Germanistik Claus Sölvsteen Ethische und gesellschaftskritische Motive in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" Bachelorarbeit Ethische und gesellschaftskritische Motive in Arthur Schnitzlers Traumnovelle von Claus Sölvsteen Bachelorarbeit Aalborg Universität, Dänemark Germanistik, Institut für Kultur und Globalen Studien 1. Einführung Vielen Interpretationen haben schon die erotischen Elemente in Arthur Schnitzlers Traumnovelle dargelegt. In dieser Analyse wird aber näher auf Elemente eingegangen, die als nicht-erotisch bezeichnet werden können. Es soll vorgeschlagen werden, dass man die Novelle eher im Licht von Ethik und Humanismus als im Licht von Eros und Trieb sehen kann. Am ersten Blick mag ein solcher Vorschlag merkwürdig vorkommen: Albertines Traum ist unverhohlen erotisch, Albertine und Fridolin erzählen einander erotische Fantasien, und in der Villa wird Fridolin orgiastischen Geschlechtsverkehr mit sadomasochistischen Untertönen ausgesetzt. Aber sonst? Inwiefern sind Fridolins übrige Erlebnisse in der ersten Nacht erotisch? Und wie ist es mit dem zweiten Tag/der zweiten Nacht? Wie hängen eigentlich Fridolins Erlebnisse am zweiten Tag mit Albertines Traum zusammen? Und schlieβlich: Beinhaltet das angeblich glückliche Ende erotische Versprechen, oder zielt Schnitzler auf etwas anderes? In der vorliegenden Arbeit wird versucht, auf diese Fragen näher einzugehen. Keineswegs soll hier bestritten werden, dass “Unterdrückung der weiblichen Sexualität” und “Verborgene Lüste in der bürgerlichen Ehe” wichtige Motive in Traumnovelle sind1. Nur soll hier darauf hingewiesen werden, dass die Novelle zusätzlich eine Reihe von nicht-erotischen Motiven beinhaltet, die wenigstens so wichtig sind wie die erotischen Motive. In dieser Hinsicht ist diese Arbeit besonders von zwei Literaturwissenschaftlern beeinflusst, und zwar William Rey, der die Novelle in einem humanistisch/ethischen Licht liest, und Jill Scott, die die Novelle als Kommentar zur Ersten Republik Österreich versteht. Mit diesen Betrachtungen übereinstimmend, wird hier Fridolins Handlungen eher auf Ethik und Humanismus als auf Eifersucht und Rache basiert gesehen, seine Erlebnisse vor dem Traum werden als Kommentare zur dekadenten Donaumonarchie verstanden, und seine Erlebnisse nach dem Traum werden als Kommentar zur Neuen Österreichischen Republik verstanden. Vor der eigentlichen Textanalyse werden kurz einige Bemerkungen zum Titel und zur Erzähltechnik gemacht, weil diese für die gesamte Analyse bedeutsam sind. 2.1 Der Titel ‚Traumnovelle‘ Der Titel Traumnovelle gibt unmittelbare Assoziationen zu Sigmund Freuds Traumdeutung und dessen Fokussierung auf einen erotischen Inhalt der Träume. Die Geschichte beinhaltet aber nur einen Traum, und die Frage liegt nahe, warum Schnitzler in dieser Weise den einzigen vorkommenden Traum hervorhebt. Weiter weist die Geschichte 1 Siehe z.B. die wichtigen Beiträge von Perlmann: Schnitzler, 1987a; Perlmann: Traum, 1987b; Scheffel: Formen. 2 unmittelbar die Merkmale einer Novelle auf, und auch hier könnte man sich fragen, warum es Schnitzler so wichtig war, die Gattung im Titel zu erwähnen. Schnitzlers Tagesbuchaufzeichnungen zufolge ist er spätestens 1907 mit dieser erst 1925/26 erschienenen Novelle angefangen. Zunächst war der Arbeitstitel „Doppelgeschichte“, dann „Doppelnovelle“ und erst 1924 bekam die Novelle den Titel „Traumnovelle“2. Schnitzler hat also erst “Doppel” durch “Traum” ersetzt, nachdem er 1922 seine Gespräche mit Sigmund Freud angefangen hat3. Warum hat Schnitzler den Arbeitstitel so spät geändert? Um den Titel zu erklären, schlägt Krotkoff vor, dass Schnitzler, der eine gewisse Skepsis der Psychoanalyse gegenüber hegte, vielleicht durch die im Titel explizit erwähnte Novellengattung davor warnen wollte, den Text als einen freudianischen Fall zu lesen4. Es gehe in der Novelle um keine Wiedergabe eines realen Traums, sondern um einen literarisch konstruierten Traum, und er müsse als solcher analysiert werden. Man muss sich also bewusst machen, ob man Albertines Traum als literarisches Produkt oder als wirklichen Traum analysiert. Als literarischen Traum kann man ihn natürlich mit gewöhnlichen literarischen Methoden analysieren, darunter nach Symbolen und Bedeutungen suchen. Verwendet man aber die freudschen Traumdeutungsmethoden und – Symbole auf dem literarischen Traum, dann wird übersehen, dass der Traum konstruiert und nicht real ist, und dass der Autor den Traum an den gesamten Text angepasst hat. Falls Schnitzler tatsächlich durch die Erwähnung der Gattung im Titel vor einem psychoanalytischen Lesen warnen würde, ist es ihm teilweise misslungen, weil eine Reihe von Interpretationen nicht nur den Traum, sondern auch Fridolins Erlebnisse durch Freuds Brille lesen5. Weiter hat die Titelhervorhebung vom einzigen vorkommenden Traum den 2 Spiel: Abgrund, S.167; Scheffel: Formen, S.180 Perlmann:Schnitzler, 1987a, S.159 4 Krotkoff: Themen 5 Siehe z.B. Scheible: Aufklärung; Kluge: Wunsch; Santner: Masters; Scott: Fantasies 3 3