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Ethik und die Möglichkeit einer guten Welt
Studien zu Wissenschaft und Ethik
Im Auftrag des
Instituts für Wissenschaft und Ethik
herausgegeben von
Matthias Lutz-Bachmann und Dieter Sturma
Band 4
W
Walter de Gruyter
· Berlin · New York
Ethik
und die Möglichkeit
einer guten Welt
Eine Kontroverse um die „Konkrete Ethik“
herausgegeben von
Andreas Vieth · Christoph Halbig · Angela Kallhoff
W
Walter de Gruyter · Berlin · New York
∞ Gedruck auf säurefreiem Paper
das die US-ASNI Norm über Haltbarkeit erfüllt
ISBN 978-3-11-020270-0
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb/d-nb.de> abrufbar.
© 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin
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außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Satz: PTP-Berlin Protago TEX-Production GmbH, Berlin (www.ptp-berlin.eu)
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort
Die gegenwärtige Ethik ist durch eine zunehmende Ausdifferenzierung von Ebenen
geprägt: So sieht sich die normative Ethik ,eingerahmt‘ von der Metaethik einerseits, der sog. angewandten Ethik andererseits. Die Debatten auf diesen Ebenen
verzweigen sich nicht nur immer weiter, sondern werden auch in weitgehender
Selbständigkeit voneinander geführt. Ludwig Siep tritt dieser Entwicklung mit
dem Entwurf einer ,Konkreten Ethik‘ entgegen, die er 2004 in Form einer bei
Suhrkamp erschienen Monographie vorgelegt hat. Methodisch geht die ,Konkrete
Ethik‘ von einem Verständnis von Ethik aus, das ihr Ziel nicht in der Ausarbeitung
von abstrakten Prinzipien sieht, die es dann nachträglich auf konkrete Probleme
zu applizieren gälte. Vielmehr versteht Siep das Projekt der ,Konkreten Ethik‘ als
gekennzeichnet durch die Bewegung der Konkretisierung von Kriterien des Guten: Im Zuge dieser Bewegung bestimmen sich Fragen der Metaethik wie die nach
der Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile, Probleme der normativen Ethik wie
die nach dem Verhältnis deontischer und konsequentialistischer Gesichtspunkte
in der Moral und solche der angewandten Ethik wechselseitig fort. Ihren Bezugspunkt erhält diese Bewegung durch die Frage nach der Bedeutung der guten Welt,
mit der Siep die zunehmende Engführung der neuzeitlichen Ethik zunächst auf
die Frage nach dem guten Leben nur des Menschen (im Gegensatz etwa zu den
Ansprüchen des Lebendigen insgesamt) und dann auf die Normierung des Zusammenlebens der Menschen untereinander (im Gegensatz etwa zur Frage nach der
Vervollkommnung ihrer selbst) entgegentreten will. Was Inhalt einer guten Welt
ist, lässt sich nicht a priori erfassen, sondern bleibt angewiesen auf die Erforschung
der empirischen Wirklichkeit und der Erfahrungen, die die Menschen im Laufe der
Geschichte mit ihr gemacht haben. Die ,Konkrete Ethik‘ öffnet sich damit bewusst
hin auf eine Hermeneutik der religiösen und kulturellen Traditionen der Menschheit, sie sucht aber auch in der Auseinandersetzung mit Problemen der Kultur- und
Naturethik den Dialog mit dem Forschungsstand der Naturwissenschaften.
Aus diesem methodologischen Selbstverständnis heraus ergibt sich die beeindruckende Vielfalt von Fragestellungen, denen die ,Konkrete Ethik‘ nachgeht. Sie reichen von der Frage nach der Bedeutung von Objektivität und Realität in der Ethik
bis hin zu Problemen des reproduktiven Klonens und des Bevölkerungswachstums.
