Polen: Herausforderung EU-Integration

Werbung
Monitor EU-Erweiterung
Mai 2001
Polen: Herausforderung EUIntegration
In den Augen der meisten Ökonomen gilt Polen dank seiner beeindruckenden Wachstumsdynamik und des rapiden Strukturwandels
als Musterland erfolgreicher Transformation. Wie aber sieht es hinsichtlich des zweiten strategischen Ziel der polnischen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre, der Erlangung der „Beitrittsfähigkeit“, aus?
Ist Polen ökonomisch für einen Beitritt in absehbarer Zeit gerüstet?
Noch immer sind Zweifel verbreitet. In der “heißen Phase” der Beitrittsverhandlungen und -vorbereitungen ist die Frage unumgänglich,
wie nah das größte Kandidatenland dem Ziel der Aufnahme in die
EU ökonomisch gekommen ist und welche Herausforderungen noch
zu meistern sind.
BIP-Entwicklung
150
1990 = 100
140
Polen
130
120
Ungarn
100
Tschechien
Wirtschaftlicher Erfolg unbestritten ...
90
80
70
Für den wirtschaftlichen Erfolg Polens in den letzten Jahren sprechen Zahlen die deutlichste Sprache: Mit einem durchschnittlichen
Wachstum von fast 5% zwischen 1992 und 2000 ist es Polen gelungen, seine Wirtschaftsleistung um 50% zu steigern. Die Ergebnisse für Tschechien und selbst Ungarn nehmen sich dagegen bescheiden aus (siehe Grafik). Die Wirtschaftsleistung pro Kopf (umgerechnet zu Kaufkraftparitäten) stieg in Polen von 4.500 Euro im Jahr
1990 auf 8.500 Euro oder 40% des EU-Durchschnitts in 2000.
Was waren die "Zutaten" zu diesem polnischen Erfolgsrezept?
• An erster Stelle ist auf den dynamischen Unternehmenssektor
als “power house” der polnischen Wirtschaft zu verweisen:
Nach den umfassenden Liberalisierungen und der makroökonomischen Stabilisierung im Rahmen der „Schock-Therapie“ wurden neugegründete private Unternehmen – und nicht die schleppend privatisierten Staatsunternehmen – zum Wachstumsmotor
der Volkswirtschaft. Zügige Außenhandelsliberalisierung und ein
funktionierendes Rechtssystem bildeten das Fundament für die
erfolgreiche Expansion der polnischen „start-ups“.
• Nach dem Erlass von etwa 50% der Auslandsschulden durch
den Pariser und Londoner Club im Jahr 1994 kam es zu einem
sprunghaften Anstieg ausländischer Direktinvestitionen, die ihren
Teil zum Investitionsboom in der Mitte des Jahrzehnts beitrugen.
Stringente Reformen und substantielle ausländische Investitionen haben die Sanierung des Finanzsektors ermöglicht. Volkswirtschaftlich kostspielige systemische Krisen konnten so vermieden werden.
• Eine aktive Sozialpolitik hat die Konsequenzen des Transformationsprozesses für die Bevölkerung abgefangen und die Unterstützung für den Reformkurs gesichert.
... aber schwierige Beitrittsvorbereitungen
Die Anpassung von Tausenden von nationalen Rechtsvorschriften
an europäisches Recht hat die polnische Gesetzgebungsarbeit anfänglich überfordert. Erst im Frühjahr 2000 hat sich die Geschwindigkeit der Rechtsangleichung mit der Einrichtung des sogenannten
„Großen Ausschusses für Europafragen“ im polnischen Parlament
deutlich beschleunigt. In diesem neuen parlamentarischen Ausschuss werden alle Gesetzesvorlagen, die vom "Interministeriellen
16
110
Economics
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00
Polen: BIP pro Kopf
9000
8000
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
EUR
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00
zu Kaufkraftparitäten
zu aktuellen Wechselkursen
Ausländische Direktinvestitionen in Polen
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
12
USD
10
8
6
4
2
0
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00
Bestand (links)
Zufluss (rechts)
Mai 2001
Monitor EU-Erweiterung
Komitee für Europäische Integration" in Zusammenarbeit mit den
Fachministerien im Rahmen des jährlichen "Nationalen Programms
zur Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes" (NPAA) erarbeitet werden, behandelt und dem Parlament zur Verabschiedung
vorgeschlagen. Auf diese Weise werden die Beitrittsvorbereitungen
stärker dem politischen Tageskampf in den Fachausschüssen entzogen und weniger dem Einfluss von Interessengruppen ausgesetzt. Dieses Verfahren lässt hoffen, dass die Beitrittsvorbereitungen aus dem Wahlkampf - Parlamentswahlen finden im September
statt - herausgehalten werden können.
