Microsoft Office Word - Esch 42003

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Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
213
Musikmedizin
Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
T. Esch, Münster
Zusammenfassung
Summary
Musikermedizin, Musikmedizin und Musiktherapie werden fälschlicherweise oft miteinander
verwechselt. Dabei beschäftigt sich die Musikermedizin auf der einen Seite mit Krankheiten
und Beschwerden, welche mit der Musikausübung im Zusammenhang stehen können, und
die Musiktherapie auf der anderen mit therapeutischen Musikeffekten. Solche Effekte
macht sich die moderne Medizin beispielsweise bei der Behandlung psychischer bzw. psychiatrischer Störungen zu Nutze. Der Begriff
‚Musikmedizin’ wird irreführenderweise in beiden Bereichen verwendet, ist aber tendenziell
enger mit der therapeutischen Musikanwendung verbunden. Die Musikphysiologie stellt
die gemeinsame Basis von Musikermedizin
und Musiktherapie (auch: Musical Healing) dar,
hier könnte zukünftig vermehrt eine fruchtbare
synergetische Diskussion und Forschung stattfinden. Musik besitzt ein stressreduzierendes
Potenzial, das beim Musikhören (ÆEntspannungs-Antwort) oder bei der aktiven musikalischen Praxis (ÆFlow-Erfahrung) aktiviert und
ausgenutzt werden kann. Grundsätzlich hat
Musik gleichermaßen heilende bzw. gesundheitsfördernde wie krankmachende Eigenschaften. Daher sind konkrete Auswirkungen
von Musik jeweils von verschiedenen exogenen und endogenen (subjektiven) sowie musikphysiologischen Faktoren abhängig. Die
therapeutischen Möglichkeiten eines Einsatzes
von Musik können eventuell in Folge einer intensiveren und hoch-qualitativen Forschung
noch ausgebaut bzw. Musical Healing in die
reguläre medizinische Versorgung integriert
werden.
Music medicine: Music in association with
harm and healing
Musician’s medicine, music medicine, and music therapy are often mixed-up. Hence, musician’s medicine on one hand deals with medical problems that are associated with music
practice, whereas music therapy on the other
uses music as a therapeutic tool to treat, for
example, mental diseases and affective disorders. The term ‘music medicine’ is used in both
areas, which is rather confusing. However,
music medicine predominantly goes with
therapeutic music application. Music physiology is the common basis of musician’s medicine and music therapy (also: ‘musical healing’), and thus, synergetic effects may exist
that could be addressed in future discussion
and research. Music possesses a stress reducing potential that may be elicited through music listening (Ærelaxation response) or playing
(Æflow experience). In general, music has
healing, i.e., therapeutic, or health promoting
capacities – but may further induce disease
processes likewise. Yet, the actual consequences of music experience are due to numerous exogenous and endogenous (subjective) as well as physiological factors. Finally,
therapeutic abilities of musical healing may be
extended in the future by thorough research,
and thereby, musical healing may become a
part of regular medical care.
Schlüsselwörter
Musikmedizin, Musiktherapie, Musikphysiologie, Musikermedizin, Stressreduktion
Keywords
Music medicine, musical healing, music physiology, musician’s medicine, stress reduction
214
T. Esch – Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
Einleitung
Musik und Medizin – diese beiden Begriffe haben für viele Menschen wohl wenig miteinander gemeinsam. Entgegen der allgemeinen
Auffassung, dass Medizin nur mit Krankheiten
und deren Behandlung, Musik dagegen mit einem durchweg positiven Erleben und Wohlbefinden in Verbindung zu bringen ist, kann sich
jenes Verhältnis auch in umgekehrter Weise
offenbaren: Medizin wird heute vermehrt mit
salutogenetischen bzw. gesundheitstheoretischen Aspekten assoziiert (Stichwort: Prävention) [7], während Musik durchaus krank machen kann. Dieses gilt nicht nur für die Beeinträchtigung des Hörvermögens infolge einer
von Musik u. U. ausgehenden Lärmbelastung
(Konzertveranstaltungen,
Disco-Besuch,
Walkman etc.), sondern ebenso und in besonderem Maße im Zusammenhang mit der Musikausübung (Stichwort: Musikerkrankheiten).
Der Begriff und das medizinische Teilgebiet
der Musikermedizin zeugen deutlich von einer
solchen Korrelation. Musik und Medizin besitzen folglich sehr wohl Überschneidungen.
Nun – in einer Fachzeitschrift für Musikermedizin muss auf die wachsende Bedeutung der
Musikermedizin und das sich verbreiternde
bzw. vertiefende Bewusstsein für krankmachende Einflüsse und medizinische Probleme,
welche mit der Musikausübung in Verbindung
stehen, nicht grundsätzlich näher eingegangen
werden. Stattdessen wollen wir uns im Kontext
der verkürzenden Frage, ob Musik „krank oder
gesund“ macht, im wesentlichen dem letztgenannten Berührungspunkt zwischen Musik und
Medizin zuwenden, d.h. das gesundheitsfördernde oder therapeutische Potenzial von Musik (ÆMusiktherapie) genauer analysieren.
Dabei kommt es uns auch darauf an, die Musikphysiologie gewissermaßen als die Schnittmenge bzw. übergeordnete gemeinsame Basis
von Musikermedizin und Musiktherapie herauszuarbeiten, um solcherart auf Gemeinsamkeiten zwischen beiden Feldern hinzuweisen.
In der Folge können so vielleicht gegenseitige
Ressentiments sowie unnötige – d.h. künstliche – und gelegentlich auch sachlich falsche
Abgrenzungsbemühungen entschärft werden,
während gleichzeitig die eindeutig zu unterscheidenden Bezugspunkte und Ansätze von
Musikermedizin und Musiktherapie deutlich
werden sollten. Um es klar zu sagen: Musikermedizin und Musiktherapie sind substanziell
verschieden, besitzen aber dennoch sich z.T.
überschneidende Fragestellungen, insbesondere im Bereich der Musikphysiologie, weswegen möglicherweise synergetische Effekte
durch eine offene und fruchtbare Diskussion zu
erzielen sind bzw. sichtbar und nutzbar gemacht werden können. Aus Sicht der Musi-
kermedizin ist jedoch unbedingt darauf zu achten, dass in diesem Zusammenhang Begrifflichkeiten nicht durcheinander geraten. Aus jenem Grund wird im Folgenden hauptsächlich
auf musiktherapeutische Ansätze erklärend
eingegangen, da diese dem musikermedizinisch orientierten Auditorium möglicherweise
nicht so geläufig sind. Schließlich ist eine begriffliche Abgrenzung hier gleichwohl nötig und
unvermeidbar, denn z.B. der Terminus Musikmedizin wird in beiden Bereichen teilweise
synonym (aber mit unterschiedlicher Intention)
verwandt. So ist eine Verwirrung entstanden,
welche auch in der jeweiligen Literatur fortlaufend tradiert wird.