Entsprechend vielfältige Ansatzpunkte ergeben sich für eine philosophische Auseinandersetzung mit der ,Konkreten Ethik‘. Der vorliegende Band setzt sich zum
Ziel, durch Beiträge philosophischer Fachkollegen die Debatte um die ,Konkrete
Ethik‘ zu fokussieren und zu dokumentieren. Er soll einen Beitrag leisten sowohl
VI
Vorwort
zur Arbeit an den philosophischen Sachfragen, aber auch zur weiteren Profilierung
des methodischen und inhaltlichen Ansatzes der ,Konkreten Ethik‘ im Spiegel der
Kritik. Die einzelnen Beiträge gehen dabei zum Teil einzelnen Argumenten nach,
wie Ludwig Siep sie in seiner Monographie entwickelt (auch wenn sie in sich verständlich sind und keine vorherige Lektüre des Buches voraussetzen), zum Teil
verfolgen Sie Querschnittsthemen oder untersuchen philosophische Grundbegriffe. Abgeschlossen wird der Band durch die Entgegnungen Ludwig Sieps auf die in
den Beiträgen aufgeworfenen Fragen, die in ihrer Gesamtheit zugleich Perspektiven
für die Weiterentwicklung des Projekts der ,Konkreten Ethik‘ erkennen lassen.
Der vorliegende Band ist Ludwig Siep zum 65. Geburtstag gewidmet. Er versteht sich auch als Dokument eines Dialogs, das wir als seine Schüler und die
Beitragenden als Freunde, Schüler und Kollegen mit ihm zu führen das Glück
hatten und haben.
Den Autoren danken wir für Ihre Beiträge. Ludwig Siep hat die für das Gelingen
dieses Bandes unerlässliche Aufgabe geduldig auf sich genommen, auf jeden Beitrag
mit einer eingehenden Entgegnung zu antworten. Dafür gilt ihm unser besonderer
Dank.
Die Herausgeber danken Franziska Quabeck für die Übersetzung eines Textes
aus dem Englischen, Elena Trauboth für eine erste Durchsicht und Vereinheitlichung der Texte und Bartosz Przybylek und Franziska Quabeck für die Identifizierung der internen Verweise, ferner Karina Schuller für die umsichtige Lektüre
der Korrekturfahnen. Matthias Lutz-Bachmann und Dieter Sturma gilt unser Dank
für die Aufnahme in die Reihe „Studien zu Wissenschaft und Ethik“.
Andreas Vieth
Christoph Halbig
Angela Kallhoff
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
„Mach’s gut, Knut!“
Johann S. Ach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Das Ganze und sein Wert
Kurt Bayertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Natürlichkeit und das Euthyphron-Dilemma
Dieter Birnbacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Über die Grundlagen einer konkreten Natur- und Kulturethik
Maximilian Forschner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Selbstbestimmung und konkrete Ethik
Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Natürlichkeit und Mannigfaltigkeit
als Kriterien der angewandten Ethik?
Bernward Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Ethische Gründe in der Konkreten Ethik
Christoph Halbig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Werte und Naturgegenstände
Angela Kallhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Umkämpfte Gestalt einer guten Welt
Torge Karlsruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Gründe und Motive
Jens Kulenkampff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Normen wertschätzen
Robert B. Louden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Holistische Ethik und wissenschaftliche Welterklärung
Barbara Merker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Ganzheit im Mitsein
Klaus Michael Meyer-Abich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
VIII
Inhaltsverzeichnis
Formen der Begründung in der Ethik
Georg Mohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Über Unbedingtes in der Konkreten Ethik
Michael Quante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Wertrealismus. Reflexionsgleichgewicht. Wertewandel.
Friedo Ricken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Kann die Konkrete Ethik auf den kategorischen Imperativ verzichten?
Peter Rohs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Bioethischer Konsens trotz inkompatibler
ethischer Grundpositionen?
