1 Das Diagonalargument Die Unendlichkeit ist das Lebenselixier der Mathematik, denn schon die einfachsten mathematischen Objekte, die natürlichen Zahlen 1; 2; 3; 4; 5; 6; 7; : : :, finden niemals ein Ende. Eine der ältesten und schönsten Überlegungen zur Unendlichkeit ist Euklids Beweis, dass die Primzahlen 2; 3; 5; 7; 11; 13; : : : eine unendliche Folge bilden. Obwohl er fast nichts über diese Folge weiß, erreicht er sein Ziel, indem er beweist, dass jede endliche Folge von Primzahlen unvollständig ist. Er zeigt also, wie man eine Primzahl p finden kann, die sich von beliebig vorgegebenen Primzahlen p1 ; p2 ; : : : ; pn unterscheidet. Eine Menge wie die Primzahlen wird abzählbar unendlich genannt, weil wir ihre Elemente in einer Liste mit einem ersten Element, zweiten Element, dritten Element und so weiter anordnen können. Zwar ist die Liste unendlich, wie Euklid zeigte, jedoch erscheint jedes Element an einer endlichen Stelle und wird so „gezählt“. Abzählbar unendliche Mengen sind nichts Neues, und tatsächlich ist es schwierig, sich auf irgendeine andere Art ein Bild von der Unendlichkeit zu machen als durch Zählen. Doch im Jahr 1874 zeigte der deutsche Mathematiker Georg Cantor, dass die Unendlichkeit komplizierter ist, als man zuvor geglaubt hatte, indem er bewies, dass die Menge der reellen Zahlen überabzählbar ist. Sein Beweis ähnelte dem von Euklid, war aber gewissermaßen auf einer höheren Ebene angesiedelt: Cantor zeigte, dass jede abzählbar unendliche Liste von reellen Zahlen unvollständig sein muss. Cantors Methode zur Konstruktion einer reellen Zahl x, die sich von jedem Element einer gegebenen abzählbaren Liste x1 ; x2 ; x3 ; : : : unterscheidet, wird heutzutage als das Diagonalargument bezeichnet; die Gründe dafür werden weiter unten deutlich werden. Das Diagonalargument (das es in verschiedenen Varianten gibt) ist die logisch einfachste Art, die Existenz überabzählbarer Mengen zu zeigen. Es ist der erste „Weg zur Unendlichkeit“ des Originaltitels Roads to Infinity, und deshalb widmen wir ihm dieses Kapitel. Ein zweiter Weg – über die Ordinalzahlen – wurde ebenfalls von Cantor entdeckt; er wird in Kap. 2 diskutiert. J. Stillwell, Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit, DOI 10.1007/978-3-642-37844-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 2 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit 1.1 Zählen und Abzählbarkeit Frage ich nun, wieviel Quadratzahlen es giebt, so kann man in Wahrheit antworten, eben soviel als es Wurzeln giebt, denn jedes Quadrat hat eine Wurzel, jede Wurzel hat ihr Quadrat, kein Quadrat mehr als eine Wurzel, keine Wurzel mehr als ein Quadrat. Galileo Galilei (1638/1890), S. 31 Der Prozess des Zählens 1; 2; 3; 4; : : : ist das einfachste und anschaulichste Beispiel eines unendlichen Prozesses. Da es keine letzte Zahl gibt, wird der Prozess niemals enden, und tatsächlich könnte man zunächst meinen, dass „unendlich“ und „nicht endend“ dasselbe bedeuten. In einem gewissen Sinne erschöpft jedoch der endlose Prozess des Zählens die Menge f1; 2; 3; 4; : : :g der natürlichen Zahlen, denn früher oder später wird jede natürliche Zahl erreicht. Das unterscheidet diese Menge von anderen Mengen – beispielsweise von der Menge der Punkte auf der Geraden –, die anscheinend nicht „durch Zählen erschöpft“ werden können. Also ist es vielleicht ganz erhellend, noch ein wenig länger bei dem Prozess des Zählens zu verweilen und einige der unendlichen Mengen zu inspizieren, die durch Zählen ihrer Elemente ausgeschöpft werden können. Was meinen wir, zunächst einmal, wenn wir vom „Zählen“ einer Menge von Objekten sprechen? Das „Zählen“ von Objekten bedeutet, sie in einer (möglicherweise unendlichen) Liste anzuordnen – erstes Objekt, zweites Objekt, drittes Objekt und so weiter –, so dass jedes Objekt aus der vorgegebenen Menge in der Liste erscheint, und zwar notwendigerweise an einer durch eine natürliche Zahl bezeichneten Stelle. Wenn wir zum Beispiel die Quadratzahlen „zählen“, indem wir sie in aufsteigender Reihenfolge auflisten: 1; 4; 9; 16; 25; 36; 49; 64; 81; 100; 121; 144; 169; 196; 225; : : : ; dann erscheint die Quadratzahl 900 an der dreißigsten Stelle der Liste. Eine Menge in dieser Weise aufzulisten, entspricht mathematisch einer Zuordnung der natürlichen Zahlen zu den Elementen der Menge, aber oft ist es einfacher, sich die Liste vorzustellen, als für jedes Element die genaue zugehörige Zahl auszutüfteln. Eine der ersten interessanten Beobachtungen, die man bei unendlichen Mengen machen kann, ist, dass einen Teil zu zählen „genauso unendlich“ sein kann wie das Ganze zu zählen. Beispielsweise ist die Menge der geraden Zahlen 2, 4, 6, 8, . . . nur ein Teil der Menge aller natürlichen Zahlen. Dennoch bilden die geraden Zahlen (in aufsteigender Reihenfolge) eine Liste, die der 1 Das Diagonalargument 3 Liste aller natürlichen Zahlen vollständig, Element für Element, entspricht. Das sieht dann so aus: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 : : : 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 : : : Die geraden Zahlen aufzulisten, ist also ein Prozess, der völlig parallel zu dem Prozess verläuft, alle natürlichen Zahlen aufzulisten. Der Grund dafür liegt in der gegenseitigen Zuordnung der Elemente beider Listen, die üblicherweise als bijektive oder eineindeutige Abbildung bezeichnet wird. Diese Abbildung wird durch die Funktion f .n/ D 2n ausgedrückt, welche jeder natürlichen Zahl n genau eine gerade Zahl 2n zuweist, so dass umgekehrt auch zu jedem geraden 2n genau ein natürliches n gehört. Um also das Beispiel von Galileo, das zu Beginn dieses Abschnitts zitiert wurde, nochmals anklingen zu lassen: Frage ich nun, wie viele gerade Zahlen es gibt, so kann man in Wahrheit antworten, ebenso viele, als es natürliche Zahlen gibt. Sowohl Galileos Beispiel als auch mein eigenes, etwas einfacher gestricktes beruht auf einer bijektiven Abbildung zwischen der Menge der natürlichen Zahlen und einem Teil ihrer selbst. Diese ein wenig beunruhigende Eigenschaft ist die erste Eigentümlichkeit der Welt der unendlichen Mengen. Abzählbar unendliche Mengen Eine Menge mit der Eigenschaft, dass ihre Elemente in einer unendlichen Liste aufgezählt werden können – für die es also eine bijektive Abbildung auf die Menge der natürlichen Zahlen gibt –, wird abzählbar unendlich genannt. Diese gemeinsame Eigenschaft aller abzählbar unendlichen Mengen wurde von Georg Cantor als ihre Kardinalität (oder Mächtigkeit) bezeichnet, als er in den 1870er Jahren die allgemeine Untersuchung von Mengen begann. Im Falle endlicher Mengen haben zwei davon genau dann dieselbe Kardinalität, wenn sie dieselbe Anzahl an Elementen haben. Demnach ist bei endlichen Mengen der Begriff der Kardinalität im Wesentlichen dasselbe wie der Begriff der (natürlichen) Zahl. Bei abzählbar unendlichen Mengen kann man die gemeinsame Kardinalität ebenfalls als die „Anzahl“ der Elemente betrachten. Diese „Anzahl“ wurde von Cantor als transfinite Kardinalzahl bezeichnet und mit dem Symbol @0 („Aleph-null“) geschrieben. So kann man sagen, dass es @0 natürliche Zahlen gibt. Man sollte dabei jedoch stets im Hinterkopf behalten, dass @0 „elastischer“ ist als eine gewöhnliche Zahl. Die Mengen f1; 2; 3; 4; : : :g und f2; 4; 6; 8; : : :g haben beide die Kardinalität @0 , obgleich die zweite Menge eine echte Teilmenge der ersten ist. Man kann also genauso gut sagen, dass es @0 gerade Zahlen gibt. 4 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit .. . .. . .. . .. . .. . ... ... 7 ... 4 8 2 5 9 1 3 6 ... 10 ... Abb. 1.1 Wie man die Punkte in einem unendlichen Gitter zählt Mehr noch: Die Kardinalität @0 ist so elastisch, dass sie auch Mengen abdeckt, die auf den ersten Blick viel größer erscheinen als die Menge f1; 2; 3; 4; : : :g. Betrachten Sie die Punktmenge in Abb. 1.1. Es handelt sich um ein Gitter mit unendlich vielen unendlichen Punktreihen, und dennoch können wir jedem Punkt seine eigene natürliche Zahl zuordnen, wie in der Abbildung gezeigt. Denken Sie sich einfach die Punkte an einer Folge von endlichen Diagonalen aufgefädelt, und „zählen“ Sie sie entlang aufeinanderfolgender Diagonalen, beginnend in der linken unteren Ecke. Für die Abzählbarkeit der Menge der (positiven) Brüche gibt es einen ganz ähnlichen Beweis, da jeder Bruch m=n dem Paar .m; n/ natürlicher Zahlen entspricht. Damit folgt auch, dass die Menge der positiven rationalen Zahlen abzählbar ist, da sich jede solche Zahl durch einen Bruch darstellen lässt. Zugegeben, viele Brüche entsprechen jeweils derselben Zahl – die Zahl 1=2 lässt sich zum Beispiel auch durch die Brüche 2=4, 3=6, 4=8 und so weiter darstellen –, jedoch können wir die positiven rationalen Zahlen auflisten, indem wir die Liste der Brüche durchgehen und dabei alle Brüche auslassen, die mit zuvor schon aufgelisteten Zahlen übereinstimmen. 