In der Ferne –so nah - Spektrum der Wissenschaft

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medizin ı internetsexsucht
In der Ferne – so nah
Das World Wide Web ist die größte Sexbörse
der Welt. Erotische Stimulation gibt es
hier rund um die Uhr, anonym und frei Haus.
Psychologen warnen: Suchtgefahr droht!
text: NIKOLAS WESTERHOFF ı fotos: Yannick wegner
D
er 19-jährige Oliver* kommt in die Sprechstunde. Auf die Frage, was ihn herführt,
antwortet er: »Ich will keine Pornos im Internet
mehr ansehen. Ich hab keinen Bock mehr darauf – aber ich komm einfach nicht davon los.«
Seit kurzer Zeit habe er eine Freundin, die er liebe: »Wenn sie rausbekommt, was ich abends am
Rechner mache, ist es vorbei.« Dieser ganze
»Sex-Kram« nerve ihn nur noch. Mit Spaß habe
das nichts mehr zu tun.
Oliver ist süchtig nach Onlinesex. Mit diesem Problem steht er nicht allein da. Die Zahl
der Betroffenen steigt von Jahr zu Jahr. Psychiater und Psychotherapeuten berichten immer
häufiger von Menschen, die sich im virtuellen
Raum der unbegrenzten Sexangebote verlieren.
Die als treue, wohl situierte Ehemänner anfangen und als arbeitslose Online-Sex-Junkies enden. Die sich irgendwann fragen: Wie konnte
das passieren?
Von Sexsucht spricht man, wenn sexuelle
Fantasien das Denken beherrschen – und wenn
sich der Betroffene seine sexbezogenen Vorstellungen detailverliebt und exzessiv ausmalt. Der
56
*Name von der Redaktion geändert
Sexabhängige erlebt sein Verhalten und seine
Gedanken als unkontrollierbar: Er verspürt beispielsweise einen unwiderstehlichen Drang,
sich Hardcorebilder anzusehen, obwohl er gern
etwas anderes täte.
Oliver ist so ein Fall. Am Anfang erlebte er
seine sexuellen Onlineaktivitäten als lustvoll.
Jeder Klick auf eine Erotikseite ging für ihn mit
einem Glücksgefühl einher – sein Gehirn schüttete Dopamin aus. Doch auf Dauer befriedigten
ihn seine Klicks nur noch kurzzeitig, schließlich
gar nicht mehr. Das Glücksempfinden verflüchtigte sich – was blieb, war Olivers schlechte Gewohnheit, online nach Sex zu suchen. Inter­
netsexsucht, so seine Erkenntnis, bedeutet viel
Zwang und wenig Lust.
Manche Forscher halten diese Sucht für eine
Sonderform der Paraphilie (siehe Kasten auf S.
58). Andere glauben, dass sie aus einer Paraphilie hervorgeht. Ein Team um den Psychologen
Fred S. Berlin von der Johns Hopkins University
in Baltimore hat im Jahr 2002 die Persönlichkeitsstruktur von 39 Menschen mit internet­
bezogenen Sexproblemen analysiert. Ergebnis:
gefährliches spiel
Onlinesexsüchtige suchen
Befriedigung in der virtuellen
Welt und haben kein Interesse mehr an realen Kontakten
zu ihren Mitmenschen.
G&G 10_2008
SERIE
Sexuali
t
21. Jah ät im
rhunde
rt
>A
sexualität
>S
ex und Gehirn
(G&G 4/2008)
(G&G 5/2008)
www.gehirn-und-geist.de
>P
rostitution
(G&G 6/2008)
> F etischismus
(G&G 7-8/2008)
> I nternetpornogra- > T
herapie sexueller
fie und -sexsucht
(G&G 10/2008)
Störungen
(G&G 11/2008)
57
Die Diagnose sollten nur Psychotherapeuten
oder Psychiater stellen, denen das Störungsbild
aus ihrer beruflichen Praxis vertraut ist
80 Prozent der Personen wiesen eine Paraphilie
auf, die Hälfte der Betroffenen war depressiv, 13
Prozent alkoholabhängig.
Das Besondere an der Onlinesexsucht besteht darin, dass bei ihr zwei Tätigkeiten mit
Suchtpotenzial kombiniert sind: Internetsurfen
und Sex. Bislang ist es Wissenschaftlern nicht
gelungen, diese neue Form der Abhängigkeitsstörung einheitlich zu definieren und allgemein
gültige Beurteilungskriterien festzu­legen. Das
Krankheitsbild ist noch zu neuartig und zu wenig erforscht. Klar ist lediglich: Die Diagnose Internetsexsucht sollten nur Psychotherapeuten
oder Psychiater stellen, denen das Störungsbild
aus ihrer beruflichen Praxis vertraut ist. Um
den Schweregrad der Abhängigkeit besser einschätzen zu können, sollte der Experte auch den
Familien- und Freundeskreis des Abhängigen
einbeziehen. Allerdings nur dann, wenn der Patient damit einverstanden ist.
