9 Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler Theoriearbeit in der Politikwissenschaft. Eine Gebrauchsanleitung Theoriearbeit in der Politikwissenschaft Dieses Buch versteht sich als Einführung für Studierende in den Umgang mit politischen Theorien. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung von Kompetenzen, die für die Anwendung und die Weiterentwicklung politischer Theorien und Konzepte im politikwissenschaftlichen Studium und in der politologischen Forschung unerlässlich sind. Oft fehlen Studierenden das grundlegende Wissen und der erforderliche Mut, die für die Auswahl und Anpassung theoretischer Konzepte an konkrete Forschungsfragen notwendig sind. Viele machen daher die Erfahrung, dass ihr theoretischer Zugang in Seminar- oder Masterarbeiten unzulänglich oder unbrauchbar ist. Das Verfassen und Nachjustieren des berühmten »Theoriekapitels« wird mitunter zur Qual, was eine negative Einstellung und Berührungsängste gegenüber Theorien fördert. Theoriearbeit in der Politikwissenschaft soll hier Abhilfe schaffen. Das Buch vermittelt Grundlagen im Umgang mit Theorien, führt konkrete Theoriearbeit exemplarisch vor und gibt Hilfestellung und Anregungen bei der Wahl und der Adaption theoretischer Ansätze für die eigene Arbeit. Mit der Umstellung der universitären Studienpläne auf das BolognaSystem kam es zu einem Boom an einführenden Publikationen, die sich vorrangig an Bachelorstudierende wenden (z.B. Bevc 2007, Schwaabe 2007, 2010). Das vorliegende Buch ist speziell für das Masterstudium konzipiert, ohne jedoch besondere Theoriekenntnisse vorauszusetzen. Es trägt somit der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Studierenden ein politikwissenschaftliches Vorstudium absolviert haben. Dennoch wird nicht einfach die Theorievermittlung des Bachelorstudiums wiederholt. Stattdessen liegt der Fokus auf grundlegenden Fähigkeiten im Umgang mit Theorien, die in allen politikwissenschaftlichen Teilgebieten und in den zunehmend spezialisierten Modulen des Masterstudiums erforderlich sind. Kaum eine Seminararbeit 10 Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler kommt ohne theoretische Fundierung aus, für Abschlussarbeiten ist Theorie ein Muss. Während der Theoriebedarf alle Teilbereiche der Politikwissenschaft betrifft, ist an einigen deutschsprachigen Universitäten zudem Politische Theorie und Ideengeschichte als Teilfach verankert. An der Universität Wien wurde dieses Modul mit dem Zusatz Theorieforschung versehen. Dies soll zum Ausdruck bringen, dass politische Theorien selbst ein Forschungsfeld bilden können, das ebenfalls methodisch überlegter Verfahren und erlernbarer Herangehensweisen bedarf. Auch dieses Spektrum der Theoriearbeit wird im vorliegenden Buch abgedeckt. Neben Grundlagen der Theoriearbeit werden Kernbegriffe und -theorien der Politikwissenschaft sowie aktuelle theoretische Kontroversen vorgestellt und diskutiert. Zudem wird anhand konkreter Forschungsfelder der Einsatz von Theorien exemplarisch vorgeführt. Das Buch Theoriearbeit in der Politikwissenschaft ist im Rahmen mehrerer Workshops und einer jährlich stattfindenden Ringvorlesung an der Universität Wien von den AutorInnen gemeinsam entwickelt und erprobt worden. An der Erstellung haben daher vorrangig Lehrende und Forschende dieser Einrichtung mitgearbeitet, zusätzlich wurden jedoch weitere AutorInnen aus Deutschland und der Schweiz zur Mitwirkung eingeladen. Auch die Wahl der exemplarischen Themen orientierte sich zunächst an den Forschungsschwerpunkten und