1.2 Gibt es eine unendliche Einheitsgröße? In seinem Buch Eins, zwei, drei . . . Unendlichkeit führte der russische Physiker George Gamow (1947) eine hübsche Methode ein, die Elastizität von @0 zu veranschaulichen. Er stellt sich ein Hotel vor, genannt Hilberts Hotel, in dem es unendlich viele Zimmer gibt, die mit 1, 2, 3, 4, . . . durchnummeriert sind. Die Elemente einer unendlichen Menge aufzulisten, ist äquivalent dazu, sie als Gäste im Hotel unterzubringen, eins in jedem Zimmer. 1 Das Diagonalargument 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 ... Abb. 1.2 Die Standardbelegung von Hilberts Hotel 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 ... Abb. 1.3 Platz für einen weiteren Gast 1 2 3 4 5 6 8 7 9 10 ... Abb. 1.4 Platz für nochmals abzählbar unendlich viele Gäste 1 2 3 4 5 ... Abb. 1.5 Platz für abzählbar unendlich viele abzählbare Unendlichkeiten Die natürlichen Zahlen können ohne Probleme einquartiert werden, indem man einfach jede Zahl n in Zimmer n unterbringt (Abb. 1.2). Die @0 natürlichen Zahlen füllen alle Zimmer in Hilberts Hotel aus, so dass wir sagen können, @0 sei die „Größe“ des Hotels, und eine Belegung mit mehr als @0 Gästen sei nicht erlaubt. Dennoch gibt es immer noch Platz für eine zusätzliche Person (etwa die Zahl 0). Dazu muss nur jeder Gast einfach ein Zimmer weiter ziehen, so dass das erste Zimmer frei wird (Abb. 1.3). Demnach ist @0 stets elastisch genug, um noch eins mehr abzudecken; in Symbolen: @0 C 1 D @0 . Tatsächlich ist sogar noch genug Platz für nochmals abzählbar unendlich viele „Gäste“ (etwa die negativen Zahlen 1, 2, 3, . . . ). Jeder Gast kann aus seinem Zimmer n in Zimmer 2n umziehen, so dass alle Zimmer mit ungerader Nummer frei werden (Abb. 1.4). In Symbolen: @0 C @0 D @0 . Es ist sogar noch genug Platz für nochmals abzählbar unendlich viele abzählbare Unendlichkeiten. Nehmen wir an, dass die Gäste in unendlich langen Bussen eintreffen, die mit 1, 2, 3, 4, . . . durchnummeriert sind, und dass in jedem Bus die Gäste die Zahlen 1, 2, 3, 4, . . . tragen. Die Gäste aus Bus 1 können dann wie folgt untergebracht werden: platziere Gast 1 in Zimmer 1; dann lasse 1 Zimmer frei; das bedeutet, platziere Gast 2 in Zimmer 3; dann lasse 2 Zimmer frei; das bedeutet, platziere Gast 3 in Zimmer 6; dann lasse 3 Zimmer frei; das bedeutet, platziere Gast 4 in Zimmer 10; dann lasse 4 Zimmer frei; . . . Dann füllt der erste Bus die Zimmer so wie in Abb. 1.5 gezeigt. 6 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Nachdem der erste Bus entladen wurde, bilden die unbelegten Zimmer Blöcke der Länge 1, 2, 3, 4, . . . , so dass wir den zweiten Bus entladen können, indem wir seine Gäste in jeweils dem ersten Zimmer jeden Blocks unterbringen. Anschließend bilden die unbelegten Zimmer wieder Blöcke von 1, 2, 3, 4, . . . Zimmern, so dass wir diesen Prozess mit dem dritten Bus fortsetzen können, und so weiter. (Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass jede Busladung eine Folge von Zimmern belegt, die dieselben Zahlen tragen wie eine Reihe in Abb. 1.1.) Im Ergebnis kann also die ganze Serie von @0 Busladungen, jede mit @0 Gästen, in Hilberts Hotel untergebracht werden – wobei in jedem Zimmer genau ein Gast liegt. In Symbolen: @0 @0 D @0 . Die Gleichungen der „Kardinalzahlarithmetik“, @0 C 1 D @0 ; @0 C @0 D @0 ; @0 @0 D @0 ; die wir auf diese Weise erhalten haben, zeigen, wie elastisch die transfinite Zahl @0 tatsächlich ist. Sie ist so elastisch, dass man jetzt zu der Vermutung kommen könnte, die Kardinalzahlarithmetik habe nichts weiter auszusagen, als dass jede unendliche Menge die Kardinalität @0 habe. Und wenn alle transfiniten Zahlen gleich wären, dann wäre es sicherlich Zeitverschwendung, über sie zu reden. Doch glücklicherweise sind sie nicht alle gleich. Insbesondere hat die Menge der Punkte auf der Geraden eine Kardinalität, die echt größer als @0 ist. Dies entdeckte Cantor im Jahre 1874 und öffnete damit einen Spalt in die Welt des Unendlichen, aus dem sich seither unaufhörlich weitere unerwartete Konsequenzen ergossen haben. Es gibt also doch vieles über die Unendlichkeit zu sagen, und der Zweck dieses Buches ist zu erklären, warum. 1.3 Cantors Diagonalargument Bevor wir die Menge der Punkte auf der Geraden untersuchen, sehen wir uns eine verwandte Menge an, die etwas einfacher zu handhaben ist: die Menge aller Teilmengen der natürlichen Zahlen. Jede derartige Teilmenge S kann durch eine unendliche Folge von Nullen und Einsen dargestellt werden, bei der immer dann eine 1 an n-ter Stelle steht, wenn n ein Element von S ist. Tabelle 1.1 zeigt einige Beispiele. Nun nehmen wir an, es seien @0 Mengen natürlicher Zahlen gegeben. Das bedeutet, dass wir aus diesen Mengen eine ListeS1 ; S2 ; S3 ; : : : bilden können, deren n-ter Eintrag S n die der Zahl n zugeordnete Menge ist. Wir zeigen nun, 1 Das Diagonalargument 7 Tab. 1.1 Beschreibungen von Teilmengen der natürlichen Zahlen Teilmenge gerade Zahlen Quadraahlen Primzahlen 1 0 1 0 2 1 0 1 3 0 0 1 4 1 1 0 5 0 0 1 6 1 0 0 7 0 0 1 8 1 0 0 9 0 1 0 10 1 0 0 11 0 0 1 ... ... ... ... Tab. 1.2 Das Diagonalargument Teilmenge S1 S2 S3 S4 S5 S6 S7 S8 S9 S10 S11 .. . 1 0 1 0 1 0 1 1 0 0 1 0 2 1 0 1 0 0 1 1 0 0 0 1 3 0 0 1 1 1 0 1 0 0 0 0 4 1 1 0 0 0 1 1 0 0 1 0 5 0 0 1 1 0 1 1 0 0 0 1 6 1 0 0 0 1 0 1 0 0 0 0 7 0 0 1 1 0 1 1 0 0 1 0 8 1 0 0 0 0 1 1 0 0 0 1 9 0 1 0 1 1 0 1 0 1 0 0 10 1 0 0 0 0 1 1 0 0 1 0 11 0 0 1 1 0 1 1 0 0 0 0 ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... S 1 1 0 1 1 1 0 1 0 0 1 ... dass eine solche Liste niemals alle Teilmengen der natürlichen Zahlen enthalten kann, indem wir eine Menge S konstruieren, die sich von jeder der Mengen S1 ; S2 ; S3 ; : : : unterscheidet. Und das ist einfach: Eine Zahl n wird genau dann in diese Menge S gesteckt, wenn n nicht in S n ist. Dann folgt, dass S sich von jedem S n in Bezug auf die S n zugeordnete Zahl n unterscheidet: Wenn n in S n ist, dann ist n nicht in S; und wenn n nicht in S n ist, dann ist n in S. Demnach ist S nicht in der Liste S1 ; S2 ; S3 ; : : : enthalten, und deshalb kann keine derartige Liste alle Teilmengen der natürlichen Zahlen umfassen. Die soeben vorgeführte Argumentation wird als Diagonalargument bezeichnet, denn sie kann visuell wie folgt beschrieben werden. Stellen Sie sich eine unendliche Tabelle vor, deren Zeilen die Mengen S1 ; S2 ; S3 ; : : : wie in den obigen Beispielen als Folgen von Nullen und Einsen codieren. Das könnte etwa so aussehen wie in Tab. 1.2 gezeigt. Die Ziffer (1 oder 0), die anzeigt, ob n zu S n gehört oder nicht, ist darin fett gedruckt, so dass in der Diagonalen eine Folge 00100010110 : : : von hervorgehobenen Ziffern entsteht. Die Folge für S erhalten wir nun, indem wir jede Ziffer in dieser Diagonalfolge invertieren. Deshalb unterscheidet sich die Folge für S notwendigerweise von allen Folgen für die S1 ; S2 ; S3 ; : : : 8 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Die Kardinalität der Menge aller Folgen aus Nullen und Einsen wird mit 2 bezeichnet. Dieses Symbol benutzen wir, weil es zwei Möglichkeiten für die erste Ziffer gibt, zwei Möglichkeiten für die zweite Ziffer, zwei Möglichkeiten für die dritte und so weiter für jede der @0 Ziffern in der Folge. Deshalb macht es Sinn zu sagen, es gebe 2 2 2 : : : (@0 Faktoren) mögliche Folgen aus Nullen und Einsen, also 2@0 Mengen natürlicher Zahlen. Das Diagonalargument zeigt, dass 2@0 strikt größer als @0 ist, weil es zwar eine bijektive Abbildung der natürlichen Zahlen zu einzelnen ihrer Teilmengen gibt, nicht jedoch zu allen solchen Teilmengen. Wenn den natürlichen Zahlen 1; 2; 3; 4; : : : Mengen S1 ; S2 ; S3 ; S4 ; : : : zugeordnet werden, dann wird es stets weitere Mengen (so wie S) geben, die keine Zahl erhalten haben. Eine Menge, deren Kardinalität strikt größer als @0 ist, wird überabzählbar genannt. @0 Die Logik des Diagonalarguments Viele Mathematiker bestehen hartnäckig darauf, dass es keinen Zweifel an der Gültigkeit dieses Beweises geben könne, während andere ihn nicht anerkennen. Ich selbst sehe auch nicht das geringste Körnchen von Überzeugungskraft in dem Beweis . . . mein Verstand will nicht das tun, was offensichtlich von ihm erwartet wird, sollte es sich wirklich um einen Beweis handeln. P. W. Bridgman (1955) P. W. Bridgman war ein experimenteller Physiker an der Harvard-Universität, der im Jahr 1946 den Physik-Nobelpreis erhielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er auch einer der intelligentesten Menschen, die das Diagonalargument nicht verstanden. Wenn Sie Schwierigkeiten