kindes beistehen und u.a. Selbstobjektfunktion übernehmen. 2.2.5 Therapie Die psychoanalytische Behandlung folgt dem jeweiligen, zwischen Patienten und Therapeuten gefundenen triebpsychologischen, ich-psychologischen, ­objektbeziehungstheoretischen oder selbstpsycholo­ gischen Blickwinkel (≥ Allgemeiner Teil). Schwere strukturelle Defizite machen eine Berücksichtigung der Affektdifferenzierung notwendig, damit beispielsweise namenlose Angst einen Namen finden kann. Konzepte des Containments, der Symbolisierungsfähigkeit und der Mentalisierung (Allgemeiner Teil) sind hier von wesentlicher Bedeutung. So wird aus einem namenlosen Angstgefühl und einem körperlich erlebten Gefühl eine differenzierte Wahrnehmung der Angst als Signal. Konkrete Hinweise auf Differenzierungsmerkmale zwischen Körpergefühl entsprechendem Affekt sind ebenfalls wichtig. (So kann z.B. Herzklopfen als Angst missgedeutet werden, obwohl es dafür andere Gründe gibt, wenn z.B. ein Mensch zu schnell die Treppe hochgegangen ist, dessen Kreislauf wenig Anstrengungen verträgt.) Bei akuten Belastungsreaktionen und posttraumatischen Störungen muss die aktuelle Situation berücksichtigt werden. Im Vordergrund steht die Wiederherstellung der Integrationsfähigkeit des Ichs, die Vermittlung einer Fähigkeit zur Selbstberuhigung, die Unterscheidung von Phantasie und Realität sowie die Nutzung von Übergangsphänomenen. Die mitunter schweren Einschränkungen der integrativen Funktionen des Ichs erfordern, dass der Therapeut zeitweilig eine Hilfs-Ich-Funktion übernimmt (Allgemeiner Teil ≥ Affektregulation). Bei der somatisierten Angst wird die Angst als biopsychosoziales Warnsystem mit seinen neurophysiologischen Aspekten deutlich. Eine gleichzeitige medikamentöse Behandlung kann eine Bewältigung der Ängste erleichtern. Kinder mit generalisierter Angststörung behalten ihre Symptomatik wesentlich häufiger als Kinder mit Trennungsangststörung. Die Entwicklung ist mit dem Risiko der Entwicklung einer Depression und Somatisierungsstörung belastet. Die Lektüre der bisherigen Leitlinien erweisen sich als sehr hilfreich für die Ausbildung von Kolleginnen und Kollegen in tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Sie stellen aber auch für den praktisch tätigen niedergelassenen eine Hilfe für die tägliche Praxis dar. Sie können aus dem Internet herunter geladen und ausgedruckt werden und in den unter Umständen dürftig bestückten QM-Ordner eingeheftet werden. Manfred Endres 6 Buchbesprechung Hans Hopf – Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen Diagnose, Indikation, Behandlung Brandes & Apsel 2009 Obwohl Angststörungen zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter zählen gibt es nur wenige Publikationen, die sich umfassend mit Angststörungen im Kindes- und Jugendalter aus psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer Sicht beschäftigen. Das von Hans Hopf bei Brandes & Apsel, 2009, heraus gegebene Buch Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen stellt auch drei Jahre nach dem Erscheinen das Standardwerk zu Angststörungen dar. Es ist nach wie vor von hoher Aktualität. Das Buch zeichnet sich durch eine klare Gliederung und durch insbesondere für die Praxis nutzbare praxisbezogene Kapitel aus. Die Aktualität des Buches spiegelt sich auch dadurch wieder, als Hans Hopf Mitautor der Leitlinien für die Behandlung von Angststörungen herausgegeben vom Arbeitkreis der VAKJP ist und darüber hinaus in dem Buch immer wieder Bezug sowohl auf die ICD 10 Normenklautur als auch auf die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik genommen wird. Nach der Einleitung und einem Exkurs zur ICD 10 findet sich ein historischer Ausflug zu den Angsttheorien Sigmund Freuds. Im folgenden werden dann ausführlich die unterschiedlichen Formen der Angst aus der Sicht der Psychoanalyse dargestellt. Hier werden die unterschiedlichen Formen von Ängsten während der Frühindividuation, der Autonomieentwicklung und der ödipalen Entwicklung dargestellt. Die explizite entwicklungspsychologische Ausrichtung des Buches zeigt sich im Kapitel über die zentralen Entwicklungsbereiche für die Entstehung von Trennungsangst. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Angst aus Sicht der Bindungsforschung. In den weiteren Kapiteln werden die unterschiedlichen Formen von Angststörungen entsprechend der Kategorisierung aus der ICD 10 in eigenen Kapiteln behandelt und psychodynamisch erläutert. Ausführliche Fallbeispiele tragen wesentlich zum Verständnis bei und machen so das Buch zu einem hilfreichen Ratgeber für den praktisch tätigen Kindertherapeuten. Auch andere Fragestellungen wie Elternarbeit, fehlende Angst bei Kindern oder auch die Angst des Therapeuten werden in eigenen Kapiteln behandelt. Aufgrund der umfassenden Darstellung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter ist das Buch aufgrund seiner umfassenden Darstellung und des Praxisbezugs uneingeschränkt zu empfehlen. Leseprobe: Von den Trennungsängsten zu den generalisierten Ängsten wird die Fähigkeit von Ich- und Selbststruktur, Ängste bewältigen zu können, erkennbar immer geringer. Trennungsängste und generalisierte Ängste sind dennoch im Grunde fast identische Angststörungen. Die grundlegenden Ängste bei fast allen Angststörungen sind letztendlich die Ängste der Achtmonatsangst, entweder vor Trennung und Verlust oder vor dem Fremden und allzu großer Nähe. Sowohl bei der Trennungsangst als auch bei der generalisierten Angststörung besteht das wesentliche Ziel darin, ängstliche und aggressive Affekte aus dem Bewusstsein auszumerzen und dauerhaft fern zu halten. Dies geschieht bei den Ängsten über Verdrängung, über phobische Pseudoobjektivierung, über hypochondrische Befürchtungen sowie über Somatisierungen. Besondere letztere führen dazu, dass der gefährliche Konflikt unkenntlich gemacht wird. Die manifesten Ängste sind bereits in unterschiedlicher Weise verarbeitete unbewusste Ängste. Die aggressiven Affekte werden über Projektionen sowie über Zwangsbildungen zu bewältigen gesucht. Diese Abwehr schafft jedoch andauernd neue Konflikte, so dass die IchStruktur immer wieder labilisiert wird. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass die generalisierte Angststörung der Kindheit oder Jugend mit einem höheren Risiko für die Entwicklung von depressiven und Angststörungen im Erwachsenenalter und einem späteren Beginn einer unabhängigen, selbständigen Lebensführung assoziiert ist. Manfred Endres 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 7 Prävention von Schulabsentismus Prävention von Schulabsentismus Schulabsentismus – das unrechtmäßige Versäumen von Unterricht – zeigt sich unter wissenschaftlicher Perspektive als komplexes Phänomen mit vielfältigen Einflussfaktoren auf sozialer, familiärer, schulischer und individueller Ebene. Zwar stellt sich das Phänomen in seiner Symptomatik relativ ähnlich dar, basiert aber als Entwicklungsergebnis auf ganz unterschiedlichen Problemkonstellationen zwischen Schüler- und Umfeldvariablen. Die schulmeidenden Verhaltensmuster lassen sich hinsichtlich der Bedingungskonstellationen in drei Formgruppen, das Schulschwänzen, die Schulverweigerung und das Zurückhalten untergliedern, wobei Mischformen möglich sind (vgl. Kearney, 2007; Ricking, 2003). Einen Ausgangspunkt zur näheren Bestimmung der Zielgruppen bildet die Erfahrung mit Schülern, die im Rahmen einer schulaversiven Einstellung die Schule als Ganzes, Unterricht oder Lehrer dauerhaft und nachdrücklich ablehnen und dies auf der Verhaltensebene durch Fernbleiben vom Unterricht, Zuspätkommen oder geringe Intensität der Mitarbeit zum Ausdruck bringen. Für manche dieser Schüler sind die elterliche Wohnung, die belebten Plätze der Stadt, die Einkaufsmeilen oder der abgelegene Fußballplatz attraktive Alternativen zur negativ erlebten Unterrichts- und Schulsituation. Praktiker berichten zudem nicht selten von Schülern, die zwar dem Unterricht fernbleiben, sich jedoch auf dem Gelände der Schule, z. B. in der Raucherecke oder im Schulcafé aufhalten. Für sie spielt die Schule weniger als Bildungseinrichtung denn als sozialer Raum eine Rolle, der Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglicht. In diesem Zusammenhang findet der Begriff des Schulschwänzens Verwendung, der Schulversäumnissen vorbehalten ist, von denen die Erziehungsberechtigten häufig keine Kenntnis haben, die auf das Betreiben des Schülers zurückgehen und bei denen er während des Vormittags einer attraktiveren Beschäftigung außerhalb des elterlichen Hauses nachgeht. Schulschwänzen nimmt mit dem Alter zu und steht aus schulischer Sicht in engem Zusammenhang mit schulischen Versagenserlebnissen (Ricking, 2003). Es wird in einer Fülle von Untersuchungen mit weiteren im Erziehungskontext problematischen Verhaltensweisen aus dem dissozialen Formenkreis in Verbindung gebracht. Im Zentrum stehen jugendliche Delinquenz, aggressive Konfliktregelung und Drogenmissbrauch (Jenkins, 1995; Prichard, Cotton & Cox 1992; Wilmers & Greve, 2002). Tab. 1: Bedingungszusammenhänge beim ­S chulschwänzen Schulschwänzen Sind die Versäumnisse ­entschuldigt? Zumeist nicht, ggf. fingierte Entschuldigungen Wissen die Eltern vom Absentismus? Häufig nicht, abhängig von der Rückmeldung durch die Schule Aufenthaltsort während der Schulzeit ? Oft außerhäuslich, mit Mitschülern Lern- und Leistungsmotivation? i.d.R. niedrig Welche Begleit- und Bedingungsfaktoren liegen vor? Höhere Wahrscheinlichkeit von Schulaversion, Delinquenz, Schulversagen, Disziplinproblemen, Drogenmissbrauch, aggressiven Verhaltensmustern Erziehung in der Familie? Tendenz zu Mangel an Aufsicht und Unterstützung Eine weitere Formgruppe bildet angstinduziertes Schulmeidungsverhalten, bei der Furcht und Angst vor der Schule bzw. vor Personen in der Schule von wesentlicher Relevanz sind, die sich in Merkmalen wie Traurigkeit, Rückzug aus sozialen Bezügen und auch extremen emotionalen Ausbrüchen vor Schulbeginn niederschlagen können (Phelps, Cox & Bajorek, 1992). Diese Kinder und Jugendlichen haben aufgrund inneren Angsterlebens immense Schwierigkeiten, den Unterricht zu besuchen, somatisieren emotionale Probleme (u. a. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen) und verbringen den Schulvormittag in der elterlichen Wohnung (Kearney, 2001, 2007). Generell wird von den Fachleuten zur Behandlung von schwerwiegenden emotionalen Störungen mit Schulmeidungsverhalten eine therapeutische Behandlung beim Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiater empfohlen. Der Begriff angstinduziertes Schulmeidungsverhalten (synonym oft „Schulverweigerung“ und „Schulphobie“) umfasst verschiedene Teilaspekte, die in Tab. 2 zusammengefasst sind (vgl. Blagg, 1987). 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 7 Tab. 2: Bedingungszusammenhänge für angstinduziertes Schulmeidungsverhalten Angstbedingtes Schulmeidungsverhalten Trennungsangst Angst des Kindes, durch den Schulbesuch von der Mutter getrennt zu werden, z.B. da ihr während der Abwesenheit etwas zustoßen könnte Mobbing/ Gewalt Meidungsverhalten gegenüber systematischem Drangsalieren durch Mitschüler(-gruppe) auf dem Schulweg, in den Pausen etc. (vgl. Alsacker, 2003) Lehrerangst Vermeiden von Lehrern, die drohen, unter Druck setzen, erniedrigen Versagensangst Vermeiden von Lernkontrollen Soziale Angst Rückzugsverhalten, vermeiden sozialer Situationen mit vielen Menschen (Klasse, Schulhof, Bus, …) Beim Zurückhalten schließlich geht die Initiative für die Schulversäumnisse von den Erwachsenen aus oder wird durch ein diskretes Übereinkommen zwischen Eltern(-teil) und Schüler bedingt. Als kausale Einflussgrößen werden verschiedene Problemstellungen in der Literatur angesprochen, z. B. Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Aversionen der Erziehungsberechtigten, kulturelle Divergenzen, die dazu führen, dass eine weitere Beschulung des Kindes nicht für notwendig erachtet wird (Ricking 2006; Schulze & Wittrock 2005). Die Aufzählung (Tab. 3) weist das Zurückhalten als lose Sammelkategorie aus, wobei die genannten Einflussgrößen auch in Kombinationen auftreten können. Tab. 3: Gründe für das Zurückhalten von Schülern durch Erziehungsberechtigte Gründe für Zurückhalten Gleichgültigkeit gegenüber schulischer Ausbildung des Kindes dem Kind wird freigestellt zur Schule zu gehen, oft vor dem Hintergrund eigener negativer Schulerfahrungen Kulturelle Differenzen zugewanderte Eltern erachten die Schulpflicht als unangemessen lang (z. B. für Mädchen) Beeinträchtigung und Krankheit psychische Erkrankungen, Drogenabhängigkeit oder Alkoholismus der Erziehungsberechtigten bedingen erzieherische Insuffizienz Kinderarbeit Schüler arbeiten auch während des Vormittags, müssen u. U. zum Unterhalt der Familie beitragen, im Haushalt helfen oder Geschwister beaufsichtigen Religiöse Differenzen Biologie- oder Religionsunterricht wird als unvereinbar mit der eigenen Auffassung angesehen Schulkritische Haltung der Erziehungsberechtigten Schule wird allgemein als schädlich für das Kind eingeschätzt Missbrauch, Verwahrlosung Verletzungen sollen verborgen oder Aussagen des Kindes verhindert werden Fehlquoten und Entwicklungen Quoten illegitimer Versäumnisse – im Primarbereich noch gering – steigen ab Klasse 5 deutlich an und erreichen zumeist in den letzten Jahrgängen die höchsten Werte. Eine aktuelle Totalerhebung an allen Förder- und Hauptschulen Schleswig-Holsteins belegt diesen Trend eindrucksvoll. Der Zuwachs ist zwischen Klasse 6 und 7 am größten. Tab. 4: Anteil der Förderschüler (Lernhilfe) und Hauptschüler mit einer Fehlquote > 10 % (Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007, 33, 49). Klassen 5 Förderschüler Hauptschüler 15,7 % 8,5 % Klassen 6 Klassen 7 10,4 % 20,7 % Klassen 8 Klassen 9 15,3 % 26,7 % Klassen 10 gesamt 13,7 % 15,1 % 17,9 % 20,0 % 13,2 % Geschlechtsspezifische Unterschiede