Bettina Schöne-Seifert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Gefragt sei nach Gütekriterien für Themen der politischen Willensbildung
in einer „guten Welt“
Reinhard Ueberhorst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Philosophische Ethik als symbolische Kommunikation
Andreas Vieth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Erwiderungen
Ludwig Siep . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
„Mach’s gut, Knut!“
Mannigfaltigkeit und Artenschutz
von Johann S. Ach
I.
Am 5. Dezember 2006 brachte die Eisbärin Tosca im Berliner Zoo zwei Junge zur
Welt. Da Tosca sich nicht um ihren Nachwuchs kümmerte, verstarb eines der beiden Bärenkinder; das andere Eisbärbaby dagegen überlebte die ersten 44 Tage seines
Lebens in einem Brutkasten und wurde anschließend durch einen Tierpfleger von
Hand, d. h. mit der Flasche, großgezogen. Der kleine Eisbär wurde auf den Namen
Knut getauft. 109 Tage nach seiner Geburt konnte Knut in der Bärenfreianlage
des Zoologischen Gartens in Berlin der staunenden Öffentlichkeit gezeigt werden.
Knuts „Ziehvater“, der Direktor des Zoos und der Bundesumweltminister, der eine
Patenschaft für Knut übernommen hat, begleiteten den Bären auf seinem ersten
Ausflug. „Knut ist in guten und sicheren Händen und nicht bedroht“, so der Umweltminister bei dieser Gelegenheit, „aber seine Artgenossen sind es.“ Er kündigte
an, Knut zum Maskottchen einer internationalen Artenschutzkonferenz machen
zu wollen, die 2008 in Bonn stattfinden wird.1 Weltweit gibt es zwischen 20.000
und 25.000 Eisbären.2 Knut ist damit, wie der Direktor des Zoologischen Gartens
feststellt, „der Vertreter einer höchst bedrohten Tierart, die aber sehr populär ist.“3
„So ein Jungtier“ erklärte der Tierarzt des Berliner Zoos, „würde kein Zoo auf der
Welt einschläfern.“
Hintergrund dieser Äußerung des Tierarztes war die von einigen Tierschützern
erhobene Forderung, Knut zu töten, da die Aufzucht eines Bären per Hand nicht
artgerecht sei und einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz darstelle. Der Zoo lasse
zu, so das Argument, dass das Tier, das ausgewachsen zu den gefährlichsten Säugetieren der Welt zähle, den Rest seines Lebens verhaltensgestört sei.4 Die Forderung
nach einer Tötung Knuts wurde inzwischen zwar relativiert. Ein überlebensfähiges
1
2
3
4
www.heute.de/ZDFheute/inhalt/28/0,3672,5255516,00.html [15.04.2008].
www.polarbearsinternational.org/rsrc/Proc Seattle05.pdf [15.04.2008].
www.heute.de/ZDFheute/inhalt/28/0,3672,5255516,00.html [15.04.2008].
www.welt.de/vermischtes/article768024/Eisbaerbaby Knut entkommt der Todesspritze.html
[15.04.2008].
2
Johann S. Ach
Tier dürfe, heißt es nun, nicht getötet werden; die Tötungsforderung habe sich nur
auf die Zeit unmittelbar nach seiner Geburt bezogen.5
Der grundsätzliche ethische Konflikt, der der Forderung, Knut zu töten, zugrunde liegt, bleibt davon jedoch unberührt. Er lässt sich in etwa so formulieren:
Darf man ein Tier, das einer bedrohten Art angehört, für Zwecke des Arterhalts
am Leben erhalten, und zwar auch dann, wenn dies (möglicherweise) gegen dessen
Interessen verstößt? Und weiter: Darf man es in einem zoologischen Garten großziehen und halten, wo eine artgerechte Haltung nach einhelliger Auffassung – dies
gilt zumindest für Eisbären und eine Reihe weiterer Spezies – nicht möglich ist?