mit diesem Beweis haben sollten, dann können Sie sich zurücklehnen in dem Gedanken, dass ein Nobelpreisträger dieselben Probleme hatte. Allerdings denke ich nicht, dass dieser Beweis einem Leser mit etwas mathematischer Erfahrung Probleme bereiten sollte. Und hier ist der Grund. Die Logik des Diagonalarguments ähnelt bei näherer Betrachtung sehr der von Euklids Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Euklid stand der Schwierigkeit gegenüber, sich die Gesamtheit der Primzahlen nur schwer vorstellen zu können, da sie keinem ins Auge fallenden Muster folgen. Also vermied er es, die Gesamtheit aller Primzahlen zu betrachten, und bewies stattdessen, dass jede endliche Liste von Primzahlen unvollständig sein muss. Wenn nämlich eine endliche Liste von Primzahlen p1 ; p2 ; : : : ; pn gegeben ist, bildet man daraus die Zahl N D p1 p2 pn C 1; 1 Das Diagonalargument 9 die offensichtlich durch keines der p1 ; p2 ; : : : ; pn teilbar ist (jedes davon lässt den Rest 1). Aber N muss durch irgend eine Primzahl teilbar sein; also ist die Liste der Primzahlen p1 ; p2 ; : : : ; pn unvollständig. Darüber hinaus können wir eine konkrete Primzahl p, die auf der Liste fehlt, finden, indem wir die kleinste Zahl 2 bestimmen, die ein Teiler von N ist. Auch eine überabzählbare Menge lässt sich nur sehr schwer vorstellen. Deshalb vermeiden wir das und nehmen stattdessen an, dass uns eine abzählbare Liste S1 ; S2 ; S3 ; : : : aus Elementen dieser Menge vorgegeben wird. Das Wort „vorgegeben“ können Sie dabei so streng auslegen, wie Sie wollen. Wenn zum Beispiel S1 ; S2 ; S3 ; : : : jeweils Folgen aus Nullen und Einsen sind, dann können Sie eine Regel verlangen, welche die m-te Ziffer von S n vorgibt. Das Diagonalargument funktioniert auch dann und liefert eine völlig konkrete Menge S, die nicht auf der gegebenen Liste steht. (Und tatsächlich führt es zu einigen interessanten Schlussfolgerungen zur Berechenbarkeit von Folgen, wie wir in Kap. 3 sehen werden.) Die Menge der Punkte auf der Geraden Das Ziel der Mengenlehre ist, eine Frage von größter Wichtigkeit zu beantworten: nämlich ob man die Gerade auf atomistische Weise betrachten kann, also als eine Menge von Punkten. Nikolai Lusin (1930), S. 2 Mit der „Geraden“ meinen wir die Zahlengerade, deren „Punkte“ als die reellen Zahlen bekannt sind. Jede reelle Zahl hat eine Dezimalentwicklung mit einer unendlichen Folge von Dezimalziffern nach dem Komma, zum Beispiel D 3;14159265358979323846 : : : Wenn wir uns auf die reellen Zahlen zwischen 0 und 1 beschränken, dann ist jede Zahl durch die Folge ihrer Ziffern nach dem Komma bestimmt, wobei jedes Folgenglied eine der Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 oder 9 ist. Abzählbar unendlich viele reelle Zahlen zwischen 0 und 1, x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : :, können demnach mithilfe einer ganz ähnlichen Tabelle aufgeschrieben werden, wie wir sie zum Codieren von abzählbar unendlich vielen Teilmengen der natürlichen Zahlen verwendet haben. Ebenso können wir eine reelle Zahl x konstruieren, die sich von jedem der x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : unterscheidet, indem wir es für jedes n so einrichten, dass die n-te Stelle von x sich von der n-ten Stelle von x n unterscheidet. Wie zuvor bedeutet dies, sich die Diagonalziffern in der Tabelle anzusehen und jede davon abzuändern. 10 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Allerdings gibt es jetzt ein kleines Problem mit der Diagonalkonstruktion. Das Ändern jeder Diagonalziffer liefert sicherlich eine Ziffernfolge, die sich von allen Folgen für die x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : unterscheidet. Aber damit ist noch nicht gesichert, dass die neue Folge auch eine neue Zahl repräsentiert. Zum Beispiel könnte es passieren, dass wir durch die Diagonalkonstruktion die Folge 0;49999999999999 : : : erhalten, während eine der gegebenen Folgen x1 D 0;50000000000000 : : : lautet. Dies sind zwei verschiedene Folgen, die dieselbe Zahl repräsentieren, nämlich 1=2. Allerdings können zwei Ziffernfolgen nur dann für dieselbe Zahl stehen, wenn eine von ihnen mit einer unendlichen Folge von Neunen endet. Also vermeiden wir dieses Problem, indem wir niemals eine Diagonalziffer in eine 9 oder eine 0 verwandeln. Beispielsweise könnten wir die folgende Regel verwenden: Wenn die n-te Stelle von xn eine 1 ist, setze die n-te Stelle von x auf 2. Wenn die n-te Stelle von xn keine 1 ist, setze die n-te Stelle von x auf 1: Mit dieser Regel hat x nicht nur einfach eine Ziffernfolge, die sich von denen für x1 ; x2 ; x3 ; : : : unterscheidet, sondern x unterscheidet sich als Zahl von x1 ; x2 ; x3 ; : : : Damit haben wir gezeigt, dass die Menge der reellen Zahlen eine größere Kardinalität als die Menge der natürlichen Zahlen besitzt. Wenn wir eine Liste x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : von reellen Zahlen aufstellen, dann wird es stets weitere reelle Zahlen (so wie x) geben, die nicht auf der Liste sind. Tatsächlich hat die Menge der reellen Zahlen (sei es zwischen 0 und 1, sei es auf der gesamten Zahlengeraden) die Kardinalität 2@0 – dieselbe Kardinalität wie die Menge der Null-Eins-Folgen. Die Kardinalität 2@0 misst wie @0 die „Größe“ geläufiger Mengen in der Mathematik. Die Gründe dafür werden deutlicher werden, wenn wir weitere Beispiele abzählbarer und überabzählbarer Mengen erkunden. 1 Das Diagonalargument 11 1.4 Transzendente Zahlen [Zur Frage, ob die reellen Zahlen den natürlichen Zahlen bijektiv zugeordnet werden können] . . . vorausgesetzt dass sie mit nein beantwortet würde, wäre damit ein neuer Beweis des Liouvilleschen Satzes geliefert, dass es transcendente Zahlen giebt. Georg Cantor (1873) Cantors Entdeckung der überabzählbaren Mengen im Jahre 1874 war eines der überraschendsten Ereignisse in der Geschichte der Mathematik. Vor 1874 wurde die Unendlichkeit gemeinhin noch nicht einmal als ein zulässiges mathematisches Objekt betrachtet, so dass man sich die Notwendigkeit, zwischen abzählbaren und überabzählbaren Unendlichkeiten zu unterscheiden, gar nicht hätte vorstellen können. Das Konzept der Überabzählbarkeit war einfach zu originell, um von den meisten Mathematikern gewürdigt werden zu können. Deshalb spielte Cantor den neuen Begriff in der veröffentlichten Version seiner Entdeckung etwas herunter, indem er ihn nur indirekt über eine „Eigenschaft der algebraischen Zahlen“ einführte. Die algebraischen Zahlen waren den Mathematikern des 19. Jahrhunderts wohlvertraut. Eine Zahl x heißt algebraisch, wenn sie eine Polynomgleichung mit ganzzahligen Koeffizienten erfüllt, also eine Gleichung der Form an x n Can1 x n1 C Ca1 xCa0 D 0 mit ganzen Zahlen a0 ; a1 ; : : : ; an1 ; an : Zu den algebraischen Zahlen gehören alle rationalen Zahlen p p p m=n mit ganzzahligen m; n und auch viele Irrationalzahlen wie 2; 3; 3 2 und so weiter. Tatsächlich ist es relativ schwierig, eine Zahl anzugeben, die nicht algebraisch ist. Das erste Beispiel wurde von dem französischen Mathematiker Joseph Liouville im Jahre 1844 gefunden, indem er ein Resultat ausnutzte, das (grob gesprochen) besagt, dass eine irrationale algebraische Zahl nicht beliebig dicht durch rationale Zahlen approximiert werden kann. Daraufhin betrachtete Liouville die Zahl x D 0;101001000000100000000000000000000000010 : : : ; bei der aufeinanderfolgende Nullen Blöcke der Längen 1, 12, 123, 1234; . . . bilden. Er zeigte, dass x irrational ist, dass es sich aber dennoch gut durch rationale Zahlen approximieren lässt; also kann x nicht algebraisch sein. Solche Zahlen heißen heutzutage transzendent, da sie eine algebraische Beschreibung „transzendieren“. Sie können nur durch unendliche Prozesse beschrieben werden, beispielsweise durch unendliche Dezimalbrüche oder unendliche Reihen. 