liegen zumeist im marginalen Bereich, mitunter werden bei Schülerinnen höhere Quoten ermittelt (Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007). Ein Mi­ grationshintergrund bildet einschlägigen Studien zufolge einen Bedingungsfaktor für im Vergleich höhere Fehlquoten, was für andere europäische Staaten (Bos, Ruijters & Visscher, 1990; Grewe, 2005; Reid, 2003) und die USA ebenso zutrifft (Rosenthal, 1998; Rumberger, 1995). Massive Formen von Schulabsentismus bekunden zumindest zeitweilig etwa 5 % eines Jahrgangs, in dieser Gruppe sind Jungen überreprä- sentiert (Stamm, 2007). Während der Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (2007) in den Förderschulen die höchsten Werte ermittelt, konstatieren Wagner, Dunkake & Weiß (2004, S. 483): „Hauptschüler verweigern mit 14,5 % am häufigsten die Schule, gefolgt von den Sonderschülern (12,8 %), Realschülern (6,1 %) und Gymnasiasten (4,7 %)“. Auch hinsichtlich der Fehlintensität sind Differenzierungen bei Falleinschätzungen geboten. Das gelegentliche Aussetzen des Schulbesuchs, selten und in geringem zeitlichen Umfang, unterläuft einem großen Teil der Schülerschaft (ca. 35-50 % im Halbjahr zuvor) und wird vielfach als Bagatelle interpretiert (Stamm, 2007). Auch wenn jedes Versäumnis ernst genommen werden sollte: Ein deutlicher Interventionsbedarf besteht, wenn sich die Fehlzeiten in der schulischen Leistungsbilanz niederschlagen, weitere problematische und eskalierende Verhaltensmuster damit einhergehen und generell die Entwicklung des Heranwachsenden gefährdet ist. Vor diesem Hintergrund ist Schulabsentismus einzubetten in den Bereich schulaversiver Verhaltensmuster, bei denen physische Präsenz aber innere Ablehnung schulischen Prozessen und häufig lehrer- oder fachspezifischen Anforderungen gegenüber erkennbar ist. Als häufig anzutreffende Merkmale können Lernverweigerung, Rückzug und Gleichgültigkeit gegenüber der Schule genannt werden, aber auch wiederholtes Zuspätkommen und deutliche Unterrichtsstörungen (evt. als Zeichen einer stofflichen oder sozialen Abkopplung) sowie unangemessen lange Fehlzeiten aufgrund von Bagatellkrankheiten (die als Initial für angstbedingtes Meidungsverhalten mit psychosomatischen Anteilen verstanden werden können). Diese Verhaltensmuster sollten von Lehrkräften als Warnsignale wahrgenommen werden, die für sich genommen schon schulisches Risikoverhalten darstellen, aber auch zu manifestem Schulabsentismus führen können. Reids (1999) Erkenntnissen zufolge verschieben sich die Einstiegsphasen und Altersschwerpunkte nach unten, sodass Schüler mit unregelmäßigem Schulbesuch jünger werden und die Grundschulen zunehmend in den Blickpunkt geraten. Diese sind angesichts des fachlichen Gebots der Prävention und frühen Intervention bei Schulabsentismus ein hochbedeutsames Handlungsfeld (Kirsch & Hansen, 2002). Gelingt es nicht bereits in der Grundschule, eskalierenden Entwicklungen Einhalt zu gebieten, kann eine zunehmende Entfremdung von der Schule einsetzen (s. Tab. 5). Tab. 5: Stadien der Entkopplung von Schule Stadium Merkmale 1. Schulaversion Negative Stimmung gegenüber schulischen Anforderungen, Schulunlust, Motivationsprobleme, Lernverweigerung, Zuspätkommen, Unterrichtsstörungen, Schulversagen, Schulangst 2. Schulschwänzen In unterschiedlicher Intensität wiederkehrende Versäumnisphasen, Schulversagen, Kontakt zu schulaversiven Peers, weiteres Risiko-Verhalten (z. B. Aggressivität, Delinquenz, Drogenkonsum) 3. Dropout Weitgehende oder völlige Entkopplung von der Schule, Abbruch des Schulbesuchs Schulabsentismus ist als zentraler Prädiktor für Dropout evident (Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007). Ein beträchtlicher Anteil der Schüler mit hohen Fehlquoten erwirbt den Schulabschluss nicht, verlässt die Schule vorzeitig und weist sehr viel schlechtere Integrationschancen für das Berufsleben auf (Bos et al., 1990; Hibbett & Fogelman, 1990; LeCompte & Dworkin, 1991; zusammenfassend: Hillenbrand & Ricking, 2011). Bedingungsfaktoren Schulabsentismus kann als multikausal bedingtes Verhalten aufgefasst werden, bei dem die relevanten Einflussgrößen aus unterschiedlichen Settings in komplexen Relationen kumulieren und in dynamischem Interaktionszusammenhang stehen (vgl. Kearney, 2007; Ricking, 2003; Rosenthal, 1998). In der Entwicklung schulmeidender Verhaltensmuster sind Risikoeinflüsse v. a. hinsichtlich psycho-sozialer Dispositionen des Schülers, familiärer Interaktions- und Lebensbedingungen, schulischer Rahmungen und Bindungen sowie Wirkungszusammenhängen zu berücksichtigen, die von Gleichaltrigen(gruppen) ausgehen. Neuere Erklärungsansätze bezüglich Schulab- 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN sentismus und Dropout lassen Komplexität zu und gelangen so zu einer angemessenen Einschätzung des Verhaltens (vgl. Schulze, Ricking & Wittrock 2000; Stamm, 2007). tung einbezogen werden, bewirken hiernach einen besseren Lernerfolg, eine höhere Anwesenheit, ein angemessenes Schülerverhalten sowie eine niedrigere Delinquenzrate“ (S. 20). Individuelle Faktoren Schulangst gilt als gewichtiges Motiv für schulbezogenes Meidungsverhalten, sodass Schüler unter starker Angstbelastung in der Schule eher geneigt sind, die subjektiv bedrohliche Situation zu vermeiden, statt sich ihr zuzuwenden und das Problem zu verbalisieren (Reid, 2002). Forschungsergebnisse bestätigen den engen Zusammenhang zwischen Schulversagen, Angst in und vor der Schule und Schulverweigerung (Kaiser, 1983; Overmeyer, Schmidt, Blanz & Lotz, 1994). Regelmäßige Schulschwänzer sind – so der internationale Forschungsstand – fast ausschließlich unter den Verlierern im schulischen Leistungswettbewerb zu finden (Grewe, 2005; Reid, 1999; Stamm, 2007). Für die deutschen Schulen bestätigen Forschungsergebnisse von Schulze und Wittrock (2000), Wagner et al. (2004), und dem Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (2007) das gemessene Leistungsdefizit. Die vergleichbaren Resultate früherer Studien von Klauer (1963), Hildeschmidt (1979) und Kaiser (1983) stützen die Befunde. Die Forschung hat belegt, dass das stabile Merkmal Schulversagen als einer der bedeutendsten Risikofaktoren für Schulschwänzen angeführt werden kann. Anhaltender Schulerfolg besitzt eine starke präventive Wirkung (Ricking, 2003). Peers Gesellschaftliche Veränderungen haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einer funktionalen Aufwertung des Freizeitsettings mit Medien, Freunden oder der Clique gegenüber dem familialen und schulischen Setting geführt. Neuere Studien, die sich mit Bedingungsfaktoren von Schulabsentismus befassen, zeigen die überaus große Bedeutung der Gleichaltrigengruppe/Peer-Group (Puhr, Knopf, Gallschütz, Häder & Müller, 2001; Wagner et al., 2004). So deuten einige empirische Forschungsergebnisse darauf hin, dass sie bei der Initiierung und Stabilisierung von Schulversäumnissen v. a. im Bereich des Schwänzens hohe Relevanz beanspruchen können (Schreiber-Kittl & Schröpfer, 2002). Die Wirkung schulaversiver Cliquen wird als problematisch eingeschätzt, insbesondere auf Mitschüler, die die Schule noch regelmäßig besuchen, jedoch schon erheblichen Meidungsdruck spüren. Jugendliche, die in einer solchen Clique sind – so Wagner et al. (2004) – sind einem sehr deutlich erhöhten Absentismusrisiko ausgesetzt. Familie Armut und Deprivation in benachteiligten Milieus bedingen Erziehungs- und Entwicklungsrisiken, die psycho-soziale Problemlagen, Schulversagen und unerlaubte Schulabwesenheit nach sich ziehen können. Es werden in den einschlägigen Studien elende Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, problembelasteter Stadtteil wie auch bildungs- und schulaversive Einstellungen bei den Eltern mit Schulabsentismus in Verbindung gebracht (vgl. Fogelman, Tibbenham & Lambert, 1980; Prichard et al., 1992; Reid, 1999). Die Untersuchungen liefern vor diesem Hintergrund prägnante Hinweise auf z. T. massive Belastungslagen auf Elternseite, die die Erziehungskompetenz und -performanz sowie Möglichkeiten eigener Verhaltenssteuerung einschränken (Epstein & Sheldon, 2002). Als multipel wirkende Stressoren im Primärmilieu stehen beispielsweise Delinquenz der Eltern, Drogenkonsum (vgl. Beekhoven & Dekkers, 2005; Prichard et al., 1992), psychische Störungen, gewalttätige Konfliktregelung sowie chronische Krankheiten (Farrington, 1980) als bedeutsame Einflussfaktoren im Zentrum der Studien. Diese Rahmenbedingungen führen oft zu mangelnder familiärer Kohärenz und zu einem Erziehungsverhalten, das durch wenig emotionale Wärme im Eltern-Kind-Verhältnis, geringe Aufmerksamkeit hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse, unzureichende Aufsicht und Unterstützung, z. B. bei den Hausaufgaben, gekennzeichnet sein kann (Epstein & Sheldon, 2002). Schule Auch wenn zum Komplex schulischer Wirkungen auf das Schulbesuchsverhalten der Schüler aufgrund des Forschungsstandes kaum präzise Aussagen möglich sind, kann als gesichert betrachtet werden, dass sich auch formgleiche Schulen in ihren Anwesenheitsquoten unterscheiden (Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein, 2007; Wagner et al., 2004). Verantwortlich dafür gemacht werden einerseits unveränderliche Strukturbedingungen (wie die Lage im ländlichen oder städtischen Umfeld), das soziale Gefüge des Einzugsgebiets oder die Nähe zu großen Einkaufszentren und andere für Schüler attraktive Ziele; andererseits aber auch veränderbare Aspekte wie die Qualität des pädagogischen Angebots, die konzeptionelle Ausrichtung auf die Schülerklientel sowie das konkrete Management von Anund Abwesenheit in der Einrichtung (vgl. Collins, 1998; Gullat & Lemoine, 1997; Ricking, 2006). Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang ältere Forschungsergebnisse von Rutter, Manham, Mortimore und Ouston (1980). Hartke (2005) fasst die Ergebnisse dieser Studie wie folgt zusammen: „Schulen, in denen ein Klima der Kooperation zwischen Lehrkräften und zwischen Lehrkräften und Schülern herrscht, in denen Lehrer die Unterrichtszeit für schulisches Lernen nutzen, positive Leistungen gefordert und beachtet sowie Schüler in die Verantwor- 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 8 Prävention und Intervention in Schulen Schulabsentismus ist nicht nur ein schulisches Problem, doch die Forschungsergebnisse zeigen deutlich auf, dass Schulen im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Anwesenheit und die Teilhabe von Schülern deutlich beeinflussen und angesichts der extrem negativen Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihren Beitrag dazu leisten können, illegitime Schulversäumnisse zu minimieren (Collins, 1998; Ricking, 2006; Schultz, 1987). Die Verbesserung der jetzigen Situation erfordert intensive wissenschaftliche wie praktisch-pädagogische Anstrengungen und eine eindeutige Zielausrichtung: Eine niedrige Fehlquote muss als wesentliches Qualitätskriterium für Schulen betrachtet werden (Mutzeck, Popp, Franzke & Oehme, 2004; Ricking, Thimm & Kastirke, 2004). Auch vor dem Hintergrund notwendiger Integrationsprozesse ist es Aufgabe der Schule, randständige Schüler wirksam einzubinden und so die Anwesenheit und innere Teilhabe am Unterricht zu fördern. Hier findet sich der eigentliche pädagogische Ansatzpunkt, denn es geht nicht allein um physische Anwesenheit, sondern darum, den Kindern durch positiv erlebte Beziehungen und eine stimulierende Umgebung Lernund Entwicklungsprozesse zu ermöglichen (Kastirke & Ricking, 2004; Reid, 2003). Zur Frage schulischer Handlungsmöglichkeiten liegen einige Konzeptentwürfe vor, nur wenige sind in kleinem Rahmen zumeist unter spezifischen Bedingungen evaluiert (Michel, 2005; Mutzeck et al., 2004; Ricking, 2006). Fachwissenschaftlich ist der Evidenznachweis der entwickelten Konzepte und Programme unentbehrlich. Es ist der Frage nachzugehen, ob ein abgestimmtes Konzept in praxi zu einer signifikanten Verringerung des Absentismusaufkommens, zu einer höheren schulischen Partizipation sowie zu einer höheren Schulzufriedenheit bei den Schülern führt. Die wissenschaftliche Aufgabenstellung, theoretisch fundiertes Praxiswissen bereit zu stellen, ist in noch erheblichem Maße zu leisten. Nach eingehender Analyse der einschlägigen Forschungsliteratur und vor dem Hintergrund von Zielperspektiven werden von Ricking et al. (2004) pädagogische Standards formuliert, die zur Minderung von Schulabsentismus beitragen und darüber hinaus positive Wirkungen in Schulen freisetzen. Dabei werden die bedeutsamen Ebenen Klasse, Schule und System angesprochen (vgl. Ricking, 2007). Ebene Klasse Durch ihr Handeln sollten Lehrkräfte klar vermitteln, dass sie nicht bereit sind, Schulabsentismus zu dulden. Die grundlegende Haltung der Pädagogen den Schülern gegenüber, jedes Kind der Lerngruppe als wichtiges Element im System zu betrachten, ist von elementarer Bedeutung. Daher sollte, um Lern- und Gewöhnungsprozesse zu vermeiden, auf unerlaubtes Fehlen ohne Zeitverzug eine Reaktion der Schule folgen, wie beispielsweise ein Telefonat mit den Erziehungsberechtigten oder den Schüler zu Hause aufzusuchen, anzusprechen und abzuholen. Das frühe Kontaktieren und das Halten der Verbindung ist eine entscheidende Bedingung für geeignete pädagogische Maßnahmen. Der Schüler gleitet nicht aus dem Blick, bleibt im Focus und eine Begleitung des Reintegrati- 8 onsprozesses ist möglich. Durch ein derartiges Vorgehen unterstreicht die Schule die Bedeutung, die sie der Anwesenheit jedes einzelnen Schülers zumisst und signalisiert gleichzeitig ihre Problemkenntnis sowie hierzu eine klare Haltung (vgl. Ricking, 2007). Schüler mit schulischem Meidungsverhalten benötigen schulische Erfolge und angemessene fachliche Unterstützung. Dabei ist an unterrichtliche Maßnahmen der Differenzierung zu denken, individualisierte Bewertungsmodalitäten (z. B. Nutzung der individuellen