Beitrittsvorbereitungen dem politischen Tageskampf entzogen
"Peer pressure" wächst nach Nizza
Obwohl der Gipfel von Nizza die hohen Erwartungen nicht erfüllt
hat, sieht sich die EU nun formal als erweiterungsfähig an. Zusammen mit dem Fahrplan („road map“) der Kommission für den Fortgang der Verhandlungen ist der Beitrittsprozess damit in eine qualitativ neue Phase getreten. Dies zeigt sich auch am wachsenden
Interesse der Mitgliedstaaten, die bislang die materielle Verhandlungsarbeit weitgehend der Kommission überlassen hatten. Der
Fortschritt auf dem Weg zum Beitritt kann mittlerweile am Abschluss der einzelnen Kapitel im Zeitplan der Kommission abgelesen
werden. Dies hat den Druck auf Polen erhöht, nicht hinter die Verhandlungserfolge der anderen Länder zurückzufallen. Das Prinzip der
„peer pressure“ – des Wettbewerbs der Kandidaten untereinander
– funktioniert umso besser, je konkreter der Zeitplan ist: In den wenigen Monaten seit Nizza musste Polen angesichts des Verhandlungsfortschritts anderer Länder eine ganze Reihe von Forderungen
nach Übergangsfristen vor allem im Umweltschutz fallen lassen, um
den Abstand zu den anderen Beitrittsländern nicht zu groß werden
zu lassen und dadurch Spekulationen über mögliche erste Beitrittsgruppen ohne Polen neuen Auftrieb zu geben. Weitere Anpassungen von Verhandlungspositionen sind für die nächste Zeit absehbar.
Qualitativ neue Phase im Verhandlungsprozess
Verhandlungspositionen mussten
angepasst werden
Verhandlungen zu Freizügigkeit und Landerwerb
Die Themenbereiche Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Liberalisierung des Kapitalverkehrs für den Landerwerb sind mittlerweile auch
in Polen stark debattierte politische Fragen: Einerseits misst die
Bevölkerung der Freizügigkeit hohe symbolische Bedeutung zu;
andererseits wird die Öffnung des EU-Arbeitsmarktes für Polen als
wichtiger Aspekt der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes
betrachtet. Mit der von der EU-Kommission im April 2001 vorgeschlagenen Übergangslösung – einem flexiblen Verfahren, in dem
nach fünf bzw. maximal sieben Jahren EU-weite Freizügigkeit möglich würde, nationale Regelungen aber schon vor Ablauf dieser Frist
zu weitreichenden Liberalisierungen führen könnten – wird Polen
wahrscheinlich leben können. Voraussetzung ist, dass dies polnische Arbeitnehmer im Vergleich zu denen anderer Beitrittsländer
nicht diskriminiert und dass die Auswanderung von Facharbeitskräften – ein „brain drain“ durch die gezielte Anwerbung von Fachkräften für bestimmte Sektoren in der EU-15 – verhindert wird.
Politische Bedeutung der Freizügigkeit
Die politischen Zwänge, die den Kommissionsvorschlag wohl mehr
als ökonomische Überlegungen diktiert haben, werden auch in Polen gesehen. Eine liberale Ausgestaltung der Dienstleistungsfreiheit
für polnische Unternehmen – in der ökonomischen Bedeutung für
Polen mit der Freizügigkeit für Arbeitnehmer wahrscheinlich vergleichbar – würde helfen, die politische Akzeptanz des Gesamtpa-
Economics
17
Monitor EU-Erweiterung
kets in der Bevölkerung zu erhöhen. Die ablehnende Haltung der
Kommission zur Einschränkung einer weiteren Grundfreiheit des
Binnenmarkts beim Beitritt gibt den Polen Anlass zur Hoffnung,
zumal auch ökonomische Argumente gegen starke Übergangsfristen in diesem Bereich sprechen.
