PRESSEMITTEILUNG Genf | 9. Juni 2015 Schwingende Silben im neuronalen Kreislauf Was die Neurowissenschaft über die Sprachverarbeitung in unserem Gehirn aussagt Wörter, ob gesprochen oder gehört, produzieren elektrische Aktivität in den Neuronen unseres Gehirns. Diese kann von Neurowissenschaftlern in Form sogenannter “kortikaler Oszillationen” gemessen werden. Um Wörter zu verstehen, muss das Gehirn die Informationen, die es erhält, erst auseinandernehmen, wieder zusammensetzen und ihnen eine konstruktive Bedeutung geben, genau wie bei anderen kognitiven oder sensorischen Impulsprozessen. Wissenschaftler sind sich bisher uneins, ob Oszillationen im Gehirn ein Zeichen für neuronale Aktivität sind oder diese Oszillationen eine aktive Rolle im menschlichen Gehirn bei der Sprachverarbeitung spielen. Zwei Publikationen - in den Journalen eLife und Frontiers in Human Neurosciences - beleuchten nun jedoch die Rolle von nicht richtig funktionierenden neuronalen Oszillationen, die mit signifikanten Sprachdefiziten in Verbindung gebracht werden können. Zu ihren Ergebnissen kam die Gruppe von Professor Anne-Lise Giraud der medizinischen Fakultät der Universität Genf (UNIGE) durch die Erschaffung eines Computermodells von neuronalen Mikroschaltkreisen und bestätigt so die vitale Rolle neuronaler Oszillationen für die Sprachverarbeitung. Auch wenn schon lange vermutet wurde, dass kortikale Oszillationen zur Interpretation von Impulsprozessen im Gehirn beitragen, so konnte ihre genaue Rolle bisher nicht nachgewiesen werden. Die Aktivität des Gehirns ist rhythmisch: Sie tritt in der Form von periodischen elektrischen Variationen auf, die aufgrund ihrer Wellenlänge in bestimmte Kategorien eingeteilt werden können. Die bekanntesten -alpha, beta, gamma, delta, theta und mu- können mit verschiedenen Arten kognitiver Aktivitäten oder Zuständen in Verbindung gebracht werden. So treten Alpha-Wellen beispielsweise in einem wachen und entspannten Zustand auf oder Beta-Wellen in einem hoch-konzentrierten Zustand. Wörter hingegen mobilisieren synchronisierte Gamma- und Theta-Wellen. Oszillationen für Silben Um die neurobiologischen Prozesse genau zu identifizieren, die im Gehirn bei der Verarbeitung von Wörtern ablaufen, hat das Team um Anne-Lise Giraud der UNIGE gemeinsam mit Kollegen der Ecole Normale Supérieure in Paris ein Computermodell von neuronalen Mikroschaltkreisen erstellt, das Gehirnwellen repliziert. Ziel war es herauszufinden, ob die im Hörzentrum des Gehirns vorhandenen Gamma- und Theta-Oszillationen tatsächlich für das Verständnis und die Produktion gesprochener Sprache notwendig sind oder ob sie nur als Konsequenz daraus entstehen, also nur der Ausdruck der elektrischen Aktivität von Neuronen sind, die zu diesem Zeitpunkt mobil sind. Bei der Studie mit englischsprachigen Probanden, die grosse Unterschiede in ihrer Sprachgeschwindigkeit und ihrem Akzent aufwiesen, konnten die Wissenschaftler beobachten, dass diese synchronisierten Oszillationen Wörter auf intelligente Weise trennten: Sie passten sich an die Sprachgeschwindigkeit des Sprechenden an und Ein Phonem misst die kleinste Einheit in der gesprochenen Sprache, es hilft sowohl dabei ein Wort zu formen als auch es von einem anderen zu unterscheiden konnten richtigerweise nicht nur die einzelnen Silben, sondern auch die Identität der Silben feststellen. Beim gesprochenen Wort können die Theta-Oszillationen somit dem Tempo der Silben flexibel folgen und die Aktivität der Gamma Wellen angleichen. Gamma-Wellen können