Neue Luzerner Zeitung 22.3.2011

Werbung
Dienstag, 22. März 2011 / Nr. 68
Kultur
Neue Luzerner Zeitung Neue Urner Zeitung Neue Schwyzer Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Zuger Zeitung
Individualisten
im Kollektiv
KLASSIK mat. In einer Zeit, die den
Individualismus feiert, müsste Kammermusik ein populäres Genre sein.
Streichquartett-Formationen
zum
Beispiel können wie ein Orchester
klingen, nur dass dank der Reduktion
auf vier Musiker auch deren Persönlichkeit stärker zur Geltung kommt.
Das illustrierte am Sonntag das
Zusammentreffen der Konzerte der
Kammermusik im Marianischen Saal
in Luzern und der KammermusikReihe des Luzerner Sinfonieorchesters. In der LSO-Matinee spielte das
aufstrebende Schweizer Merel-Quartett (mit LSO-Bratschist Alexander
Besa), im Marianischen Saal eine
Shooting-Star-Formation aus Polen:
das Apollon Musagète Quartett, das
2008 beim ARD-Wettbewerb Hauptund Sonderpreise abgeräumt hatte.
Beide zeigten unterschiedliche
Vorzüge der Individualisierung. Beim
Merel-Quartett war das eine Differenzierung in Artikulation und Tongebung, die unterschiedliche stilistische Zugänge zu den Werken ermöglichte: In Mozarts d-Moll-Quartett
KV 421 erlaubte die feinnervigschlanke Tongebung eine Klangrede
mit feinsten Vibrato- und Energieimpulsen, im a-Moll-Quartett von
Brahms wurde mit saftigerem Klang
die Emotionalität der Musik zu grossen Gesten geweitet.
Sensationelles Debüt
Am Abend im Marianischen Saal
verriet schon eine angriffigere Musizierhaltung, dass die jungen Streicher aus Polen stehend spielten. Das
brachte einen weiteren Vorzug individuellen Musizierens zur Geltung,
eine durch keine Standardisierung
abgemilderte Ausdrucksradikalität.
Schon ein Quartett des HaydnZeitgenossen Gossec überraschte
durch Pointierung und klirrende Attacken, Schuberts Rosamunde-Quartett polarisierte das Ensemble atemberaubend zwischen raunender Rätsel-Melancholie und bedrängend
schroffer Dramatik. Die Farben, über
die die Spieler verfügen, machten
auch Lutoslawskis Streichquartett
zum Ereignis, das mit seinen Zufallselementen das Prinzip der Individualisierung demonstrativ herausstellte.
Endstation
im U-Bahnhof
THEATER bec. Neues entdecken ist
das Motto dieser Saison am Luzerner
Theater. Und einen Trip in theatralisches Neuland bot es dem Publikum
am vergangenen Sonntag im UG mit
der Uraufführung des Stücks «Stromabwärts» des jungen deutschen Autors Bernhard Haubrich (32). Ein
surrealistisch poetisches Stück wurde angekündigt, und surreal war es.
Allein die Geschichte überschreitet
die Grenzen zur Fantastik. Preisboxer
Bruno Bregazzi (glaubwürdig besetzt
durch Jürg Wisbach) kämpft sich
einem Fluss entlang von Stadt zu
Stadt. Ziel ist die Mündung, das
Meer, wo er eine goldene Stadt, einen
Hort der «ahistorischen Freiheit»
bauen will. Unterstützt und begleitet
wird er bei seinem Vorhaben von
Clos (Christian Baus), seinem Freund
und Helfer.
Ihr Ziel erreichen die beiden nie.
Zweifel, Verrat, Versagensangst und
vor allem die Schlaflosigkeit des Boxers lassen das Projekt scheitern.
Statt «Kampf und Rock ’n’ Roll» findet der Boxer letztlich seinen Schlaf.
Inszeniert ist die Reise als ein Treten
vor Ort in einer U-Bahn-Station, dem
Zuhause der beiden. Ein karger, aber
stimmiger Tatort, der die Schauspieler
fordert, ohne dass sie sich verstecken
können. Schauspieler und Inszenierung überzeugen durch Konzentration aufs Wesentliche, doch ein grosser
Wurf ist das Stück nicht.
www...
Bilder zu «Stromabwärts» finden Sie unter
www.luzernerzeitung.ch/bonus
HINWEIS
Nächste Vorstellungen 24., 25. und 31.
März. VV: 041 228 14 14;
www.luzernertheater.ch
8
Begeisterung über Bach hinaus
KLASSIK Das Bach-Ensemble
Luzern behauptet sich seit
30 Jahren trotz wachsender
Konkurrenz. Dirigent Franz
Schaffner über das Erfolgsgeheimnis.