Mai 2001
Keine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit
Die Regelung des Erwerbs von landwirtschaftlichem Grund und
Boden durch Ausländer ist mittlerweile ähnlich stark politisiert. Polen fordert unter Verweis auf Ängste über einen Ausverkauf des
Landes und auf handfeste Probleme bei der anstehenden Agrarreform eine Übergangsfrist von 18 Jahren bis zur vollständigen Liberalisierung. Da mit dieser Frage aus Sicht der Alt-Mitglieder keine bedeutenden Interessen verbunden sind und sich Polen wohl mit einer
geringeren Frist begnügen könnte, sollte aber eine Einigung möglich
werden. Vor den Parlamentswahlen ist freilich nicht mit viel Bewegung zu rechnen.
Ist die Wirtschaft für den Binnenmarkt gerüstet?
In den Augen der Kommission ist Polens Wirtschaft bereits „auf
kurze Sicht“ in der Lage, dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt
standzuhalten. Der Zeithorizont spielt angesichts des rapiden Strukturwandels in der Tat die entscheidende Rolle. Bis zu einem Beitritt
in der Mitte des Jahrzehnts dürfte genug Zeit bleiben, um die
verbleibenden Fragezeichen auszuräumen:
• Aufgrund der fast vollständigen Liberalisierung steht die polnische Exportwirtschaft bereits heute voll im europäischen und
internationalen Wettbewerb. 70% der Gesamtexporte Polens
gehen in die EU. Parallel zum Wachstum der Handels mit der EU
hat sich auch die Exportstruktur gewandelt. Polen ist von einem
Exporteur landwirtschaftlicher Güter und Rohstoffe zu einem Exporteur von Industrie- und Konsumgütern geworden, bei denen
nicht mehr nur Lohnkostenvorteile Wettbewerbsfähigkeit sichern. Technologieintensive Güter und solche, deren Herstellung
den Einsatz qualifizierter Arbeit erfordert, sind mittlerweile der
Motor des Exportwachstums und machen die Hälfte der Gesamtexporte aus.
• Auf dem polnischen Markt herrscht längst intensiver Wettbewerb, unter anderem auch wegen der großen Zahl ausländischer
Unternehmen. Untersuchungen bescheinigen den in Polen ansässigen Unternehmen ein Maß an Wettbewerbsfähigkeit, das
an das einiger EU-Mitglieder heranreicht. Dies gilt vor allem für
die zahlreichen mittelständischen Unternehmen, von denen fast
drei Viertel mittlerweile mit ausländischer Beteiligung operieren.
Probleme bestehen noch im Hinblick auf die staatliche Beihilfepolitik und die Effektivität der Wettbewerbsaufsicht. Mit öffentlichen Beihilfen an Unternehmen und Regionen in Höhe von jährlich 1-2% des BIP - vor allem in Form von Befreiungen von Steuern und Sozialabgaben - liegt Polen aber nah am EU-Durchschnitt
von 1,2% (1998). Die Subventionspraxis mit den Anforderungen
der EU-Wettbewerbspolitik zu harmonisieren wird jedoch mittelfristig eine Aufgabe bleiben.
• Hinter der Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Schwerindustrien sowie der Landwirtschaft stehen die größten Fragezeichen. Allein im Bergbau, der noch über 200.000 Beschäftigte
zählt, entstehen nach IWF-Berechnungen jährlich Verluste in Höhe von bis zu 1% des Bruttoinlandsprodukts. Allerdings ist die
18
Economics
Polen: Exporte in die EU nach
Produktkategorien (v.H.)
100
80
60
40
20
0
1995
1996
1997
1998
1999S
Produkte basierend auf ...