12 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Die erste „namhafte“ Zahl, deren Transzendenz bewiesen wurde, war e D1C 1 1 1 1 C C C C :::; 1 12 123 1234 eine Zahl, die in der Mathematik häufig in Erscheinung tritt, am bekanntesten vielleicht in der Gleichung e p 1 D 1: Liouvilles Landsmann Charles Hermite bewies die Transzendenz von e im Jahr 1873 mit Hilfe recht schwieriger Analysis. Tatsächlich haben ihn diese Anstrengungen so erschöpft, dass er den Plan, auch die Transzendenz von zu beweisen, aufgab. Dieser Beweis wurde zuerst von dem deutschen Mathematiker Ferdinand von Lindemann im Jahr 1882 geführt, der dabei Hermites Methoden verwendete und die obige Gleichung ausnutzte, die einen Zusammenhang zwischen e und herstellt. Im Jahr 1874 waren jedenfalls die einzigen bekannten Zugänge zu den transzendenten Zahlen jene von Liouville und Hermite, die dabei anspruchsvolle Algebra und Analysis verwendeten. Cantor überraschte die Welt, indem er die Existenz von transzendenten Zahlen ganz ohne die Verwendung von fortgeschrittener Mathematik zeigte – nämlich einfach durch den Beweis, dass die Menge der algebraischen Zahlen abzählbar ist. In Verbindung mit seinem Ergebnis, dass die Gesamtheit aller reellen Zahlen überabzählbar ist, folgt dann, dass einige, sogar „die meisten“, reellen Zahlen transzendent sein müssen. Die Mengenlehre findet also nicht nur mit Leichtigkeit transzendente Zahlen, sie zeigt auch, dass die Handvoll der bis dahin bekannten Beispiele zu einer gewaltigen (überabzählbaren) Mehrheit gehört. Da wir bereits einen von Cantors Beweisen für die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen gesehen haben, bleibt jetzt nur noch zu erklären, warum es lediglich abzählbar viele algebraische Zahlen gibt. Dazu kommen wir auf die Gleichungen zurück, mit denen algebraische Zahlen definiert werden: an x n C an1 x n1 C C a1 x C a0 D 0 (1) mit ganzen Zahlen a0 ; a1 ; : : : ; an1 ; an . Die Gl. 1 hat höchstens n Lösungen, wie man schon in der elementaren Algebra lernt, so dass wir alle algebraischen Zahlen auflisten können, wenn wir nur alle Gleichungen der Form (1) auflisten. Dazu benutzte Cantor aufgrund eines Vorschlags seines Kollegen Richard Dedekind eine Größe, die als die Höhe der Gleichung bezeichnet wird, nämlich h D jan j C jan1 j C C ja0 j C n: 1 Das Diagonalargument 13 Es ist nicht schwer zu sehen, dass es nur endlich viele Gleichungen einer gegebenen Höhe h gibt, da notwendigerweise sowohl ihr Grad n h ist als auch jeder Koeffizient einen Absolutbetrag kleiner als h haben muss. Deshalb können wir alle derartigen Gleichungen (und damit auch alle algebraischen Zahlen) auflisten, indem wir erst die Gleichungen der Höhe 1, dann die der Höhe 2, die der Höhe 3 und so weiter aufschreiben. Dieser Prozess des Auflistens zeigt, dass die algebraischen Zahlen eine abzählbare Menge bilden, und wir sind fertig. 1.5 Andere Überabzählbarkeitsbeweise Wir haben hier nicht Cantors ersten Überabzählbarkeitsbeweis von 1874 beschrieben, weil er komplizierter ist als sein Diagonalbeweis, der aus dem Jahr 1891 stammt. Die Logik des Beweises von 1874 ist im Grunde dieselbe – eine abzählbare Menge von Zahlen kann nicht alle reellen Zahlen enthalten, weil wir stets eine Zahl außerhalb von ihr finden können –, aber die Konstruktion des Außenseiters x ist nicht so offensichtlich „diagonal“. Stattdessen ist x die kleinste obere Schranke einer gewissen aufsteigenden Folge x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : :, also die kleinste Zahl, die größer ist als alle der Zahlen x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : Allerdings bekommt diese kleinste obere Schranke ein „diagonales“ Erscheinungsbild, wenn man sich die Dezimalziffern von x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : genauer ansieht. Lassen Sie uns als konkretes Beispiel einmal annehmen, dass die Zahlen x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : : die folgenden Dezimalziffern haben: D 1;413 : : : D 1;4141 : : : D 1;414232 : : : D 1;414235621 : : : D 1;4142356235 : : : D 1;4142356237 : : : x1 x2 x3 x4 x5 x6 :: : Da x1 < x2 < x3 < : : : ist, stimmt die Dezimalentwicklung von jedem xiC1 mit der seines Vorgängers x i bis zu einer gewissen Stelle überein, und an der ersten Stelle, wo sie auseinanderklaffen, hat xiC1 eine größere Ziffer als x i . Diese Stellen der ersten Abweichung (oben fett gedruckt) bilden eine „gezackte Diagonale“. Und wir erhalten nun die kleinste obere Schranke x der Folge x1 ; x2 ; x3 ; x4 ; : : :, indem wir die Abschnitte vor dieser Diagonalen zusammen- 14 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit ε/8 ε/2 ε/4 ε/16 a3 a1 a2 a4 Abb. 1.6 Harnacks Überdeckung einer abzählbaren Menge fassen: x D 1;4142356237 : : : In gewissem Sinne enthält Cantors ursprünglicher Überabzählbarkeitsbeweis deshalb ebenfalls eine Diagonalkonstruktion. Dies gilt auch für einen bemerkenswerten Beweis, der von dem deutschen Mathematiker Axel Harnack im Jahr 1885 entdeckt wurde und der den Begriff des Maßes benutzt. Dazu sei a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : eine beliebige Liste von reellen Zahlen. Harnack bemerkt, dass wir alle diese Zahlen mit Streckenabschnitten überdecken können, deren Gesamtlänge so klein sein kann, wie wir nur wollen, etwa " > 0. Nehmen Sie einfach eine Strecke der Länge ", teilen sie in zwei Hälften und benutzen ein Teilstück der Länge "=2, um die Zahl a1 abzudecken. Teilen Sie dann das verbliebene Teilstück der Länge "=2 wieder in zwei Hälften und benutzen Sie ein Teilstück der Länge "=4, um a2 abzudecken, und so weiter. Also überdecken wir a1 mit einem Intervall der Länge "=2; a2 mit einem Intervall der Länge "=4; a3 mit einem Intervall der Länge "=8; a4 mit einem Intervall der Länge "=16; :::; wie in Abb. 1.6 gezeigt. Und damit wird die gesamte unendliche Liste a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : durch Strecken mit einer Gesamtlänge von höchstens " abgedeckt. Es folgt, dass die Liste a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : nicht alle reellen Zahlen enthält. Weit davon entfernt, die gesamte Zahlengerade auszufüllen, hat die Menge der Zahlen a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : sogar die Gesamtlänge 0! Demnach kann keine Liste die Menge aller reellen Zahlen ausschöpfen oder dem auch nur nahe kommen. Dieser Beweis zeigt noch eindrucksvoller, warum es überabzählbar viele reelle Zahlen gibt; allerdings scheint er keine explizite Zahl zu liefern, die auf der gegebenen Liste a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : fehlt. Diesem Mangel kann jedoch leicht abgeholfen werden, und zwar durch nichts anderes als die Diagonalkonstruktion. (Dabei ist es zudem zweckmäßig, die Längen der überdeckenden Intervalle so abzuändern, dass sie zur Dezimaldarstellung passen.) 1 Das Diagonalargument 15 Dazu setzen wir voraus, dass die Zahlen a1 ; a2 ; a3 ; a4 ; : : : als unendliche Dezimalbrüche gegeben sind, beispielsweise D 1;73205 : : : ; D 0;11111 : : : ; D 3;14159 : : : ; D 0;99999 : : : ; a1 a2 a3 a4 :: : Wenn wir a1 mit einem Intervall der Länge 1=10 überdecken, dann liegen alle Zahlen x, die sich in der ersten Nachkommastelle um mindestens 2 von a1 unterscheiden, definitiv außerhalb dieses ersten Intervalles. Im Beispiel können wir diese erste Nachkommastelle etwa in eine 5 abändern, so dass x D 0;5 : : : sich außerhalb des ersten Intervalles befindet. Wenn wir anschließend a2 mit einem Intervall der Länge 1=100 überdecken, dann liegen alle Zahlen x, die sich in der zweiten Nachkommastelle von a2 um mindestens 2 unterscheiden, definitiv außerhalb des zweiten Intervalles. Im Beispiel könnten wir diese zweite Ziffer von a2 etwa in eine 3 abändern, so dass x D 0;53 : : : sich außerhalb des ersten und des zweiten Intervalles befindet. Wenn wir entsprechend a3 mit einem Intervall der Länge 1=1000 überdecken, dann befindet sich x D 0;533 : : : außerhalb des ersten, zweiten und dritten Intervalles. Es ist klar, dass wir so fortfahren und jedes an mit einem Intervall der Länge 1=10n überdecken können und dabei stets eine Zahl x finden, die außerhalb aller dieser Intervalle liegt, indem wir die n-te Stelle von x hinreichend unterschiedlich von der n-ten Stelle von an wählen. Das ist dann sicherlich eine Diagonalkonstruktion. Deshalb hat Cantor möglicherweise das Wesentliche des Diagonalarguments aus bereits bekannten Überabzählbarkeitsbeweisen abgeleitet. Tatsächlich ist eine eindeutigere „Diagonal“konstruktion bereits im Jahre 1875 von einem anderen deutschen Mathematiker mit einem Interesse am Unendlichen beschrieben worden, nämlich von Paul du Bois-Reymond. Wir besprechen seine Überlegungen im nächsten Abschnitt. 1.6 Wachstumsraten Seit der Antike, als Archimedes die Anzahl der Sandkörner im Universum abzuschätzen versuchte, und bis heute, da „exponentielles Wachstum“ zu einem Klischee geworden ist, blieben die Menschen fasziniert von großen Zahlen und hohen Wachstumsraten. In der modernen mathematischen Schreibwei- 16 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit se ist es ziemlich einfach, Funktionen oder Folgen von außergewöhnlichem Wachstum zu definieren und, mit etwas mehr Aufwand, Wachstumsraten verschiedener Funktionen miteinander zu vergleichen. Die Funktion f .n/ D n, deren Werte die Folge 1; 2; 3; 4; 5; 6; ::: bilden, ist ein Beispiel einer Funktion, die über alle Schranken ansteigt. Allerdings wächst sie nicht so schnell wie die Funktion g.n/ D n2 , deren Werte die Folge der Quadratzahlen bilden: 1; 4; 9; 16; 25; 36; ::: Warum das so ist, sehen wir, wenn wir g.n/=f .n/ D n betrachten, das seinerseits über alle Schranken wächst oder gegen unendlich geht, wie wir es üblicherweise ausdrücken. Im allgemeinen Fall sagen wir, dass eine Funktion G.n/ schneller wächst als eine Funktion F .n/, wenn G.n/=F .n/ gegen unendlich geht. In Symbolen schreiben wir diese Beziehung als G.n/=F .n/ ! 