wiederum Phoneme verschlüsseln. Ein Phonem misst die kleinste Einheit in der gesprochenen Sprache, es hilft sowohl dabei, ein Wort zu formen als auch es von einem anderen zu unterscheiden. Die Synchronisation dieser beiden Typen von Oszillation ist entscheidend, um Wörter richtig zu verstehen. Diese in eLife vorgestellten Ergebnisse bestätigen daher die Signifikanz von kortikalen Oszillationen bei der Entschlüsselung gesprochener Sprache oder von Wörtern. Symptome einer desynchronisierten Wellenaktivität Aber was passiert bei einer Fehlfunktion des Systems, wie etwa bei Legasthenie oder Autismus? Wissenschaftler konnten beobachten, dass bei Menschen mit Legasthenie eine Anomalie der Aktivität von GammaWellen vorliegt, also den Wellen, die eine Aufteilung in Phoneme durchführen. Die Aufteilung in Silben ist nicht betroffen, so dass Legastheniker keine Verständnisschwierigkeiten aufweisen. Da aber das Format ihrer mentalen Darstellung nicht mit dem universellen phonetischen Format übereinstimmt, ist das Erlernen von geschriebener Sprache, wobei Phoneme mit Buchstaben kombiniert werden, schwierig. contacts Anne-Lise Giraud Tel.: +41 22 379 55 47 oder unter Anne-Lise.Giraud@ unige.ch UNIVERSITÉ DE GENÈVE Service de communication 24 rue du Général-Dufour CH-1211 Genève 4 Tél. 022 379 77 17 [email protected] www.unige.ch Bei Menschen mit Autismus haben die Wissenschaftler hingegen herausgefunden, dass die Information, die im Wort transportiert wird, nicht an der richtigen Stelle im Hirn aufgeteilt wird und so die Entschlüsselung des Wortes blockiert ist. Durch die Untersuchung von funktioneller Magnetresonanztomografie- und EEG-Aufnahmen von 13 Personen mit Autismusmerkmalen und 13 Personen ohne speziellen Beeinträchtigungen kamen die Forscher zu dem Schluss, dass bei Menschen mit Autismus die Aktivität von Gamma- und Theta-Wellen nicht synergetisch war. Demnach versagen die Theta-Wellen darin, korrekt der Sprachmodulation zu folgen und die Regulation von Gamma-Oszillationen, essentiell für die Entschlüsselung des gesprochenen Inhalts eines Wortes, tritt nicht auf. Die Sprachstörungen, von denen viele Personen mit Autismus betroffen sind, könnten sich demnach durch das Ungleichgewicht zwischen langsamen und schnellen auditiven Oszillationen erklären lassen. Diese Anomalie verhindert die Interpretation von sensorischen Informationen und beeinträchtigt die Formation von kohärenten konzeptuellen Repräsentationen. Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass bei umso grösserer Desynchronisation der Oszillationen auch die Sprachstörungen einer betroffenen Person umso signifikanter sind, genauso wie andere autistischen Symptome. «Natürlich lassen sich autistische Störungen nicht einfach zu einem Problem der Sprachinterpretation zusammenfassen», unterstreicht Anne-Lise Giraud. «Aber dieser starke Zusammenhang zwischen oszillativen Anomalien im auditiven Kortex und der Schwere von Autismus hebt eine Fehlfunktion von kortikalen Mikrokreisläufen hervor, und das gilt sicherlich auch in anderen Hirnregionen. Dieses Phänomen ist ohne Zweifel beispielhaft für das allgemeinere Problem der Interpretation sensorischer Informationen bei Autisten.» Die Forschungsgruppe will sich nun auf die nächsten Schritte in ihrer Arbeit konzentrieren. Sie wollen versuchen, die Geschwindigkeit abnormaler Oszillationen aktiv zu verändern und, sollte ihnen dies gelingen, dabei die kurz- und langfristigen Konsequenzen dieser Intervention auf Sprache und andere kognitive Funktionen zu untersuchen.