2 P. Abilgaard – Der klinische Fall: „1,4 Promille beim Schlussapplaus“ Der klinische Fall: „1,4 Promille beim Schlussapplaus“ Alkohol als Selbstmedikation bei Bühnenangst P. Abilgaard, Köln Zusammenfassung Bühnenangst ist unter Berufsmusikern eine vergleichsweise häufige Störung (Möller 2005, Mantel 2003, Krawehl 2000, Mantel 2001, Lederman 1999, Blum 1995). In der Allgemeinbevölkerung steht Alkoholismus an erster Stelle, was den volkswirtschaftichen Schaden angeht (BMG 2000, DHS 2005). Es verwundert daher kaum, dass die Bühnenangst nicht selten gemeinsam mit einer Alkoholerkrankung auftritt (Abilgaard 2003). Folgender anonymisierter Fall zeigt, dass beide Störungsbilder erheblich miteinander interagieren und für den Behandler und den Behandlungserfolg die eingehende Kenntnis des Berufsalltages von Berufsmusikern von Vorteil ist. Schlüsselwörter Musikermedizin, Bühnenangst, abhängigkeit, Ressourcen Alkohol- Summary For professional musicians stage fright is a relatively common problem (Möller 2005, Mantel 2003, Krawehl 2000, Mantel 2001, Lederman 1999, Blum 1995). Within the general population, the effects of alcoholism constitute the leading negative factor affecting the economy (BMG 2000, DHS 2005). It is thus hardly surprising that the combination of stage fright and alcoholism is not infrequent among musicians (Abilgaard 2003). The following case demonstrates that the interaction of these two factors is significant and that for the therapist and the success of the treatment a wellfounded knowledge of the daily reality of a professional musician’s life is advantageous. Keywords Performing Arts Medicine, Stage fright, Alcoholism, Ressources „Ich bin beim Schlussapplaus einfach umgekippt.“ So schildert der 51-jährige Blechbläser eines großen Sinfonieorchesters Peter F. den Anlass, der ihn in die musikmedizinische Sprechstunde unseres Zentrums führt. Natürlich sei er sofort vom Notarzt in das nächste Krankenhaus gebracht worden. Dort hätte man einen erhöhten Blutdruck und gutartige Herzrhythmusstörungen diagnostiziert. Die eigentliche Ursache für den Bewusstseinsverlust nach dem Konzert sei jedoch nach wie vor offen. Seit mehr als 20 Jahren nähme er ohne ärztliche Verschreibung Betablocker ein. Vor allem Propanolol bis zu 100 mg täglich und hier und da auch Alkohol seien für ihn bislang eine unbedingte Voraussetzung für den allabendlichen Auftritt. Die Einnahme des Betablockers habe er all die Jahre als ein legitimes „Doping“ empfunden. In vielen Ländern der Erde, die er auf seinen Tourneen besucht habe, sei dieses Medikament ja auch in jeder Drogerie frei erhältlich. Er habe nun Angst, dass sich ein solches Ereignis wiederholen könne und nun, da er den Betablocker nach Anweisung der behandelnden Kardiologen und nicht mehr in den früheren hohen Dosierungen nehmen dürfe, stelle sich nicht mehr der gewünschte Beruhigungseffekt vor den Auftritten ein. Er suche nun eine Beratung, in wie weit es möglich sei, durch andere, zusätzliche Medikamente der Bühnenangst Herr zu werden, und ob man da vielleicht etwas mit Psychotherapie, Hypnose oder Akupunktur machen könne. In der klinischen Untersuchung begegnet uns ein 55-jähriger untersetzter Mann (1,75m, 98 kg), Puls und Blutdruck sind deutlich erhöht (P 104, RR160/100), das Gesicht ist gerötet, im übrigen ergibt sich ein internistischneurologisch unauffälliger körperlicher Untersuchungsbefund. Beim Vorspiel eines klassischen Konzertes seines Faches in Mimik und körperlicher Präsenz defensiv wirkender Musiker, Ton im Gegensatz dazu voluminös, warm timbriert jedoch (in der Intensität ungewollt) vibrierend, bei Erreichen der oberen Mittellage bleiben mehrmals Töne weg und/oder brechen ab. Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 1 Beim zweiten Beratungsgespräch öffnet sich der Patient bei der genaueren Erhebung der Suchtanamnese soweit, dass er einräumen kann, seit der Zeit des Studiums regelmäßig erhebliche Mengen Alkohol zu konsumieren. Anfänglich sei es einfach nur schön gewesen, nach dem Auftritt mit den Kollegen auszugehen und sich mit ein „paar Bierchen zu belohnen“. Dann sei aber mit der Zeit daraus ein festes Ritual geworden, auch schon vor den Vorstellungen in der Kantine mehrere Biere zu trinken, um besser mit der Anspannung vor und während des Auftritts fertig zu werden. Negatives Feedback von den Kollegen der eigenen Instrumentengruppe hätte die Angst während der letzten Monate weiter verstärkt und den Konsum weiter angeheizt, zuletzt im Schnitt 1,5 bis 2 Liter Bier bis zum Beginn der Ouvertüre. konsequente Lebensführung als chronische Erkrankung einzustufen ist, jedoch im Gegensatz zu vielen anderen chronischen Erkrankungen keine lebenslange Einnahme von Medikamenten erforderlich macht. Wichtig ist das Weglassen der Noxe. Selbst bei stark fortgeschrittenen Krankheitsverläufen kann eine abstinente Lebensführung eine dramatische Verbesserung auch bereits fortgeschrittener körperlicher Begleiterkrankungen bewirken. Suchtmittelabstinenz verlängernd. Alle weitergehenden Therapieschritte (Psychotherapie, berufliche und soziale Rehabilitation), stehen und fallen mit dem Suchtmittelkonsum. Nicht umsonst sprechen Suchtmediziner bei Suchtmittelkonsum von „therapiegefährdendem Verhalten“. Der Konsum von Suchtmitteln stellt an sich schon eine einschneidende Verschlechterung der Lebensqualität dar. Viele früher als wichtig und schön erachtete Lebensinhalte (Freundschaften, Hobbies, Projekte etc.) werden dem Konsum und der Beschaffung der Suchtmittel untergeordnet. Entscheidend für die Behandlung und die weitere Prognose ist die Bereitschaft des Klienten, die Suchtproblematik mit in den Behandlungsfokus zu stellen. Folgende Argumente können ihn hierzu motivieren: Bei einer Lebensführung frei von Suchtmitteln sind viele internistische Begleit- oder Folgeerkrankungen (wie Bluthochdruck, Magenschleimhautentzündung, Refluxerkrankung, Reizdarm etc.) ohne zusätzliche Medikationen wenn nicht geheilt, so doch deutlich gelindert. Der Alkoholkonsum ist durchaus als (nebenwirkungsträchtiger) Selbstbehandlungsversuch gegen die Bühnenangst verstehbar. Wenn es gelingt, andere (nebenwirkungsfreie!) Therapieverfahren gegen die Bühnenangst zu etablieren, so könnte auch der Suchtdruck deutlich an Schärfe verlieren. Die stresslösende Wirkung der Suchtmittel nimmt im Laufe der Zeit ab (der Suchtmediziner spricht hier von so genannter „Toleranzentwicklung“). D. h. mittelfristig verliert das Suchtmittel seine gewünschte Wirkung. Durch Suchtmittelabstinenz wird die Urteilsschärfe der eigenen künstlerischen Produktion deutlich verbessert. Durch Suchtmittelabstinenz wird die Kontrolle über die Feinmotorik deutlich verbessert. Sucht ist zwar eine Störung, die hinsichtlich der Anforderungen an eine 3 wirkt lebens- Als nächster Schritt des Therapieprozesses folgen psychoedukative Interventionen. Patienten wie Peter F. haben mit einer erheblichen Stigmatisierung ihres Verhaltens zu tun. Beispielsweise kann die Deutung, Alkoholkonsum als suboptimalen Selbstbehandlungsversuch aufzufassen, sehr entlastend wirken. Ein unkontrollierter Umgang mit Suchtstoffen ist in sozialen Kontexten nach wie vor erheblich tabuisiert, und speziell beim Suchtmittel „Alkohol“ sind die Grenzen zwischen gesellschaftlicher Anerkennung, frei nach dem Motto „Heute ein König“ und dem Bild des ausgestoßenen Trinkers, schnell übertreten. In diesem Zusammenhang soll nicht verschwiegen werden, dass ein nicht unerheblicher Anteil des professionellen Helfersystems, bestehend aus Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern sich mit dem Akzeptieren von Sucht als Krankheit schwer tun. Immer noch ist auf einer eher emotionalen Ebene von Sucht als Ausdruck einer Charakterschwäche zu hören; sehr unsubtil wird so eine vermeintliche Selbstverschuldung der Suchterkrankung artikuliert (Richter 2001). 