Bezugsnorm, kurzfristige Rückmeldung per Feedback-Bogen) oder auch an Optionen intensiver Kleingruppen- und Einzelförderung (vgl. Ricking, 2006). Ebene Schule Voraussetzung für eine wirksame Prävention und Intervention in der Ebene Schule sind eine Schulleitung und ein Kollegium, die die komplexe Genese von Schulabsentismus und damit auch schulische Faktoren berücksichtigen und mit dem Ziel arbeiten die Anwesenheit und Partizipation von Schülern zu verbessern bzw. auf einem hohen Niveau zu stabilisieren. Es ist vor diesem Hintergrund bedeutsam den Kenntnisstand im Kollegium sowie die praktische Handlungskompetenz zu erhöhen. Das Thema Schulabsentismus ist weitaus deutlicher als bisher in Ausund Fortbildung zu verankern. Überdies kann es sehr vorteilhaft sein, eine Lehrkraft aus dem Kollegium, die sich intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt hat und über Beratungskompetenz verfügt, als Experten aufzubauen. Angesichts der erheblichen Dunkelziffer nicht entdeckter Fehlzeiten ist ein Augenmerk auf die Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung von Schulabsentismus zu legen (Wilmers & Greve, 2002). Bei der Aufnahme und Interpretation von Daten zur Anund Abwesenheit handelt es sich um eine zentrale Prämisse illegitimen Versäumnissen vorzubeugen. Aus den Analysen dieser Daten lassen sich relevante Informationen über Bedingungsfelder und Entwicklungen ableiten und mit weiteren Kenntnissen verknüpfen, sodass Zusammenhänge über das Zustandekommen der Fehlzeiten erkennbar werden. Differenzierte Informationen ermöglichen so Erkenntnisse über das Ausmaß und die Verteilung in einer Schule, des Prozentsatzes von Fehlstunden in einem definierten Zeitabschnitt (Fehlquote), der Dauer einzelner Versäumnisphasen (z. B. schwerpunktmäßig stunden-, tage- oder wochenweise) und der Verteilung der Fehlzeiten auf Klassen und Jahrgänge (Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007). Eine weitere Prämisse für gelingende Lernprozesse und eine gesunde psycho-soziale Entwicklung ist das Gefühl von Sicherheit und des Angenommenseins in der Schule. Diese sind gefährdet durch gewaltförmige Interaktionsprozesse oder durch das längerfristige subtile Bedrohen und Erniedrigen einzelner Personen, die dann angstbesetzte Situationen in der Schule (z.B. unbeaufsichtigte Schulwege, Gänge, Schulhöfe) meiden. Insofern sollten Lehrkräfte darüber hinaus erste Anzeichen von Mobbing erkennen und geeignete Maßnahmen ergreifen (Alsacker, 2003). Ebene System Eine enge Kooperation zwischen den beiden zentralen Bezugssystemen des Schülers – Elternhaus und Schule – gilt als eines der effektivsten Mittel zur Absentismusprävention und -intervention. Studien weisen darauf hin, dass gezielte Rückmeldungen an die Erziehungsberechtigten positive Effekte auf den Schulbesuch zeitigen (Reid, 1999). Eltern und Lehrkräfte sollten Vereinbarungen treffen, die den gegenseitigen Austausch strukturieren und so die Basis schaffen für eine gesicherte und verbindliche Interaktion (vgl. Schultz, Jacobs & Schulze, 2006). Es ist hilfreich ein Rückmeldesystem zu installieren, das nach festen Regeln für einen optimalen Informationsstand auf allen Seiten sorgt. Regelmäßige Telefonate, E-Mail-Kontakte oder Notizen im Mitteilungsheft haben sich als geeignete Mittel im schulischen Alltag erwiesen. Dabei sollten im Sinne der vielfach notwendigen Verstärkung von zielannäherndem Verhalten Entwicklungsfortschritte betont werden wie eine höhere Anwesenheitsquote oder eine verbesserte Unterrichtsbeteiligung. Sind die schulischen Möglichkeiten ausgeschöpft und der Schüler zeigt weiterhin große Schwierigkeiten die Schule regelmäßig zu besuchen, ist zusätzliche Unterstützung angezeigt. Im Sinne der Förderung der betroffenen Schüler ist es geboten, dass sich Schulen vernetzen, weitere außerschulische Kompetenzen 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN nutzen und entsprechend in ein lebendes System professioneller Hilfen eingebunden sind. Maßnahmen im Kontext von Schulabsentismus basieren häufig auf der Kooperation von Jugendhilfe und Schule (Thimm, 2000; Schulze & Wittrock, 2004). Interventionskonzepte In der anglo-amerikanischen Literatur werden bereits erprobte Präventions- und Interventionsprogramme empfohlen, bei denen in zumeist behavioral-kognitiv orientierten Ansätzen vorübergehend externe Verstärker systematisch eingesetzt werden, um Lernverhalten und Anwesenheit zu fördern (Bell, Rosén & Dynlacht, 1994; Cobb, Sample, Alwell & Johns, 2005). Insbesondere Schulschwänzer benötigen mehr Kontakte zu bzw. Beziehungsangebote von Pädagogen, eine engere Führung und mehr Aufsicht als die Schule üblicherweise bietet. So beinhalten viele Programme Anteile von Kontrolle und Verstärkung des Zielverhaltens im Rahmen eines Verhaltensvertrages (Eastwold, 1989; Evelo, Sinclair, Hurley, Christenson & Thurlow, 1996). Das Programm „Check & Connect“ von Evelo, Sinclair, Hurley, Christenson & Thurlow (1996) richtet sich an Pädagogen, die mit Schülern arbeiten, die von schulischer Desintegration bedroht sind, bereits deutlich Schulversäumnisse aufweisen oder kurz vor dem Schulabbruch (Dropout) stehen. Es geht davon aus, dass ein multimodaler Ansatz nötig ist, um das Ziel der besseren Selbststeuerung des Schulbesuchsverhaltens zu erreichen und weist dazu zwei zentrale Komponenten aus: „Check“ und „Connect“. „Check“ ist ein Instrument der regelmäßigen Dokumentation des Engagement sowie die Risikoindikatoren (Verspätungen, Fehlen, Suspendierung vom Unterricht, Disziplinarmaßnahmen) eines Schülers durch einen Beobachtungsbogen. Dadurch lässt sich ein differenziertes Bild über die Häufigkeit und Struktur des Verhaltens erstellen, das in der Folge mit dem Schüler selbst, den Eltern und weiteren Fachkräften erörtert wird (Sinclair, Christenson, Evelo & Hurley, 1998). Die zweite Komponente „Connect“ dient in einem abgestuften Prozess der Beratung und Beziehungsgestaltung zwischen Pädagogen und Heranwachsenden und bietet systematisches Feedback und Verstärkung erwünschten Verhaltens im schulischen Kontext. In gezielten Gesprächen werden die dokumentierten Beobachtungen diskutiert, den Schülern wie deren Eltern wird die Bedeutung des Schulbesuchs und – abschlusses verdeutlicht und das weitere Vorgehen geplant. Darauf aufbauend schafft ein spezifisches Problemlösetraining einen Rahmen, individualisiert alltägliche Probleme zu bearbeiten und zu lösen. Für Schüler mit massiven Schulbesuchsproblemen erhöht sich durch spezifische Maßnahmen die Intensität und der Grad der Individualisierung der Intervention (z. B. morgendliche Anrufe in der Familie, Hausbesuche, Bereitstellung von Lernunterstützung). Evaluationen des Programms bestätigen die Abnahme von Schulabsentismus und Dropout, einen positiven Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler und eine Zunahme der Schulabschlüsse (Lehr, Sinclair & Christenson, 2004; Hammond, Linton, Smink & Drew, 2007). Ein weiteres empfehlenswertes Programm ist das sog. Ampelsystem, das in einer Schule wertvolle Dienste zur Verbesserung der Anwesenheitsquote leisten kann. Es handelt sich dabei um das „traffic lights (TL) scheme“ nach Reid (2003) und bietet ein proaktives, gestuftes Handlungsmuster, das die Reaktionsweise von Lehrkräften in Abhängigkeit von der eingeschätzten Problemintensität des Schulbesuchsverhaltens ausrichtet. Schüler werden nach Anwesenheitsquote vier Gruppen (rot: Anwesenheit <70 %; blau zwischen 71 und 84 %; gelb zwischen 85 und 95 %; grün über 96 %) zugeordnet, können entsprechend ihrem Schulbesuchsverhalten zwischen den Gruppen wechseln und sollen sich in Richtung grün orientieren. Es bedingt die fortlaufende Beobachtung und enge Begleitung der Schüler im Reintegrationsprozess und schafft eine Verbindung zu angemessenen Interventionsmustern, z. B. zeitnahe Reaktion der Schule, systematische Beratung von Schülern und deren Bezugspersonen bei erhöhten Risiken schulischen Scheiterns, Problemen und Konflikten, insbesondere bei Anzeichen von Unterrichtsbzw. Schulaversion, Einbeziehen von sozialpädagogischen Fachkräften mit der Schule kooperierender Jugendhilfeträger oder auch in Abstimmung und Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Jugendhilfe wie dem ASD und der Erziehungsberatung. 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 9 9 Autor: PD Dr. Heinrich Ricking Universität Oldenburg F 1 – Sonder- und Rehabilitationspädagogik 26111 Oldenburg [email protected] Literatur Alsacker, F. (2003). Quälgeister und ihre Opfer: Mobbing unter Kindern – und wie man damit umgeht. Bern: Huber. Anderson, A. R., Christenson, S. L., Sinclair, M. F., & Lehr, C. A. (2004). Check & Connect: The importance of relationships for promoting engagement with school. Journal of School Psychology, 42, 2, 95113. Beekhoven, S. & Dekkers, H. (2005). The Influence of Participation, Identification, and Parental Resources on the Early School Leaving of Boys in the Lower Educational Track. European Educational Research Journal, 4, 3, 195-207. Bell, A. J., Rosén, L. A. & Dynlacht, D. (1994). Truancy Intervention. The Journal of Research and Development in Education, 27, 203-211. Blagg, N. (1987). School Phobia and its Treatment. London: Croom Helm. Bos, K.T., Ruijters, A.M. & Visscher, A.J. (1990). Truancy, Drop-Out, Class Repeating and their Relation with School Characteristics. Educational Research, 32, 175-185. Cobb, B., Sample, P., Alwell, M. & Johns, N. (2005). Effective Interventions in Dropout Prevention: A Research Synthesis – The Effects of Cognitive-Behavioral Interventions on Dropout for Youth with Disabilities. National Dropout Prevention Center for Students with Disabilities. Collins, D. (1998). Managing Truancy in Schools. London: Cassell. Eastwold, P. (1989). Attendance is important: Combating truancy in the Secondary school. National Association of Secondary School Principals Bulletin, 4, 28-31. Epstein, J.L. & Sheldon, S.B. (2002). Present and accounted for: Improving student attendance through family and community involvement. The Journal of Educational Research, 95, 5, 308-318. Evelo, D., Sinclair, M., Hurley, C., Christenson, S. & Thurlow, M. (1996). Using Check & Connect for Dropout Prevention. Minneapolis: University of Minnesota Farrington, D. (1980): Truancy, Delinquency, the Home, and the School. In L. Hersov & I. Berg (Eds.), Out of School (pp. 49-63). Chichester: Wiley. Fogelman, K., Tibbenham, A., Lambert, L. (1980): Absence from School: Findings from the National Child Developmental Study. In L. Hersov & I. Berg (Eds.), Out of School (pp. 25-48). Chichester: Wiley. Grewe, N. (2005). Absenteeism in European Schools. Münster: Lit. Gullat, D.E. & Lemoine, D.A. (1997). Truancy: What’s a Principal to Do? American Secondary Education, 26, 7-12. Hammond, C., Linton, D., Smink, J., & Drew, S. (2007). Dropout Risk Factors and Exemplary Programs. Clemson, SC: National Dropout Prevention Center. Hartke, B. (2005). Schulische Prävention – welche Maßnahmen haben sich bewährt? In S. Ellinger & M. Wittrock (Hrsg.), Sonderpädagogik in der Regelschule. Konzepte – Forschung – Praxis (11-37). Stuttgart: Kohlhammer. Hibbett, A. & Fogelman, K. (1990). Future lives of truants: Familiy Formation and Health-Related Behaviour. British Journal of Educational Psychology, 60, 171-179. Hildeschmidt, A. (1979). Verbreitung und Bedingungen unregelmäßigen Schulbesuchs. In: Hildeschmidt, A., Meister, H., Sander, A. & Schorr, E. (1979). Unregelmäßiger Schulbesuch. Weinheim: Beltz, 84110 Hillenbrand, C. & Ricking, H. (2011). Schulabbruch: Ursachen – Entwicklung – Prävention. Ergebnisse us-amerikanischer und deutscher Forschungen. Zeitschrift für Pädagogik, 57, 2, 153-172 Jenkins, P.H. (1995). School Delinquency and school commitment. Sociology of Education, 68, 3, 221-239. Kaiser, H. (1983). Schulversäumnisse und Schulangst. Frankfurt: Lang. Kastirke, N. & Ricking, H. (2004). Involvement bei schulaversivem Verhalten – Aspekte bedürfnisorientierter Einbindung von Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zur Partizipation. In H. Schnoor & E. Rohrmann (Hrsg.), Sonderpädagogik: Rückblicke Bestandsaufnahmen Perspektiven (S. 317-324). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kearney, C.A. (2001). School Refusal Behavior in Youth. Washington: APA. Kearney, C.A. (2007). Forms and functions of school refusal behaviour in youth: an empirical analysis of absenteeism severity. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 48, 53-61. Kirsch, B. & Hansen, I. (2002). Schulunlust – ein mögliches Initialsymptom für Schulvermeidung – untersucht an Schülern vor dem Übergang von der 6. zur 7. Klasse. Heilpädagogische Forschung, 53, 2, 58-68. Klauer, K.J. (1963). Das Schulbesuchsverhalten von Volks- und Hilfsschulkindern. Ratingen: Henn. LeCompte, M.D. & Dworkin, A.G. (1991). Giving up on School: Student Dropouts and Teacher Burnouts. Newbury Park: Corwin Press. Lehr, C. A., Sinclair, M. F., & Christenson, S. L. (2004). Addressing student engagement and truancy prevention during the elementary years: A replication study of the Check & Connect model. Journal of Education for Students Placed At Risk, 9, 3, 279-301. Michel, A. (Hrsg.). (2005). Den Schulausstieg verhindern. München: DJI. Mutzeck, W., Popp, K., Franzke, M. & Oehme, A. (2004). Umgang mit Schulverweigerung. Weinheim: Beltz. Overmeyer, S., Schmidt, M.H., Blanz, B. & Lotz, M. (1994). Schulverweigerung. Unterschiede zwischen der sogenannten Schulphobie und der sogenannten Schulangst. pädiatrische praxis, 47, 27-36. Phelps, L., Cox, D. & Bajorek, E. (1992). School Phobia and Separation Anxiety: Diagnostic and Treatment Comparisons. Psychology in the Schools, 29, 384-394. Prichard, C., Cotton, A. & Cox, M. (1992). Truancy and illegal Drug use, and Knowledge of HIV-Infection in 932 14-16-year-old Adolescents. Journal of Adolescence, 15, 1-17. Puhr, K., Knopf, H., Gallschütz, C., Häder, K. & Müller, A. (2001). Pädagogisch-psychologische Analysen zum Schulabsentismus. Halle: druck-zuck. Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (2007). Konzept gegen Schulabsentismus. Kiel. Reid, K. (1999). Truancy and Schools. London: Routledge. Reid, K. (2002). Truancy: Short and long-terms solutions. London: Routledge. Reid, K. (2003). Strategic Approaches to Tackling School Absenteeism and Truancy: the traffic lights (TL) scheme. Educational Review, 3, 305-321. Ricking, H. (2003). Schulabsentismus als Forschungsgegenstand. Oldenburg: BIS. Ricking, H. (2006). Wenn Schüler dem Unterricht fernbleiben. Schulabsentismus als pädagogische Herausforderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Ricking, H. (2007). Bausteine der schulischen Prävention und frühen Intervention bei Schulabsentismus. Zeitschrift für Heilpädagogik, 58, 2, 42-50. Ricking, H. (2008). Schulabsentismusprävention. In J. Borchert, B. Hartke & P. Jogschies (Hrsg.), Frühe Förderung entwicklungsauffälliger Kinder und Jugendlicher (S. 235-247). Stuttgart: Kohlhammer Ricking, H., Thimm K. & Kastirke, N. (2004). Schulische Qualitätsstandards bei Schulabsentismus. In Herz, B., Puhr, K. & Ricking, H. (Hrsg.), Problem Schulabsentismus – Wege zurück in die Schule (S. 241-253). Bad Heilbrunn: Klinkhardt Ricking, H., Schulze, G. & Wittrock, M. (2009). Schulabsentismus und Dropout: Strukturen eines Forschungsfeldes. In H. Ricking, M. Wittrock & G. Schulze (Hrsg.), Schulabsentismus und Dropout. Erscheinungsformen Erklärungsansätze Intervention (S. 13-48). Paderborn: Schöningh (UTB) Rosenthal, B.S. (1998). Nonschool correlates of dropout: An integrative review of the literature. Children and Youth Services Review, 20, 5, 413-433. Rumberger, R.W. (1995). Dropping out of middle school: A multilevel analysis of students and schools. American Educational Research Journal, 32, 3, 583-625. Rutter, M., Maughan, B., Mortimer, P. & Ouston, J. (1980). Fünfzehntausend Stunden. Weinheim: Beltz. Schreiber-Kittl, M. & Schröpfer, H. (2002). Abgeschrieben? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über Schulverweigerer. München: Deutsches Jugendinstitut. Schultz, R. (1987). Truancy: Issues and Interventions. Behavioral Disorders, 12, 117-130. Schultz, A., Jacobs, G., Schulze, G. (2006). Kooperation zwischen Familien und Schulen bei drohendem Schulabsentismus im Übergang Schule/Beruf. Zeitschrift für Heilpädagogik, 57, 9, 332-344. Schulze, G. & Wittrock, M. (2005). Wenn Kinder nicht mehr in die Schule wollen. In: S. Ellinger & M. Wittrock (Hrsg.). Sonderpädagogik in der Regelschule. Stuttgart: Kohlhammer, 121-138 Schulze, G. & Wittrock, M. (2000). Schulaversives Verhalten. Abschlussbericht zum Landesforschungsprojekt. Universität Rostock. Schulze, G. & Wittrock, M. (2004). Unterrichtsabsentismus – Ein pädagogisches Thema im Schnittfeld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 73, 3, 282-290. Sinclair, M. F., Christenson, S. L., Evelo, D. L., & Hurley, C. M. (1998). Dropout prevention for youth with disabilities: Efficacy of a sustained school engagement procedure. Exceptional Children, 65, 7–21. Stamm, M. (2007). Schulabsentismus. Eine unterschätzte pädagogische Herausforderung. Die Deutsche Schule, 99, 1, 50-61. Thimm, K. (2000). Schulverweigerung. Zur Begründung eines neuen Verhältnisses von Sozialpädagogik und Schule. Münster: Votum. Wagner, M., Dunkake, I. & Weiß, B. (2004). Schulverweigerung. Empirische Analysen zum abweichenden Verhalten von Schülern. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3, 457-489. Wilmers, N. & Greve, W. (2002). Schwänzen als Problem. Report Psychologie, 27, 7, 404-413. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 10 Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen Suizid in der Literatur –Thomas Chatterton (1752-1770) –Werther (Goethe) nach Karl Wilhelm Jerusalem –Unterm Rad (Hesse 1903) –Der Schüler Gerber (1930 Torberg) –Die Verwirrungen des Zöglings Törless (Musil 1906) –Anna Karenina (Tolstoi) etc. –Automutilation – Selbstschädigung ohne suizidale Intention –Suizidversuch – Handlung mit suizidaler Intention ohne tödlichen Ausgang –Suizid – Handlung mit suizidaler Intention und tödlichem Ausgang –(Parasuizid) Nicht zur Suizidalität zählen –Riskanter Lebensstil –Extremsportarten –Anorexie, Adipositas … –Schädlicher Substanzgebrauch –Selbstmordkommando und politischer Suizid –Terminologie –Erweiterter Suizid –Suizidpakt, Partner-, Doppelsuizid –Peer-suicide, cyber-suicide –Suicide by cop, Amok –Massensuizid –Bilanzsuizid –Antizipatorischer Suizid Neuer Gliederungsvorschlag (Lester 2010) – A Suizide – B autodestruktiv-dysfunktionales Verhalten: suizidale Gedanken, ­Affekte, selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche Problematik allgemeiner suizidpräventiver Empfehlungen –Fehlende Altersspezifik –Fehlende Störungsspezifik –„eminence based“ statt „evidence based“ –Schematisches statt gezieltes Vorgehen Ziel –Leicht anwendbare –Leicht akzeptierbare (von Patienten und Mitarbeitern) –Wirksame –Durch andere Verfahren ergänzbare –individuell gestaltbare Psychotherapieverfahren Medikation Therapeutische Intervention bei akuter Suizidgefährdung kann auch eine Medikation erfordern: Tranquillanzien Niedrigpotente Neuroleptika Antidepressiva sind keine Notfallmedikamente Die größte Herausforderung im stationären Bereich –Wiederholte, frequente Suizidversuche –Borderline-Struktur –Geringe Motivation für Pädagogik oder klassische Psychotherapie –Geringe Motivation für Psychopharmakologie –Aggravation im stationären Milieu Prof. Dr. med. Hellmuth Braun-Scharm, LMU [email protected] Altersschwerpunkte Im Kindesalter nahezu keine Suizidversuche oder Suizide. Im Jugendalter zahlreiche Suizidversuche, vor allem bei Mädchen. Sowie Zunahme der Suizide, vor allem bei Jungen. Ungarisches Muster Suizidversuchsrate (SVR): wesentlich höher als Suizidrate, am höchsten in der Adoleszenz, kontinuierlich abnehmend, 2-3 mal häufiger beim weibl. Geschlecht. Suizidrate (SR): wesentlich höher als SVR, am höchsten im Alter, kontinuierlich zunehmend, 2-3 mal häufiger beim männl. Geschlecht. Ursachen der Suizidalität: –Familiäre Belastungen –Streit, Gewalt, Abwertung, Trennung, Tod … –Sonstige psychosoziale Belastungen: Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit, Drogen … –Psychische Störungen Prognose der Suizidalität Als ungünstige Faktoren gelten: –Harte Suizidmethoden –Ernsthaftigkeit und genaue Planung –Wiederholte Suizidversuche –Anhaltende Belastungen –Schwere psychiatrische Störungen –Männliches Geschlecht –Höheres Alter Epidemiologie/Suizide –1970/80: Suizidmaximum 20 000/Jahr –Seitdem deutliche Abnahme und Plateau in den letzen Jahren –Aktuell 2010: 10 021 Suizide –Jugendliche bis 20 Jahre: 189 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 10 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 11 Autismus-Spektrum-Störungen Ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand Einleitung Der Begriff „Autismus“ wurde im Jahr 1911 von dem Psychiater Bleuler als medizinischer Fachbegriff geprägt und dem Bereich der schizophrenen Erkrankungen zugeordnet. Nach Bleuler sind autistische Verhaltensweisen dadurch gekennzeichnet, dass bei den betreffenden Personen Kontaktschwierigkeiten und Rückzugstendenzen sowie Störungen des Realitätsbezugs bestehen. Im Jahr 1943 berichtete der amerikanische Kinderpsychiater Kanner über 11 Kinder, die deutliche Auffälligkeiten in der Sprache und der Kommunikation zeigten. Diese Kinder hatten auch massive Kontaktund Beziehungsstörungen. „The outstanding, ‚pathognomonic‘ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life.“ Kanner vermutete, dass es sich um eine angeborene Störung im Bereich des affektiven Kontakts handelt. „We must, then, assume that these children have come into the world with innate inability to form the usual, biologically provided affective contact with people, just as other children come into theworld with innate physical or intellectual handicaps“ [1]. Klassifikation und Symptomatik Die Diagnose einer autistischen Störung beruht auf der Beschreibung des Verhaltens. Seit der Arbeit von Wing und Gould [4] werden autistische Verhaltensweisen in 3 Kernbereiche gegliedert, die oft als klassische Trias bezeichnet werden. Diese Triade ist charakterisiert durch das Vorhandensein von qualitativen Beeinträchtigungen im Bereich der sozialen Interaktion und der Kommunikation sowie durch eingeschränkte, sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten [4]. Die Kategorie der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen umfasst verschiedene Subgruppen (Tab. 1). Entsprechend dem aktuellen Forschungsstand werden der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Asperger-Syndrom (F84.5), die nicht näher bezeichnete (F84.9) und sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.8) unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst und somit von den anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem RettSyndrom (F84.2), der desintegrativen Störung (F84.3) oder der überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) abgegrenzt. In seiner 1944 veröffentlichten Habilitationsschrift beschrieb Asperger eine Reihe von Kindern im Alter von 6–11 Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer erheblichen Störung der Beziehung zu anderen Menschen und im sozialen Kontakt bestand. Es waren fast ausschließlich Jungen betroffen, die meist normal oder hoch begabt waren, einige hatten zudem eine Sonderbegabung. Asperger beschrieb das Auftreten von auffälligen Persönlichkeiten in den Familien. Auch er ging von einer Vererbung aus. „Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden“ [2]. Die einzelnen Verhaltensweisen, die zu den 3 Kernbereichen gehören, sind in Tab. 2 – 4 und Abb. 1 – 3 dargestellt. Für die verschiedenen Diagnosen/Subtypen innerhalb des autistischen Spektrums müssen unterschiedliche Schweregrade und Zusammensetzungen von Symptomen aus dem Kernbereich sowie bestimmte Entwicklungsaspekte vorliegen. Der frühkindliche Autismus (F84.0) gilt als Prototyp der ASS, alle anderen ASS zeigen wesentliche phänotypische Überschneidungen mit dem frühkindlichen Autismus; deren Definitionen in der ICD-10 können als Varianten des frühkindlichen Autismus verstanden werden. In der vorläufigen Fassung des DSM-V wird der Begriff „Autismus-Spektrum-Störungen“ offiziell in die Klassifikation aufgenommen und die Einteilung in die verschiedenen Subtypen aufgelöst. Da Aspergers Arbeit lange ignoriert wurde, orientierte sich die Forschung um das diagnostische Konzept „Autismus“ erst einmal an Kanners Arbeit. Die Schwere der autistischen Störung ließ zunächst vermuten, dass es sich um eine sehr früh beginnende Form der Schizophrenie handele. Deshalb wurde in der ICD_9 der Autismus nahe an den Psychosen klassifiziert. Die Studien von Rutter [3] zeigten aber deutlich, dass Autismus eine eigenständige nosologische Entität ist. Diese Feststellung bildete die Basis für die Einführung der Kategorie „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ in der ICD-10 (ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und im DSM-IV (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), in dem alle Formen der autistischen Störungen klassifiziert werden. Für die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ (F84.0) gelten folgenden Kriterien: –Von den insgesamt 12 aufgelisteten Symptomen der 3 Kernbereiche müssen mindestens 6 vorhanden sein, davon mindestens 2 aus dem Bereich sozialer Interaktion und mindestens je 1 Symptom aus den Bereichen Sprache/Kommunikation, Stereotypien und Sonderinteressen. 1979 führten Wing und Gould [4] eine epidemiologische Untersuchung durch, in der sie Kinder erfassten, die ein auffälliges Sozialverhalten zeigten. Sie beschrieben eine Gruppe von Kindern, die nicht dem typischen frühkindlichen Autismus zugerechnet werden konnten, die aber klinisch so auffällig waren, dass eine psychiatrische Diagnose gerechtfertigt erschien. Sie sprachen von einem autistischen Spektrum. Dies führte in den Klassifikationen zu der Untergruppe des atypischen Autismus (ICD-10) und zum „Pervasive Developmental Disorder Not Otherwise Specified“ (PDDNOS; DSM-IV) [5–6]. Tiefgreifende Entwicklungsstörung (TE) Autismus-SpektrumStörungen (ASS) F84.0 F84.5 F84.1 F84.8 F84.9 frühkindlicher Autismus Asperger-Syndrom atypischer Autismus sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung Andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen F84.2 F84.3 F84.4 Rett-Syndrom desintegrative Störung überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Stereotypien Tabelle 2 Qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion. Tiefgreifende Entwicklungsstörung (TE) Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z. B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären) Geplante DSM-V-Änderungen Folgende Änderungen werden voraussichtlich im DSM-V vorgenommen (Quelle: http://www.dsmr.org): – Autismus-Spektrum-Störungen. Zusammengefasst werden: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, desintegrative Störungen, atypischer Autismus und nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung – Statt der klassischen Trias werden 2 Kernbereiche definiert: – qualitative Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation – repetitive Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen – Beginn der Störung: Symptome müssen in der frühen Kindheit vorhanden sein – zusätzliche Codes für Komorbiditäten (Sprachstörung, Regression, Intelligenzminderung) – Schweregradeinteilung ist vorgesehen –Eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung (Verzögerung in der Sprachentwicklung, Auffälligkeiten im Spielverhalten) muss bereits vor dem 3. Lebensjahr erkennbar sein. –Das klinische Erscheinungsbild kann nicht durch andere psychische Störungen (z. B. Psychosen, elektiver Mutismus, Zwangsstörungen) erklärt werden. Bei der genauen Betrachtung der aufgeführten Merkmale fällt auf, dass die Symptomkonstellation sehr unterschiedlich sein kann und somit das klinische Erscheinungsbild von ASS sehr variabel ist: Einige Kinder sind sehr zurückgezogen (Abb. 1a), verwenden kaum aktive Sprache und zeigen viele motorische Stereotypien. Andere Kinder suchen auf eine eigenartige, teilweise distanzlose Art aktiv Kontakt (Abb. 1c), sind verbal auffällig geschickt, im Ausdruck aber pedantisch, floskelhaft und wenig kommunikativ, sie zeigen zwanghafte Verhaltensweisen oder spezielle Sonderinteressen. Eine dritte Gruppe verhält sich im Kontakt eher passiv (Abb. 1b). Das Asperger-Syndrom (F84.5) ist, wie der frühkindliche Autismus, gekennzeichnet durch eine Störung der sozialen Interaktion, durch eingeschränkte, sehr umschriebene Interessen und stereotype Verhaltensweisen. Als obligates Kriterium wird eine normale frühe Sprachentwicklung verlangt. Darüber hinaus wird definitorisch festgelegt, dass das adaptive Verhalten und die Neugierde an der Umgebung in den ersten 3 Jahren einer normalen Entwicklung entsprechen müssen. Es wird zurzeit diskutiert, inwieweit es sich beim Asperger-Syndrom tatsächlich um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Nachdem die Evidenz bis jetzt nicht für eine valide nosologische Abgrenzung reicht, erscheint die im DSM-V vorgeschlagene Klassifikation in einer zusammenfassenden Kategorie „Autismus-Spektrum-Störungen“ sinnvoll. 