Im Internet ist Sex rund um die Uhr verfügbar. Ladenschlusszeiten gibt es dort nicht. Das
Überangebot an Onlinesex verwirrt, betört, fasziniert, bedrückt. Wer bei Google das Stichwort
Sex eingibt, erhält 783 000 000 Links (Suche
am 14. 08. 2008). Ein gigantisches Verführungspotenzial.
Vom heimischen Computer oder vom Handy aus kann jeder Surfer auf Erotik-Inhalte zu-
Diagnostische Kriterien für paraphilieverwandte Störung
und sexuelle Sucht
ó Die Betroffenen haben über einen Zeitraum von mindestens sechs
Monaten wiederkehrende Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien oder
Verhaltensweisen zu kontrollieren.
ó Die sexuellen Fantasien und Verhaltensweisen gehen einher mit
exzessiver Masturbation, gesteigerter Promiskuität sowie Pornografie,
Telefon- oder Cybersex.
ó Die sexuellen Fantasien und Handlungen führen zu Einschränkungen in
sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen.
ó Die Störung ist nicht Folge einer körperlichen Erkrankung.
58
(nach Briken, Hill und Berner, 2005)
greifen. In Zeiten der Flatrate kann er unbegrenzt Zeit im Netz verbringen und zahlt dafür
einen festen, mittlerweile geringen Betrag.
Der Sexualwissenschaftler Al Cooper von der
Stanford University in Kalifornien bezeichnet
das Internet aus diesem Grund als »Triple-A-­
Engine«. Die Maschine mit den drei »As« weist
diese verführerischen Eigenschaften auf: Sie ist
für fast jeden leicht zugänglich (accessibility),
der Zugang ist günstig (affordability) und der
Nutzer bleibt anonym (anonymity). Anonymität ist das große Plus der »Verführungsmaschine Internet« und der Garant dafür, dass der User
seine Vorlieben und Wünsche viel leichter äußern kann als in einer echten Beziehung.
Virtuell verführt
Jeder Gelegenheitssurfer weiß, wie schnell online verbrachte Zeit verstreicht und wie schwer
es ist, sich von der virtuellen Welt der unendlichen Möglichkeiten zu trennen. Kommt dann
noch die Verlockung sexueller Inhalte dazu,
wird aus Gewohnheit schnell Sucht. Das dauernde Betrachten von Sexbildern und -filmen
führt bei manchen Menschen zu einer Abstumpfung: Der tausendfach gesehene Akt
langweilt irgendwann nur noch. Ein neuer Reiz
muss her! Ähnlich wie ein Alkohol- oder Niko­
tinabhängiger muss auch ein Internetsex­
süchtiger die Dosis nach und nach steigern – er
benötigt ständig neue Stimuli. Bekommt er sie
nicht, empfindet er Unruhe, Angst oder ein Gefühl von Leere.
Auf dem Höhepunkt seiner Sucht angelangt,
interessierte sich Oliver für nichts anderes mehr
und blendete die negativen Konsequenzen aus,
die seine Sucht nach sich zog – zum Beispiel,
dass seine Freundin nicht damit klarkam, nur
an zweiter Stelle hinter den »Onlineprostituierten« zu stehen. Olivers Freundeskreis schrumpf­
te immer weiter. Die ewig neuen Reize aus der
virtuellen Welt waren ihm wichtiger als alles andere. Selbst den drohenden Verlust seines Studienplatzes nahm er in Kauf. Er tat das natürlich
nicht freiwillig; er konnte nicht anders. Das Internet hat ein größeres Suchtpotenzial als andeG&G 10_2008
re Medien; seiner Sogwirkung können sich viele
Menschen nicht entziehen. Schätzungsweise
vier bis zehn Prozent der Nutzer erfüllen heute
die Kriterien einer Sucht. Laut einer Untersuchung der Psychologin Silvia Kratzer von der
Universität Augsburg aus dem Jahr 2006 verbringen Internetsüchtige 32 Stunden in der Woche im Netz – beinah ein Vollzeitjob. Meist liege
der Internetsucht ein anderes Leiden zu Grunde, wie Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Alkohol- oder
Drogenabhängigkeit, meint Kratzer.
Eine Untersuchung an 9256 nordamerikani­
schen Internetnutzern ergab, dass ein Prozent
von ihnen unter einer zwanghaft-suchtartigen
Internet-Sexualität leidet, wie Al Cooper und
seine Kollegen feststellten. Die Betroffenen verbringen durchschnittlich elf Stunden pro Woche mit Onlinesex. Für diese Menschen ist eine
Internetflatrate so gefährlich wie für den Alkoholsüchtigen ein Gratis-Zapfhahn im Schlafzimmer.