qualifizierter Arbeit
Technologie
unqualifizierter Arbeit
Rohstoffen
Quelle: Weltbank, DBR
Polen: Beschäftigte im Bergbau
'000
458
421
393
375
357
336
313
251
230
92 93 94 95 96 97 98 99 00
Quelle: Binletyn Statystyczny
550
500
450
400
350
300
250
200
150
100
50
0
Mai 2001
Monitor EU-Erweiterung
Geschwindigkeit des Strukturwandels – gerade im Vergleich zu
Westeuropa – erheblich. Die Anzahl der Zechen hat sich im letzten Jahrzehnt ebenso halbiert wie die Kohleförderung. Allein im
Jahr 1999 gingen 60.000 Arbeitsplätze im Bergbau verloren. Die
Konsequenzen für den Arbeitsmarkt konnten durch ein erfolgreiches Weltbankprogramm abgefedert werden. Problematischer
ist die Situation noch in der von Überkapazitäten geprägten
Stahlindustrie. Hier soll die Zahl der Beschäftigten im Rahmen
von Privatisierungen von gegenwärtig über 80.000 auf etwa
40.000 im Jahr 2003 reduziert werden. Auch in der von unproduktiven kleinen und mittelgroßen Höfen geprägten Landwirtschaft – deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt zwar mit dem in
Spanien vergleichbar ist, die aber noch ca. 15-18% der Erwerbstätigen beschäftigt – steht ein umfassendes Reformprogramm
noch aus. Gegenwärtig fließt nur ein geringer Teil der erheblichen Budgetausgaben für die Landwirtschaft in die Modernisierung. Im Hinblick auf die starke Regulierung der Landwirtschaft
innerhalb der EU wird die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit
polnischer Kleinbetriebe jedoch nicht zuletzt von der künftigen
EU-Agrarpolitik abhängen.
• Der polnische Finanzsektor ist dank frühzeitiger Konsolidierung
und hoher ausländischer Direktinvestitionen in gutem Zustand.
Gemessen an der Bilanzsumme befinden sich heute 70% des
Bankensystems in ausländischen Händen. Das gleiche gilt für
mehr als die Hälfte der Versicherungsunternehmen. Zwar machte die Bilanzsumme aller Banken in Polen Ende 1999 zusammen
nur 62% des Bruttoinlandsprodukts aus und lag damit noch
deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 210%, was den Nachholbedarf illustriert. In Bezug auf die innere Stabilität kann das
polnische Bankensystem aber nicht nur im Vergleich mit anderen
Beitrittsländern, sondern auch auf internationaler Ebene mithalten . Die durchschnittliche Eigenkapitalunterlegung im Bankensektor lag im September 2000 bei stattlichen 12,6%. Der Wirkungsgrad der Bankenaufsicht wurde durch die Entwicklung von
Risiko-Management-Prozeduren in den letzten Jahren nachhaltig
gestärkt. Eine große Schwäche des polnischen Kapitalmarktes ist
die Unterentwicklung des Marktes für Unternehmensanleihen.
Selbst große polnische Firmen sind oft nicht in der Lage, die nötige Finanzierung zu sichern, da weder die streng beaufsichtigten
Banken noch ein entsprechender Anleihemarkt als Finanzierungsquelle verfügbar sind. Die 1999 auf den Weg gebrachte
Pensionsreform dürfte aber mittelfristig zur Entwicklung der "Angebotsseite" des Kapitalmarktes beitragen.
Rapider Strukturwandel in der
Schwerindustrie
Hoher ausländischer
Finanzsektor
Anteil
im
Inflation
Währungspolitische Optionen
16
Die Entscheidung der Nationalbank vom April 2000, von einem
Wechselkursband mit monatlichen Abwertungsraten zu einem System freier Wechselkurse überzugehen, hat die polnischen Debatte
um das beste Währungsregime zur Vorbereitung auf die EWU vorläufig beendet. Grundsätzlich dürfen die Anforderungen an das Währungsregime in der Vorbereitung auf die EWU nicht unterschätzt
werden: Disinflation und Zinskonvergenz im Sinne der MaastrichtKriterien müssen in einem Umfeld liberalisierter Kapitalmärkte möglich werden. Insbesondere die Konsequenzen der Abschaffung der
verbleibenden Kapitalverkehrsbeschränkungen sind noch unklar.
Zwar ist die Liberalisierung des Kapitalverkehrs heute in Polen schon
Economics
% gg.Vj.
14
12
10
Polen
8
6
4
EWU
2
0
1998
1999
2000
2001
19
Monitor EU-Erweiterung
weiter vorangeschritten als etwa in Spanien Anfang der neunziger
Jahre. Vergleichende Untersuchungen legen aber eine deutliche
Zunahme von potentiell volatilen Portfolioinvestitionen nahe, während bisher langfristige ausländische Direktinvestitionen das Bild
bestimmten. Es könnte in der Folge zu kurzfristigen Zu- und Abflüssen spekulativen Kapitals und damit zu heftigen Ausschlägen im
Wechselkurs kommen, die zu Problemen im heimischen Finanzsektor und der Realwirtschaft führen würden.