Musik als Heilmittel
Der Mensch besitzt wahrscheinlich als einzige
Spezies – neben der Sprache – ein zweites,
sehr differenziertes phonetisches und klangvolles Kommunikationssystem: die Musik. Dabei
verfügt praktisch jede menschliche Kultur über
ihre eigene Musik. Die ersten Musikinstrumente wurden wohl vor über 35000 Jahren als primitive Knochenflöten, Maultrommeln und
Schlaginstrumente konstruiert [2]. Bereits 4000
Jahre v. Chr. haben ägyptische Priester Klänge und Musik zur Heilung eingesetzt. Im Mittelalter gehörte die Musik zu den sieben Künsten, welche jeder zukünftige Arzt zu studieren
hatte. Arabische Krankenhäuser beschäftigten
Harfen- und Gitarrenspieler sowie Perkussionisten. Heute noch sind Musik und Bewegung
unverzichtbare Bestandteile von Heilungszeremonien der australischen Aborigines, afrikanischer Stämme sowie traditionell lebender
Völker in Südamerika. Die Geschichte der Musik mit ihren kommunikativen Elementen ist
immer auch verbunden gewesen mit ihren Wirkungen auf Geist, Seele und Körper. Musik
wurde und wird aber nicht nur zum sprachlichen, sondern eben auch zum emotionellen
Ausdruck verwandt. Mithin besitzt die Musik
eine starke Kraft, welche sich Heiler und Heilsuchende immer wieder zu Nutze gemacht haben.
Trotz der langen Geschichte des Einsatzes
von Musik zum Zwecke der Heilung hat sich
die oben beschriebene, vormals generelle Anwendung musikalischer Heilmittel über die Zeit
bedeutend gewandelt. In der intellektualisierten
bzw. rationalistischen und informierten westlichen Welt unserer Tage haben Arzneien die
Oberhand gewonnen und „Wissenschaft“
(ÆEvidenz) ist die entscheidende Messlatte
geworden [7]. Eindrucksvolle pharmazeutische
Entwicklungen und Inventionen konnten sich in
„plazebokontrollierten,
doppelt-verblindeten,
randomisierten Studien“ behaupten. So „ver-
Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
staubte“ bzw. veraltete die Musica Humana
zusehends und verschwand nahezu vollständig aus dem allgemeinen und medizinischen
Bewusstsein – bis vor kurzem.
Das moderne Konzept der Musik als therapeutisches Hilfsmittel entwickelte sich vor allem
nach dem Ersten Weltkrieg, als z.B. amerikanische Musiker in die Veteranen-Krankenhäuser gingen, um für verletzte amerikanische
Soldaten zu spielen. Auch in Europa gab es
eine ähnliche Tradition des Einsatzes von Musik in Hospitälern, hier insbesondere in christlichen Häusern. Die Popularität von Musik als
Teil des Behandlungsregimes bei physischen
und psychischen Beeinträchtigungen nahm in
der Folge langsam zu, wenngleich mit unterschiedlichem Tempo in den verschiedenen
Ländern und Regionen. Das erste universitäre
Programm zur Ausbildung von professionellen
Musiktherapeuten lief im Jahre 1944 in den
U.S.A. an der Michigan State University an
[10].
Gegenwärtig spielt Musik wieder eine wichtigere Rolle im allgemeinen medizinischen Zusammenhang. Verschiedene Curricula für Musiktherapie existieren und mehrere professionelle sowie nicht-professionelle MusiktherapieGesellschaften werben um Mitglieder. Dabei
besteht Musiktherapie heute aus weit mehr als
lediglich dem passiven Hören von Musik. Sie
kann auch das Schreiben/Komponieren von
Liedern, Liedtextinterpretationen, aktives Musizieren und Improvisieren sowie andere musikbezogene Aktivitäten beinhalten. In der sogenannten „rezeptiven Musiktherapie“ hören Patienten Musik, welche möglicherweise Erinnerungen und Assoziationen – ggf. mit Krankheitswert – zu wecken vermag. Derartige Inhalte können nun in einer anderen, geschützten
oder einfach angenehmen Weise neu erlebt
werden. Dagegen produzieren Patienten in der
„aktiven Musiktherapie“ selbst musikalische
Klänge und Phrasen, wozu sie beispielsweise
auf Instrumenten ihrer Wahl improvisieren und
solcherart neue Wege der Kommunikation beschreiten. Verborgene Gefühle und Emotionen
sowie „Unausgesprochenes“ können jetzt vielleicht nach außen transportiert werden, die
Musik – und auch einfache Rhythmen – dienen
so eventuell als Ersatz-Vehikel, welches, vermeintlich unpersönlich und außenstehend, das
Auftreten von (erneuten) Verletzungen bei einer „Offenbarung“ unwahrscheinlich erscheinen lässt. Auch kann die Musik schlicht ein
unmittelbares und therapeutisch wertvolles
Wohlgefühl hervorrufen oder ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Das Beherrschen musikalischer Techniken ist demnach nicht notwendigerweise Teil musiktherapeutischer Ansätze.
Allerdings kommen beim Musizieren im Rahmen der aktiven Musiktherapie musikphysiologische Aspekte zum Tragen, die in gleicher
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Weise auch Gültigkeit bei der professionellen
musikalischen Praxis besitzen: Musikmedizin
bzw. Musiktherapie und Musikermedizin liegen
hier eng beieinander. Auch ohne musikalische
Vorerfahrungen kommen demnach bei der therapeutischen Musikausübung Erfahrungen und
Erkenntnisse der Musikphysiologie und Musikermedizin zur Anwendung.
Für gesunde Menschen wird Musik/Musiktherapie oftmals als Bestandteil eines Stressmanagement-Programms oder in Verbindung
mit körperlichen Übungen empfohlen. Dieses
mag damit zusammenhängen, dass der Musik
die Fähigkeit zuerkannt wurde, die Stresshormon-Ausschüttung bzw. das physiologische
Stress-Niveau in stressreichen Situationen zu
reduzieren [22]. Auch konnten wissenschaftliche Untersuchungen demonstrieren, dass Musik in der Lage ist, gerade in Konfrontation mit
Stress (Stressoren), die Blutkonzentrationen
von Endorphinen und Endocannabinoiden zu
erhöhen, womit letztlich Gefühle von Entspannung und Wohlbefinden befördert werden
[21,22]. Musik kann folglich sehr wohl als ein
effektives Instrument zur Beruhigung und
Stressreduktion in geeigneten Situationen eingesetzt werden. Jedoch hängt es offensichtlich
von der individuellen Musikpräferenz und ggf.
von musikalischen Vorerfahrungen (auch: Hörerfahrungen) ab, welche konkrete physiologische bzw. vegetative Situation mittels Musik
erzeugt werden kann. Ebenso spielt sicher die
momentane Verfassung des Musikhörenden
eine Rolle [20]. Insbesondere im Bereich der
professionellen oder semiprofessionellen Musikausübung kann durch das z.T. intensive
Musikerleben möglicherweise eine starke vegetative Reaktion (angenehm oder unangenehm, je nach musikalischer Präferenz) hervorgerufen und u.U. auch erwartet werden: das
Gegenteil von Stressreduktion kann die Folge
sein [20].
In Hinblick auf Patienten und aktuelle medizinische Fragestellungen wird die Musiktherapie
hauptsächlich zur Behandlung von neurotischen und psychotischen Störungen eingesetzt, d.h. bei geistigen und seelischen Erkrankungen, inklusive der Verhaltensauffälligkeiten
bei Kindern und Jugendlichen (siehe unten).