Kompetenzen der Politikwissenschaft in Wien. Dennoch wurde darauf geachtet, Themen und Forschungsfelder zu behandeln, die von Studierenden häufig für Abschlussarbeiten nachgefragt werden und für eine breitere deutschsprachige LeserInnenschaft relevant erscheinen. Gemeinsam ist allen Beiträgen der Anspruch eines kritischen Umgangs mit Theorien. Die einzelnen Beiträge versuchen jeweils, ein Problem- oder Themenfeld theoretisch zu ergründen, die zur Anwendung kommenden Theorieansätze nachvollziehbar zu machen und den eigenen Zugang offenzulegen. Dementsprechend wird nicht eine Lesart als einzig gültige präsentiert, sondern es werden alternative Möglichkeiten der Theorieauswahl diskutiert. Dies soll es den Studierenden erleichtern, selbst in die Theoriearbeit – etwa für Seminarund Abschlussarbeiten – einzusteigen. Theoriearbeit in der Politikwissenschaft Theoriearbeit ist nicht nur notwendig für empirische Forschung, sie kann zudem als eigenständige und spannende Tätigkeit erfahren und betrieben werden. Voraussetzungen sind Neugier, Fantasie und ein gewisses Maß an Sensibilität für relevante und interessante Problemstellungen. Wer mehr Theoriearbeit in der Politikwissenschaft oder weniger verborgene gesellschaftliche Probleme und Konflikte analysieren will, kann durch weiteres Theoriestudium zu begrifflichen Instrumenten gelangen, die Erklärungen, aber auch kritisches Hinterfragen ermöglichen. Der Soziologe Pierre Bourdieu (1993, S. 8) weist darauf hin, dass zur Theoriearbeit oftmals »nicht eine Schwierigkeit des Verstandes, sondern eine des Willens überwunden werden muss«. Der vorliegende Einführungsband soll in diesem Sinn den Willen zu Theorie stärken, zu kreativer Theoriearbeit ermutigen und den Weg dorthin ebnen. Niemand hat als »große DenkerIn« das Licht der Welt erblickt. Selbst RepräsentantInnen »großer Theorien« haben sich ihre Positionen im intellektuellen Feld erarbeiten und erstreiten müssen. Die »Arbeit des Denkens« (Bourdieu 2002b, S. 27) lässt sich erlernen, so man sich auf sie einlässt. Die in den Beiträgen des Bandes dargelegten Aspekte der Theoriearbeit gründen auf Erfahrungen aus vielfältigen politischen Praxis- und Erkenntnisfeldern und sind zudem unterschiedlichen Theorieverständnissen geschuldet. Jede Problemstellung bedarf im Grunde eines eigenen theoretischen Zuschnitts. Theorien sind niemals Konfektionswaren, mit ihnen und an ihnen muss permanent gearbeitet werden. Dies stellt eine Herausforderung für Studierende, aber auch für Lehrende dar. Theoriearbeit ist als kollektives Lern- und Arbeitsunternehmen zu begreifen. Theoretische Suchbewegungen führen zunächst in das Archiv politischer Ideen und Begriffe und laden zur Neuentdeckung toter oder tot geglaubter Klassiker (dann und wann selbst Klassikerinnen) ein (Kreisky/Löffler 2010, S. 90). Auf den »Schultern von Riesen« lässt sich neues Theorienland erschließen: »Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, kann weiter sehen als der Riese selbst« (Merton 1983, S. 15).1 Selten sind Theorieinnovatio­nen autark vom gesellschaftlichen und intellektuellen Umfeld. Stets werden ­Ideen oder Konzeptualisierungsversuche anderer aufgenommen und weitergesponnen. Politische Theorien entstehen dabei nicht zuletzt in Reaktion auf hervortretende Erklärungsnöte. Ungewöhnliche Ereignisse, ungewohnte Phänomene oder krisenhafte Tendenzen bedürfen theoretischer Reflexionen, wenn sie nicht (mehr) im Rahmen vertrauter theoretischer Schemata erfassbar sind (Kreisky/Löffler 2010, S. 89 f.). 