Für die polnische Nationalbank überwiegen jedoch die Vorteile der
Freigabe des Wechselkurses. Zum einen sind volatile Kapitalströme
unter fixen Wechselkursen eher noch problematischer, zum anderen
steigen bei freien Wechselkursen die Risikoprämien und die Absicherung von offenen Währungspositionen wird gefördert. Der Einstiegskurs für den WKM II kann am Markt bestimmt werden, was
das spätere Vertrauen in die Währung stärken könnte. Aber
Nachteile sind unübersehbar: Die Wirtschaftspolitik setzt sich der
Volatilität der internationalen Finanzmärkte aus. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Tatsache im Sinne von höherer Transparenz als
positiv herausstellen sollte oder eine langfristig ausgelegte Wirtschaftspolitik angesichts von kurzfristigen Stimmungswechseln an
den Finanzmärkten erschwert wird. Die hohen Wechselkursschwankungen in den letzten zwölf Monaten lassen erahnen, wie
schwierig die Aufgabe noch werden könnte.
Polen: Realer Wechselkurs*
1993 = 100
160
140
120
100
80
60
91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01
*) gg. EUR auf Basis der
Konsumentenpreisentwicklung
Arbeitslosigkeit in ausgewählten
Regionen
Wirtschaftspolitik im Zeichen des EU-Beitritts
Vieles spricht dafür, dass sich in Polen und den anderen Beitrittsländern im Vorfeld der Erweiterung eine beachtliche wirtschaftliche
Dynamik einstellt. Sinkende Länderrisiken, bessere Investitionsbedingungen und die Erträge von vergangenen Reformen könnten die
Investitionstätigkeit fördern und das Wachstum wieder auf 6-7% pro
Jahr beschleunigen. Dennoch wäre es falsch, die wirtschaftspolitischen Herausforderungen zu übersehen, die sich ergeben werden.
Meinungsumfragen deuten zur Zeit auf einen abermaligen Regierungswechsel bei den Parlamentswahlen im September 2001 hin.
Ein möglicher Wahlsieg der sozialdemokratischen SLD unter Leszek
Miller dürfte aber weder die Beitrittsvorbereitungen verlangsamen
noch die Märkte beunruhigen.
Eine Schlüsselaufgabe für die nächste Regierung bleibt die Bewältigung des Strukturwandels im ländlichen Raum. Während in der
Stadt Warschau Vollbeschäftigung herrscht, kämpfen die agrarischen östlichen Gebiete des Landes mit Arbeitslosenraten von teilweise über 30%. Offensichtlich ist die Arbeitskräftemobilität auch
innerhalb Polens sehr gering. Gleichzeitig ist absehbar, dass die
östlichen Regionen weit weniger von der EU-Integration profitieren
werden als die westlichen. Angesichts der wachsenden Kluft zwischen West und Ost politische Stabilität zu gewährleisten, wird die
Aufgabe von vorausschauender Strukturpolitik sein, die neben budgetären Engpässen auch mit der Brüsseler Wettbewerbspolitik zu
recht kommen muss.
Eine weiterer Schwerpunkt künftiger Wirtschaftspolitik dürfte die
Eindämmung übermäßiger Leistungsbilanzdefizite betreffen. Zwar
waren die Zuwachsraten polnischer Exporte in der letzten Zeit zweistellig, aber mittelfristig kann ein weiteres überproportionales Importwachstum nicht ausgeschlossen werden: Die voranschreitende
Modernisierung der Volkswirtschaft dürfte – wie in den südlichen
20
Mai 2001
Economics
(Stand März 2001)
Warminskomazurskie
(Masuren)
25,7
Dolnoslaskie
(Region
Wroclaw/Breslau)
19,1
Pomorskie
(Region
Gdansk/Danzig)
17,1
Lódzkie (Region
Lodz)
16,8
Nationaler
Durchschnitt
15,8
Slaskie
(Schlesien)
13,7
Wielkopolskie
(Region
Poznan/Posen)
13,1
Mazowieckie
(Region
Warschau)
11,6
%
0 5 10 15 20 25 30 35
Mai 2001
Monitor EU-Erweiterung
EU-Mitgliedern – mit rapide steigenden Importen von Investitionsgütern verbunden sein. Diese könnten vor allem durch ausländische
Direktinvestitionen solide "finanziert" werden, wie auch die EUKommission in ihrem Hintergrundpapier für das informelle EcofinTreffen mit den Finanzministern der Beitrittsländer im April 2001
feststellte. Zwar dürfte der polnische Markt wachsende Anziehungskraft auf ausländische Investoren ausüben und sogenannte
Investitionen auf der grünen Wiese weiterhin rasch zunehmen.