Ein Ziel ist dabei, die Bewältigungskompetenz
der Patienten zu erhöhen und die verhaltensabhängige bzw. mentale Fähigkeit zur besseren Entwicklung und Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit zu stärken [10]. Es ist somit
nachvollziehbar, warum die Musiktherapie als
professionelle medizinische Methode heute der
kognitiven Verhaltenstherapie zugeordnet wird,
mithin ein Werkzeug der psychosomatischen
Medizin und Psychotherapie [10]. Allerdings
muss festgestellt werden, dass die Wurzeln
der Musiktherapie und ihre Möglichkeiten weit
über die der originären Psychotherapie hinaus-
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T. Esch – Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
reichen und dass der Terminus „Musiktherapie“ inzwischen Gefahr läuft, Musik im therapeutischen Kontext auf einen limitierten Ansatz
einseitig zu reduzieren. Diese Entwicklung hat
erst kürzlich stattgefunden, und es sollte daher
nicht vergessen werden, dass verschiedene
Ansätze existieren, welche Musik als Heilmittel
in den Mittelpunkt stellen. Sie alle haben die
gleiche Wurzel: Musical Healing (Heilung
durch Musik) kann als ein eher allgemeiner
Begriff bzw. Oberbegriff aufgefasst werden,
welcher alle gesundheitsfördernden Eigenschaften und Fähigkeiten – eben das heilende
Potenzial – von Musik zusammenfasst. Mit anderen Worten, Musiktherapie beschreibt heute
eine Form des kognitiv-psychologischen bzw.
verhaltenstherapeutischen Arbeitens, welche
Musik u.a. als ein mögliches Element einsetzt,
wohingegen Musical Healing den zugrunde
liegenden Mechanismus, d.h. das Wesen bzw.
den Kern der Musiktherapie, beschreibt. Es
werden dabei allein die Musik und ihre Implikationen betrachtet. Letztlich sind jedoch beide
Umschreibungen Teil eines Gesamtbildes. Wir
werden uns im Folgenden hauptsächlich mit
Musical Healing beschäftigen und diesen Terminus weiter verwenden, da wir möglichst
wertfrei die physiologischen Konsequenzen
von Musik innerhalb des medizinischen Kontexts – und hier insbesondere bei psychischen
Störungen – analysieren wollen. Dabei hat sich
der Begriff Musical Healing im amerikanischen
Sprachgebrauch zwischenzeitlich etabliert [10].
Er ist aber nicht ohne Schwierigkeiten und Gefahr der Fehldeutung ins Deutsche zu übersetzen: Leider hat bei uns über die letzten 50 Jahre der Terminus „Heilung“ (bzw. „Heilen“, „Heiler“) im wissenschaftlich-medizinischen Bereich eine negative semantische Umdeutung
erfahren. Wir bleiben daher vorerst bei der etwas sterilen amerikanischen Form und überlassen eine Übersetzung der Bezeichnung
Musical Healing dem Leser.
Die Bedeutung psychosomatisch-psychiatrischer Störungen scheint, zumindest in den
westlichen Industrienationen, zuzunehmen
[7,8], welches auch einer verbesserten Diagnostik bzw. einem gestiegenen Bewusstsein
für psychische Probleme in der Bevölkerung
geschuldet sein kann. Dieses ist einer der
Gründe, warum wir uns nun ebenfalls auf jenes
Gebiet konzentrieren. Auch spielen psychische
Störungen und Funktionseinschränkungen
(Depressionen und „Stimmungsprobleme“,
Angst/Aufführungsängste, leistungsbezogene
Probleme) im Bereich der (semi)-professionellen Musikausübung eine große Rolle [20]. So
eignet sich dieser Komplex evtl. besonders
gut, um musiktherapeutische Strategien und
Ansatzpunkte dem musikermedizinischen Publikum näher zu bringen.
Viele Menschen bzw. Patienten mit psychiatrischen oder psychischen Krankheiten und Störungen haben mit eingeschränkten Fähigkeiten
zur Krankheitsbewältigung bzw. einer mangelhaften Coping-Kommunikation zu kämpfen.
Zusätzlich kann auch die Qualität von Sozialisation (Æ„soziales Netz“) und sprachlichkommunikativem Ausdruck gemindert sein,
welches dysfunktionales Verhalten sowie negative/unzweckmäßige kognitive und emotionelle Reaktionsmuster mit bedingen kann [4].
Therapeutische Musik (Musical Healing) bietet
hier möglicherweise einen sinnvollen, nichtinvasiven Ansatz, um die beschriebenen Fähigkeiten und Einschränkungen günstig zu beeinflussen sowie das Verhalten positiv zu modifizieren [10]. So kann Musik eine Rolle bei
moderaten bzw. funktionellen therapeutischen
Lebensstilveränderungen spielen (auch im
Rahmen von entsprechenden Programmen:
Lifestyle Modification Programs) wie auch in
der Behandlung schwerer psychiatrischer Erkrankungen und Beeinträchtigungen. Letzteren
werden wir uns jetzt zuwenden.
Musikanwendungen
schen Störungen
bei
psychi-
Das Hören einer Lieblingsmusik kann eine
großartige Möglichkeit zum „Abschalten“ sein.
Aber die wohltuenden und therapeutischen
Möglichkeiten von Musik erschöpfen sich nicht
allein in der Hilfe zum Entspannen am Ende
eines geschäftigen Tages: Musical Healing
kann Teil einer modernen Gesundheitsfürsorge
sein (ÆMusikmedizin), welcher sich dem
Gebrauch von Musik zur Verbesserung emotioneller, psychischer, physischer, funktioneller
und/oder auch erzieherischer Funktionen und
„Grundstimmungen“ verschrieben hat [10].
Musik kann somit bei einer Vielzahl von Ausgangslagen, Konditionen und in sehr unterschiedlichem Umfeld zum Einsatz kommen.
Musik ist zusätzlich zur Standardtherapie inzwischen bei vielen psychiatrischen Krankheiten angewendet worden. Dabei war es jeweils
das zentrale bzw. primäre Anliegen, das allgemeine Wohlbefinden, die Stimmung und ggf.
den momentanen Zustand oder Schweregrad
der behandelten Erkrankung mittels Musik
günstig zu beeinflussen [11-16,18]. Positive
Wirkungen konnten der Musikanwendung so
insbesondere nachgewiesen werden bei
- akuten und chronischen Schmerzsyndromen, Schmerzmanagement
- Migräne
- Hirnverletzungen (mit psychischen
Folgeschäden), Koma, terminaler
Pflege
Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
Schlaganfällen bzw. SchlaganfallResiduen
- Morbus Alzheimer und anderen
Demenz-Formen
(Ægeriatrische
Medizin)
- Morbus Parkinson
- Gehörproblemen (psychischen Ursprungs)
- psychosomatischen Erkrankungen
und Neurosen
- akuten und chronischen Psychosen,
Schizophrenie
- Aggression, Angst, Depression und
anderen affektiven Störungen
- Aufmerksamkeitsdefizit-Syndromen,
Verhaltensauffälligkeiten,
Lernschwäche
- Entwicklungsstörungen
- Essstörungen
- Suchterkrankungen
- Insomnie (Schlafstörungen)
- „Stresskrankheiten“
- Amnesie („Trauma-Medizin“)
- Bewegungsstörungen
- Autismus
- Trauerbewältigung.