Noch allgemeiner stellt sich die Frage, ob sich der Schutz einer Art bzw. der
Erhalt der Artenvielfalt auf eine Weise begründen lässt, die es grundsätzlich oder
jedenfalls unter bestimmten Umständen als gerechtfertigt erscheinen lässt, die moralischen Ansprüche einzelner tierlicher Individuen zu übertrumpfen? Viele scheinen geneigt, diese Frage zu bejahen. Tatsächlich wird der Erhalt der Artenvielfalt
von vielen Menschen intuitiv als wichtig angesehen. Sie halten es zum Beispiel
für ein triftiges Argument gegen den Bau von technischen Anlagen oder Autobahnen, wenn diese den Lebensraum einer nur dort existierenden Art bedrohen.
Auch zoologische Gärten rechtfertigen – wie auch im Fall von Knut – ihre Existenz
nicht selten unter anderem mit der Erfordernis des Erhalts oder gar der „Wiederbelebung“ von Arten. Die meisten Menschen empfinden bei der Information, es
handle sich bei bestimmten Tierindividuen um „die letzten ihrer Art“, eine besondere Verpflichtung, bzw. bei der Nachricht, eine bestimmte Tierart sei ausgestorben
oder jedenfalls vom Aussterben bedroht, das Gefühl eines Verlustes.
Die Vielfalt der Arten ist Teil der „biologischen Vielfalt“ bzw. der „natürlichen
Mannigfaltigkeit“ (Siep), zu der auch die Vielfalt der Ökosysteme (Ökosystemdiversität) und die Vielfalt innerhalb der Arten (Speziesdiversität) bis hin zur genetischen Vielfalt (genetische Diversität) gehören.6 Der Wert eben dieser „natürlichen
Mannigfaltigkeit“, so Ludwig Siep in der Konkreten Ethik, lässt sich – erstens –
nur dann (ausreichend) begründen, wenn man einen „intrinsischen Wert der natürlichen Mannigfaltigkeit“7 annimmt. Dies spricht seiner Auffassung nach neben
vielen anderen Gründen, die hier nicht diskutiert werden sollen, – zweitens – für
eine holistische Ethikkonzeption im Unterschied zu anthropozentrischen, pathozentrischen oder biozentrischen Auffassungen. Um diese beiden Behauptungen soll
es im Folgenden gehen. Um zu sehen, wie plausibel diese beiden Behauptungen
sind, werde ich zunächst etwas darüber sagen, welche argumentativen Ressourcen
anthropozentrische und pathozentrische (II) bzw. biozentrische Ethikkonzeptionen (III) für den Erhalt der Mannigfaltigkeit bzw. den Artenschutz anbieten, und
5
6
7
www.welt.de/vermischtes/article768024/Eisbaerbaby Knut entkommt der Todesspritze.html.
Vgl. Galert 1998, S. 11.
KE 259.
„Mach’s gut, Knut!“
3
welche Probleme jeweils damit verbunden sind. In einem weiteren Schritt werde
ich dann den Versuch unternehmen, Sieps Argumente in dieser Frage zu rekonstruieren (IV), bevor an die von Siep vertretene holistische Position einige kritische
Anfragen gerichtet werden können (V). Zum Schluss komme ich noch einmal auf
Knut zurück (VI).
II.
Welche argumentativen Ressourcen stellen anthropozentrische und pathozentrische Ethikkonzeptionen im Hinblick auf den Erhalt bzw. den Schutz von Arten
bereit? Hier lassen sich eine Reihe von Argumenten vorbringen, die auch von Siep8
teilweise angesprochen werden9 : Dazu gehört zunächst der direkte Nutzen bzw.
der Ressourcenwert der Artenvielfalt für den Menschen. Pflanzen und Tiere dienen dem Menschen als Nahrungsmittel, als Reservoir von medizinisch nutzbaren
Produkten oder Substanzen, als Ressource für Bekleidungs- oder Baumaterialien, als Quelle neuen Wissens usw. Sofern und solange dies so ist, ist der Erhalt
der Vielfalt von Arten offenkundig aufgrund ihrer wirtschaftlichen, medizinischen
oder wissenschaftlichen Bedeutung im wohlverstandenen Interesse des Menschen.