4 P. Abilgaard – Der klinische Fall: „1,4 Promille beim Schlussapplaus“ Alkoholismus in Deutschland: Laut Informationen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen hatten im Jahr 2005 ca. 13,8 Millionen Deutsche ein „Alkoholproblem“: 10,4 Millionen zeigten ein riskantes Konsumverhalten, 1,4 Millionen entsprachen der Kategorie „Alkoholmissbrauch“ und schließlich 1,4 Millionen Deutsche waren manifest alkoholabhängig. Jährlich sterben ca. 42.000 Personen, deren Tod direkt (z. B. durch Alkoholmissbrauch) oder indirekt (z.B. durch einen alkoholisierten Unfallverursacher) in Verbindung mit Alkohol steht (BMG 2000). Die volkswirtschaftlichen Kosten alkoholbezogener Krankheiten (ohne Kriminalität und intangible Kosten) werden pro Jahr auf ca. 20,6 Mrd. € geschätzt. Der größte Teil des volkswirtschaftlichen Schadens bezieht sich mit ca. 7 Mrd. € auf die alkoholbezogene Mortalität (BMG 2000). Im weiteren Verlauf ließ sich Peter F. auf das Führen eines Tagebuches, zur Dokumentation seines Konsums ein. Es wurde deutlich, dass das Konsumverhalten belastungsabhängig war: nur geringe Mengen bei Operettenabenden, sehr hohe Dosen bei romantischen Sinfonien. Um das Risiko entzugsbedingter Komplikationen (wie Krampfanfälle, Delirien) zu minimieren, empfahlen wir eine stationäre Entgiftungsbehandlung; diese wurde für die nächste längere Dienstpause terminiert, dauerte 14 Tage und verlief komplikationslos. Schon im Vorfeld hierzu erlernte Peter F. spezifische Stressmanagementverfahren aus dem Formenkreis der Imaginationstechniken/Mentalem Training, die mehr - als bspw. autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation - musikerspezifischen Anforderungen gerecht werden können, da die direkt belastenden Situationen in der Imagination geübt und umgedeutet werden können. Zudem konnte Peter F. auf bereits während des Studiums erlernte Grundkenntnisse in Alexander-Technik zurückgreifen. Kurz nach der Entgiftungsbehandlung hatte er wieder regelmäßig Stunden bei einem Alexander-Technik-Lehrer. Direkt im Anschluss an die Entgiftung konnte während einer 4-wöchigen Dienstpause ein vorsichtiger Belastungsaufbau am Instrument erfolgen. Bei der Abstimmung des weiteren Therapieplanes war nicht nur die Frage wichtig, inwieweit Stress und Risikofaktoren reduzierbar seien, sondern auch die Suche nach Ressourcen: hier zeigte sich Peter F. besonders kreativ; so entschloss er sich zum Kauf eines neuen Instrumentes, nahm Kontakt zu einem sehr geschätzten Lehrer auf und begann wieder regelmäßig Unterricht zu nehmen. Nicht zuletzt setzte er einen lang gehegten Wunsch um, wieder - wie zu seiner Studentenzeit - Kammermusik für Blechbläserensemble aufzuführen. Seit Jahren vernachlässigte Aktivitäten belebte er neu: 6 Monate nach der Entzugsbehandlung lud Peter F. Freunde und Bekannte zu einer Ausstellung ein, wo er Skulpturen, die er aus Metallschrott zusammengeschweißt hatte, ausstellte. Nach 4 Wochen begann wieder der reguläre Dienst. Peter F.’s Strategie, seine Erkrankung gegenüber seinem Dienstherren offen zu legen, machte sich auch insofern bezahlt, dass man ihn im Einvernehmen mit dem Orchestervorstand für einen Zeitraum von 6 Monaten auf eine weniger exponierte Position setzte. Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 1 Die Einbindung in ein ambulantes Suchthilfenetz bestehend aus Facharzt, Selbsthilfegruppe und Suchtberatung wirkte darüber hinaus stabilisierend. In der Katamnese, 24 Monate nach dem Erstkontakt berichtet Peter F., sich psychisch stabil zu fühlen. Mit der weiterfortgeführten Kombination aus Imagination/Mentalem Training, Alexander-Technik und Instrumentalunterricht sei die Bühnenangst auch ohne Selbstmedikation mit Alkohol/Betablocker auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, so dass man nun am ehesten von einer normalen Lampenfieberreaktion vor den Auftritten sprechen könne. Das Feedback der Kollegen über seine künstlerische Leistung sei auch über die Instrumentengruppe hinaus durchweg sehr positiv und ermutige ihn täglich aufs Neue, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Prinzipiell könne er von sich sagen, dass er mit den für den Musikerberuf typischen Stressoren anders umgehe, als vor der Behandlung. Weiterhin pflege er seine außermusikalischen Bezüge und Hobbies. Er wolle nicht verschweigen, dass es anlässlich einer großen sinfonischen Produktion noch mal zu einem Rückfall gekommen sei, aber durch die Anbindung an das ambulante Helfernetz habe er diesen innerhalb von 3 Tagen durchbrechen können; so lebe er nun seit 14 Monaten durchgängig abstinent und sei sehr optimistisch, bis zum Erreichen des Rentenalters in seinem Beruf leistungsfähig bleiben zu können. Fazit Wenn bei dem geschilderten Fall von einer ganzheitlichen Orientierung des Therapiekonzeptes gesprochen werden kann, so meint dies konkret: - - - Berücksichtigung der Interaktionsmusters zwischen Alkoholkonsum und Bühnenangst Integration somatischer Konzepte in die psychotherapeutische Begleitung detaillierte Berücksichtigung des beruflichen Anforderungsprofils bei Würdigung der Defizite ist für die Entwicklung des Therapieplanes die Herausarbeitung der (größtenteils schon bestehenden) Ressourcen maßgeblich Handlungsbündnis zwischen Klient und Behandler auf Augenhöhe 5 Mir scheint es sinnvoll, die Alkoholerkrankung dieses Musikerpatienten als einen (aufgrund des Nebenwirkungsprofils) ungünstig gewählten Selbstmedikationsversuch der Bühnenangst aufzufassen. Umgekehrt macht es Sinn, erst dann mit einer Entgiftungsbehandlung zu beginnen, wenn Alternativkonzepte zur Behandlung der Bühnenangst angeboten werden. Dass sich die Kreativität von Musikern nicht nur auf ihre Tätigkeit im Orchestergraben beschränkt, wurde mir bei diesem Fall sehr deutlich, als sich Peter F. - auf der Suche nach Ressourcen, die seine berufliche und gesundheitliche Situation weiter stabilisieren sollten als sehr phantasievoll erwies. Ich finde es sehr erfreulich, dass dieser Aspekt der MusikerPersönlichkeit auch in jüngsten Forschungsarbeiten thematisiert wird (Samsel 2006). Literatur Möller H (2005): Aufführungsangst ein gesundheitliches Risiko bei Musikern. Musikphysiologie und Musikermedizin, 3, 139-54 Mantel G (2003): Mut zum Lampenfieber. Mainz: Schott Krawehl I Altenmüller E (2000): Lampenfieber unter Musikstudenten. Musikphysiologie und Musikermedizin, 4, 173-8 Mantel G (2001): Einige Gedanken zum Lampenfieber aus der Sicht des aufführenden Musikers. Musikphysiologie und Musikermedizin, 1, 12-8 Lederman RJ (1999): Medical treatment of performance anxiety. Medical Problems of Performing Artists, 14, 117-21 Blum J (1995): Medizinische Probleme bei Musikern. Stuttgart: Thieme Richter E (2001): Sucht: Mehr Kooperation erforderlich. Deutsches Ärzteblatt, 47, 3092 BMG (Bundesministerium für Gesundheit): Alkoholkonsum und alkoholbezogene Störungen in Deutschland, Schriftenreihe des BMG. Band 128, Nomos-Verlag, 2000 DHS (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen): Basisinformationen Alkohol, Hamm, 2001 Abilgaard P Mathe K (2003): Vergleichende Untersuchung zum Stressmanagement von Musik- und Medizinstudierenden. Musikphysiologie und Musikermedizin, 4, 210-2 6 P. Abilgaard – Der klinische Fall: „1,4 Promille beim Schlussapplaus“ Samsel W Möller H Marstedt G Müller R (2006): Ergebnisse einer Befragung junger Musiker über Berufsperspektiven, Belastungen und Gesundheit. Musikphysiologie und Musikermedizin, 3, 86-98 Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Peer Abilgaard Zentrum für Musikermedizin an der Musikhochschule Köln Dagobertstr. 38 50668 Köln 0211-9128180 [email protected]