Musik lässt sich in vielen medizinischen Situationen als therapeutisches Hilfsmittel einsetzen. Dabei wurde Musik traditionell mit der Behandlung geistiger bzw. seelischer Krankheiten
in Verbindung gebracht und ist so erfolgreich
zur Therapie von Angst oder Depression eingesetzt worden [10]. Außerdem konnten Funktionen bzw. Befinden bei Schizophrenie und
Autismus gebessert werden. Weiterhin zeigt
die Literatur, dass Musik u.U. Stimmung und
Kognition zu bessern vermag [10]. Jedoch
blieb es nicht bei rein psychiatrischen Indikationen (ausgeprägte geistig-seelische Krankheitserscheinungen), und es folgten über die
Zeit mannigfaltige weitere Anwendungsgebiete. Im Bereich der klinischen Medizin haben
zwischenzeitlich verschiedene Studien beispielsweise auf das analgetische und anxiolytische Potenzial von Musik hingewiesen und jenes auf verschiedene Weise erfolgreich therapeutisch eingesetzt und überprüft: Musik kann
sich als hilfreich z.B. auf Intensivstationen (inklusive Stroke Units) und bei diagnostischen
Prozeduren/Eingriffen wie Gastroskopien sowie bei größeren Operationen erweisen, und
sie kann sinnvollerweise komplementär in präoder postoperativen Phasen eingesetzt werden, womit eine deutliche Einsparung von (u.a.
analgesierenden) Medikamenten erzielt werden kann [22]. Außerdem kann Musik dazu
beitragen, dass die Stresshormon-Produktion
verringert wird und subjektive „Stress-Levels“
in klinischen – vermeintlich stressreichen – Situationen gesenkt werden [20-22]. Nach
Schlaganfall ist es mit Hilfe von Musik eventuell möglich, Erholungsvorgänge zu beschleuni-
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gen und die Neuroplastizität positiv zu beeinflussen bzw. ihre Ausnutzung zu verbessern
[16,17]. Musikalische Vorerfahrungen des Patienten können diesen Prozess ggf. erleichtern.
Nebenbei wird hier die vielschichtige Überschneidung der Bereiche Musik und Neurologie deutlich, weswegen heute auch der Begriff
bzw. die „Gebietsbezeichnung“ Neuroscience
of Music Verbreitung findet.
Der Einsatz von Musik bei geriatrischen Patienten hat sich als besonders fruchtbares und
dankbares Vorgehen herausgestellt. Dieses
gilt sowohl für die rezeptiven als auch für aktive und aktivierende Elemente der therapeutischen Musikanwendung. Studien konnten zeigen, dass Musik Funktionen und Fähigkeiten
geriatrischer Patienten verbessern helfen kann
und Symptome nach Schlaganfall sowie bei
Morbus Alzheimer und anderen DemenzFormen lindern kann (siehe oben). In diesem
Zusammenhang wird vornehmlich das supportive und palliative Potenzial von Musik ausgenutzt. Hierbei prädestinieren die supportiven
Eigenschaften von Musik bzw. Musikmedizin
jene natürlicherweise für den Gebrauch in der
Palliativmedizin und terminalen Pflege. Musik
wird gut toleriert, ist günstig in der Applikation
(i.d.R. begleitet von einer guten Compliance)
und besitzt, wenn adäquat eingesetzt, praktisch keine Nebenwirkungen. Ebenso unterstützt die Musikanwendung Patienten darin,
die Kontrolle über Bewegungsabläufe zurück
zu erlangen sowie Gedächtnisfunktionen zu
erhalten oder sogar zu verbessern. Selbstwertgefühl und soziale Interaktion können auf
diese Weise auf einem höheren Niveau gehalten werden [11,15]. Musik kann also einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen leisten.
Vergleichbar der Anwendung bei älteren Menschen kann Musik als therapeutisches Mittel
auch zur Behandlung von jüngeren Patienten
und Kindern hinzugezogen werden. Es scheint
fast so, als könne bei Kindern nahezu jede gesundheitliche Einschränkung auf irgendeine Art
durch Musik positiv beeinflusst werden – und
sei es über die Vermittlung einer verbesserten
Akzeptanz oder durch den spielerischen Umgang mit einem vorhandenen Defizit [10]. So
kann Musik beispielsweise einschneidende
(günstige) Verhaltensänderungen befördern,
Hirnaktivitätsmuster nachhaltig verändern oder
eindrucksvolle vegetative Reaktionen (wie z.B.
das Erleben eines „Schauers“) auslösen [18].
Derartige Reaktionen können evtl. therapeutisch nutzbar gemacht werden. Kinder und Jugendliche scheinen besonders sensibel für
Musik und musikalische Stimmungen zu sein:
Studien mit Tieren (z.B. jungen Küken) konnten demonstrieren, dass eine Stimulation durch
Musik deutliche Modifikationen des Verhaltens
und messbare biochemische Veränderungen
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T. Esch – Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
bedingen kann. Im Gehirn können sich beispielsweise die Neurotransmitter-Konzentrationen verschieben, insbesondere kann ein erhöhter Noradrenalin-Umsatz gemessen werden [18]. Allerdings können tierexperimentelle
musikphysiologische Aussagen nicht automatisch auf den Menschen übertragen werden.
Das führt uns zum nächsten Abschnitt, welcher
sich genauer mit den möglichen physiologischen Grundlagen bzw. zugrunde liegenden
Mechanismen von Musical Healing beim Menschen befasst.
Musikphysiologie: Können therapeutische Musikeffekte erklärt werden?
Alle bisherigen Versuche, die Physiologie musikalischer Heilungsprozesse präziser zu
bestimmen, blieben in weiten Teilen spekulativ.
Dieses mag an der Tatsache liegen, dass Musical Healing ein komplexes, multifaktorielles
Phänomen ist, welches nicht einfach zu untersuchen ist. Außerdem – und obwohl inzwischen eine beeindruckende Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema Musikphysiologie existiert und Musiktherapie als
ein eigenständiges Berufsbild über das letzte
Jahrhundert schließlich Anerkennung fand –
bestehen noch immer viele strukturelle
Schwierigkeiten. Forscher haben es gelegentlich an methodologischer Genauigkeit fehlen
lassen, und zusätzlich trugen kulturelle Probleme bzw. Unterschiede dazu bei, dass eine
allgemeine Effizienz und Gültigkeit musiktherapeutischer Prinzipien bisher nicht demonstriert werden konnte. Wissenschaftliche Kenntnisse über neurophysiologische und neurochemische Korrelate der musikalischen Erfahrung sind noch lückenhaft, und so wird der
Einsatz von Musik als medizinische Therapieform oftmals noch damit begründet, dass die
zu beobachtenden bzw. subjektiv empfundenen positiven Effekte der Musik allein ausreichten, um eine klinisch-medizinische Anwendung
zu rechtfertigen – der Intuition gehorchend:
„Wer heilt, der hat recht“. Man kann durchaus
jener Argumentation folgen, jedoch bleibt das
aus wissenschaftlicher Sicht vorrangige Problem bestehen: zugrunde liegende Mechanismen bleiben z.T. unerkannt, eine mit wissenschaftlicher Erkenntnis vorangetriebene Weiterentwicklung und Spezifizierung musiktherapeutischer Aspekte bleibt möglicherweise aus.
Individuell-subjektive Effekte und allgemein
gültige Prinzipien können nicht sicher voneinander unterschieden werden. Zu Unrecht besteht häufig auf Seiten der Erfahrungsheilkunde eine gewisse Abneigung gegenüber den
Methoden und Resultaten der wissenschaftli-
chen Forschung (und umgekehrt), obwohl hier
ein „Wissensaustausch“ – letztlich zum Wohle
des Patienten – oftmals Hilfestellung und Inspiration gleichzeitig sein könnte. Derartiges kann
auch für Bereiche der Musikmedizin gesagt
werden.
Da kein generell akzeptierter Standard dafür
existiert, wie, wann und wo Musik innerhalb
medizinischer Rahmenbedingungen sinnvollerweise appliziert werden sollte, müssen wir
zur Erklärung therapeutischer Musikeffekte
nun musikphysiologische Informationen von
verschiedenen Seiten zusammentragen.