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 11 Tabelle 1 Klassifikation tiefgreifender Entwicklungsstörungen. Tabelle 3 Qualitative Beeinträchtigung der Sprache und der Kommunikation. Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend fehlendes kommunikatives Geplapper) Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten, bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder sozialen Imitationsspielen Tabelle 4 Eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln Zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale Stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z. B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder Vibration) 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 a b ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN c Abb. 1 a bis c Formen der Kontaktstörung (vgl. Tab. 2). Abb. 2 a und b Das Kind spricht unablässig über ein Thema, es entsteht keine aufeinander bezogene Kommunikation (vgl. Tab. 3). Die diagnostischen Kriterien des atypischen Autismus (F84.1) entsprechen den Kriterien des Autismus (F84.0), jedoch ist das Manifestationsalter verspätet (nach dem 3. Lebensjahr) und/oder einer der 3 Kernbereiche bleibt unauffällig. Die Diagnose einer nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung ist ähnlich, aber noch vager definiert. In der Regel wird diese Diagnose vergeben, wenn Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion vorliegen und die Kriterien für einen der beiden anderen Bereiche erfüllt sind. Das Rett-Syndrom kommt fast ausschließlich bei Mädchen vor. Die Inzidenz wird mit 1:10000 bis 1:15000 angegeben, ist aufgrund der Varianz des klinischen Phänotyps jedoch möglicherweise höher zu vermuten. Ursache des Rett-Syndroms sind Mutationen und Deletionen im MECP2-Gen (Methyl-CpGbinding Protein 2), das auf dem Langarm des XChromosoms in Position q28 lokalisiert ist. Das nahezu ausschließliche Auftreten bei Mädchen lässt sich durch eine X-chromosomal dominante Vererbung erklären, bei der die Mutation im männlichen Geschlecht (mit nur einem X-Chromosom) in der Regel einen Letalfaktor darstellt. Es kommt zu einem Stillstand der bis dahin normalen Entwicklung zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat und danach zu zunehmendem Verlust des Handgebrauchs, der Sprache und der Lokomotion. Die mit abnehmender Handfunktion klassischerweise in Erscheinung tretenden reibenden, wringenden Handbewegungen und ein fast zwanghaft erscheinendes, stereotypes Lutschen oder Beißen an den Händen, sobald die Arme nicht zur Stützfunktion eingesetzt werden oder der Mund nicht mit Schnuller besetzt ist, geben diesem Verhalten einen charakteristischen, fast syndromspezifischen Wiedererkennungswert. Die anderen desintegrativen Störungen des Kindesalters sind gekennzeichnet durch eine Phase einer eindeutig normalen Entwicklung bis zum 3. Lebensjahr, gefolgt von einem relativ schnellen Abbau der erworbenen Fähigkeiten in der Sprache, im Spiel, im sozialen Kontakt und in lebenspraktischen Fertigkeiten. Das klinische Bild ähnelt später dem des frühkindlichen Autismus in Kombination mit einer schweren geistigen Behinderung. Die überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien wird bereits in der ICD-10 als eine schlecht definierte Störung mit fraglicher Validität beschrieben. Es handelt sich um Patienten mit einer schweren Intelligenzminderung (IQ < 35), einer ausgeprägten Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Variabilität der ASS Die große phänotypische Variabilität der ASS ist unzureichend bekannt und mitverantwortlich für eine verzögerte Früherkennung. Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen Neben der Kernsymptomatik zeigen Personen mit ASS häufig eine große Zahl verschiedener Begleitsymptome. Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören weitere Entwicklungsstörungen (z. B. motorische Störungen, Sprachstörungen, Intelligenzminderungen), neurologische (z. B. Epilepsien), somatische und genetische/ chromosomale Erkrankungen und das gleichzeitige Vorliegen von psychiatrischen Symptomen, die nicht zur Kernproblematik der autisti- 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 12 12 Abb. 3 a und b Das Kind zeigt bizarre Verhaltensweisen (a) und bewegt Gegenstände stereotyp (z. B. Drehen wie ein Kreisel) (b) (vgl. Tab. 4). Tabelle 5 Komorbidität und Differenzialdiagnose im Überblick. Alter Komorbidität Differenzialdiagnose Vorschulalter Schlaf- und Essstörungen, Regulationsstörungen, allgemeine Unruhe Bindungsstörungen allgemeine Entwicklungsverzögerung (Sprache, Motorik, Spiel) i. S. einer Intelligenzminderung Intelligenzminderung ohne ASS, genetisch-somatische Erkrankungen Intelligenzminderung mit spezifischen neurologischen Symptomen oder genetischen Syndromen (Epilepsie, Zerebralparese, Fragiles-X-Syndrom, tuberöse Sklerose, Makro- oder Mikrozephalie) spezifische genetische Syndrome ohne ASS, Epilepsiesyndrome ohne ASS, Sinnesbeeinträchtigungen (v. a. Höroder Sehstörungen) Regression desintegrative Störung, Rett-Syndrom, neurologische Erkrankungen, Landau-Kleffner-Syndrom autoaggressives, aggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen oppositionelle Störung, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Intelligenzminderung Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, oppositionelles Verhalten ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Mutismus Lernstörungen umschriebene Sprachentwicklungsstörung, Intelligenzminderung/Lernbehinderung Ticstörungen Tourette-Syndrom Ängste, Depression oder Zwänge, Essstörungen Angststörung, Phobien, Zwangsstörung, Anorexia nervosa, Persönlichkeitsstörungen akute Belastungsreaktionen bei jahrelang bestehender kognitiver/sozialer Überforderung (schizophrene) Psychosen, psychotische Episoden, bipolare Störungen Schulalter Jugendalter/ Erwachsenalter schen Störungen gehören (z. B. hyperkinetische Symptome, Angststörungen, depressive Verstimmungen). Die wichtigsten Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen sind in Tab. 5 zusammengefasst [24]. Die Komorbidität zwischen Autismus und einer Intelligenzminderung ist gut dokumentiert. Ging man früher davon aus, dass bei mindestens 80% aller Personen mit einer autistischen Störung ebenfalls eine Intelligenzminderung vorlag, liegen bei neueren Untersuchungen die durchschnittlichen Angaben bei etwa 50% [8]. Allgemein wird angenommen, dass zwischen 5 und 10% der Kinder mit ASS und einer zusätzlichen Intelligenzminderung an einem bekannten genetischen Syndrom erkrankt sind. Man spricht dann von einem „syndromalen Autismus“. Zu den bekanntesten monogen vererbten Syndromen, die im Zusammenhang mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen erwähnt werden, zählen die tuberöse Sklerose, das Fragile-XSyndrom, und das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom. Andere zu erwägende bekannte Syndrome sind durch Mikrodeletionen/-duplikationen bedingt und in ihrem klinischen Bild etwas heterogener, da nicht nur ein Gen betroffen ist: Mikrodeletion 22q11.2, PhelanMcDermid-Syndrom (del 22q13), Angelman-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom (del 15q11–13), SmithMagenis-Syndrom (del 17p11.2) und das Potocki-Lupski-Syndrom (dup17p11.2). Die Häufigkeit des Auftretens dieser Syndrome innerhalb des autistischen Spektrums ist eher gering [9]. Definition der ASS ASS werden als komplexe, neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörungen definiert. Das Vorliegen einer ASS sollte als ein Risikofaktor für das Vorhandensein von weiteren Erkrankungen oder Störungsbildern gewertet werden. Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass bei ASS eine höhere Rate an Epilepsien anzutreffen ist. Je nach Untersuchung liegen die Häufigkeitsangaben zwischen 11 und 39%. In Studien, die auch Personen mit einer schwereren Form der Intelligenzminderung und/oder mit zusätzlichen körperlichen Erkrankungen oder Syndromen einschließen, liegen die Häufigkeitsangaben höher als in Studien, die vor allem Personen mit einem hochfunktionalen Autismus untersuchen. Bezüglich des Manifestationsalters lässt sich eine bimodale Verteilung nachweisen. Der 1. Manifestationsgipfel liegt zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr, der 2. oberhalb des 10. Lebensjahres [10]. Die Komorbidität zwischen Autismus und Epilepsie hat sehr früh zur Postulierung der biologischen Grundlage der ASS geführt. Bis heute gibt es aber keine überzeugende Evidenz, dass epileptische Syndrome oder pathologische EEG-Veränderungen ein wesentlicher ursächlicher Faktor in der Entstehung der ASS sind. Generell wird angenommen, dass die Assoziation zwischen Autismus und Epilepsie indirekt über die zugrunde liegende, gemeinsame Ätiologie der beiden Krankheitsbilder vermittelt wird. Der idiopathische Autismus ist eine komplexe Entwicklungsstörung des Zentralnervensystems, deren Ursache durch genetische Faktoren bedingt wird, die ebenfalls in der Genese von Epilepsiesyndromen von Bedeutung sein könnten. Kinder mit einer ASS und einer durchschnittlichen Intelligenz können eine Vielzahl von komorbiden psychopathologischen Symptomen/Syndromen zeigen, die ihren Entwicklungsverlauf beeinträchtigen. Im Grundschulalter gehören die typischen Kernsymptome einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (Aufmerksamkeitsdefizite, motorische Unruhe, Impulsivität) zu den am häufigsten erwähnten Begleitsymptomen einer autistischen Störung. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass mindestens 30–80% der Kinder mit ASS die Kriterien einer ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) erfüllen [11]. ASS und ADHD Kinder mit der Diagnose ASS oder ADHD sollten systematisch auf das Vorliegen einer Doppeldiagnose „ASS und ADHD“ untersucht werden. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Insbesondere in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter ist die Depression vor allem beim Asperger-Syndrom eine bedeutende Komorbidität. In dieser Zeit nimmt der Vergleich mit anderen Jugendlichen zu, die Identitätssuche setzt ein, die psychosexuelle Entwicklung beginnt, was häufig zu Krisen führt. Der Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom wird sich seiner Andersartigkeit bewusst, der Wunsch nach sozialem Kontakt und die Anzahl der damit zusammenhängenden Frustrationen steigen. Die Anzahl der Depressionen und Angststörungen nimmt zu, auch die Suizidgefahr steigt in dieser Zeit. Die typischen Symptome einer Depression finden sich in einer deutlich veränderten Stimmungslage, Selbstabwertung, reduziertem Appetit, Schlafstörungen, einer Zunahme von zwanghaftem Verhalten [12]. In den letzten Jahren hat das Auftreten von bipolaren Störungen in der frühen Kindheit und im Jugendalter mehr Aufmerksamkeit bekommen. Einige Studien untersuchen gezielt die Häufigkeit von affektiven Störungen bei Menschen mit ASS. In einer Studie an 44 Menschen mit einer autistischen Störung wurde bei 36,4% der Probanden eine affektive Störung diagnostiziert. Bei 4 Probanden wurde eine depressive Störung festgestellt und bei 12 Patienten eine bipolare Störung. Die Autoren stellen die Hypothese auf, dass eine vergleichbare genetische Vulnerabilität in der Ätiopathogenese von autistischen Störungen und bipolaren Störungen eine Rolle spielen könnte [13]. Verhaltensmerkmale der ASS Kein Verhaltensmerkmal ist pathognomonisch für ASS, jedes Symptomkann auch in annähernd vergleichbarer Form bei anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern vorliegen. Im Vorschulalter müssen ASS differentialdiagnostisch vor allem von sensorischen Beeinträchtigungen (Hör- und Sehstörungen), Sprachentwicklungsstörungen und Intelligenzminderungen ohne ASS abgegrenzt werden. Kinder mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen zeigen vereinzelt Verhaltensweisen, die dem Verhalten autistischer Kinder ähneln. Bei Personen mit Sehbehinderung können der fehlende Blickkontakt, das distanzlose Kontaktverhalten sowie ein besonderes Interesse an akustischen oder sensorischen Reizen an eine ASS denken lassen. Bei hörbeeinträchtigten Personen fallen vor allem Sprachentwicklungsstörungen sowie eine fehlende Reaktion auf Ansprache oder Rückzugsverhalten auf.Wenn die Sinnesbeeinträchtigung im Rahmen einer Mehrfachbehinderung (zusätzliche geistige und/oder körperliche Behinderung) auftritt, können auch vermehrt stereotype Bewegungsmuster und gelegentlich autoaggressive Verhaltensweisen das Erscheinungsbild prägen. Durch genaue Sinnesprüfungen mit subjektiven und vor allem objektiven Verfahren lassen sich Sinnesbeeinträchtigungen meist problemlos von ASS abgrenzen. Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen sind in einem hohen Prozentsatz auch in ihrem Verhalten auffällig. Speziell die rezeptiven Sprachentwicklungsstörungen können zu Problemen in der Differenzialdiagnose führen, da die betroffenen Kinder häufig ein repetitives Spiel und zwanghafte Verhaltensweisen zeigen. Die kommunikativen Fähigkeiten sind aufgrund der schweren Sprachstörung oft sehr eingeschränkt, jedoch durch nonverbale Kommunikationsmittel (Gestik, Mimik) kompensiert. 13 Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit guter kognitiver Entwicklung kann die differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen einem Asperger-Syndrom und einer Persönlichkeitsstörung schwierig sein. Gemäß der ICD-10 wird eine Persönlichkeitsstörung (F60) diagnostiziert, wenn bei einem Individuum rigide und wenig angepasste Verhaltensweisen vorliegen, die eine hohe zeitliche Stabilität aufweisen, situationsübergreifend auftreten und zu persönlichem Leid und/oder gestörter sozialer Funktionsfähigkeit führen. Sie beginnen in der Kindheit und Jugend, nehmen eine lebenslange Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form auf Dauer im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter. Laut ICD-10 ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluss der Pubertät wahrscheinlich unangemessen. Wichtigstes Instrument ist die frühkindliche Anamnese, in der sich die typische Verhaltenskonstellation des Asperger-Syndroms abbildet. Meist fehlt bei den Persönlichkeitsstörungen die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation. Diagnostische Vorgehensweise Trotz des frühen Beginns von ASS wird die Diagnose leider deutlich verspätet gestellt. Bei frühkindlichen autistischen Störungen vom Kanner-Typ (frühkindlicher Autismus mit deutlicher Entwicklungsverzögerung) wird die Diagnose meist um das 6. Lebensjahr, bei autistischen Störungen ohne Entwicklungsverzögerung (sog. hochfunktionalen autistischen Störungen, wie z. B. dem AspergerSyndrom) wird die Diagnose noch später gestellt, um das 12. Lebensjahr [14]. Die diagnostische Einschätzung im frühen Alter ist ein komplexer Prozess, der meist in mehreren Schritten stattfindet. Die in Tab. 6 zusammengefasste Vorgehensweise macht deutlich, dass es sich um einen zeitintensiven und sehr differenzierten Prozess handelt. Es gibt keinen „Labortest“ für den frühkindlichen Autismus. Im Rahmen der Abklärung nehmen neben allgemeinen Verfahren die autismusspezifischen Verfahren eine zentrale Rolle ein. Wenn Eltern wegen Auffälligkeiten beunruhigt sind, ist die erste Anlaufstelle der Kinderarzt. Dort wird aufgrund der Schilderungen der Eltern und durch Beobachtung des Kindes der erste Verdacht auf eine ASS formuliert und mit den Eltern besprochen. Der 2. Schritt besteht in einer Vorstellung des Kindes bei spezialisierten Zentren mit dem Ziel, eine umfassende Diagnostik zu veranlassen. Angaben von Eltern bzw. engsten Bezugspersonen ∏ Fragebogen bis zu 36. Lebensmonat Die Modified Checklist for Autism in Toddlers (MCHAT) ist ein Fragebogen, bestehend aus 23 Ja/ Nein-Fragen zur Früherkennung von ASS imAlter von 24 Monaten. Es gibt keine direkte Beobachtung des Kindes in der Untersuchungssituation. Die Spezifität (Anzahl der richtig erkannten gesunden Kinder) (99%) und die Sensitivität (Anzahl der richtig erkannten Kinder mit ASS) (97%) für die untersuchten Stichproben sind gut. Entsprechend kann der Fragebogen als Screeninginstrument in Praxen eingesetzt werden [15]. Folgt man den Ergebnissen der verschiedenen Studien zur M-CHAT, ergibt sich eine Liste von 6 Symptomen, die als Warnsignale für das Vorliegen einer Störung aus dem autistischen Spektrumzuwerten sind.Wenn mindestens 2 Symptome dieser Liste auffällig sind, sollte eine genaue diagnostische Einschätzung vorgenommen werden (Tab. 7). Die M-CHATund die Anleitung zur Anwendung können auf der Homepage der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Frankfurt abgerufen werden (http://www.klinik.uni-frankfurt.de/ zpsy/kinderpsychiatrie/Downloads/M-CHAT_dt.pdf). ∏ Fragebogen für ältere Kinder Einer der am meisten verwendeten Fragebogen ist der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK), der für Kinder ab dem 36. Lebensmonat eingesetzt werden kann. Der FSK-Fragebogen ist aus dem ADI-R (Autism Diagnostic Interview-Revised) abgeleitet und besteht aus 40 Items, die von den engsten Bezugspersonen des Kindes bewertet werden müssen. Die Durchführung des FSK dauert etwa 20 Minuten. Das Itemformat ist binär („ja/nein“). Die Interpretation des FSK hinsichtlich des Vorliegens einer Störung aus dem autistischen Spektrum wird Alter bei Beginn der Probleme frühe Entwicklungsgeschichte (Kleinkindzeit, Kindergartenzeit) aktuelle Entwicklungen Angaben von Kindergarten, Tagestätte, Schule etc. im Hinblick auf Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und im Verhalten Familienanamnese, insbesondere das Vorhandensein von Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderungen, psychiatrischen Störungen medizinische Anamnese Beobachtung/psychiatrische Evaluation Kernsymptomatik, insbesondere die Art der sozialen Probleme (aloof, passiv oder odd), Vorhandensein von ängstlich-zwanghaftem Verhalten (ADOS-G, ADI-R, SRS, FSK, MBAS) zusätzliche psychiatrische Probleme, insbesondere Aufmerksamkeitsprobleme, Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten oder Angst und Depression im Jugendalter regelmäßige psychiatrische Follow-ups nach der Initialdiagnose Neuropsychologische Evaluation Intelligenzniveau, Profil (Anwendung von mehrdimensionalen Verfahren) Sprache und Kommunikation – Sprachentwicklung auf lexikalischer und syntaktischer Ebene, expressiv und rezeptiv – Sprachentwicklung auf pragmatischer Ebene (Verstehen von Turntaking im Gespräch, später Verstehen von Witz, Humor und Ironie, Doppelbedeutungen etc.) Theory of Mind (Erkennen von Mimik und Emotionen, soziale Situationen) Exekutivfunktionen (Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Handlungsplanung) zentrale Kohärenz adaptives Verhalten, Funktionsniveau im Alltag Medizinische Evaluation 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 13 Einsatz von Fragebögen Fragebögen dienen primär als Screeninginstrument, zum Generieren von Verdachtsdiagnosen. Eine umfassende Diagnostik anhand von Elterninterviews und Beobachtungsskalen kann durch Fragebögen keineswegs ersetzt werden. Tabelle 6 Diagnostische Bausteine bei ASS. Stark vernachlässigte, misshandelte oder deprivierte Kinder können im Querschnittsbild autistischen Kindern sehr ähnlich sein. Hier muss die Vorgeschichte zur Klärung der Diagnose beitragen. Meist tritt bei diesen Kindern eine deutliche Veränderung der Interaktion unter entsprechender Förderung und adäquatem Beziehungsaufbau ein. Ängstliche, zurückgezogene, mutistische, gehemmte oder zwanghafte Kinder können, besonders in der Gruppe, in ihrem sozialen Verhalten an autistische Kinder erinnern. Die Vorgeschichte, das Verhalten in anderen Situationen, insbesondere auch in der Familie, und das Ansprechen auf eine Behandlung sind für die diagnostische Abgrenzung wichtige Faktoren. Fragebögen als Screeninginstrument Fragebogenverfahren haben den Vorteil, dass in kurzer Zeit ohne großen Zeitaufwand auf standardisierte Weise viel Information über ein Kind gewonnen werden kann. Es besteht aber die Gefahr, dass Fragen seitens der Eltern falsch oder gar nicht verstanden werden. Ebenso können bestimmte Probleme aggraviert oder dissimuliert werden. Ausschluss von Hör- und Sehstörungen Stoffwechselscreening entwicklungsneurologische und körperliche Untersuchung EEG (Schlafableitung), evtl. CCT/MRI genetisches Konsil (z. B. Fragiles-X-, Rett-, Angelman-Syndrom, tuberöse Sklerose o. ä.) ADOS-G: Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic; ADI-R: Autism Diagnostic Interview-Revised; SRS: Social Responsiveness Scale; FSK: Fragebogen zur Sozialen Kommunikation; MBAS: Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Tabelle 7 Warnsignale für eine ASS. 1. Das Kind zeigt kein Interesse an anderen Kindern. werden können. Das ADOS-G und das ADI-R sind inzwischen die meistverwendeten Instrumente in der Diagnostik autistischer Störungen. 2. D as Kind benutzt den Zeigefinger nicht, um auf etwas zu zeigen oder um Interesse für etwas zu bekunden (kein protodeklaratives Zeigen). 3. Das Kind bringt keine Gegenstände, um sie den Eltern zu zeigen. 4. Das Kind imitiert die Eltern nicht (z. B. bei Grimassen schneiden). 5. Das Kind reagiert nicht auf seinen Namen, wenn die Eltern es rufen. 6. D as Kind schaut nicht hin, wenn die Eltern auf ein Spielzeug am anderen Ende des Zimmers zeigen. auf der Basis des Summenwerts der „Lebenszeit“-Fassung vorgenommen. Wird der Schwellenwert von 15 erreicht, ist eine Störung aus dem Spektrumwahrscheinlich, wird der Schwellenwert 16 erreicht, so ist die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ im engeren Sinne wahrscheinlich und eine weiterführende Diagnostik indiziert [16]. Die Marburger Beurteilungsskala zum AspergerSyndrom (MBAS) ist ein Fragebogen für Personen zwischen 6 und 24 Jahren mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten. Der Bogen besteht aus 57 Beschreibungen, die auf einer 5-stufigen Skala von einer Bezugsperson eingeschätzt werden sollen (von „niemals“ bis zu „immer“). Es gibt 37 Verhaltensbeschreibungen für das aktuelle Verhalten, 14 Verhaltensbeschreibungen für das 4.–5. Lebensjahr und 6 Fragen zu Sprachbeginn und sprachlichen Auffälligkeiten. Die einschätzende Bezugsperson sollte nach Möglichkeit täglich mit dem Kind/Jugendlichen zusammen sein und mit dem üblichen Verhalten des Betroffenen vertraut sein. Der Gesamtschwellenwert liegt bei 103. Die Verdachtsdiagnose Asperger-Syndrom wird vergeben, wenn der Gesamtscore über dem Schwellenwert liegt und keine Sprachentwicklungsverzögerung festzustellen ist [17]. Mit der Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität (SRS) wird ein Fragebogen eingeführt, der den Anspruch erhebt, Autismus als ein dimensionales, in der Allgemeinbevölkerung normalverteiltes Merkmal abzubilden. Besondere Bedeutung hat der SRS bei der Auffindung von Personen mit leichteren, jedoch durchaus behandlungsbedürftigen ASS im Übergangsbereich vom subklinischen zum klinischen Bereich. Die SRS ist als Elternfragebogen zur Beurteilung von Kindern oder Jugendlichen konzipiert. Die Skala erfasst soziale, kommunikative und rigide Verhaltensweisen bei Probanden zwischen 4 und 18 Jahren im Sinne einer dimensionalen Diagnostik von Autismus. Der Fragebogen besteht aus 65 Items, die auf einer 4-stufigen Skala (0 = „trifft nicht zu“ bis 3 = „trifft fast immer zu“) eingeschätzt werden sollen. Die Bearbeitung der SRS beansprucht etwa 15–20 Minuten. Die Interpretation der Rohwerte erfolgt über die Zuordnung von T-Normen, die eine Einschätzung der berichteten autistischen Verhaltensweisen in Relation zu Kindern und Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung ermöglichen. Zudem liegen Autismusnormen auf der Basis einer Stichprobe von Kindern und Jugendlichen mit ASS vor (Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung) [18]. Diagnostikinstrumente Als Goldstandards in der Diagnostik von ASS gelten das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und Autism Diagnostic Oberservation Schedule-Generic (ADOS-G) [19, 20]. Das ADI-R ist ein standardisiertes, halbstrukturiertes untersuchergeleitetes Interview, basierend auf Angaben der Eltern bzw. der engsten Bezugsperson des Kindes. Das Interview dauert etwa 2–3 Stunden. Dabei werden für den Autismus typische Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung erfragt. Anhand der verschiedenen Fragen wird am Schluss des Interviews mithilfe eines Algorithmus eine Summe für die 3 Verhaltensbereiche „soziale Interaktion“, „Kommunikation“ und „repetitives Verhalten“ gebildet. Bei Überschreiten eines Grenzwerts in allen 3 Bereichen erfolgt dann die Zuordnung der Diagnose „frühkindlicher Autismus“. Das ADOS-G ist ein halbstandardisiertes Spielinterview mit dem Kind, in dem Situationen geschaffen werden, die normalerweise soziale Interaktion hervorrufen. Das Interview dauert etwa 30–45 Minuten und besteht aus 4 Modulen, die je nach kognitiver und sprachlicher Entwicklung der Kinder eingesetzt 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 14 ADOS-G und ADI-R ADOS-G und ADI-R ergeben in der Hand eines geschulten und erfahrenen Untersuchers, der über Erfahrung mit differentialdiagnostisch relevanten Störungen bei Kleinkindern verfügt, eine recht sichere Diagnose. Epidemiologie Der frühkindliche Autismus galt lange als eine sehr seltene Erkrankung mit einer Häufigkeit von 0,04 %. Die erste epidemiologische Studie wurde 1966 von Lotter durchgeführt [21]. Die Mehrzahl der älteren Studien machen nur Angaben zur Häufigkeit des frühkindlichen Autismus. Angaben zu anderen ASS finden sich erst durch die Einführung des SpektrumBegriffs durch Wing und Gould. In neueren epidemiologischen Untersuchungen lässt sich ein deutlicher Anstieg der Prävalenzraten für Störungen aus dem autistischen Spektrum feststellen. Die stetige Zunahme der Prävalenz begann bereits vor der Jahrtausendwende. Die Studien von 1966–1973 ergaben eine Prävalenz von 0,05%, während für Studien aus den Jahren 1990–1997 eine höhere Rate von 0,1% errechnet wurde. In epidemiologischen Untersuchungen seit 2000 ist die Prävalenz für das autistische Spektrum deutlich angestiegen. Zusammenfassend ergeben diese neuen Studien eine Prävalenzrate für Autismus von ca. 