1; wenn n ! 1: Es folgt sofort, dass n3 schneller als n2 wächst, n4 schneller als n3 , und so weiter. Die unendliche Funktionenfamilie fn; n2 ; n3 ; n4 ; : : :g steht also für eine Familie von Wachstumsraten ohne größtes Element. Sie wird als die Familie der polynomialen Wachstumsraten bezeichnet. Obgleich es keine größte polynomiale Wachstumsrate gibt, gibt es Wachstum, das schneller als jedes polynomiale ist. Denken Sie zum Beispiel an die Funktion 2n . Sie ist von exponentiellem Wachstum, und sie wächst schneller als nk für jedes feste k. Mit einem Beweis dieser Tatsache werden wir uns jedoch nicht aufhalten, denn es gibt eine Funktion, die jedes der n; n2 ; n3 ; n4 ; : : : noch viel offensichtlicher aus dem Felde schlägt; nämlich die Funktion d .n/ D nn : Denn zweifellos gilt nn > n2 für alle n > 2; n >n für alle n > 3; n 3 nn > n4 für alle n > 4; und so weiter. Für jedes k gilt deshalb nn > nkC1 für hinreichend großes n. Es folgt nn =nk ! 1 für n ! 1, da wir bereits wissen, dass mit n ! 1 auch nkC1 =nk ! 1 geht. 1 Das Diagonalargument 17 Die Werte von d .n/ D nn sind nichts anderes als die Diagonaleinträge in der Wertetabelle der Funktionen n; n2 ; n3 ; n4 ; : : :: d .1/ D 11 ist der erste Wert von n; d .2/ D 22 ist der zweite Wert von n2 ; d .3/ D 33 ist der dritte Wert von n3 ; und so weiter. Ein ähnlicher Gedanke lässt sich auf jede beliebige Folge von Funktionen anwenden. Dies ist im Wesentlichen das, was du Bois-Reymond im Jahre 1875 entdeckte, so dass wir das Ergebnis nach ihm benennen. Satz von du Bois-Reymond. Zu jeder Liste f1 ; f2 ; f3 ; : : : von Funktionen, welche die natürlichen Zahlen in sich selbst abbilden, gibt es eine weitere solche Funktion, die schneller als jedes fi wächst. Beweis: Da alle Funktionswerte positiv sind, gilt f1 .n/ C f2 .n/ C : : : C fn .n/ > fi .n/ für jedes i n: Deshalb erfüllt die Funktion f , die durch f .n/ D f1 .n/ C f2 .n/ C : : : C fn .n/ gegeben ist, f .n/ > fi .n/ für alle n > i. Das bedeutet, dass f mindestens so schnell wie jede Funktion fi wächst. Wenn wir also eine Funktion d durch d .n/ D nf .n/ definieren, dann gilt d .n/=f .n/ ! 1 mit n ! 1; es wächst also d schneller als jede Funktion fi . Demnach gibt es keine Liste von so schnell wachsenden Funktionen, dass jede positiv-ganzzahlige Funktion von ihr „überholt“ werden könnte. Darin lag das Interesse von du Bois-Reymond begründet, und es handelt sich in der Tat um eine bedeutungsträchtige Entdeckung, auf die wir später zurückkommen werden. Beachten Sie jedoch, dass hier wieder ein Diagonalargument zum Beweis von Überabzählbarkeit vorliegt. (Die Funktion d .n/ D nf .n/ ist für uns „diagonal“, weil f .n/ die Summe der Einträge auf oder oberhalb der Diagonalen in der Tabelle der Funktionswerte von f1 ; f2 ; f3 ; : : : ist.) Die Menge der positiv-ganzzahligen Funktionen ist überabzählbar, weil es für jede Liste von solchen Funktionen f1 .n/; f2 .n/; f3.n/; : : : eine Funktion d .n/ gibt, die nicht auf der Liste steht. 18 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Abb. 1.7 Bijektive Abbildung von R auf das Intervall .0; 1/ 1.7 Die Kardinalität des Kontinuums Bislang haben wir drei überabzählbare Mengen gefunden: die Menge der reellen Zahlen, die Menge der Teilmengen der natürlichen Zahlen und die Menge der positiv-ganzzahligen Funktionen. In einem gewissen Sinne handelt es sich bei allen drei um im Wesentlichen dieselbe Menge, so dass es nicht überraschend ist, dass die Überabzählbarkeit in allen drei Fällen mittels eines ähnlichen Arguments folgt. So wie die verschiedenen abzählbaren Mengen, die wir in Abschn. 1.1 besprochen haben, besitzen diese drei überabzählbaren Mengen jeweils dieselbe Kardinalität. In Abschn. 1.3 haben wir diese Kardinalität mit 2@0 bezeichnet, und sie wird auch die Kardinalität des Kontinuums genannt, weil das Kontinuum der reellen Zahlen die anschaulichste Menge mit der Kardinalität 2@0 ist. Die Gesamtheit aller reellen Zahlen können wir uns als eine stetige Gerade vorstellen, die „Zahlengerade“, aber es ist relativ schwierig, sich etwa ein Bild von der Gesamtheit aller Teilmengen der natürlichen Zahlen zu machen, solange sie nicht den reellen Zahlen zugeordnet sind. Bevor wir eine bijektive Abbildung zwischen den reellen Zahlen und den Teilmengen der natürlichen Zahlen herleiten, stellen wir zunächst fest, dass es eine bijektive Abbildung zwischen der Menge R aller reellen Zahlen und dem Intervall .0; 1/ der reellen Zahlen zwischen 0 und 1 gibt. Dies wird geometrisch offensichtlich, wenn man den Abschnitt zwischen 0 und 1 zu einem Halbkreis verbiegt und dann diesen Halbkreis wie in Abb. 1.7 gezeigt auf die Zahlengerade R projiziert. Abbildung zwischen reellen Zahlen und Mengen Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit in der Notation zwischen einer reellen Zahl im Intervall .0; 1/ und einer Teilmenge der natürlichen Zahlen. Beide besitzen nämlich naheliegende Darstellungen als Folgen von Nullen und Einsen. Wie man eine Teilmenge der natürlichen Zahlen durch solch eine Folge codiert, haben wir bereits in Abschn. 1.2 gesehen. Um eine Zahl x in .0; 1/ mittels einer Folge aus Nullen und Einsen zu codieren, führen wir sukzessive Intervallteilungen durch, wobei wir jedes Mal mit dem Teilintervall weitermachen, das die Zahl x enthält. Liegt x in dessen 1 Das Diagonalargument zweite 0 19 erste 1/3 1 Abb. 1.8 Die ersten zwei Intervallteilungen für 1=3 linker Hälfte, schreiben wir eine 0 auf; bei der rechten Hälfte eine 1. Dann unterteilen wir das Teilintervall, das die Zahl x enthält, erneut und wiederholen den Prozess. Die dabei entstehende Folge aus Nullen und Einsen wird als die Binärentwicklung von x bezeichnet. Abbildung 1.8 zeigt zum Beispiel, wie man die Binärentwicklung von 1=3 findet. Nach der ersten Intervallteilung liegt 1=3 in der linken Hälfte, also schreiben wir eine 0 auf. Nachdem wir die linke Hälfte geteilt haben, liegt 1=3 in der rechten Hälfte, also schreiben wir eine 1 auf. In dem dabei entstehenden Viertelintervall befindet sich 1=3 nun wieder in derselben Position wie zu Beginn, nämlich bei einem Drittel des Weges vom linken Endpunkt. Wenn wir nun also den Bisektionsprozess fortsetzen, schreiben wir wieder eine 0 auf, dann eine 1, eine 0, eine 1, und immer so weiter. Also hat 1=3 die unendliche Binärentwicklung 0;010101010101010101010101 : : : (wobei das Komma jetzt ein „Binärkomma“, kein Dezimalkomma ist). Wenn x genau auf die Trennungslinie fällt, beispielsweise bei x D 1=2 oder x D 1=4, tritt eine Doppeldeutigkeit auf. In diesem Fall können wir x entweder in das linke oder das rechte Teilintervall stecken; anschließend haben wir dann jedoch keine Wahlfreiheit mehr. Wenn wir eine 0 aufgeschrieben (und x damit dem linken Teilintervall zugeordnet) haben, dann wird x in der rechten Hälfte jedes danach konstruierten Teilintervalls liegen, und auf die 0 folgt eine unendliche Folge von Einsen. Beispielsweise hat 1=2 die Binärentwicklung 0;01111111111111111111111111 : : : Wenn wir jedoch zu Beginn eine 1 wählen, dann wird jede darauffolgende Ziffer eine 0 sein; die zweite Binärentwicklung von 1=2 ist also 0;100000000000000000000000 : : : (Dies ist analog zu der Doppeldeutigkeit bei Dezimalentwicklungen, wo 1=2 sowohl die Darstellung 0;499999999 : : : als auch die Darstellung 0;500000000 : : : hat.) 20 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Im Allgemeinen entsprechen jedem Binärbruch p=2q in .0; 1/ zwei verschiedene Folgen von Nullen und Einsen. Beide Folgen haben dasselbe Startsegment, das im einen Fall von 10000 : : : gefolgt wird, im anderen Fall von 01111 : : : Jedem Binärbruch sind daher zwei verschiedene Teilmengen der natürlichen Zahlen zugeordnet. Glücklicherweise gibt es jedoch nur abzählbar viele Binärbrüche (da sie eine Teilmenge der rationalen Zahlen bilden), so dass dieses Versagen der bijektiven Abbildung leicht geheilt werden kann. So haben wir ja in Abschn. 