Musikausübung und Musikhören (Musikerleben) sind physiologisch nicht immer leicht auseinander zu halten. Auch haben beide einen
zentralen Aspekt gemeinsam: sie sind „imMoment-Erfahrungen“, d.h. sie binden sofort
und in hohem Maße die Aufmerksamkeit, und
physiologische Veränderungen sind unmittelbar festzustellen. Solcherart kann sich das Gefühl einstellen, mit der Musik „zu fließen“
(ÆFlow-Erfahrung, siehe unten), eine Situation, die mit einer günstigen physiologischen
Konstellation bzw. „Stimmung“ einhergeht und
die mit Musik generell in Verbindung gebracht
werden kann. Dabei steht am Anfang der „Eintritt“ von Musik in den Körper, welcher meist
über die Ohren erfolgt. Nervenbahnen transportieren alsdann die Klang-/Lautinformation
vom Ohr (Cochlearorgan) über den Cochlearnerven zum Hirnstamm. Dort wird die Musik
„gefiltert“ und ihr Inhalt zum ersten Mal grob
analysiert. Beispielsweise werden Tonhöhe
(Stimmung?) und Richtung, aus welcher das
„musikalische Geräusch“ gekommen ist, zugeordnet. Im weiteren Verlauf entscheidet der
Thalamus, das „Tor zum Großhirn“ bzw. der
„Pförtner des Bewusstseins“, über das folgende Schicksal der Musik innerhalb des Gehirns.
Soll die Musik aktiv „gehört“ werden, d.h.
wahrgenommen vom Bewusstsein und bearbeitet von den diversen zentralen bzw. kortikalen Musikzentren (die insbesondere im Temporallappen lokalisiert sind, wo auch der primäre
auditorische Kortex gefunden werden kann)
[1]? Danach vielleicht aktiv beantwortet in spezifischer/charakteristischer Weise? Oder wird
die musikalische Nachricht ohne Konsequenz,
d.h. „ungehört“, bleiben bzw. nur eine unbedeutende und transitorische z.B. passivemotionelle Reaktion hervorrufen? Die „Torwächter-Funktion“ (gating effect) des Thalamus ist wichtig für die Wertung eingehender
musikalischer Informationen, und sie kann den
Organismus bzw. sein zentrales Nervensystem
(ZNS) – genauer: das Bewusstsein – vor überfordernden „Klangattacken“ schützen.
Die primären Großhirnareale mit Zuständigkeit
für das Hören (Perzeption und weitere Analyse: primärer auditorischer Kortex), evolutionsbiologisch jünger als tiefer gelegene Hirnstruk-
Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
turen wie Hirnstamm und Thalamus, von denen sie ihre primären Informationen bekommen, schicken Impulse und Nachrichten sekundär weiter in andere Gebiete des ZNS –
v.a. in die assoziativen Felder und angeschlossenen Regionen, welche wichtig für die
differenziertere Verarbeitung von Musik sind
[19]. Dabei verarbeitet die rechte Hemisphäre,
vereinfacht gesagt, grobe Struktur, „Färbung“
und Inhalt von Musik, wohingegen die linke eine feinere – mehr „analytische“ – Beurteilung
vollzieht. Liegen beim Hörenden jedoch musikalische Vorerfahrungen vor, können selbst
diese allgemeinen bzw. schematischen Zuordnungen ihre Gültigkeit verlieren [1,3,19]. In jedem Fall aber bestehen auf verschiedenen
Ebenen der Informationsverarbeitung im Gehirn Querverbindungen zu tiefer gelegenen
Strukturen, insbesondere auch zum limbischen
System, u.a. zuständig für Emotionen [3,21].
Wenn eine angenehme Musik erklingt, werden
zentralnervöse physiologische Motivationsund Belohnungsmechanismen aktiviert. Solche
Mechanismen können auch eine erhöhte Endocannabinoid-Ausschüttung
einbeziehen
(siehe unten). So wird die gehörte Musik
schließlich verbunden – konditioniert und gespeichert – mit positiven Gefühlen (Ælimbisches System). Jener emotionalisierte Gedächtnisinhalt kann auch somatische Zeichen
– z.B. körperliche Sensationen, welche die Gefühle ggf. begleiten – enthalten. Eine positive
bzw. angenehme „Gefühlstönung“ (Stimmung),
u.U. gekoppelt an ein positiv korrelierendes
Körpererleben, wird auf diese Weise mit der
musikalischen Hörerfahrung assoziiert [21]. In
Bezug auf die Evolution und unsere biologische Herkunft können uns die beschriebenen
Körpersensationen an die Bedeutung sowie
Vorteile von Musik für frühe Hominiden erinnern: Musik hat sich eventuell ausgehend von
den Trennungsschreien entwickelt, welche sich
zum Zwecke des Kontaktserhaltes zwischen
Mutter und Säugling schon in den ersten Lebensstunden einstellen [3]. Tatsächlich repräsentieren autonom-vegetative Körperreaktionen, wie sie durch das Musikhören hervorgerufen werden können (z.B. die „Gänsehaut“),
wahrscheinlich einen ursprünglich durchaus
sinnvollen biologischen Atavismus. Wenn eine
Mutter beispielsweise ihren Säugling ruft, richten sich die feinen Härchen auf der Körperoberfläche des Kindes auf und halten es dieserart warm und geschützt. Daneben kann
Musik Gefühle der sozialen Zugehörigkeit und
Unterstützung, der Nähe, des Schutzes sowie
der Gemeinschaft erzeugen. Derartige Gefühle
haben ein außerordentlich positives physiologisches und gesundheitlich-therapeutisches
Potenzial [7,9].
Ohne Frage sind Musik und Gefühle eng mit
einander verzahnt. In diesem Kontext haben
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Gefühle ggf. auch die Funktion, einen positiven
Glauben bzw. eine positive Einstellung zur
Musik oder zu einem Klangerlebnis (einer
Lautinformation) zu bekräftigen, so dass rationale Gedanken die Stärke des Glaubens, d.h.
der musikalischen Konditionierung, nicht wesentlich gefährden können [21]. Solche Konditionierungen – Beziehungen zwischen Gefühl
und Musik bzw. Information – können u.U. für
therapeutische Musikanwendungen nützlich
sein. So kann Musik ein geeignetes Instrument
sein, um eine emotionelle Reaktion – und damit eine limbische Aktivierung – auszulösen
und auf diese Weise z.B. Erwartungen zu erfüllen, ohne dass rationale Informationsprozesse
einbezogen werden (müssen). Dabei stellt die
Perzeption von Musik einen im gegenwärtigen
Moment eingebetteten Vorgang dar, obwohl
Musikverarbeitung und nachfolgend ausgelöste Reaktionen auch – und wesentlich – Erfahrungen aus der Vergangenheit widerspiegeln
(wie z.B. ein erworbenes/übernommenes
Glaubensgebäude). Positive wie negative Lebenserfahrungen fließen in die Musikbeurteilung bzw. in das konkrete Musikerleben mit
ein.
Hinsichtlich der Frage nach spezifischen Hirnstrukturen, welche an der Verarbeitung verschiedener Arten von Musik beteiligt sein können, kann festgestellt werden, dass subjektiv
wohlklingende Musik z.B. Areale im Frontallappen aktiviert (offenbar links mehr als
rechts). Ein Wohlgefühl kann diesen Prozess
begleiten. Zusätzlich „erwacht“ der Gyrus cinguli. Dagegen können unangenehme Laute
oder Klänge parahippokampale Areale und
den Mandelkern (Amygdala) aktivieren – Regionen, die eng mit Gefühlen von Angst und
Furcht in Beziehung stehen [3,21]. Es ist an
dieser Stelle jedoch wichtig zu betonen, dass
die Entscheidung darüber, ob Musik als angenehm oder unangenehm empfunden wird, d.h.
über die subjektiv beurteilte musikalische Qualität, nicht nur von individuellen, sondern auch
von kulturellen Faktoren und sozialen Hintergründen abhängt. Davon unberührt bleibt die
Tatsache, dass die Musikverarbeitung ohne
Frage eine subjektive Leistung ist.