Dies gilt, wie bereits John Stuart Mill anmerkte, sogar im Hinblick auf solche
Pflanzen- oder Tierarten, für die ein direkter Nutzen aktuell nicht ausgewiesen
werden kann. Denn niemand könne ausschließen, so Mill, dass „die Wissenschaft
nicht in dem unscheinbarsten Kraut dereinst möglicherweise eine für den Menschen heilsame Eigenschaft entdecken werde.“10 Hinzu kommt ein ökologischer
Wert der Artenvielfalt. Manche Lebewesen wirken als „Indikatororganismen“, die
Umweltbelastungen und damit potentielle Gefahren für den Menschen anzeigen.
Andere erbringen bestimmte „Ökosystemdienstleistungen“, die, wie zum Beispiel
der Transport von Nährstoffen oder die Reinigung von Boden und Wasser, auch für
den Menschen wichtig sind. Auch scheinen Ökosysteme mit größerer Artenvielfalt
stabiler zu sein als verarmte Ökosysteme (sog. Stabilitäts-Diversitäts-Hypothese) –
und folglich besser in der Lage, unerwünschte Nebenfolgen menschlicher Interventionen zu verkraften.11 Neben diesem direkten Nutzen hat die Vielfalt der Arten
auch einen Annehmlichkeitswert 12 bzw. einen ästhetischen Wert für den Menschen:
Die Existenz mancher Arten ist im Interesse des Menschen auch deshalb, weil der
Artenreichtum selbst oder jedenfalls die Mitglieder bestimmter Arten dem Men8
9
10
11
12
KE 256 f.
Vgl. zum Folgenden: Birnbacher 1988, S. 224 f.; Galert 1998, S. 12 ff.; Rippe 1994, S. 807 f.
Zit. nach Birnbacher 1988, S. 224, Fn. 65.
Vgl. Ehrenfeld 1997, S. 143 f.
Vgl. Galert 1998, S. 12.
4
Johann S. Ach
schen durch ihr Aussehen, ihre Verhaltensweise oder ihre soziale Struktur einen
ästhetischen Genuss bereiten13 oder ihm erst die Ausübung bestimmter Aktivitäten ermöglichen, die als angenehm, erholsam oder genussreich empfunden werden.
Eng damit zusammen hängt ein „wahrnehmungstheoretisches Argument“14: Die
Mannigfaltigkeit, Komplexität und Differenziertheit der Artenvielfalt haben einen
kultivierenden Wert, weil sie die Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen herausfordern, ihre Ausübung und weitere Ausbildung und Verfeinerung stimulieren.
Manche Arten besitzen darüber hinaus auch einen kulturellen Wert. Zu denken
wäre dabei zum Beispiel an Arten, denen eine literaturgeschichtliche, kulturgeschichtliche oder religiöse Bedeutung zukommt, oder die, wie der Weißkopfadler,
als Wappentier Träger einer symbolischen Bedeutung sind.
Manche der angeführten direkten Gründe für den Artenschutz gelten nicht nur
für den Menschen, sondern auch für andere (schmerz-)empfindungsfähige Lebewesen. Pathozentrische bzw. sentientistische15 Ethikkonzeptionen können darüber
hinaus weitere Argumente anführen. So liegt es zum Beispiel offenkundig im Interesse von – zumindest einigen – Tierindividuen, dass eine ausreichende Anzahl
an Artgenossen vorhanden ist, die als Sozial- und Fortpflanzungspartner zur Verfügung stehen.