1 Der Aphorismus wird meist mit dem 17. Jahrhundert verbunden und Isaac Newton zugeschrieben. Diese Metapher zur Veranschaulichung von Erkenntnisfortschritten ist jedoch wesentlich älter, zumal sie auf das Jahr 1120 zurückgeht. Als sein Urheber gilt Bernhard von Chartres, der sich auf die Leistungen der gelehrten Riesen der Antike bezieht, um den Fortschritt der Wissenschaftszwerge des 12. Jahrhunderts zu veranschaulichen. 11 12 Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler Im Studium der Politikwissenschaft wird vielfach suggeriert, man müsse sich aus dem unübersehbaren Angebot nur für die richtige Theorie entscheiden, dann gelinge theoriegeleitete Forschung wie von selbst. Vorbehaltlose Identifikation mit einer Theorieschule wird aber nur über Dogmatisierung und absolute Unterwerfung gelingen, was neue Erkenntnisse eher behindert als ermöglicht. Jede »Einzäunung von Ideen in ein Dogma« (Wolf 2010, S. 315) ist daher aus unserer Sicht zurückzuweisen. Die Immunisierung gegen Kritik kann, so vermuten manche fälschlicherweise, Verunsicherungen und Krisen im Zuge von Theoriearbeit vermeidbar machen. Doch die Festlegung auf eine Theorieschule entlastet keineswegs von der Begründungspflicht, die nicht ersetzt werden kann, indem Kritiken abgewehrt oder andere theoretische Ansätze ausgeschlossen werden. Notwendig ist es jedenfalls, sich möglicher Einseitigkeiten, Mängel und Grenzen theoretischer Erkenntnisse gewiss zu werden. Theoretischer Erkenntnisgewinn setzt dabei eine prinzipiell kritische Grundhaltung voraus. Dies soll aber nicht dazu veranlassen, einfach »alle Alternativen zur eigenen Position Revue passieren« zu lassen, wie Bourdieu (1993, S. 8) den »akademischen Denkstil« charakterisiert. Vielmehr geht es darum, im (selbst-) prüfenden Verfahren eventuell bessere theoretische Alternativen zu finden und auch zuzulassen. Selbst ein raffinierter Theorienmix vermag eine geeignete theoretische Fundierung der Problemstellung abzugeben. Politische Theorie als Politikum Auch sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse verlangen nach Infragestellung theoretischer Festlegungen. In beständiger Begriffsarbeit verwirklicht sich die »Bewegung des Wissens« (Hegel 1969, S. 55). Das Feld der Theorie findet sich also in dauernder Bewegung und Umwälzung. Verstärkend wirkt noch, dass unausgesetzt innerhalb der Disziplin »die orthodoxe Generation von einer häretischen Generation in Frage gestellt« wird (ebd., S. 26). In der Geschichte der Politikwissenschaft lassen sich dementsprechend Zyklen von Anpassung und Veränderung theoretischer Ausrichtungen aufzeigen: Als Ende der 1940er-Jahre die IPSA (International Political Science Association) gemeinsam mit der UNESCO den Ausbildungskanon der Politikwissenschaft aushandelte, war unumstritten, dass das Fach auch theoretisch und ideenhistorisch befestigt werden müsse. Es gibt kein politisches Problem, das ohne Rückgriffe auf politisch-theoretische Vorstellungen historischer wie zeitgenössischer Art erörtert werden könnte. Theorie hat nicht nur (selbst-)reflexive Bedeutung, sie schärft zudem das begriffliche Instru- Theoriearbeit in der Politikwissenschaft mentarium praxisrelevanter Politikwissenschaft. Aktuell ist jedoch mit der Implementierung des Bologna-Projektes eine verstärkte Zurückdrängung des Kernfachs Politische Theorie und Ideengeschichte zu konstatieren. Eine solche Tendenz ist im gesamten deutschsprachigen Raum spürbar, sie ist jedoch nicht unbedingt neu. Bereits Anfang der 1950er-Jahre sprach der britische Historiker Alfred Cobban (1953, S. 321) von einem Verfall politischer Theorie: »For the moment, anyway, political philosophy is dead.