Die Beteiligung der Amygdala an musikassoziierten physiologischen Vorgängen unterstreicht
noch einmal einen wichtigen Aspekt der Musikerfahrung: Der Mandelkern – wie Hypothalamus, Hypophyse und (andere) Teile des limbischen Systems – ist eine Struktur, die zum autonom-vegetativ-emotionellen Integrationssystem gezählt wird [19,21]. Hier sind autonomes
Nervensystem und Emotionen miteinander
verdrahtet. Zusätzlich sind sympathische Aktivität und Stresshormon-Produktion in autoregulatorische Regulationskreisläufe eingebunden. So wird die Verbindung von Musik mit
Emotionen, mit Stimmung und Affekt, Neu-
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T. Esch – Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
rotransmitter- und Stresshormon-Produktion,
autonom-vegetativen Funktionen sowie dem
Verhalten abermals deutlich. Dabei kann der
Einfluss von Musik auf vitale Funktionen wie
Atmung, Respirationsrate, Blutdruck und kardiale Auswurfleistung/Herzfunktion (als Folge
der beschriebenen vegetativ-emotionellen Integration) auch eine veränderte Selbst- oder
Körperwahrnehmung bedingen, ein anderes
Bewusstsein bzw. wechselnde Geisteszustände [10].
Der Einsatz von Musik hat sich als geeignet
erwiesen, um das Stress-Niveau von Patienten
in unterschiedlichen klinischen Situationen zu
senken (s.o.). Studien haben dabei Musik der
Ablenkung durch verbale Interaktionen gegenüber gestellt bzw. Musik in ihrer physiologischen Konsequenz eindeutig von verbalen Interventionsstrategien und Mechanismen abgegrenzt [10]. Das stressreduzierende Potenzial
von Musik kann gut mit anderen Stressreduktions-Techniken kombiniert werden, wie sie zum
Beispiel im Rahmen eines professionellen
Stressmanagements
gebräuchlich
sind
[9,21,22]. So stellt die Kombination von Musik
und Entspannungsverfahren eine einleuchtende und physiologisch günstige Strategie zur
Stressbewältigung dar [21].
Können positive Effekte von Musik auf molekularer Ebene erklärt werden? Wie bereits beschrieben, so kann Musik beispielsweise den
Noradrenalin-Umsatz verändern. Auf diese
Weise vermag Musik, die peripheren Instrumente und Effektoren der physiologischen
Stress-Beantwortung (stress response), d.h.
die Stresshormone Adrenalin/Noradrenalin und
Cortisol, direkt zu beeinflussen. Weiterhin
konnte gezeigt werden, dass der oben dargestellte neuronale Übertragungsweg vom Hörorgan/Hörnerven zum Kortex u.a. von Stickstoffmonoxid (NO) übermittelt wird bzw. NO an
der Informationsübertragung beteiligt zu sein
scheint [21].
Stickstoffmonoxid ist ein Molekül, welches als
Signaltransmitter eine enge Beziehung zu den
autonomen Regulationssystemen besitzt. Es
ist wohl auch für viele der physiologischen Effekte im Zusammenhang mit dem Musikerleben und der Musikverarbeitung mit verantwortlich [20,21,23]. Insbesondere ist NO mit der
Endocannabinoid- und Endorphin-Ausschüttung (bzw. -Signalübertragung) assoziiert, weswegen hier u.U. eine physiologische Verbindung von Musik zu Wohlgefühlen und Entspannungszuständen gesehen werden kann –
beides regelmäßig zu beobachten beim Musikhören [21,23]. Weiterhin antagonisiert NO
die Noradrenalin- bzw. Stresshormon-Aktivität
[5]. Kürzlich wurde diskutiert, ob NO außerdem
eine Schlüsselfunktion bei der „EntspannungsAntwort“ (relaxation response) besitzt, dem
physiologischen Gegenspieler der biologischen
Stress-Antwort (stress response). Jene
Entspannungs-Antwort ist ein natürliches Instrument zur Stressreduktion bzw. –bewältigung, welches jedem menschlichen Organismus prinzipiell zur Verfügung steht und das
u.a. durch Techniken wie Yoga und Meditation
willentlich aktiviert werden kann [9]. Geht die
Stress-Antwort z.B. mit einem erhöhten Energie- und Sauerstoffverbrauch, mit erhöhter
Herzfrequenz und Respirationsrate sowie angehobenen Blutdruckwerten einher, so zeigt
die Entspannungs-Antwort eine gegenteilige
Physiologie: der Metabolismus ist reduziert.
Allgemein kann dazu festgestellt werden, dass
repetitive – aber zeitgleich nicht „einschläfernde“ oder lediglich passiv ablenkende – Tätigkeiten bzw. Aktivitäten, welche die Aufmerksamkeit binden und auf diese Weise den Geist
fokussiert, wach und im Moment „verwurzelt“
halten (wie Musik!), über eine Minimierung von
Alltagsgedanken das Potenzial besitzen, die
Entspannungs-Antwort auszulösen [9]. Dieser
physiologische Mechanismus verfügt offenbar
über eine Reihe gesundheitsfördernder Eigenschaften und ist daher eine wichtige „Zutat“
moderner Stressreduktions-Strategien geworden [9]. Während Musik ebenfalls mit positiven
therapeutischen bzw. gesundheitsfördernden
Effekten assoziiert wird und daneben auch die
Fähigkeit zur Stressreduktion besitzt (s.o.) –
und während die NO-Autoregulation offensichtlich eine Rolle bei der Entspannungs-Antwort,
der Musikverarbeitung und in der Stressphysiologie spielt (wahrscheinlich unter Einbeziehung von Endocannabinoid-Wirkungen) –,
scheinen die zunächst unterschiedlichen Phänomene „Musik“ und „Entspannungs-Antwort“
auf physiologischer Ebene viele Gemeinsamkeiten zu besitzen [5,10,23]. Musikverarbeitung
und Stressreduktion könnten u.U. auf ähnlichen Mechanismen beruhen, wobei eine therapeutische Funktion vielleicht gerade bei psychischen Krankheiten und Störungen ausgenutzt werden könnte [5,6,9]. Dieses könnte
dann daran liegen, dass einige psychiatrische
und neurodegenerative Krankheiten Verbindungen zur Stress(patho)physiologie aufweisen [6]. Allerdings sind die letztgenannten Folgerungen hypothetisch und bleiben bis zur
endgültigen Klärung durch notwendige Forschungsarbeiten spekulativ.
Musik und Rhythmus sind nicht synonym. Und
dennoch, Rhythmus ist eines der wichtigsten,
d.h. essenziellen, strukturierenden Elemente
von Musik: Die zeitliche Struktur von Musik,
gewährleistet bzw. geprägt von der musikalischen Rhythmik, ist das entscheidende Element, welches Musik mit spezifischem motorischen Verhalten verbindet. Dabei ist das motorische System offenbar besonders sensitiv für
einen rhythmischen auditorischen Input. Jene
Sensitivität mag durch evolutionäre Prozesse
Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
entstanden sein, denn Rhythmus stellt gewissermaßen eine Urform von Musik dar. Rhythmische Impulse werden außerdem auch von
tiefen Hirnstrukturen bzw. über unterbewusste
Mechanismen verarbeitet, welche eng und z.T.
reflektorisch an das motorische System gekoppelt sind [10]. So haben einige der basalen
auditiv-motorischen Weckreaktionen ihren Ursprung wahrscheinlich in adaptiven Vorgängen
und physiologischen Prozessen, welche von
der Biologie zum Zwecke der Verbesserung
der individuellen Überlebenschancen eingesetzt wurden: Verhaltensstrategien wie das
(über)lebenswichtige „Kampf-oder-Flucht-Verhalten“ (fight-or-flight reaction – entspricht auf
physiologischer Ebene der Stress-Antwort)
werden beispielsweise über plötzliche Klangbzw. Lautereignisse aktiviert und können demgemäss eine evolutionsbiologisch alte – aber
unverzichtbare – Verbindung von „Musik“
(Rhythmus, Klang) und individuellem Überleben aufzeigen [24]. Solche wichtigen „alten“
Verbindungen können eventuell auch mit der
tiefen und oft unbemerkten (instinktivintuitiven) Wirkung von Rhythmik auf unsere
Gefühle und das Verhalten in Beziehung stehen. Musical Healing vermag möglicherweise,
eben diese Verbindungen anzusprechen und
für die Behandlung – z.B. von psychischen
Beeinträchtigungen – nutzbar zu machen.