INTERVIEW DAVID KOCH
[email protected]
Franz Schaffner, Sie gründeten 1981 das
Bach-Ensemble mit dem Ziel, Bachs
geistliche Musik und insbesondere seine
rund 200 Kantaten aufzuführen. Hätten
Sie sich an die Vorgabe gehalten, müssten Sie heute längst durch sein.
Franz Schaffner: Das stimmt. Und die
Vorgabe hatte damals für Luzern durchaus etwas Pionierhaftes, war in dieser
Form aber kaum realisierbar. Zudem
ging es mir von Anfang an um eine
kontinuierliche Bach-Pflege mit schlüssigen Programmen um die Bach-Kantaten herum. Deshalb begannen wir
schon bald, Bachs geistliche Musik mit
Werken aus seinem Umfeld zu kombinieren. Das macht den Komponisten
und seine Zeit im Konzert so interessant, sowohl für die Ausführenden wie
für das Publikum.
Trotzdem: Mit der Aufführung aller Kantaten erregten Helmuth Rilling und aktuell die Bach-Stiftung Trogen Aufsehen,
Letztere auch durch die Dokumentation
auf DVD und in Buchform. Haben Sie da
nicht eine Chance verpasst?
Schaffner: Da standen und stehen
ganz andere Mittel zur Verfügung. Gerade Trogen schlägt ja mit seinen kom-
Vielseitiger Musiker und Chorleiter: Franz Schaffner (57)
vor der Orgel in der Franziskanerkirche in Luzern.
«Wir finden für unsere
Konzerte nach wie vor
ein breites Publikum.»
FRANZ SCHAFFNER
mentierten Konzerten eine beachtenswerte Richtung ein. Voraussetzung ist
immer, dass die Programme an sich
funktionieren, und ich denke, da bewegen wir uns auf gutem Weg. Was Rilling
betrifft: Seine unmittelbare und anschauliche Bach-Praxis war damals
massgebend. Ich habe bei ihm in
Frankfurt studiert, und ein Kurs Rillings
1980 in Luzern war der Auslöser für die
Gründung unseres Bach-Ensembles.
Heute spielen vor allem Ensembles für
Alte Musik Bachs Werke. Wie begegnen
Sie diesem Spezialistentum?
Schaffner: Diese Entwicklung verfolge ich sehr genau, sowohl als Chorleiter
wie auch als Cembalist und Organist.
Ich versuche, die Erkenntnisse zur historischen Aufführungspraxis auf unsere
Gegebenheiten zu übertragen, soweit
das möglich ist. Die Forschung weiss
heute, dass Bach seine Chorwerke zum
Teil in Kleinstbesetzung aufführen liess.
Unklar bleibt aber noch weitgehend,
Bild Manuela Jans
für welche Besetzung er seine Musik
wirklich gedacht hat. Für mich muss sie
so klingen, dass sie Bachs Ausdruckswillen widerspiegelt, und das gelingt
uns mit dem gebräuchlichen, nun eben
modernen Instrumentarium besser.
Und mit einer grösseren Chorbesetzung?
Schaffner: Das Bach-Ensemble besteht aus rund 40 Sängerinnen und
Sängern, was ich als Qualität ansehe.
Mir gefällt auch bei Bach die direkte
Wärme eines etwas grösser besetzten
Chorklanges. Zumal sich unser zwar
stimmlich geschulter Laienchor mit der
Perfektion einer professionellen Kleinbesetzung nicht messen, aber eine individuelle Authentizität bieten kann.
Das Bach-Ensemble behauptet sich als
eine Institution auf dem Chorplatz Luzern, trotz der wachsenden Konkurrenz
durch junge, projektorientierte Chöre.
Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Schaffner: Das Ensemble baut auf viel
Erfahrung. Der Chor ist über die Jahre
hinweg gleich gross geblieben und in
Alter und Stimmen gut durchmischt.
Das hat etwas Beständiges und unterscheidet uns vielleicht von anderen
Chören, die mehr projektbezogen arbeiten. Wir werden von einem Gönnerverein unterstützt und finden für unsere Konzerte nach wie vor ein breites
Publikum, das uns «als Klangkörper mit
Ausstrahlung wahrnimmt», wie es unlängst jemand formulierte. Faszinierend ist für mich auch, festzustellen,
wie unter den Sängerinnen und Sängern die Begeisterung für Bach über
dessen Musik hinausgeht, indem sie
sich um weiterführende Informationen
zu den einzelnen Werken bemühen,
um historische Bezüge, um Textdeutung und Symbolik. Damit entsteht
eine besondere Vertrautheit im Umgang mit Bach.