« Sein Landsmann Peter R. Laslett (1956: vii) bezeichnete politische Ideengeschichte als Musealisierung, beklagte den Niedergang westlicher Traditionen theoretischer Reflexion und forderte eine neue Methodologie der Ideengeschichte (White 2004, S. 1).2 Im Grunde fokussierten beide Kritiken auf das Ausbleiben »großer Theorien«, die eigentlich benötigt würden. Die Theoriedebatten der 1950er-Jahre standen zunächst im Schatten des Kalten Krieges und der Erscheinungsformen der West-Ost-Konkurrenz. Marxistische Theorien hatten in diesem politisch-intellektuellen Klima wenig Chancen auf Akzeptanz und Weiterentwicklung: Im »Westen« waren sie teilweise verfemt. Im »Osten« waren sie zur orthodoxen Glaubenslehre verkommen. Polemiken und Missverständnisse prägten die diskursive Konstellation. Der Marxismus in seinem strenggläubigen leninistischen Schliff verunglimpfte westliche politische Theorien als »Klassenideologie« (ebd., S. 1). Westlichen KritikerInnen aber mangelte es manchmal an ausreichendem Differenzierungsvermögen zwischen dem sich auf Marxismus-Leninismus berufenden »Realsozialismus« und dem theoretischen Erkenntnisprogramm von Karl Marx. Marxismus als Erkenntnisprogramm lebte erst mit der StudentInnenbewegung der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre in Gestalt neomarxistischer Theoretisierungen ( Kritische Theorie) wieder auf. Marxistischen und anderen gesellschafts- und geschlechtskritischen Theorieprogrammen wurde in dieser Ära positivistisch, behavioralistisch oder systemtheoretisch gekontert. Um Hegemonie im Feld der Theorie wurde also leidenschaftlich gekämpft. Die »behavioralistische Revolution« hatte sich in den USA unter dem Einfluss von funktionalistischer Systemanalyse und pluralistischer Theorie entfaltet. 2 Einige seiner Schüler, insbesondere Quentin Skinner und John Pocock, entwickelten im Laufe der 1960er-Jahre die »Cambridge School« kontextualisierender Ideengeschichte (Mulsow/ Mahler 2010, S. 7). Begriffe und Ideen müssten in ihren historischen und sozialen Kontexten beurteilt und interpretiert werden. Neben diesem aus Erfahrungen historischer Forschung hervorgegangenen kontextualisierenden Ansatz spielten im Laufe der Zeit zunehmend auch sprachphilosophische Einsichten eine bedeutsame Rolle: Immer häufiger wurden politische Ideen als diskursive Interventionen und Sprechakte betrachtet. 13 14 Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler Sie traf sich mit dem unbändigen Verlangen der Politikwissenschaft nach »harter« Verwissenschaftlichung. »Ahnherren« des politikwissenschaftlichen Behavioralismus waren David Easton, Gabriel A. Almond, Harold D. Lasswell, Sidney Verba, Herbert Simon u.a.m. Bereits 1937 hatte Talcott Parsons, in Reaktion auf die ökonomischen und sozialen Krisenverhältnisse jener Zeit, ein Modell sozialen Handelns vorgelegt (Parsons 1937), das er in den 1940erJahren zum »Struktur- bzw. Systemfunktionalismus« erweiterte. 