Daneben erhöht der repetitive Charakter von
Rhythmik bzw. rhythmischen Bewegungen die
Fähigkeit/Wahrscheinlichkeit einer Aktivierung
der Entspannungs-Antwort. Musik und Rhythmus, anders als verbale Kommunikation, können außerdem Patienten vielleicht noch erreichen, wenn kein anderer – z.B. kognitiver –
Zugang mehr möglich ist.
Musik kann sinnstiftend wirken und ein Gefühl
von Einheit bzw. „Ganzheit“ vermitteln. Das ist
einer der Gründe, warum Musik oftmals bei
spirituellen Praktiken eingesetzt wird [10]. Allerdings haben gerade psychiatrische Patienten u.U. Schwierigkeiten, den Körper als Ganzes zu empfinden. Musik kann hier ggf. besonders hilfreich sein, wobei jedoch nicht alle Arten von Musik gleich gut geeignet zu sein
scheinen. Die beste Art von Musik in diesem
Zusammenhang ist offenbar eine Mischung
aus bekannten Elementen, welche Sicherheit
vermitteln, und unbekannten, die Neugier und
Aufmerksamkeit wecken. Solcherart kann eventuell eine emotionelle Rigidität, wie sie bei
psychiatrischen Krankheiten häufig gesehen
wird, aufgebrochen werden, worauf Gefühle
von Traurigkeit, Angst, Wut oder sogar Freude
leichter zum Ausdruck gebracht werden können. Tatsächlich wurde in der Romantik Musik
als ein wirksameres Instrument zum emotionellen Ausdruck angesehen, als „Wörter jemals
sagen könnten“ [10]. Konsequenterweise hat
Felix Mendelssohn-Bartholdy auch eine seiner
221
noch heute populären Klaviersammlungen
„Lieder ohne Worte“ benannt – ein Titel, der
gezielt auf die Ablehnung von musikalischen
Textbüchern bzw. Liedtexten hinweisen sollte
[3]. Musik wurde demzufolge lange als Medium
des Unaussprechlichen angesehen, welches
auch den subjektiven Charakter des musikalischen Erlebens unterstreichen sollte. Erst seit
kurzem – und hier insbesondere in der PopMusik heutiger Tage – sind Text und Musik regelmäßig miteinander verschmolzen und in
dieser Einheit dennoch, ja vielleicht sogar „betont“, in der Lage, tiefe Gefühle hervorzubringen.
Therapeutische Musikeffekte beruhen auf sehr
unterschiedlichen physiologischen und psychologischen Mechanismen. Musik ist ein komplexes Phänomen, und so sind auch die therapeutischen Möglichkeiten und Konsequenzen
des Einsatzes von Musik im medizinischen
Kontext sehr vielschichtig. Trotzdem scheinen
„standardisierte“ musikphysiologische Übertragungswege bzw. molekulare „Übersetzungen“
der bekannten oder zu beobachtenden musiktherapeutischen Effekte zu existieren, d.h. das
subjektive Musikerleben besitzt wahrscheinlich
– neben individuell-spezifischen Reaktionsmustern – z.T. unspezifische physiologische
Entsprechungen. Solche musikphysiologischen
Übertragungswege, welche z.B. Stickstoffmonoxid-, Endocannabinoid- oder EndorphinSignale einschließen können, können vielleicht
gerade wegen ihres eher allgemeinen Charakters gut mit Musik angesprochen bzw. über
diese aktiviert werden. Positive Auswirkungen
auf Heilung und Gesundheitsförderung können
so regelmäßig beobachtet werden.
Sicher wird die Musikphysiologie in den kommenden Jahren noch zahlreiche weitere molekulare und neurochemisch-physiologische Korrelate der Musikerfahrung entdecken sowie
wissenschaftstheoretische Erweiterungen der
modellhaften Vorstellungen von der Musikverarbeitung befördern. Außerdem wird die Musikphysiologie helfen, musiktherapeutische Effekte eindeutig als solche zu identifizieren und
möglicherweise dazu beitragen, dass jene in
größerem Umfang – im Rahmen praktischklinischer Musikanwendungen – zur Heilung,
auch bei allgemeineren medizinischen Indikationen, eingesetzt werden.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Musik ist ein komplexes Phänomen. Musikhören und Musikausübung unterscheiden sich
dabei in vielerlei Hinsicht. Allerdings sind die
physiologischen und emotionellen Reaktionen,
welche Musik jeweils auszulösen vermag, sehr
wohl vergleichbar und u. U. gleichermaßen
222
T. Esch – Musikmedizin: Musik im Mittelpunkt von Krankheit und Heilung
bedeutend für die Milderung von Krankheitssymptomen. Es darf jedoch nicht verschwiegen
werden, dass Musik auch krank machen kann,
welches insbesondere infolge einer „Überdosierung“ von Musik zu beobachten ist. Solche
„Überdosierungen“ werden häufig, aber nicht
ausschließlich, im Zusammenhang mit dem
professionellen Musizieren gesehen. Durch
Musik werden potenziell alle Sinne aktiviert.
Das ist wahrscheinlich eine der Ursachen,
weshalb Musical Healing – als Ausdruck des
Heilungsvermögens von Musik – auf einer tiefen und z.T. unterbewussten Ebene arbeitet
und sich dazu vielschichtiger bzw. komplexer
Mechanismen bedient.
Obwohl die professionelle Musikausübung –
gerade im Bereich der klassischen Orchesterliteratur – wesentliche Kennzeichen einer
stressreichen Arbeitserfahrung besitzt (geringer Freiheitsgrad, d.h. limitierte Möglichkeiten
der Eigeninitiative und Kontrolle, in Verbindung
mit einem hohen Anspruch sowie einer intensiven Belastung = high demand, low control),
beinhaltet sie doch ein zentrales Element des
modernen Stressmanagements: Musik – sowohl ihre Ausübung als auch das passive Erleben – bindet die Menschen an den Moment.
Dabei lässt Musik ohne Frage nur wenig Raum
für alltägliche Gedanken und Sorgen – ein
Umstand, der stark an die Flow-Erfahrung bzw.
-Bedingungen erinnert, wie sie von Csikszentmihalyi in den 1970er Jahren erstmals beschrieben worden sind. Jener Zustand des
selbstvergessenen „mit der Musik Fliessens“
(gekoppelt an eine hohe Aufmerksamkeit bzw.
die nahezu vollständige Absorption des Bewusstseins von einem „fesselnden“ musikalischen Fokus) scheint darüber hinaus auch in
engem Bezug zur biologischen EntspannungsAntwort (relaxation response) zu stehen, dem
natürlichen Instrumentarium zur physiologischen Stressreduktion.