Gleichzeitig werden aber die mit Privatisierungsprojekten verbundenen Zuflüsse zurückgehen. Damit ist eher nur von einer Stabilisierung der Direktinvestitionen in Polen auf hohem Niveau auszugehen,
nicht mehr von dramatischen Zuwächsen.
In der ökonomischen Diskussion wird die Fiskalpolitik als das geeignete Instrument zur Eindämmung von übermäßigen Leistungsbilanzdefiziten genannt. Doch eine stark restriktive Haushaltspolitik
dürfte in den nächsten Jahren nur unter größten politischen Anstrengungen durchzusetzen sein: Auf der Ausgabenseite stehen
umfangreiche neue Investitionen für die Übernahme des EU-Rechts,
vor allem in den Bereichen Umwelt, Transport und Landwirtschaft
an. Ein Großteil dieser Kosten wird trotz der Hilfen aus Brüssel von
der öffentlichen Hand getragen werden müssen. Schätzungen für
die Übernahme des gesamten acquis gehen von jährlichen Anpassungskosten von bis zu 5% des Bruttoinlandsprodukts aus. Es ist
eine offene Frage, ob ein Gegensteuern in der Fiskalpolitik politisch
durchsetzbar bzw. in dem heute geplanten Ausmaß – ein ausgeglichenes Budget ist für 2003 projiziert – erreichbar sein wird.
Exporte & Importe
50
Mrd. USD
40
30
20
10
0
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00
Exporte
6
Importe
Leistungsbilanzsaldo
5
4
0
2
0
-5
-2
-4
-10
-6
Fazit
Trotz der unbestrittenen Erfolge im Transformationsprozess scheinen die Hürden für den Beitritt im Fall Polens noch hoch zu liegen.
Hier ist jedoch zu differenzieren. In manchen kritischen Fragen der
Erweiterung ist nicht die ungünstigere Sachlage, sondern die Größe
des Landes das eigentliche Problem. Polen allein ist bevölkerungsreicher als alle anderen Beitrittskandidaten einer möglichen ersten
Erweiterungsrunde zusammen: Die bei der Integration neuer Mitglieder auftretenden Probleme sind bei den anderen Kandidaten oft
nicht etwa deshalb weniger akut, weil es strukturelle Unterschiede
zu Polen gäbe, sondern weil die Schwierigkeiten aufgrund der niedrigeren Bevölkerungszahl nicht ins Gewicht fallen. Demgegenüber
werden die finanziellen und politisch sensiblen Grundsatzfragen der
Erweiterung beim Beitritt Polens wie in einem Brennglas gebündelt
– und entwickeln dabei die entsprechende politische Hitze. Dies
erklärt auch die regelmäßig größere Aufregung, welche die polnischen Beitrittsverhandlungen begleitet. Auf der Zielgerade zum Beitritt werden die politischen Herausforderungen weiter wachsen. Aus
der Sicht der polnischen Reformpolitiker wird es in den verbleibenden Jahren auf eine möglichst konkrete Beitrittsperspektive ankommen, welche die Reform- und Wirtschaftsdynamik aufrecht
erhält. Es wäre daher bedenklich, wenn die Verhandlungspositionen
der EU in zunehmendem Maße von kurzfristigen Wahlkampfüberlegungen geprägt würden. Klar ist, dass der beste Weg, die Kosten
der Erweiterung gering zu halten, darin besteht, die beachtliche
wirtschaftliche Dynamik Polens aufrecht zu erhalten.
-8
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00
Mrd. USD (rechts)
% des BIP (links)
-15
Konkrete Beitrittsperspektive für
polnische Reformer wichtig
Moritz Schularick, +49 69 910-31746 ([email protected])
Economics
21
Herunterladen