1.1 bereits gesehen, dass abzählbare Mengen, zwischen denen eine Zwei-zu-Eins-Beziehung besteht, auch in einer Eins-zuEins-, also einer bijektiven Abbildung geschrieben werden können (denken Sie an die Menge aller natürlichen Zahlen und die Menge der geraden Zahlen). Also lässt sich die Zwei-zu-Eins-Beziehung zwischen den Folgen, die auf 10000 : : : oder auf 01111 : : : enden, und den Binärbrüchen zu einer Einszu-Eins-Beziehung umordnen. Wenn wir das mit der bijektiven Beziehung zwischen den verbleibenden Null-Eins-Folgen und den verbleibenden reellen Zahlen kombinieren, erhalten wir die gewünschte bijektive Abbildung von den Teilmengen der natürlichen Zahlen zu den reellen Zahlen zwischen 0 und 1. Abbildung zwischen Funktionen und reellen Zahlen Jede Funktion f , die auf den natürlichen Zahlen definiert ist und dort ihre Werte annimmt, entspricht einer reellen Zahl zwischen 0 und 1. Dazu schreiben wir zunächst die Folge der Werte von f auf, zum Beispiel 4; 2; 6; 1; 1; 8; 3; 5; ::: Dann codieren wir diese Folge durch eine Folge von Nullen und Einsen, wobei wir jede natürliche Zahl f .n/ durch einen Block von f .n/1 (also möglicherweise gar keine) Einsen und jedes Komma durch eine Null ersetzen: 111010111110001111111011011110 : : : Schließlich stellen wir dem noch ein Binärkomma voran, so dass aus dieser Folge die Binärentwicklung einer reellen Zahl wird. Dabei handelt es sich stets um eine Entwicklung mit unendlich vielen Nullen, denn die Funktion f hat unendlich viele Werte. Doch das bedeutet lediglich, dass wir alle Binärentwicklungen auslassen, die auf 01111 : : : enden; wir erhalten also jede reelle Zahl zwischen 0 und 1 höchstens einmal. Umgekehrt hat jede reelle Zahl zwischen 0 und 1 genau eine Binärentwicklung mit unendlich vielen Nullen, und es gibt genau eine Funktion f , 1 Das Diagonalargument 21 die durch diese Binärentwicklung codiert wird. Wenn die Binärentwicklung zum Beispiel 0;001011001111101101010101 : : : lautet, dann sind die aufeinanderfolgenden Werte von f die Zahlen 1; 1; 2; 3; 1; 6; 3; 2; 2; 2; 2; ::: Im Allgemeinen ist f .1/ D (Anzahl der Einsen vor der ersten Null) C 1; f .2/ D (Anzahl der Einsen nach der ersten und vor der zweiten Null) C 1; f .3/ D (Anzahl der Einsen nach der zweiten und vor der dritten Null) C 1; und so weiter. Deshalb stellen die Binärentwicklungen eine bijektive Abbildung zwischen den positiv-ganzzahligen Funktionen und den reellen Zahlen im Intervall von 0 bis 1 her. 1.8 Historischer Hintergrund Unendlichkeit im antiken Griechenland Darum ist auch an dem, was Zenon sagt, etwas Unwahres: daß es nicht möglich sei, das Unbegrenzte zu durchgehen, oder es zu berühren im Einzelnen in begrenzter Zeit. Aristoteles, Physik, Buch VI, Kapitel 2 Seit den Zeiten der Antike spielte die Unendlichkeit eine Schlüsselrolle in der Mathematik; allerdings wurde ihr Einsatz oft als schädlich erachtet. p Um das Jahr 500 v. Chr. entdeckten die Pythagoreer die Irrationalität von 2 und begannen damit ein langes Ringen um das Verständnis des (von uns heute so bezeichneten) Begriffs der reellen Zahl. Dies war ein Teil eines umfassenderen Programms mit dem Ziel, die in der Geometrie auftretenden kontinuierlichen Größen wie Länge, Fläche, Volumen mit den diskreten natürlichen Zahlen 1; 2; 3; 4; : : :, die beim Zählen benutzt werden, in Einklang zu bringen. Der Schock der Irrationalität hinterließ bei den Griechen anscheinend einen Widerwillen dagegen, kontinuierliche Größen als Zahlen zu behandeln. So war für sie etwa das Produkt zweier Längen eine Fläche, das Produkt von drei Längen ein Quader, und das Produkt von vier Längen besaß für sie 22 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit überhaupt keinen Sinngehalt. Dennoch machten sie gewaltige Fortschritte darin, kontinuierliche Größen mit den natürlichen Zahlen in Beziehung zu setzen. Um das Jahr 350 v. Chr. entwarf Eudoxos eine „Proportionenlehre“ (überliefert in Buch V von Euklids Elementen), die einer Definition der reellen Zahlen so nahe kam wie kaum etwas anderes vor dem 19. Jahrhundert. Euklid charakterisierte irrationale Längen ` als solche, für die ein bestimmter Prozess (der euklidische Algorithmus mit ` und 1) unendlich ist. Archimedes bestimmte Flächen und Volumen von gekrümmten Objekten mittels unendlicher Prozesse, wobei er in einigen seiner Methoden sogar das Tabu um „aktual“ unendliche Mengen brach. Fast alle Mathematiker bis zum 19. Jahrhundert setzten eine scharfe Trennlinie zwischen dem (nach ihrer Bezeichnung) potenziell und aktual Unendlichen. Das potenziell Unendliche ist typischerweise ein nicht endender Prozess, zum Beispiel der Prozess des Zählens (1; 2; 3; : : :) oder des Aufteilens einer gekrümmten Fläche in immer kleinere Dreiecke. Das aktual Unendliche ist der gedankliche Abschluss eines unendlichen Prozesses, zum Beispiel die Menge f1; 2; 3; : : :g aller natürlichen Zahlen. Grundsätzlich ist es ein Widerspruch, vom Abschluss eines unendlichen Prozesses zu sprechen, doch tatsächlich verlangen viele Prozesse geradezu nach einem Abschluss, da sie deutlich einem Grenzwert zustreben. Bei den berühmten Paradoxien des Zenon wie dem „Trugschluss von Achilles und der Schildkröte“ geht es um Prozesse mit einem klaren Grenzwert. Achilles beginnt das Rennen hinter der Schildkröte, läuft jedoch schneller, so dass er die Schildkröte sicherlich irgendwo einholen wird. Das Problem liegt (jedenfalls für Zenon) darin begründet, dass es unendlich viele Teilstrecken gibt, in denen Achilles hinter der Schildkröte bleibt (der erste Abschnitt endet, wenn Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht; der zweite, wenn Achilles den ersten Abschnitt der Schildkröte beendet; der dritte, wenn er ihren zweiten Abschnitt beendet; und so weiter). Deshalb sieht es so aus, als beinhalte Bewegung das Vollenden einer unendlichen Abfolge von Ereignissen. Den Griechen erschien der Begriff der Bewegung damit problematisch, und sie suchten nach Wegen, das Paradox mit Hilfe des potenziell Unendlichen aufzulösen (so wie es Aristoteles in seiner Physik tat). Für uns stützt es vielleicht eher den Gedanken, dass das aktual Unendliche existiert. Jedenfalls gibt es in der antiken griechischen Mathematik viele Beispiele dafür, dass der Grenzwert eines unendlichen Prozesses zu interessantem neuen Wissen führt. Beispielsweise stellten Euklid und Archimedes fest, dass sowohl das Volumen eines Tetraeders als auch die Fläche eines Parabelabschnitts mit- 1 Das Diagonalargument 23 hilfe der unendlichen Reihe 1C 1 1 1 1 C 2 C 3 C 4 C :::; 4 4 4 4 die den Summenwert 4=3 hat, gefunden werden kann. Diese Summe können sie bestimmen, indem sie nur die potenzielle Unendlichkeit der Terme 1; 1 1C ; 4 1 1 1C C 2 ; 4 4 1 1 1 1C C 2 C 3 ; 4 4 4 1 1 1 1 1C C 2 C 3 C 4 ; 4 4 4 4 ::: betrachten und zeigen, dass jeder dieser Terme kleiner als 4=3 ist und jede Zahl unterhalb von 4=3 von einem der Terme in der Folge übertroffen wird. Deshalb kann man sagen, dass 4=3 gleich der Summe von 1C 14 C 412 C 413 C C ist, da alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind. Mit dieser Exhaustionsmethode, die ebenfalls von Eudoxos entwickelt wurde, lassen sich aktuale Unendlichkeiten in vielen der für die Griechen interessanten Fälle vermeiden. Aber nicht in allen. Es existiert ein Buch von Archimedes, genannt Über die Methode, das viele Jahrhunderte lang verschollen war und das die spätere Entwicklung der Mathematik deshalb nicht beeinflusste. Darin sind die Methoden beschrieben, mit deren Hilfe er einige seiner berühmtesten Ergebnisse entdeckte, zum Beispiel den Satz, dass das Volumen der Kugel 2=3 des Volumens des sie umschließenden Zylinders beträgt. Dieses Buch tauchte um das Jahr 1900 wieder auf, und erst dann erkannte man, dass Archimedes die aktuale Unendlichkeit auf eine Weise verwendet hatte, die sich nicht umgehen ließ. Bei der Bestimmung gewisser Volumina betrachtet Archimedes einen festen Körper als eine Summe von Scheiben der Breite null. Wie wir heute wissen, gibt es überabzählbar viele solche Scheiben – entsprechend den überabzählbar vielen Punkten auf der Geraden –, so dass man die Summe aller Scheiben nicht als den „Grenzwert“ von endlichen Summen erhalten kann. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Archimedes irgendeine Vorahnung von der Überabzählbarkeit hatte; vielleicht hegte er aber dennoch den Verdacht, es mit einer neuen Art von Unendlichkeit zu tun zu haben.1 Über die Methode belegt, dass ein intuitives Gespür für die Unendlichkeit, sogar für das Kontinuum, nützlich für mathematische Entdeckungen sein kann. Weitere Früchte einer derartigen Intuition traten um das Jahr 1800 zutage. 1 44 1 Einen modernen Bericht zu Über die Methode, mit einigen interessanten mathematischen Spekulationen, finden Sie in Netz und Noel (2007). 