Anthropozentrische und pathozentrische Ethikkonzeptionen stellen also eine
ganze Reihe von Argumenten für den Erhalt der Artenvielfalt zur Verfügung. Allerdings ist der Schutzumfang für biologische Arten im Rahmen dieser Ethikkonzeptionen, wie Siep zu Recht hervorhebt, beschränkt. Zum einen wird sich mit
anthropozentrischen oder pathozentrischen Argumenten vermutlich nicht für jede
Art eine Schutzpflicht begründen lassen, die auf das wohlverstandene Eigeninteresse
des Menschen oder bestimmter Tiere zurückgeführt werden kann. Die Möglichkeit, dass einer Art weder ein Ressourcenwert noch ein irgendwie zu beschreibender „indirekter“ Nutzen zukommt, kann jedenfalls nicht prinzipiell ausgeschlossen
werden. Auch das Argument von Mill, dass das Potenzial bislang nicht beschriebener und untersuchter Pflanzen- oder Tierarten im Hinblick auf eine zukünftige
Nutzung nicht absehbar sei, hilft hier nur eingeschränkt weiter: Im Konfliktfall
werden die Vertreterinnen und Vertreter anthropozentischer oder pathozentrischer
Ethikkonzeptionen dem konkreten Nutzen für die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gegenüber dem bloß hypothetischen Nutzen des Arterhalts in der Regel
den Vorzug geben.
Solche Abwägungsentscheidungen sind für anthropozentisch oder pathozentrisch argumentierende Positionen freilich auch dann unumgänglich, wenn ein
13
14
15
Vgl. Rippe 1994, S. 808. Dies gilt wohl auch für Eisbären, wie das weltweite Interesse an Knut
zeigt.
KE 256.
Vgl. Ach 1999, Kap. III.
„Mach’s gut, Knut!“
5
direkter oder indirekter Nutzen einer Art für menschliche oder nicht-menschliche
Lebewesen aufgezeigt werden kann. Auch der mögliche Ressourcenwert einer Art
oder ihr ästhetischer Wert können – und müssen – im Rahmen dieser Konzeptionen
gegen andere ökonomische, wissenschaftliche usw. Interessen abgewogen werden.
Weil solche Abwägungen prinzipiell auch zuungunsten des Artenschutzes ausgehen
können, ist der „Grad der Mannigfaltigkeit“, der im Rahmen dieser Konzeptionen
begründet werden kann, wie Siep hervorhebt, tatsächlich „immer abhängig von
anderen Zwecken.“16 Zum Wegfall möglicher Gründe für einen am Eigeninteresse
orientierten Artenschutz tragen schließlich auch Fortschritte in der genetischen Rekombinationstechnologie oder dem reproduktiven Klonen bei. Wenn Artenschutz
auch „in vitro“ möglich ist und sogar die Möglichkeit besteht, ausgestorbene Arten
wiederzubeleben bzw. gänzlich neue Arten künstlich zu erzeugen, fallen einige der
angeführten Gründe für den Artenschutz kaum noch ins Gewicht.
Siep weist darüber hinaus auf ein weiteres Problem hin: Nicht nur ist der Umfang der Schutzpflicht in anthropozentrischen und sentientistischen Ethikkonzeptionen eingeschränkt; auch bleibt unklar, warum es sich bei der schützens- und
erhaltenswerten Mannigfaltigkeit um eine „natürliche“ Mannigfaltigkeit handeln
muss.17 Von dem Einwand, den man hier vorbringen könnte, sind vor allem das ästhetische und das Kultivierungs-Argument betroffen: Solange man nicht plausibel
machen kann, dass „natürliche“ Mannigfaltigkeit im Hinblick auf ästhetische Bedürfnisse des Menschen unersetzbar ist, bzw. dass nicht auch andere Varianten der
Mannigfaltigkeit als veranlassende Erfahrung für eine Ausübung und Verfeinerung
menschlicher Wahrnehmungsfähigkeiten fungieren können, bleibt das Argument
zumindest stumpf. Ich werde auf die Frage der Natürlichkeit später noch einmal
zurückkommen.