0,3% und für die anderen ASS von insgesamt 0,9 %. Die Häufigkeitsverteilung (4 :1) zugunsten der Jungen bei ASS scheint in Abhängigkeit vom Intelligenzniveau zu variieren. Die Geschlechtsunterschiede sind geringer in der Gruppe der Menschen, die eine mittelgradige bis schwere Form der Intelligenzminderung zeigen (2 : 1), während im normativen Intelligenzbereich das Verhältnis Jungen zu Mädchen bei 6:1 liegt [7, 22, 23]. Zunahme der Prävalenzrate ASS sind keine seltenen Störungen. Die Zunahme der Prävalenzrate ist durch veränderte Definitionen in den Klassifikationen und durch eine frühere und bessere Diagnostik zu erklären, nicht durch eine tatsächliche Zunahme der Erkrankungen. Ätiologie Genetische Faktoren Bereits in den Erstbeschreibungen von Kanner und Asperger wurden genetische Faktoren ursächlich für ASS postuliert. Zwillingsstudien zeigten, dass die Konkordanzraten bei monozygoten Zwillingen zwischen 36 und 96% lagen, im Gegensatz zu den dizygoten Zwillingen, bei denen die Konkordanzraten bei 0% nachzuweisenwaren,was auf eine Erblichkeit von über 90% schließen lässt. Die Tatsache, dass die Konkordanzrate der eineiigen Zwillinge nicht bei 100% liegt, deutet aber auch darauf hin, dass neben genetischen Faktoren auch in geringerem Ausmaß exogene Faktoren bei der Entstehung der autistischer Störungen eine Rolle spielen [24]. Fortschritte in der zytogenetischen, molekularzytogenetischen und molekulargenetischen Diagnostik haben die Kenntnisse über Ursachen der ASS v.a. in den letzten 5–10 Jahren stark erweitert. Dabei wurde erwartungsgemäß „das Autismus-Gen“ nicht gefunden, da sowohl die früheren Zwillings- und Familienuntersuchungen als auch die aktuellen molekulargenetischen und Array-CGH-Studien (CGH: Comparative genomic Hybridization) auf eine genetische Heterogenität hinweisen, die der klinischen Heterogenität entspricht. Die bisher gefundenen De-novo-Mutationen und Syndrome sind insgesamt bei 10–20% der Patienten mit ASS ursächlich, wobei die einzelnen genannten Störungen jeweils nur 1–2% aller Fälle verursachen. Somit bleiben weiterhin 80– 90% der Fälle ursächlich unklar. In Familienstudien finden sich Wiederholungsrisiken von ca. 3% bei Geschwistern von Betroffenen. Dieses Risiko ist ca. 50-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die großen Unterschiede von Konkordanzraten bei monozygoten und dizygoten Zwillingspaaren 14 sowie das stark abfallende Wiederholungsrisiko bei zweit und drittgradigen Verwandten sprechen gegen einen Defekt in einem Gen. Gegenwärtig wird von einem signifikanten Beitrag von 3–4 Genen ausgegangen. Heterogenes Krankheitsbild ASS sind ein klinisch und genetisch heterogenes Krankheitsbild. Die Genese ist multifaktoriell mit starker genetischer Komponente. In den meisten Fällen bleibt auch mit moderner Diagnostik die Ursache unklar. Psychosoziale und biologische Umweltfaktoren Im Rahmen der Ätiologie psychiatrischer Erkrankungen können sowohl psychosoziale als auch biologische Risikofaktoren genannt werden. Im Hinblick auf ASS sind in Bezug auf psychosoziale Risiken vor allem extremste Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren beschrieben worden, wie sie z. B. in rumänischen Kinderheimen vorgefunden wurde. Diese Lebensbedingungen beinhalteten Unter- und Fehlernährung, eine hohe Rate an Infektionen, keine festen Bezugspersonen, keine Spielmöglichkeiten. Studien zeigen, dass die Rate an autismusspezifischen Verhaltensweisen deutlich erhöht war, wenn Kinder dieser extremen Form der Vernachlässigung länger als 2 Jahre ausgesetzt waren. Da aber derartige Formen der Deprivation extrem selten sind, ist davon auszugehen, dass emotionale und körperliche Vernachlässigungen bei den meisten Kindern mit ASS keine Ursache der Erkrankung darstellt. Differenzialdiagnostisch muss allerdings bei Kleinkindern immer auch an eine Bindungsstörung gedacht werden. Eine Vielzahl an biologischen Risikofaktoren ist ebenfalls untersucht worden,wobei nur wenige Faktoren als ursächlich in der Entstehung von ASS belegt werden konnten. Ein erhöhtes mütterliches und väterliches Alter ist als Risikofaktor repliziert worden. Möglicherweise findet sich eine erhöhte Rate von zytogenetischen Veränderungen bei höherem Alter der Eltern als Ursache der ASS. Virusinfektionen in der Schwangerschaft wurden vielfach untersucht. Lediglich für die Rötelninfektion konnte eine höhere Rate von ASS nachgewiesen werden. Aufgrund der derzeitigen Studienlage kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Viruserkrankungen der Mutter in der Schwangerschaft eine ASS verursachen kann. Auch bezüglich der Auswirkungen von Medikamenteneinnahme existieren nur vereinzelt Studien. In Langzeitstudienwurde nachgewiesen, dass Thalidomid und VPA mit erhöhten ASS-Raten einhergehen. Oft wird vermutet, dass Geburtskomplikationen eine Rolle in der Entstehung von ASS spielen. Meist sind aber bei Kindern mit einer genetischen Veränderung schwierige Geburtsverläufe die Folge dieser Veränderung und nicht die Ursache der Störung. In einigen Fällen kann aber eine starke Gehirnblutung um die Geburt herum eine ASS mitverursachen. Diese Störungen werden als Zerebralparesen definiert und kommen bei etwa 2% der Kinder mit ASS vor. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g bezifferte das Risiko, autistische Symptome zu entwickeln, mit 26%. Dabei wurde deutlich, dass vor allem Kinder mit einem sehr niedrigen Geburtsgewicht, abnormen Befunden in der zerebralen Bildgebung, perinatalen Infektionen, Hirnblutungen oder langfristigen Sauerstoffgaben im durchschnittlichen Alter von 22 Monaten anhand der M-CHAT auffällige ScreeningWerte hatten [25]. Behandlungsschwerpunkte Die Schwerpunkte der Behandlung liegen – insbesondere beim jüngeren Kind – im Aufbau sozialer und sprachlicher Fertigkeiten. Dabei werden meist verhaltenstherapeutische oder heilpädagogische Methoden genützt und sehr viel aktivere und direktivere Zugänge gewählt als bei nicht autistischen Kindern. Eltern haben eine große Bedeutung bei der Entwicklungsförderung und Generalisierung von Therapieschritten in die Lebensumwelt des autistischen Kindes. 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Therapie Die Behandlung von Kindern mit ASS wird vom Entwicklungsstand, von den individuellen Besonderheiten und Eigenheiten eines Kindes sowie von den Möglichkeiten und Bedürfnissen seiner Familie bestimmt, weniger durch die Methodik. Es gibt keine für autistische Störungen generell gültige und erfolgversprechende Therapie. Für jedes autistische Kind muss ein individuelles Programm erstellt und im Verlauf seiner Entwicklung immer wieder adaptiert werden. Die Schwerpunkte der Therapie liegen bei verhaltenstherapeutischen und heilpädagogischen Ansätzen (Tab. 8). Die Ziele der Behandlung bestehen darin, die soziale und kommunikative Entwicklung autistischer Kinder zu unterstützen, ihre allgemeine Lernund Problemlösefähigkeit zu fördern, Verhalten abzubauen, das mit Lernen und Zugang zu Möglichkeiten normaler Erfahrung interferiert (Rigidität und Stereotypien), und Hilfen zur Bewältigung des Autismus für Familien zu vermitteln. Zahlreiche Methoden, Verfahren und Maßnahmen werden zur Behandlung von Störungen aus dem autistischen Spektrum angewandt, manche mit unrealistisch hohen Erwartungen. Eine Heilung der ASS ist bisher nicht möglich [26]. An einzelnen Interventionen und Maßnahmen seien genannt: intensive verhaltenstherapeutische Frühförderprogramme (ABA), TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and Communication handicapped Children), pädagogische Frühförderung, Ergotherapie, Logopädie, Spieltraining, tiergestützte Therapien und soziale Kompetenztrainings. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist eher selten indiziert, z. B. bei intellektuell gut entwickelten Jugendlichen oder Erwachsenen, die sich mit ihrer Behinderung auseinandersetzen. Musiktherapie kann nonverbal oftmals einen ersten Zugang zu einem Kind ermöglichen. Methoden, an die unrealistisch hohe Erwartungen gerichtet werden, sind u. a. das auditive Integrationstraining, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien, die Festhaltetherapie, die gestützte Kommunikation, die Irlen-Therapie. Die kontinuierliche Eltern- und Familienarbeit ist ein unverzichtbarer Schwerpunkt in der Behandlung autistischer Menschen. Ziele bestehen in der Unterstützung im Umgang mit den oft unverständlichen Verhaltensweisen der autistischen Familienmitglieder, in der Entlastung von Schuldgefühlen, in der Vermittlung von Hilfen im täglichen Umgang und im konkreten Einbeziehen in die Entwicklungsförderung und Verhaltensstabilisierung. Die individuellen Belastungen und die Ressourcen einer Familie bilden die Grundlage für beratende und ggf. therapeutische Interventionen. Selbsthilfegruppen wirken in dem Prozess der Auseinandersetzung mit der Erkrankung eines Familienmitglieds an frühkindlichem Autismus entlastend und unterstützend. Manche Patienten mit einer autistischen Störung bedürfen zumindest vorübergehend einer ergänzenden medikamentösen Behandlung (Tab. 9). Hauptindikation für eine medikamentöse Therapie sind hyperaktive, aggressive und destruktive Verhaltensweisen, selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien, Ängste und Depressivität sowie Schlafstörungen. Eine Medikation muss in jedem Einzelfall sorgfältig überlegt, Nutzen und Risiko abgewogen werden. Meist hat die Pharmakotherapie den Charakter einer zeitlich befristeten Krisenintervention. Sie ist nicht kurativ und hat nicht die Funktion einer Basistherapie [27, 28]. Tabelle 8 Übersicht über Therapieverfahren. Empirisch gut abgesicherte und anerkannt wirksame Verfahren verhaltenstherapeutische Verfahren und Therapieprogramme, auch im Rahmen von Frühförderprogrammen, psychoedukative Programme wie TEACCH, Medikation der Begleitsymptome Empirisch mäßig abgesicherte Verfahren, aber potenziell wirksam Training der sozialen Kompetenz, auch anhand von Theoryof-Mind-Trainings, Social Stories, gruppentherapeutische Angebote Empirisch nicht abgesicherte Verfahren, aber potenziell wirksam Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Reittherapie, vor allem, wenn in die Behandlungseinheiten lerntheoretische Elemente eingebaut werden Zweifelhafte Methoden ohne empirische Absicherung und ohne wissenschaftlich fundierten Hintergrund Festhaltetherapie, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien, Sekretin, auditives Integrationstraining, Irlen-Therapie 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 15 15 Tabelle 9 Medikamentöse Therapie bei autistischen Störungen. Gruppe Dosierung Indikationsbereich Nebenwirkungen atypische Neuroleptica Risperidon Olanzapin Quetiapin Aripiprazol 0,25 – 2mg/Tag 2,5 mg/Tag 25 mg/Tag 2,5 – 5mg/Tag motorische Unruhe, (auto-)aggressives Verhalten, repetitives Verhalten, Wutanfälle, Reizbarkeit, Impulskontrollstörung Gewichtszunahme, Müdigkeit, extrapyramidale Störungen (EPS), Prolaktinerhöhung, Senkung der Krampfschwelle, sexuelle Dysfunktion Stimulanzien Methylphenidat Atomoxetin 0,3 – 1mg/KG/Tag 0,5 – 1mg/KG/Tag Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Unruhe, Impulsivität Appetitminderung, Tics, Schlafstörungen, Tachykardie, Bauchschmerzen, Dysphorie Antidepressiva Fluoxetin Fluvoxamin Citalopram Mirtazapin 20 – 60 mg/Tag 50 – 200 mg/Tag 20 – 60 mg/Tag 7,5 – 30 mg/Tag Zwangsstörungen, Angst, depressive Verstimmungen, Aggressionen, repetitives Verhalten Unruhe, Agitiertheit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Tremor, Schwindel, Schlafstörungen andere Melatonin 0,5 – 5 mg Schlafstörungen Tagesmüdigkeit Verlauf und Prognose Die langfristige psychosoziale Prognose von Menschen mit ASS ist sehr variabel. Etwa 15% gewinnen eine als „gut“ zu bezeichnende Selbstständigkeit, mit einem Arbeitsplatz auf dem 1. oder 2. Arbeitsmarkt, sie wohnen selbstständig mit wenig Unterstützung und haben soziale Kontakte zu Mitmenschen, mit denen sie gemeinsame Interessen verfolgen und an sozialen Aktionen teilnehmen. Dabei liegt der ausgeübte Beruf häufig deutlich unter dem, was man aufgrund der kognitiven Fähigkeiten und der Ausbildung erwarten würde. 