24 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Die ersten modernen Überlegungen zum Kontinuum . . . während wir der Geraden Vollständigkeit, Lückenlosigkeit oder Stetigkeit zuschreiben. Worin besteht denn nun eigentlich diese Stetigkeit? Richard Dedekind (1872), S. 17 Die grundlegende Eigenschaft des Kontinuums ist die, stetig zu sein in dem Sinne, dass es den Raum zwischen seinen Endpunkten ohne Lücken ausfüllt. Um das Jahr 1800 bemerkte der deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß, dass diese scheinbar offensichtliche Eigenschaft der Schlüssel zu einem schwierigen Satz ist, den verschiedene Mathematiker vergeblich versucht hatten zu beweisen. Dieser sogenannte „Fundamentalsatz der Algebra“ besagt, dass jede Polynomgleichung wie x 4 2x 2 C 3x C 7 D 0 oder x 5 x C 1 D 0 von (mindestens) einer komplexen Zahl x erfüllt wird. Auch Gauß selber hatte Schwierigkeiten, den Satz zu beweisen, und alle von ihm vorgeschlagenen Beweise sind nach heutigen Maßstäben unvollständig. Im Jahre 1816 gab er jedoch einen Beweis an, der die Schwierigkeit klar identifizierte: Alles läuft auf die Abwesenheit von Lücken im Kontinuum hinaus. Gauß’ Beweis von 1816 nimmt eine beliebige Polynomgleichung und reduziert sie mittels rein algebraischer Methoden auf eine Gleichung p.x/ D 0 mit reellen Koeffizienten und von ungeradem Grad . Letzteres bedeutet, dass der Term mit dem höchsten Exponenten in p.x/, etwa x 5 im zweiten der obigen Beispiele, von ungerader Potenz ist. Nun wird aber das Polynom p.x/ bei großen Absolutwerten von x von dem Term mit dem höchsten Exponenten dominiert, und deshalb muss p.x/ zwischen den hohen negativen und den hohen positiven Werten von x das Vorzeichen wechseln, da dies bei jeder ungeraden Potenz von x passiert. Der Graph y D p.x/ ist also eine stetige Kurve, die sich von negativen zu positiven Werten von y bewegt. Abbildung 1.9 zeigt diese Kurve für das obige Beispiel y D x 5 x C 1. Da die Kurve die x-Achse von unten nach oben kreuzt und die x-Achse keine Lücken hat, muss die Kurve notwendigerweise die x-Achse schneiden. Das bedeutet, dass es einen reellen Wert für x gibt, bei dem x 5 x C 1 D 0 ist. Auf ähnliche Weise hat jede Polynomgleichung von ungeradem Grad eine Lösung, was den Fundamentalsatz der Algebra impliziert. (Gauß’ Reduktion auf den ungeraden Grad beinhaltet auch das Lösen quadratischer Gleichungen, von denen wir bereits wissen, dass sie Lösungen haben, möglicherweise im Bereich der komplexen Zahlen.) 1 Das Diagonalargument 25 y 8 −1 O 1 x −8 Abb. 1.9 Graph des Polynoms y D x 5 x C 1 Seine Intuition hatte Gauß dazu veranlasst, etwas vorauszusetzen, das wir heutzutage als den Zwischenwertsatz bezeichnen: Jede stetige Funktion f .x/, die zwischen x D a und x D b sowohl positive als auch negative Werte annimmt, erreicht den Wert null bei einem x D c zwischen a und b. Der erste, der diese Voraussetzung erkannte und versuchte, sie zu beweisen, war der Prager Mathematiker Bernard Bolzano im Jahr 1816. Bolzano war seiner Zeit voraus, indem er nicht nur eine Eigenschaft stetiger Funktionen in einem Satz bemerkte, den man zuvor der Algebra zugeordnet hatte, sondern indem er auch erkannte, dass der Zwischenwertsatz von der Beschaffenheit des Kontinuums abhängt. Der Beweisversuch von Bolzano war unvollständig, da eine Definition des Kontinuums zu seiner Zeit noch völlig fehlte. Allerdings identifizierte er korrekt eine Vollständigkeitsbedingung, die jeder vernünftige Begriff des Kontinuums erfüllen muss. Dabei handelt es sich um die Supremumseigenschaft: Wenn S eine Teilmenge der reellen Zahlen mit einer oberen Schranke ist, dann gibt es ein Supremum für S, also eine kleinste obere Schranke. (Das bedeutet, dass unter den Zahlen, die größer oder gleich allen Elementen von S sind, eine kleinste existiert.) Im Jahr 1858 brachte Richard Dedekind diesen Gedankengang zu einem befriedigenden Abschluss, indem er die reellen Zahlen mittels (von ihm so bezeichneter) Schnitte in den rationalen Zahlen definierte. Anschaulich ist ein Schnitt eine Aufteilung (wie mit einem unendlich scharfen Messer) der rationalen Zahlen in eine Untermenge U und eine Obermenge O. Formal ist ein Schnitt ein Paar .U ; O/, bestehend aus zwei Mengen U und O, die zusammen alle rationalen Zahlen enthalten, wobei jedes Element von U kleiner als jedes Element von O ist. Schnitte .U ; O/ können sowohl rationale als auch irrationale Zahlen darstellen, und zwar wie folgt: 26 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Wenn U ein größtes oder O ein kleinstes Element hat, etwa r, dann steht .U ; O/ für die rationale Zahl r. Wenn weder U ein größtes noch O ein kleinstes Element hat, dann steht .U ; O/ für eine irrationale Zahl. (Das geschieht zum Beispiel dann, wenn O aus denjenigen positiven rationalen Zahlen besteht, deren Quadrat größer als 2 ist, und U alle anderen rationalen Zahlen enthält. Das p Paar .U ; O/ repräsentiert dann diejenige irrationale Zahl, die wir als 2 bezeichnen.) Die zweite Art von Schnitt repräsentiert eine Lücke in den rationalen Zahlen, und gleichzeitig gibt sie uns ein Objekt in die Hand, das diese Lücke füllt – den Schnitt .U ; O/. Mit atemberaubender Kühnheit erzeugte Dedekind ein lückenloses Kontinuum, indem er jede Lücke in den rationalen Zahlen dadurch füllte, dass er als Objekt zum Füllen der Lücke im Wesentlichen die Lücke selbst verwendete.2 Mehr zu unendlichen Dezimalbrüchen Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die unendlichen Dezimalbrüche, die wir in diesem Kapitel bereits zur Modellierung der reellen Zahlen verwendet haben, im Wesentlichen eine etwas lesbarere Version der dedekindschen Schnitte sind. Ein unendlicher Dezimalbruch wie 3;14159 : : : repräsentiert einen Schnitt in der nicht ganz so überfüllten Menge der Dezimalbrüche, indem er die nächsten Nachbarn unterhalb von 3;14159 : : :, also 3; 3;1; 3;14; 3;141; 3;1415; 3;14159; :::; abtrennt von den nächsten Nachbarn oberhalb von 3;14159 : : :, also 4; 3;2; 3;15; 3;142; 3;1416; 3;14160; ::: Unendliche Dezimalbrüche sind einfacher zu lesen und zu verstehen, aber versuchen Sie nur einmal, ihre Summe und ihr Produkt zu definieren! Sie werden sich wahrscheinlich so ähnlich wie bei den dedekindschen Schnitten darauf zurückziehen, die benachbarten Dezimalbrüche zu addieren und zu multiplizieren. Es reicht natürlich nicht aus, festzustellen, dass die Menge der Schnitte keine Lücken enthält. Wir müssen auch darlegen, dass Schnitte Größen sind, die sich 2 Ein wenig trübte Dedekind die Reinheit und Kühnheit seiner Idee, indem er darauf bestand, zum Füllen jeder Lücke ein neues Objekt zu erzeugen. Es ist völlig korrekt und wesentlich ökonomischer, die Lücke selbst als ein reales mathematisches Objekt anzusehen, das wir mit dem Paar .U ; O/ identifizieren können. 1 Das Diagonalargument 27 wie Zahlen verhalten. Und dies ist tatsächlich so. Man kann die „Summe“ und das „Produkt“ zweier Schnitte in Abhängigkeit von den in ihnen enthaltenen rationalen Zahlen definieren, und diese „Summe“ und dieses „Produkt“ haben die üblichen algebraischen Beispielsweise besteht die Unterp Eigenschaften. p menge des Schnittes p für 2 C 3 aus allen Zahlen r C ps, bei denen r aus der Untermenge für 2 undps aus der Untermenge für 3 stammt. Das ist p dasselbe wie der Schnitt für 3 C 2, da r C s D s C r gilt. Und das Beste ist, dass jede beschränkte Menge S von Schnitten eine kleinste obere Schranke hat. Die Untermenge der kleinsten oberen Schranke von S entsteht durch die Vereinigung der Untermengen aller Elemente von S. Mit der dedekindschen Definition der reellen Zahlen war es also endlich möglich, den Zwischenwertsatz und damit auch den Fundamentalsatz der Algebra zu beweisen. Gleichzeitig stieß der Beweis eine neue Richtung des mathematischen Denkens an. Zuvor undefinierte mathematische Objekte erhielten nun eine Definition in der Sprache der Mengen, und jede Menge wurde zu einem legitimen mathematischen Objekt – sogar die überabzählbare Menge der reellen Zahlen. Tatsächlich begrüßten viele Mathematiker die Menge der reellen Zahlen als ein mathematisches Modell für die Gerade. Heutzutage scheint die „Zahlengerade“ ein einfacher Begriff zu sein. Doch das ist sie nicht! Ein „Punkt“ ist ein ganzes Universum, wenn man weiß, dass es sich in Wirklichkeit um einen Schnitt in der unendlichen Menge der rationalen Zahlen handelt. Dennoch sahen in den 1870er Jahren viele Mathematiker diese Arithmetisierung der Geometrie als die beste Methode an, die Fundamente der Mathematik zu errichten. Arithmetisierung löste den alten Konflikt zwischen den Zahlen und den geometrischen Größen auf; zudem stellte sie eine gemeinsame Grundlage für Geometrie und Analysis zur Verfügung. Die Zeit für die Arithmetisierung war gekommen, auch deshalb, weil Cantor gerade begonnen hatte, das Mengenkonzept an sich zu erkunden. Weitere Untersuchungen dieses Konzepts führten allerdings zu einigen Überraschungen. Die Paradoxien der Mengenlehre . . . ein bloßer Schabernack, den die Göttin der Weisheit der Menschheit gespielt hat. Azriel Levy (1979), S. 7 Das funktionenbasierte Diagonalargument von Paul du Bois-Reymond (Abschn. 