Japan kämpft gegen den Super-Gau

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Handelsblatt Nr. 051 vom 14.03.2011 Seite 4
Japan kämpft gegen den Super-Gau
Die Meldungen über immer neue Störfälle in Japans Kernkraftindustrie überschlagen sich.Das
Land ringt mit der nuklearen Katastrophe und dem wirtschaftlichen Niedergang.
Finn Mayer-Kuckuk Tokio An der japanischen Nordostküste befinden sich zwei Kernreaktoren in
einem kritischen Zustand am Rande einer vollständigen Kernschmelze. Gestern am frühen Abend
deutscher Zeit meldete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf die örtliche Feuerwehr, dass
auch im Kernkraftwerk Tokai südlich von Fukushima das Kühlsystem ausgefallen ist. Derzeit
verhindert in den überhitzten Reaktoren nur der Einsatz von Feuerwehrwagen eine völlig
unkontrollierte Erwärmung des glühend heißen Atombrennstoffs. Mit ihren Pumpen transportieren sie
Seewasser zur Kühlung in die Druckbehälter. Sämtliche Pumpen und Generatoren in Block eins des
Kraftwerks in Fukushima sind schon seit Freitag ausgefallen. In Block drei haben in der Nacht zum
Sonntag die Batterien schlappgemacht, die die Notkühlung bisher mit Strom versorgt haben.
Das japanische Fernsehen verbreitet bereits Verhaltensregeln für den Fall radioaktiver Kontamination:
Wer in der Nähe der zwei Kraftwerksstandorte Fukushima Daiichi und Fukushima Daini draußen
unterwegs war, sollte seine Kleidung in einen Plastiksack packen und sich duschen. Hintergrund ist
die laufende Praxis, den Dampf aus dem Druckbehälter über ein Ablassventil in die Atmosphäre
entweichen zu lassen. Damit gelangen auch radioaktive Isotope in die Umwelt. Für den Fall einer
Ausweitung der Verseuchung empfehlen die Fernsehsender, eine Kapuze und eine chirurgische
Maske aufzusetzen und sich möglichst komplett zu vermummen, wenn sich ein Gang ins Freie nicht
vermeiden lässt.
"Es handelt sich ganz klar um eine sehr ernste Situation", sagt Aritomo Masanori vom Institut für
Reaktortechnik am Tokyo Institute of Technology. "Der Reaktor befindet sich sehr wahrscheinlich in
einem schlechten, instabilen Zustand."
Im Ausland galten die japanischen Sicherheitsvorkehrungen zuletzt immer noch als ausreichend,
obwohl das Land eine lange Geschichte von Störfällen hat. Auch Fukushima Daiichi war in der
Vergangenheit von Störungen betroffen und sollte laut Betreiber Tokyo Electric Power (Tepco) als
eines der ältesten japanischen Kernkraftwerke eigentlich nach gut 40 Jahren im Betrieb in den
kommenden Tagen planmäßig vom Netz gehen.
Die Betreiber bestehen trotz der aktuellen Entwicklung darauf, richtig geplant zu haben. "Dieser
ungewöhnlich starke Tsunami war unvorhersehbar", rechtfertigte gestern Tepco-Chef Masataka
Shimizu das Versagen von Fukushima Daiichi. Dem Erdbeben allein hätte das Kraftwerk nach seiner
Darstellung noch standhalten können. Doch die Zerstörung der gesamten Infrastruktur in dem
Küstenstrich habe der Einrichtung den Rest gegeben. Die Flutwelle hatte Generatoren unter Wasser
gesetzt, die eigentlich Strom für die Notkühlung liefern sollten.
Zuvor hatte Shimizu persönlich den Premier informiert. Wenig später bestellte Kan auch Toshiba-Chef
Norio Sasaki in sein Büro ein. Die Kernkraftsparte von Toshiba war seinerzeit an Bau und Ausstattung
des Unglückskraftwerks Fukushima in Nordostjapan beteiligt. Kan hat von dem Unternehmen
maximale Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Krise verlangt. Sasaki versprach, sofort ein Team
zusammenstellen zu lassen und es ins Krisengebiet zu schicken.