Mit dessen h-Moll-Messe zum Jubiläum
haben Sie Grosses vor, wählen aber
einen speziellen Zugang zum Werk, indem Sie es schrittweise in drei Konzerten
erschliessen. Aus welchem Grund?
Schaffner: Die h-Moll-Messe ist einerseits ein einzigartiges musikalisches
Vermächtnis, anderseits gibt es darin
viele Verbindungen zu anderen Werken. Wir zeigen beide Aspekte. In drei
Konzerten stellen wir einzelne Messesätze jenen Kantaten gegenüber, auf die
EXPRESS
Dirigent Franz Schaffner
leitet das Bach-Ensemble
Luzern seit 30 Jahren.
Dieses feiert mit einer
eigenwilligen Konzertserie
zur h-Moll-Messe Jubiläum.
Bach in der Messe «parodierend» zurückgreift. Im ersten Konzert kombinieren wir etwa das Credo mit der Kantate
«Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen» aus
Bachs Weimarer Zeit. Am Schluss führen wir dann die gesamte Messe in
unserem Weihnachtskonzert im KKL
auf. Dazu spiele ich in einem Kammerkonzert Bachs Goldberg-Variationen
am Cembalo: Auch sie sind ein Vermächtnis wie die Messe.
HINWEIS
Jubiläumsfeier: Dienstag, 22. März, 17.30 Uhr,
Museum Sammlung Rosengart, Luzern.
Erstes Konzert zur h-Moll-Messe: Sonntag, 27.
März, 17 Uhr, Franziskanerkirche, Luzern.
www.bachensemble.ch.
Schwergewicht Ditto kommt ins KKL
FESTIVAL Beth Ditto ist
Lagerfelds Muse und eine der
schrillsten Figuren im Popgeschäft. Heuer kommt sie solo
nach Luzern ans Blue Balls.
Beth Ditto ist die Fleisch gewordene
Antithese zu Britney Spears: Die 30-jährige Sängerin aus Searcy, Arkansas, ist
laut, schrill, dick und erfüllt auch sonst
kaum die Konventionen, die einem in
der Popindustrie den Weg an die Spitze
ebnen. Und trotzdem hat die Amerikanerin einigen Erfolg. Mit ihrer Band
Gossip stürmte sie im Jahr 2009 mit der
Single «Heavy Cross» die Charts. Zu
einer Art von gutem Gewissen wurde
Ditto auch für die Modeindustrie. Mitten in der Debatte über magere Models
lief sie über den Laufsteg, und Stardesigner Karl Lagerfeld erklärte die
100-Kilo-Frau zu seiner Muse.
Umso schöner, dass die schrille Ditto
nun im Sommer ans Blue Balls Festival
nach Luzern kommt (29. Juli, Luzerner
Saal, KKL). Ditto steht allerdings nicht
mit der Band Gossip auf der Bühne,
sondern solo – und mit den Tracks, die
ihr vom kongenialen Elektroduo Simian
Mobile Disco auf den voluminösen Leib
geschrieben wurden. Soeben ist Dittos
EP erschienen, drauf sind aber nur vier
Disco-Tunes zu hören. Aber sie machen
nicht zuletzt wegen ihres klaren Gesangs Lust auf deutlich mehr.
Feine Support-Acts
Tritt am Blue Balls
2011 auf: Beth Ditto.
Reuters
Neben Ditto wurde gestern auch das
Gastspiel von KT Tunstall (25. Juli,
Luzerner Saal) bestätigt. Die Schottin,
die bereits einmal am Blue Balls Festival
gastierte (2005), spielt wunderschönen
Singer/Songwriter-Pop, eingängig und
trotzdem mit individueller Note.
Einmal mehr beweisen die Verantwortlichen auch ein feines Händchen
bei den sogenannten Support-Acts:
Marina & The Diamonds eröffnen am
29. Juli mit spannendem Indiepop für
Ditto. Und The Secret Sisters, die man
sich am ehesten als weibliches und
entstaubtes Pendant zu den legendären
Everly Brothers vorzustellen hat, für
Tunstall (25. Juli).
Ben Harper kommt auch
Bereits früher für Blue Balls 2011 bestätigt wurden die Konzerte von Lenka
(22. Juli), Raphael Saadiq, Beverly Knight
(beide 23. Juli). Jonny Lang (26. Juli),
Heather Nova (27. Juli), Sophie Zelmani
und Ben Harper (beide 28. Juli). Tickets
kann man bereits jetzt auf www.ticketcorner.ch bestellen. Das Festival dauert
dieses Jahr vom 22. bis am 30. Juli.
MICHAEL GRABER
[email protected]
www...
Hören Sie einen der Solosongs von Beth Ditto unter
www.luzernerzeitung.ch/bonus
Herunterladen