1.6) hatte weitreichende Konsequenzen, wie wir in späteren Kapiteln 28 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit dieses Buches sehen werden. Das mengenbasierte Diagonalargument von Cantor (Abschn. 1.3) hatte Konsequenzen, die wesentlich direkter und dramatischer waren. Im Jahr 1891 bemerkte Cantor, dass sich das Diagonalargument auf jede Menge anwenden lässt, als er zeigte, dass jede Menge X mehr Teilmengen als Elemente hat. Natürlich können wir im Allgemeinen eine Auflistung der Elemente von X nicht mehr so anschaulich darstellen, wie das in Abschn. 1.3 mit den Teilmengen der natürlichen Zahlen möglich war. Es reicht aber, eine beliebige bijektive Abbildung von den Elementen x von X auf die Teilmengen von X anzunehmen; dabei bezeichne S x die zu x gehörende Teilmenge. Mithilfe der Mengen S x definieren wir nun die „Diagonalmenge“ S, zu deren Elementen ein x genau dann gehört, wenn es nicht in S x liegt. Es ist klar, dass sich S von jeder Menge S x in Bezug auf das Element x unterscheidet: Wenn x in S x ist, dann ist x nicht in S; und wenn x nicht in S x ist, dann ist x in S. Deshalb gelingt es keiner Abbildung von Elementen auf Teilmengen von X , alle Teilmengen zu erfassen. Das ist gemeint, wenn wir sagen, dass X mehr Teilmengen als Elemente hat. Daraus folgt wiederum, dass es keine größte Menge gibt. Und deshalb gibt es auch so etwas wie die „Menge aller Mengen“ nicht – denn wenn sie existieren würde, dann wäre die Menge aller Mengen notwendigerweise die größte Menge. Als Cantor dies im Jahr 1895 bemerkte, musste er erst einmal innehalten. Was genau bedeutet das Wort „Menge“, wenn es keine Menge aller Mengen gibt? Cantor hatte keine präzise Antwort auf diese Frage, jedoch beunruhigte ihn das auch nicht besonders. Er hatte kein Interesse an der „Menge aller Mengen“ und war zufrieden damit, nur Mengen zu betrachten, die mittels eindeutiger Operationen wie dem Zusammenfassen aller Teilmengen aus gegebenen Mengen entstehen. Beunruhigender war diese Frage für Philosophen der Mathematik wie Gottlob Frege oder Bertrand Russell, die glaubten, dass jede Eigenschaft P eine Menge definieren sollte: die Menge aller Objekte mit der Eigenschaft P . Wenn es um die Eigenschaft geht, „eine Menge zu sein“, dann führt dieser Glaube auf die „Menge aller Mengen“. Tatsächlich entdeckte Russell den Widerspruch in der „Menge aller Mengen“ im Jahr 1901 erneut, in einer Form, die als das Russellsche Paradox oder die Russellsche Antinomie berühmt geworden ist. Russells Beitrag war es, den Widerspruch auf die „Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten“ zu komprimieren. Diese „Menge“ R ist unmittelbar selbst-widersprüchlich, denn R gehört zu R dann und nur dann, wenn R nicht zu R gehört. Russells Argumentation überzeugte die Mathematiker davon, dass der Begriff der Menge einer Präzisierung bedurfte, und sie bekräftigte die Vorstellung aus den 1870er Jahren, dass die Mathematik feste Grundlagen benötigt. Diese 1 Das Diagonalargument 29 „Grundlagenkrise“ (und andere „Krisen“, denen wir später begegnen werden) hatte tiefgreifende Konsequenzen, wie wir im Rest dieses Buches sehen werden. Das Problem, dem die Mengenlehre nun gegenüberstand, wurde von dem deutschen Mathematiker Ernst Zermelo (1908) wie folgt beschrieben: Nun scheint aber gegenwärtig gerade diese Disziplin in ihrer ganzen Existenz bedroht durch gewisse Widersprüche . . . Angesichts namentlich der „R u s s e l l schen Antinomie“ von der „Menge aller Mengen, welche sich selbst nicht als Element enthalten“ scheint es heute nicht mehr zulässig, einem beliebigen logisch definierbaren Begriffe eine „Menge“ oder „Klasse“ als seinen „Umfang“ zuzuweisen. Zermelo glaubte, dass die Mengenlehre durch Axiome für Mengen gerettet werden konnte, welche Cantors Intuition formalisierten, dass alle Mengen aus gegebenen Mengen (wie der Menge der natürlichen Zahlen) durch Anwendung wohldefinierter Operationen (wie dem Zusammenfassen aller Teilmengen) entstehen. Die heutzutage am häufigsten verwendeten Mengenaxiome stammen von Zermelo (1908), mit einer wichtigen Ergänzung von seinem (später nach Israel übergesiedelten) Landsmann Abraham Fraenkel aus dem Jahr 1922. Deshalb werden sie als die ZF-Axiome bezeichnet. Sie sind in einer formalen Sprache für die Mengenlehre formuliert, die ich hier nicht eingeführt habe; zum größten Teil können sie jedoch in der Alltagssprache unter Verwendung der Elementbeziehung ausgedrückt werden. Wir schreiben die Menge mit den Elementen a; b; c; : : : als fa; b; c; : : :g. Die Klammern „schließen“ also die Objekte a; b; c; : : : (die ihrerseits Mengen sein können) als die Elemente einer Menge ein. Axiom 1. Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente enthalten. Axiom 2. Es gibt eine Menge ohne Elemente, genannt die leere Menge. Axiom 3. Zu beliebigen Mengen X und Y gibt es eine Menge, deren einzige Elemente X und Y sind. (Diese Menge, fX ; Y g, wird als das ungeordnete Paar von X und Y bezeichnet. Beachten Sie, dass im Falle Y D Z Axiom 1 zu fY ; Z g D fY g führt. Das Paarmengenaxiom liefert uns also auch die „Einermenge“ Y , deren einziges Element Y ist.) 30 Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit Axiom 4. Zu jeder Menge X gibt es eine Menge, deren Elemente die Elemente der Elemente von X sind. (Falls X D fY ; Z g ist, bilden die Elemente der Elemente von X die sogenannte Vereinigungsmenge von Y und Z , geschrieben als Y [ Z . Auch im allgemeinen Fall wird die Menge der Elemente von den Elementen von X als die Vereinigungsmenge der Elemente von X bezeichnet.) Axiom 5. Zu jeder Menge X gibt es eine Menge, deren Elemente die Teilmengen von X sind, wobei eine Teilmenge von X eine Menge ist, deren Elemente auch in X vorkommen. (Die Menge der Teilmengen von X heißt die Potenzmenge von X .) Axiom 6. Für jede Funktionsdefinition f und Menge X bilden die Werte f .x/ für Elemente x von X eine Menge. (Diese Menge wird als die Bildmenge der Funktion f auf dem Definitionsbereich X bezeichnet, und das Axiom heißt Ersetzungsaxiom.) Axiom 7. Jede nichtleere Menge X hat ein Element Y , das keine Elemente in X hat. (Etwas erhellender – wenn auch in der formalen Sprache schwerer auszudrücken – ist die folgende Version: Es gibt keine unendliche, bezüglich der Elementbeziehung absteigende Folge von Mengen. Wenn also jemand ein Element X 1 von X nimmt, dann ein Element X 2 von X 1 und so weiter, dann kann dieser Prozess nur endlich viele Schritte andauern.) Axiom 8. Es gibt eine unendliche Menge (tatsächlich reicht eine nichtleere Menge), die zu jedem Element X auch das Element X [ fX g enthält. Die Axiome 1–6 besagen, dass Mengen durch Anwendung der Paarmengen-, Vereinigungs-, Potenzmengen- und Ersetzungsoperation (das Generieren der Bildmenge einer Funktion) aus der leeren Menge aufgebaut werden. Wenn wir sagen, dass eine Funktion f „definiert“ ist, so meinen wir, dass f durch eine Formel in der formalen Sprache der ZF-Mengenlehre ausgedrückt wird, welche im Wesentlichen aus logischen Symbolen und Symbolen für Elementbeziehung und Gleichheit besteht. Wir werden formale Sprachen für die Mathematik in den Kap. 3, 4 und 5 untersuchen. Das mysteriöse Axiom 7, genannt das Fundierungsaxiom, ermöglicht es uns zu beweisen, dass jede Menge aus der leeren Menge mittels der obigen Operationen entsteht. Es mag Ihnen so vorkommen, dass wir nur eine gravierend eingeschränkte Auswahl an Mengen zur Verfügung haben, doch tatsächlich gibt es zu jedem üblicherweise in der Mathematik benötigten Objekt eine Menge, die seine Rolle übernehmen kann. Zunächst können wir nach einer Idee des ungarischen (später amerikanischen) Mathematikers John von Neumann aus den 1920er Jahren die natürlichen Zahlen wie folgt definieren. Es 1 Das Diagonalargument 31 sei 0 die leere Menge (was sonst?), und weiter sei 1 D f0g; 2 D f0; 1g; 3 D f0; 1; 2g und so weiter. Beachten Sie, dass n C 1 D n [ fng gilt und dass m < n dann und nur dann richtig ist, wenn m ein Element von n ist. Demnach liefert uns die Mengenlehre Definitionen für die Nachfolger-Funktion und für die „kleiner gleich“-Beziehung umsonst mit, und wir können mit dem Aufbau der Arithmetik beginnen. Sodann besagt das Axiom 8 (das Unendlichkeitsaxiom) zusammen mit Axiom 6, dass eine Menge mit den Elementen 0; 1; 2; 3; : : : existiert, und dadurch bekommen wir die Menge der natürlichen Zahlen (mit der 0) in die Hand. Wenn wir ihre Potenzmenge bilden, sind wir schon unterwegs zu den reellen Zahlen, der Zahlengeraden, Geometrie, Analysis und zu praktisch allem anderen. Wer hätte gedacht, dass die leere Menge so fruchtbar sein könnte? http://www.springer.com/978-3-642-37843-0