Ab dem heutigen Montag müssen sich die Verbraucher und Unternehmen im gesamten Liefergebiet
von Tepco auf Stromabschaltungen gefasst machen. Der Versorger wird einem festen Schema
folgend reihum für drei Stunden den Strom abstellen. Die Maßnahme gilt auch für Tokios noble
Einkaufsmeilen, auf denen die Geschäfte schließen werden. Autohersteller wie Toyota, Honda und
Nissan kündigten ohnehin Produktionsstopps an, weil Zulieferbetriebe und eigene Fabriken im
Erdbebengebiet auf absehbare Zeit ausfallen.
Ökonomen erwarten jedoch, dass Japan den Schlag mittelfristig verkraftet. "Der mittelfristige Effekt
dürfte ziemlich überschaubar sein", schreibt Ökonom Jeffrey Young von Barclays Capital. Unter
Vorbehalt von zusätzlichen Schäden durch radioaktive Kontamination ist sogar eine Stimulation der
Wirtschaft möglich - schließlich müssen ganze Landstriche wieder aufgebaut werden, was Wachstum
und Arbeitsplätze in der Bauindustrie bringt. "Die zusätzliche Nachfrage könnte dem Wachstum sogar
einen Schub geben", sagt auch Kenneth Goldstein von der Denkfabrik Conference Board. Japan hat
sich auch von früheren Großkatastrophen schnell erholt.
Auch die Finanzschwäche der Regierung ist nicht zwingend problematisch. Das Land ist zwar unter
den Industrieländern am höchsten verschuldet, doch die Verbindlichkeiten befinden sich fast
vollständig im Inland. Es sind vor allem die eigenen Bürger, die dem Staat ihr Geld leihen. Auch die
Nachfrage nach japanischen Staatsanleihen sieht trotz erster Herabstufungen durch internationale
Ratingagenturen noch stabil aus.
Es droht jedoch ein Anstieg der Inflation - Geld zu drucken wäre der einfachste Ausweg der Regierung
aus der Schuldenkrise. Diese Aussicht könnte nach Ansicht von Ökonomen den Außenwert des Yens
beeinflussen.
Kurzfristig erwarten die Experten von Barclays Capital jedoch sogar den umgekehrten Effekt: Die
Ereignisse in Japan tragen ihrer Ansicht nach zur globalen Unsicherheit bei und schaffen damit
Nachfrage nach sicheren Währungen - und dazu gehört trotz allem immer noch der Yen.
Für Deutschland wiederum dürfte der Effekt vernachlässigbar sein. Die dritt- und die viertgrößte
Volkswirtschaft der Welt exportieren zwar beide enorm viel - sind aber oft in den gleichen Märkten
unterwegs, beispielsweise in der Autoindustrie oder im Maschinenbau. Dafür fragen die beiden Länder
gegenseitig nicht so viel nach, weil sie einheimische Produkte bevorzugen. Im Ergebnis liegt Japan
auf der Liste von Deutschlands wichtigen Handelspartnern mit einem Anteil von zwei Prozent am
deutschen Warenaustausch erst auf Platz 14. Das Volumen des gegenseitigen Handels ist 2010 mit
35 Milliarden Euro deutlich geringer ausgefallen als die vergleichbaren Werte für China oder die USA.
Mayer-Kuckuk, Finn
14. März 2011
Hokkaido
RUSSLAND
Tomari
CHINA
Epizentrum
Honshu
Japans Atomkraftwerke
Onagawa
Sendai
Fukushima
NORDKOREA
Nagaoka
Tokai
Kanawaza
Tokio
Fukui
SÜDKOREA
Tsunami
nach Erdbeben
der Stärke 8,9
Toyota
Matsue
Hiroshima
Kyoto
Hamamatsu
Atomkraftwerk mit Notfall
vom Tsunami betroffene
Küsten (50 cm und höher)
dicht besiedelte Gebiete
Ikata
Gregory Bull/dapd
Saseto
Pazifischer Ozean
Kagoshima
300 km
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Quelle: Agenturen
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