Wenn Siep die argumentativen Ressourcen, die anthropozentrische und sentientistische Positionen anbieten, nicht für ausreichend hält, dann offenbar deshalb,
weil Artenvielfalt bzw. natürlicher Mannigfaltigkeit im Rahmen solcher Ansätze
kein eigener, abwägungsfester Wert zukommt. Dies wiederum liegt daran, dass
beide Konzeptionen im Kern individualistisch sind: Für anthropozentrische und
sentientistische Positionen kommen nur einzelne Individuen als Träger von Würde
bzw. von Rechten und Interessen in Frage. Moralische Schutzansprüche können
sich daher nur auf „Personen“, „empfindungsfähige Lebewesen“ (Peter Singer), auf
„Subjekte eines Lebens“ (Tom Regan) etc. beziehen. Tom Regan, einer der Vorreiter der modernen Tierrechts-Bewegung, bringt dies im Hinblick auf den von ihm
vertretenen Rechts-Ansatz mit den folgenden Worten auf den Punkt:
16
17
KE 257.
Vgl. KE 257.
6
Johann S. Ach
„The rights view is a view about the moral rights of individuals. Species are not individuals,
and the rights view does not recognize the moral rights of species to anything, including
survival. What it recognizes is the prima facie right of individuals not to be harmed, and thus
the prima facie right of individuals not to be killed. [. . . ] The rights view is not opposed to
save the endangered species. It only insists that we be clear about the reasons for doing so. On
the rights view, the reason we ought to save the members of endangered species of animals
is not because the species is endangered but because the individual animal have valid claims
and thus rights against those who would destroy their natural habitat, for example, or who
would make a living off their dead carcasses through poaching and traffic in exotic animals,
practices that unjustifiably override the rights of these animals.“18
Artenschutz bekommt im Rahmen individualistischer Ethikkonzeptionen erst dann
eine moralische Bedeutung, wenn er im (wohlverstandenen) Interesse gegenwärtig
oder in der Zukunft lebender individueller menschlicher oder tierlicher Mitglieder
der moralischen Gemeinschaft liegt. Diese Position ist von Kritikern als „Bankrott
des Individualismus“ in der Frage des Artenschutzes bezeichnet worden.19
III.
Anthropozentrische Ethikkonzeptionen schreiben dem Menschen (und nur dem
Menschen) einen intrinsischen moralischen Status und entsprechend eigene moralische Ansprüche zu. Pathozentrischen bzw. sentientistischen Ansätzen zufolge verdienen alle empfindungsfähigen Lebewesen moralische Rücksicht um ihrer selbst
willen. Biozentrische Ansätze endlich gehen über anthropozentrische und sentientistische Ansätze hinaus, insofern sie allen Lebewesen einen intrinsischen moralischen Status zuschreiben. Im Hinblick auf Fragen des Artenschutzes bzw. den
Schutz der „natürlichen Mannigfaltigkeit“ teilen biozentrische Ansätze daher zunächst dasselbe „Schicksal“ wie anthropozentrische und pathozentrische Konzeptionen. Auch biozentrische Ansätze sind individualistische Ansätze. Um ihrer selbst
willen Rücksicht verdienen im Rahmen biozentrischer Ansätze lebendige Individuen. Paul W. Taylor beispielsweise bringt dies zum Ausdruck, wenn er behauptet,
jeder individuelle Organismus sei als ein „teleologisches Zentrum von Leben“ zu
verstehen, das sein eigenes Wohl auf seine eigene Weise verfolge.20 Biozentrische
Ansätze wie der von Taylor können eben deshalb, wie Siep zu Recht feststellt,
„den Wert der natürlich entstandenen Mannigfaltigkeit als solcher“ ebenso wenig
begründen wie anthropozentrische oder pathozentrische Ansätze:
18
19
20
Regan 2003, S. 71.
Norton 1987, S. 166.
Taylor 1997, S. 125.
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