1951 brachte er die »Systemanalyse« als neue »große« Theorie in die Sozialwissenschaften ein (Parsons 1951), gewiss auch in Konkurrenz zu jenen marxistischen Gesellschaftstheorien, die die gesellschaftliche Totalität in den Blick nehmen. Das »politische System«, definiert über individuelle und kollektive Verhaltensweisen, galt Parsons als Zentrum der Integration aller Teilbereiche des gesellschaftlichen Systems. David Easton (1953) importierte dies in die Politikwissenschaft und verwarf die traditionell-institutionellen Denkweisen und die normativ aufgeladenen Konzepte früherer PolitologInnen: Weder Staat noch Macht erkannte er als Grundbegriffe an, die politikwissenschaftliche Forschung voranzubringen vermögen. PolitikwissenschafterInnen hätten vielmehr Funktions- und Wirkungsweisen des politischen Systems zu analysieren, das Easton als jenes Interaktionsverhältnis ortete, durch das Werte in einer Gesellschaft autoritativ zugewiesen werden. Eine solche Analyse fokus­siert daher auf den Entscheidungsprozess, wie diese Verteilung zustande kommt und wie das gesellschaftliche Gleichgewicht abgesichert wird. Nach den ursprünglich eher normativen und deskriptiv-institutionalistischen Anläufen des Faches folgte damit eine Phase »szientistischer Raserei« (Bourdieu 2002b, S. 70), angeleitet von positivistischen Wissenschaftspostulaten und weitgehend eingeschränkt auf quantitative Forschung. Ab den 1970er-Jahren fanden aber auch gesellschafts- und wissenschaftskritische Theorien und qualitative Forschungsausrichtungen Akzeptanz. Diese wechselnden Ausrichtungen politikwissenschaftlicher Lehre und Forschung ­waren durch äußere politische Bedingungen – etwa die Universitäts- und Wissenschaftspolitik –, aber auch durch vielfältige soziale und demokratische Bewegungen3 bestimmt. Bis in die 1970er-Jahre fanden harte Kontroversen um das Politikwissenschaftsverständnis statt. Der Konfrontationskurs zwischen den Wissenschaftsströmungen und Theorieschulen wurde 3 Civil Rights Movement in den USA, Vietnamkriegsopposition, neue Frauenbewegung, antikoloniale Bewegungen in den Peripherien und Solidaritätsbewegungen in den Zentren, Antiatomkraft- und ökologische Initiativen, Friedensbewegungen, globalisierungskritische Bewegungen usw. Theoriearbeit in der Politikwissenschaft allmählich abgeschwächt und machte einem pluraleren Wissenschafts- und Theorieverständnis Platz. Dann erst sollte auch respektvolleres Neben- und Miteinander möglich werden. In den 1960er- und 1970er-Jahren war in der deutschsprachigen Politikwissenschaft von der »Trias« der Theorieschulen die Rede: normativ-ontologische, empirisch-analytische und dialektisch-kritische Theorieansätze (für die Soziologie: Fijalkowski 1961, in modifizierter Form für die Politikwissenschaft: Narr 1969). Bis Mitte der 1970er-Jahre hielt sich die Systematisierung politikwissenschaftlicher Theorieverständnisse als »Trias« in einschlägigen deutsprachigen Lehrbüchern und wird bis in die Gegenwart fortgeschrieben (z.B. Berg-Schlosser/Stammen 2003, S. 45 ff.), obwohl damit für die konkrete Theoriearbeit wenig gewonnen ist. Mit poststrukturalistischen, postmodernen, neomarxistischen und feministischen Theorieinterventionen sowie mit zunehmend interdisziplinären Ansätzen fiel auch diese schematisierende Sicht von Theoriearbeit. Allmählich keimten neue Theorieprojekte auf, die nicht mehr der Tradition »großer Narrative« oder der »geheiligten« Theorietrias folgten. Dies war zugleich die Geburtsstunde der Präfixe »neo-« und »post-«, womit Abgrenzungen und Weiterentwicklungen von früheren Theo­ rieversionen – sowohl als Eigen- als auch als Fremdbezeichnungen – ange­zeigt werden. So haben die aus der Frauenbewegung stammenden und mit ihr im politischen Konnex stehenden Sozialwissenschafterinnen sich bewusst als feministische Theoretikerinnen bezeichnet. Feminismus stand für das politische Denk- und Aktionsprojekt von Frauen und sollte die Abgrenzung von traditioneller Frauenpolitik und deskriptiver Frauenforschung (»Damenbeine