25% der in der Kindheit diagnostizierten Fälle mit einer ASS erreichen einen Status, der als „fair“ bezeichnet wird, mit einem geschützten Arbeitsplatz, einer geschützten Wohnsituation und Kontakten zu Gleichaltrigen, die aber lose sind. Etwa 60% brauchen als Erwachsene sehr viel Hilfe im Alltag, leben in speziellen Einrichtungen und haben keine Kontakte mit Gleichaltrigen außerhalb der Einrichtung [29]. Erreichbare Selbstständigkeit Erwachsene Menschen mit einer ASS unterscheiden sich nur unwesentlich in ihrer Symptomatik von Kindern mit dieser Diagnose. In der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter kommt es bei etwa der Hälfte zu einer Verbesserung der Symptomatik. Diese reicht aber nicht aus, um die Anforderungen zu erfüllen, die an Selbstständigkeit und sozialen Fertigkeiten in diesem Alter erwartet werden. Auch Erwachsene mit einer durchschnittlichen Intelligenz sind auf Hilfen und Unterstützung angewiesen und brauchen eine Umgebung, die auf ihre Besonderheiten Rücksicht nimmt. Etwa 15% der Erwachsenen erreichen eine weitgehende Selbstständigkeit. Die Lebenssituation von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer ASS ist von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig: Neben der Ausprägung der Kernsymptomatik der Störung spielen die kognitiven Fähigkeiten, das Vorhandensein von kommunikativen Sprachfertigkeiten, das Vorliegen von neurologischen und/oder psychiatrischen komorbiden Störungen und das Ausmaß der erforderlichen Unterstützung eine wesentliche Rolle. Diese Faktoren beeinflussen die Selbstständigkeitsentwicklung, die Eingliederung im Arbeitsprozess und somit die Zufriedenheit der Person bezüglich der eigenen Situation. Gute Ergebnisse im Erwachsenenalter, d. h. ein Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt und selbstständigesWohnen, werden bei Menschen mit einem IQ unter 50 nicht erreicht, dies gilt aber auch für Menschen ohne autistische Störung. Ab einem IQ von über 60 können gute Ergebnisse erzielt werden. Auffallend ist, dass es offenbar keinen Unterschied im Ergebnis gibt zwischen Menschen mit einem IQ von 70–79 und solchen mit einem IQ über 100. Bezüglich der Mortalitätsrate bei ASS zeigt sich vor allem bei Betroffenen mit erheblichen Komorbiditäten wie einer Intelligenzminderung oder einer Epilepsie ein erhöhtes Risiko für frühzeitigen Tod. Ingesamt liegt die Mortalität bei ASS etwa doppelt so hoch wie in der normalen Bevölkerung. Als Todesursachen werden Selbstverletzung, Epilepsie, Unfälle, Ersticken durch Verschlucken gefährlicher Gegenstände, Infektionen und Suizid genannt [30]. Ausblick ASS sind neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörungen, die stark genetisch determiniert sind. Die Symptome werden schon in der frühen Kindheit deutlich und sind vor allem durch Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und das Vorhandensein von stereotypen Verhaltensweisen charakterisiert. Voraussichtlich werden im DSM-V die verschiedenen Subkategorien der ASS zusammengefasst und die Triade durch eine duale Kernsymptomatik ersetzt. Eine frühzeitige Diagnose verbessert die psychosoziale Prognose von Menschen mit ASS. Die therapeutischen Ansätze basieren vor allem auf lerntheoretischen und strukturierenden heilpädagogischen Maßnahmen; die medikamentöse Behandlung ist lediglich zur Behandlung von Komorbiditäten sinnvoll. Über die Autorin Michele Noterdaeme Jahrgang 1956, Professorin an der LMU München. Medizinstudium in Gent, Belgien. Weiterbildung am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, an der Universitätsklinik Dr. von Haunerschen Kinderspital und an der Heckscher- Klinik in München. 1994 Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. 2001 tiefenpsychologische Psychotherapeutin. 2003 Habilitation an der LMU. Forschungsschwerpunkte: umschriebene und tiefgreifende Entwicklungsstörungen, insbesondere Neuropsychologie und Entwicklungspsychopathologie der Autismus-Spektrum-Störungen. Bis 2009 leitende Oberärztin des Heckscher-Klinikums, München. Aufbau der Abteilung für Entwicklungsstörungen. 2008 Qualifikation in der forensischen Psychiatrie. Seit 1. 1. 2010 Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Josefinum, Augsburg. Mitglied und Vertreterin Deutschlands im Management Committee of COST Action BM1004: „Enhancing the scientific study of early autism: A network to improve research, services and outcomes“. Literatur siehe Seite 16 Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Georg Thieme Verlag KG, Pädiatrietage 2011, DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1256068 21.05.12 14:17 AKADEMIE AKTUELL 2012-2 ZEITUNG DER ÄRZTLICHEN AKADEMIE FÜR PSYCHOTHERAPIE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN 16 Fortsetzung von Seite 1 Fortsetzung von Seite 15 Literaturhinweise: Literatur Steven Pinker: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, S. Fischer-Verlag, Frankfurt 2011 Kurzbeschreibung: Die Geschichte der Menschheit eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter und Vergewaltigung. Und es wird immer schlimmer. Denken wir. Doch ist das richtig? In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, untersucht der weltbekannte Evolutionspsychologe Steven Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute und in allen ihren individuellen und kollektiven Formen. Unter Rückgriff auf eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen beweist er anschaulich und überzeugend, dass die Menschheit dazulernt und Gewalt immer weniger als Option wahrgenommen wird. Pinkers Darstellung verändert radikal den Blick auf die Welt und uns Menschen. Und sie macht Hoffnung und Mut. Über den Autor: Steven Pinker, geboren 1954, studierte Psychologie in Montreal und an der Harvard University. 20 Jahre lange lehrte er am Department of Brain and Cognitive Science am MIT in Boston und ist seit 2003 Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Sprache und Denken, außerdem schreibt er regelmäßig für die „New York Times“, „Time“ und „The New Republic“. Sein Werk ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. James R. Rogers, David Lester: Understanding Suicide, Hogrefe Publishing GmbH, 2010 A provocative look at research and practice in suicide prevention – a „must read“ for all concerned. This provocative and erudite book highlights theoretical and methodological challenges that have plagued and continue to plague the field of suicidology. The basic premise is that recent research has not served to advance our understanding of suicidal behavior, but tends to repeat older research, often apparently without awareness that we are often merely „reinventing the wheel“. As the authors maintain: „Very little of consequence has appeared in suicidology for many years - no new theory and no ground-breaking research.“ The book discusses the contributions that each of the major disciplines have made to suicidology (is there a misplaced devotion to Durkheim‘‘s 100-year-old theories?), and provide an overview of research and theories in some typical areas. Drawing from this, specific recommendations as to what researchers and theorists can do in the future to advance our understanding of suicide and suicide prevention are offered. It is hoped that these recommendations will stimulate research and theorizing so that our understanding of suicide will progress. David Weikert: High/Scope Perry Preschool Project 1962 Dr. Peter J. Uhlhaas, Prof. Dr. Kerstin Konrad: Das adoleszente Gehirn, Kohlhammer Verlag, 2011 Der Band gibt einen umfassenden, interdisziplinären Überblick aktueller Befunde aus Neurowissenschaften, Psychologie und Psychiatrie zum Thema Adoleszenz. Teil 1 betrachtet psychologische Veränderungen, v.a. bezüglich der Identitätsentwicklung, insbesondere aus Sicht der Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse. Teil 2 widmet sich den Neurowissenschaften. Beiträge zu hormonellen Veränderungen und zur Entwicklung zentraler Neurotransmittersysteme werden verbunden mit Erkenntnissen aus anatomischer und funktioneller Bildgebung. Ein Fokus des Werkes ist der Zusammenhang zwischen der Biologie und Psychologie der Adoleszenz und der Entwicklung psychiatrischer Störungen. Das High/Scope Perry Preschool Project wurde 1962 von David Weikert gestartet. Er arbeitete für den Ypsilanti Public School District und bemerkte, dass sich Kinder aus armen Nachbarschaften in der Schule schwer taten. Zusammen mit einigen Rektoren von Grundschulen gründete er ein Komitee, um diesen Kindern zu helfen. 123 Kinder meist afroamerikanischer Abstammung, welche in armen Nachbarschaften geboren waren, nahmen an dem Experiment teil. Davon wurden 58 gefördert. Der Rest bildete die Kontrollgruppe. Im Alter von 27 Jahren wurden die Personen, die an der Vorschulgruppe teilgenommen hatten, mit einer Kontrollgruppe verglichen. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Projekt erfolgreich war: –7 % der Personen der Vorschulgruppe wurden fünfmal oder öfter von der Polizei verhaftet. Im Gegensatz dazu wurden 35 % der Personen aus der Kontrollgruppe fünfmal oder öfter von der Polizei verhaftet. –7 % der Personen aus der Vorschulgruppe wurden mindestens einmal für Straftaten, die mit Drogen zu tun hatten, verhaftet. Bei 25 % aus der Kontrollgruppe war dies der Fall. –Personen aus der Vorschulgruppe verdienten viermal so oft 2.000 US$ oder mehr pro Monat als Personen aus der Kontrollgruppe (29 % vs. 7 %). –Sie hatten fast dreimal so oft ein eigenes Haus wie Personen aus der Kontrollgruppe (36 % vs. 13 %) –59 % der Leute aus der Vorschulgruppe waren mindestens einmal seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr von der Sozialhilfe abhängig gewesen. Dies war bei 80 % der Leute aus der Kontrollgruppe der Fall. –Leute aus der Vorschulgruppe hatten öfter einen Highschool-Abschluss als Leute aus der Kontrollgruppe (71 % vs. 54 %) –40 % der Frauen aus der Vorschulgruppe waren verheiratet. Dies traf nur auf 8 % der Frauen aus der Kontrollgruppe zu. –57 % der Frauen aus der Vorschulgruppe waren alleinerziehende Mütter. Das war bei 83 % der Frauen aus der Kontrollgruppe der Fall. Barnett zieht folgendes Resümee: „Für viele Kinder aus sozial benachteiligten Familien ist der Aufenthalt in einem gut ausgestatteten Kinderzentrum von schicksalhafter Bedeutung. Teilnehmen oder NichtTeilnehmen an einem Vorschulprogramm bedeutet für diese Kinder, in der Schule oder im Beruf erfolgreich zu sein oder zu scheitern und kriminell zu werden“. 1Kanner L. Autistic disturbances of affective contact. Nervous Child 1943; 2: 217 – 250 2Asperger H. Die autistischen Psychopathien im Kindesalter. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1944; 117: 76 – 136 3Rutter M. Diagnosis and definition. In: Rutter M, Schopler E, eds. Autism: a reappraisal of concepts and treatment. New York: Plenum, 1978 4Wing L, Gould J. Severe impairment of social interaction and associated abnormalities in childen: epidemiology and classification. Journal of Autism and Developmental Disorders 1979; 9: 11 – 29 5Saß H, Wittchen H, Zaudig M. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-IV. Göttingen: Hogrefe, 1996 6Dilling H, Mombour W, Schmidt M. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD 10 Kapitel V. Klinisch-Diagnostische Leitlinien. Göttingen: Huber, 1991 7Noterdaeme M, Wriedt E. Begleitsymptomatik bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen I. Intelligenzminderung und psychiatrische Komorbidität. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2010; 38: 257 – 266 8Fombonne E. Epidemiological Surveys of Autism and Other Pervasive Developmental Disorders: An Upgrade. Journal of Autism and Developmental Disorders 2003; 33: 365 – 382 9Rost I. Neurobiologische Erklärungsansätze: Genetik und Autismus-Spektrum-Störungen. In: Noterdaeme M, Enders A, Hrsg. Autismus-Spektrum-Störungen: ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 2010 10Steffenburg S, Steffenburg U, Gillberg C. Autism spectrum disorders in children with active epilepsy and learning disability. Comorbidity, pre- and perinatal background, and seizure characteristic. Developmental Medicine and Child Neurology 2003; 45: 724 – 730 11Holtmann M, Bölte S, Poustka F. Attention Deficit Hyperactivity Disorder symptoms in pervasive developmental disorders: association with autistic behavior domains and coexisting psychopathology. Psychopathology 2007; 40: 172 – 177 12Ghaziuddin M, Greden J. Depression in children with autism/pervasive developmental disorders: a case-control family history study. Journal of Autism and Developmental Disorders 1998; 28: 111 – 115 13Munesue T, Ono Y, Mutoh K et al. High prevalence of bipolar disorder comorbidity in adolescents and young adults with high functioning autism spectrum disorder: A preliminary study of 44 outpatients. Journal of Affective Disorders 2008; 111: 170 – 175 14Noterdaeme M, Hutzelmeyer-Nickels A. Early symptoms and recognition of pervasive developmental disorders in Germany. Autism 2010; 5: 1 – 15 15Robins D, Fein D, Barton M et al. The Modified Checklist for Autism in Toddlers: An initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders 2001; 31: 131 – 148 16Bölte S, Poustka F. FSK Fragebogen zur sozialen Kommunikation. Bern: Huber, 2006 17Kamp-Becker I, Mattejat F, Wolf-Ostermann K et al. Die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS): Ein Screeningverfahren für autistische Störungen auf hohem Funktionsniveau. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2005; 33: 15 – 26 18Bölte S, Poustka F. SRS-Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität. Bern: Huber, 2008 19Bölte S, Rühl D, Schmötzer G, Poustka F. ADI-R Diagnostisches Interview für Autismus – Revidiert. Bern: Huber, 2006 20Rühl D, Bölter S, Feineis-Matthew S, Schmötzer G. Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS). Bern: Huber, 2004 21Lotter V. Epidemiology of Autistic Conditions in Young Children. Soc Psychiat 1966; 1: 124 – 137 22Gillberg C, Wing L. Autism: not an extremely rare disorder. Acta Psychiatrica Scandinavia 1999; 99: 399 – 406 23Prior M. Is there an increase in the prevalence of autism spectrum disorders? Journal of Paediatric Child Health 2003; 39: 81 – 82 24Freitag C. Neurobiologie; Umweltfaktoren, Immunsystem, Neuroanatomie, Neurochemie und Neurophysiologie. In: Bölte S, Hrsg. Autismus: Spektrum Ursachen, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Bern: Huber, 2009 25Limperopoulos C, Bassan H, Sullivan N et al. Positive screening for autism in ex-preterm infants: prevalence and risk factors. Pediatrics 2008; 121: 758 – 65 26Noterdaeme M, Enders A. Therapie autistischer Störungen. Pädiatrische Praxis 2008; 72: 605 – 618 27Remschmidt H, Kamp-Becker I. Tief greifende Entwicklungsstörungen: Autimus-Spektrum-Störungen. In: Remschmidt H, Mattejat F, Warnke A, Hrsg. Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Stuttgart: Thieme, 2008: 134 – 147 28Bölte S, Poustka F. Interventionen bei autistischen Störungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2002; 30: 271 – 280 29Howlin P, Goode S, Hutton J et al. Adult outcome for children with autism. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2004; 45: 212 – 229 30Mouridsen S, Brynnum-Hansen H, Rich B et al. Mortality and causes of death in autism spectrum disorders. An update. Autism 2008; 12: 403 – 414 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Michele Noterdaeme Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Kapellenstrasse 30 86154 Augsburg Telefon: 0821/2412461 E-mail: [email protected] 01537_ÄA-Zeitung _6-druck.indd 16 21.05.12 14:17