Musik hat die Fähigkeit, positive Emotionen
auszulösen und Stress zu reduzieren. Ähnlich
verhält es sich mit der Entspannungs-Antwort
(s.o.). Daneben konnte gezeigt werden, dass
Stress eine Rolle bei zahlreichen Krankheiten
spielt, darunter auch psychiatrische und neurodegenerative Erkrankungen. So kann Musik
bzw. Musical Healing letztlich ein wirksames
Mittel sein, um z.B. Patienten mit psychischen
oder psychiatrischen Störungen zu behandeln
– vergleichbar den bisherigen Erfahrungen mit
dem klinisch-therapeutischen Gebrauch der
Entspannungs-Antwort (d.h. dem gezielten
Auslösen der physiologischen EntspannungsAntwort zur Unterstützung von Heilung und
Gesundheit). Außerdem kann Musik auch
selbst dazu dienen, die Entspannungs-Antwort
zu aktivieren. Die einzige Voraussetzung ist al-
lerdings, dass ein Patient eine grundsätzlich
positive Einstellung mitbringt und offen für Musik im Allgemeinen ist. Musikalische Vorerfahrungen – oder gar ein „Expertenwissen“ – sowie konkrete Fähigkeiten der Musikausübung
sind nicht notwendig.
Auf molekularer Ebene sind offenbar Stickstoffmonoxid-, Endocannabinoid- und Endorphin-Wirkungen an musikphysiologischen Vorgängen bzw. musiktherapeutischen Effekten
beteiligt. Ähnliche molekulare Übertragungswege und Aktivierungsmuster scheinen auch
bei der Entspannungs-Antwort und der physiologischen Stressreduktion eine Rolle zu spielen. Demnach sind physiologische Überschneidungen von Musikverarbeitung und
Stressbewältigung möglich. Allerdings ist die
konkrete individuelle Reaktion auf Musik, d.h.
die subjektive physiologische Konsequenz des
Musikerlebens, stark von der spezifischen musikalischen Vorerfahrung und individuellen Musikpräferenz abhängig. Professionelle Musiker
können beispielsweise untereinander – und im
Vergleich zu musikalischen Laien – völlig unterschiedliche physiologische Reaktionsmuster
bei/nach Musikkontakt generieren.
Musikperzeption und -verarbeitung sind subjektive Leistungen. Das macht eine wissenschaftliche Untersuchung musikphysiologischer Phänomene mitunter schwierig. In diesem Zusammenhang wird ein Problem der
bisherigen Forschung auf dem Gebiet der therapeutischen Musik deutlich: Die Methoden
und das Design verfügbarer Studien lassen
oftmals zu wünschen übrig. Hier muss noch
vieles aufgearbeitet und ggf. verbessert werden, qualitativ hochwertige wissenschaftliche
bzw. klinische Arbeiten werden dringend benötigt. Dennoch kann bereits jetzt festgestellt
werden, dass die Physiologie der Musikverarbeitung nicht nur interessant ist, sondern auch
weit in die therapeutisch-praktische Medizin
(ÆMusiker- und Musikmedizin, Musical Healing) sowie die theoretische Medizin (ÆNeuroscience of Music) hineinreicht. Die Musikphysiologie kann in diesem Kontext auch als
ein Oberbegriff aufgefasst werden, welcher
große Bereiche der Musik- bzw. Musikermedizin subsumiert (Abbildung 1). So wird auch
deutlich, dass die gelegentlich scharf geführte
Auseinandersetzung zwischen Musikermedizin
und Musiktherapie z. T. künstlich, d.h. ohne
wesentliche Substanz, und in weiten Bereichen
unnötig ist.
Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4
MUSIKPHYSIOLOGIE
MUSIK-
THERAPIE
MEDIZIN
MUSIKERMEDIZIN
Abbildung 1: Die übergeordnete Bedeutung der Musikphysiologie für Musik- und Musikermedizin.
Musik kann die Leistungsfähigkeit (Performance) verbessern. Dieses hat nicht nur eine Bedeutung für Musikhörende, sondern ebenfalls
für Musiker selbst: Musik kann – z.B. über die
Initiierung eines Flow-Zustandes – die Aufführungsqualität verbessern. Allerdings scheint
hier die richtige Dosis von Musik entscheidend
für den Erfolg zu sein (s.o.). Ist die musikalische Praxis zu intensiv oder überfordernd, so
wird eine u.U. ungünstige Stressphysiologie
aktiviert. Ist sie dagegen unterfordernd, werden
ggf. keine Heilungsprozesse oder Leistungssteigerungen, d.h. kein kreativer Flow-Zustand,
hervorgerufen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass
Musik bzw. Musical Healing bei einem breiten
Spektrum von Fragestellungen und medizinischen Problemen eingesetzt werden kann.
Dieses kann von therapeutischen Musikanwendungen – z.B. im Rahmen leichter psychischer Beeinträchtigungen oder auch ernsterer
psychiatrischer Erkrankungen – über Aspekte
der Leistungssteigerung und Aufführungsqualität bis hin zur Musikermedizin reichen. Insbesondere das stressreduzierende Potenzial von
Musik kann – bei adäquatem therapeutischem
Einsatz – auch für Musiker von großem Nutzen
sein. Allen praktischen Effekten ist dabei
schließlich gemeinsam, dass sie auf musikphysiologischen Prozessen und sich z. T. überschneidenden Mechanismen der Musikverarbeitung beruhen.
Macht Musik nun gesund oder krank? Die Beantwortung dieser verallgemeinernden Frage
sollte sich erübrigen, denn es handelt sich
beim Musikerleben um einen subjektiven Vorgang. Die Konsequenzen von Musikeinwirkungen sind sehr individuell und so hat Musik prinzipiell das Potenzial, Prävention/Heilungsprozesse und Krankheitserscheinungen gleichermaßen zu befördern. Das konkrete Ergebnis hängt von einer Reihe subjektiv-endogener
und exogener Faktoren ab, daneben spielen
Zeitpunkt und Dauer (ÆDosis) der Musikeinwirkung sowie Art der Musik eine Rolle. Eine
allgemeine Aussage über subjektive Musikeffekte, seien sie heilsam oder krankheitsför-
223
dernd, ist von außen und ohne Kenntnis der
individuellen Situation i.d.R. nicht möglich.
Die Musik(er)medizin stellt ohne Frage eine integrative bzw. integrierende Medizin und Wissenschaft dar. Grabenkämpfe innerhalb von
Teilbereichen der Musikphysiologie sollten
nach Möglichkeit unterbleiben. Stattdessen
sollte an jene Stelle eine fruchtbare Diskussion
treten, welche letztlich allen Beteiligten und
Vertretern, v.a. aber den Patienten, zugute
kommt: Was für Musiktherapie oder therapeutische Musikanwendung gilt, ist in vieler Hinsicht auch bedeutend für den (semi)-professionellen Umgang mit Musik, d.h. für Musikausübung und Musikermedizin. Zukünftige
Forschung – gerade auf dem Gebiet der Musikphysiologie – kann daher vielleicht beiden
Disziplinen helfen und so ggf. auch dazu beitragen, dass Musical Healing Teil einer regulären, ganzheitlichen medizinischen Versorgung
wird. Und dennoch: Bei allen Gemeinsamkeiten haben Musiktherapie und Musikermedizin
grundverschiedene Zielsetzungen, Zielgruppen
und Aufgabenstellungen. Sie dürfen nicht miteinander verwechselt werden.
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Korrespondenzadresse
Dr. med. Tobias Esch
Sertürnerstr. 13
48149 Münster
E-Mail: [email protected]
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