zählen«) anzeigen. Neomarxistische Theorien bedienten sich des Präfixes »neo-« bewusst, um sich von fatalen Praktiken des Staatssozialismus und dogmatischen Verengungen abzusetzen. Marxismus sollte als Erkenntnisprogramm verstanden und keineswegs als obsolet hingenommen werden. Das Präfix sollte partielle Erneuerungsbereitschaft und -fähigkeit unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Demgegenüber haben sich die Poststrukturalisten bzw. postmoderne Strömungen in Frankreich weder als zusammengehörende Theoriebewegungen empfunden noch als solche etikettiert. Vielmehr war es erst der Umweg über die US-amerikanische Rezeption, der dieses vereinheitlichende Label popularisierte (Angermüller 2007, S. 9). Diese Theoriebewegungen veranschaulichen exemplarisch die spannende Dynamik offener, pluraler und kontroverser Theoriearbeit. Immer deutlicher ®® ®® ®® 15 16 Eva Kreisky/Marion Löffler/Georg Spitaler artikulierte sich ein Verständnis politischer Theorie, das auf »intervenierendes Denken im Interesse menschlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Befreiung« (Straßenberger/Münkler 2007, S. 52) zielte. Die universitäts- und wissenschaftspolitischen Determinanten haben sich heute gegenüber den 1960er- und 1970er-Jahren jedoch erheblich verändert: Nicht mehr die Demokratisierung von Universitäten oder Wissenschaftsaktivitäten sind zentral, vielmehr stehen deren Rationalisierung, Ökonomisierung, Deregulierung und Privatisierung auf der »Reform«-Agenda. An die quantitative und behavioralistische Forschungs- und Lehrtradition der USA knüpfte auch der »Bologna-Prozess« (»Erklärung von Bologna« 1999 und Folgekonferenzen) an. Individualisierung, Flexibilisierung und Modularisierung sind zentrale Stichworte im Prozess der Harmonisierung europäischer Studienarchitekturen, die Studien optimal an Ökonomisierungswünschen ausrichten soll (Keller 2006, S. 304). Doch lassen sich intellektuelle Bemühungen überhaupt quantifizieren und messend vergleichen? Und steht eine solche modulare Organisation theoretischem Lernen nicht entgegen? Dies sind Fragen, denen sich selbstreflexive Lehrende und Studierende unseres Fachs stellen sollten. Mit dem vorliegenden Buch haben wir dennoch den Versuch unternommen, Theoriearbeit mit praktischem Methodenlernen und den vielfältigen aktuellen Inhalten des Faches zu verknüpfen. Zum Aufbau des Buchs Die meisten Einführungsbücher in politische Theorien werden für den Fachbereich politische Theorie und Ideengeschichte verfasst, womit auch in der aktuellen Einführungsliteratur der Schwerpunkt häufig auf historischen Theorien liegt (z.B. Brunkhorst 2000, Brocker 2007, Llanque 2008, ­Schwaabe 2007, 2010), während Theorien der Gegenwart oft ausgespart bleiben. Neuere Einführungen haben diese Lücke geschlossen, konzentrieren sich aber manchmal auf Überblicksvermittlung und orientieren sich meist an einzelnen AutorInnen, zentralen Begriffen oder Theorietraditionen bzw. »Schulen« (Hartmann 1997, Brodocz/Schaal 1999, Hartmann/Meyer 2005, ReeseSchäfer 2006, Ladwig 2009, Nida-Rümelin 2009, Göhler/Iser/Kerner 2010). Nur in Einzelfällen wird Theorie in ihrer Relevanz für andere Teilgebiete der Politikwissenschaft diskutiert (Schmitz/Schubert 2006, Buchstein/Göhler 2007). Im vorliegenden Einführungsbuch wurde auf den großen Überblick zugunsten einer stufenweisen Heranführung an Theoriearbeit verzichtet: Auf die Diskussion von Grundlagen der Theoriearbeit folgt eine Diskussion politikwissenschaftlicher Kernbegriffe und -theorien, gefolgt von aktuellen