Die Soziologen Martin Barron und Michael
Kimmel von der Stony Brook University in New
York fanden im Jahr 2000 heraus, dass Sexdarstellungen im Netz gewalttätiger sind als in herkömmlichen Medien. Erzwungener Sex würde
im Netz häufiger gezeigt als auf DVD oder im
Fernsehen. Möglicherweise macht das Internet
viele Menschen aus diesem Grund besonders
süchtig: weil es ihnen bei Bedarf den härteren
»Stoff« liefert. Nach den Erkenntnissen des klinischen Psychologen John Bancroft von der Indiana University in Bloomington bietet das Netz
mehr Freiräume als andere Medien für ungewöhnliche und riskante Sexualpraktiken.
Sex im Internet hat jedoch viele Gesichter.
Die Gemeinschaft der User ist bunt und kreativ:
Die einen drehen Videoclips, verschicken Nacktbilder oder durchstöbern Kontaktbörsen. Die
andern chatten mit potenziellen Partnern oder
flirten via Webcam mit Gleichgesinnten am
­anderen Ende der Welt. Sie praktizieren, was
Psychologen »Cybersex« nennen. Die Internet­
forscherin Nicola Döring von der Technischen
Universität Ilmenau versteht darunter eine
»computervermittelte zwischenmenschliche
Interaktion, bei der die beteiligten Personen offen sexuell motiviert sind, also sexuelle Erregung und Befriedigung suchen, während sie einander digitale Botschaften übermitteln«.
Beim Cybersex tauschen zwei oder mehrere
Personen ihre sexuellen Bedürfnisse und Fan­
tasien aus. Sie schreiben gemeinsam an einer
großen Lovestory, in der sie selbst die Haupt­
www.gehirn-und-geist.de
akteure sind. Das Ganze beinhaltet häufig eine
Mischung aus Erotik und Pornografie. Beim
­Cybersex geben Menschen ihre geheimsten
Sehnsüchte preis – und bleiben doch anonym.
Darin liegt der Reiz. Die »Cybersexer« schreiben
sich Liebesbriefe, mal romantisch-verklärte, mal
versaute. Sie kommen sich ganz nah, ohne einander zu kennen. Sie lieben sich, ohne einander zu begegnen. Das klingt paradox, ist aber
ganz real – zumindest im World Wide Web.
Doch nicht alle Internetnutzer wollen lediglich über Sex schreiben. Viele wollen nackte
Haut sehen. Das sind die Internetpornografen –
sie verfassen keine Texte, sie konsumieren Bilder. Wie Cooper festgestellt hat, bevorzugen
Männer pornografische Bilder und Filme, während Frauen eher Sex-Chats pflegen. Frauen, so
Cooper, wollen über Sex reden, Männer wollen
Sex sehen.
Aus dem Web in die Welt
Die Internetpornografie spielt sich ausschließlich im Virtuellen ab, der Cybersex hingegen
schlägt eine Brücke zum realen Leben. Denn
Sex-Chattern ist es jederzeit möglich, ihre Anonymität aufzugeben und ihre Online-Sex-Story
in der Realität weiterzuschreiben. Die »Cyber­
sexer« entscheiden selbst darüber. In gewisser
Weise definieren sie, was wirklich ist und was
nicht. Alles kann, nichts muss, so lautet eine
häufig zu findende Formel, wenn es um die Liebe im Netz geht.
Experten mahnen: Ob Pornobildchensammler oder Sex-Chatter – potenziell suchtgefährdet
sind alle. Nirgends liegen Lust und Frust so nah
beieinander wie im Netz. Nach Schätzungen
von Fachleuten hat sich bereits jeder dritte Internetnutzer schon einmal Sexseiten angesehen. Onlinesex törnt den Großstadtsingle genauso an wie den Familienvater. So sehr, dass
viele User während des Surfens masturbieren.
Das Internet stimuliert; es hilft dabei, autosexuelle Handlungen zu vollziehen.
Das einschlägige Bildmaterial kommt dabei
aus der ganzen Welt. Die Galerie der nackten
Tatsachen ist endlos und erneuert sich ständig
von selbst. Digitalkamera und Onlinezugang vo­
rausgesetzt, kann jeder Mensch tausende Bilder
von sich und seinem Körper ins Netz stellen –
die Krankenschwester in Stockholm ebenso wie
der Dachdecker in Buenos Aires.
Das Internet globalisiert die Lust. Und die
Menschen vermarkten ihre Sexualität. Alte
Grenzen lösen sich dadurch auf: Der Bilderproduzent konsumiert, und der Konsument produ-
Fragen zur
Selbstdiagnose
1. Verbringen Sie selbst
mehr Zeit, als Sie möchten,
mit Sex im Internet?
2. Sind Sie je von jemand
anderem dabei ertappt
worden, wie Sie Material
sexuellen Inhalts auf
Ihrem Computer angeschaut haben?
3. Wollten Sie Ihre sexuelle
Betätigung im Internet
beenden, haben es aber
bislang nicht geschafft?
4. Brauchen Sie inzwischen
immer anschaulichere
oder extremere sexuelle
Bilder oder Kontakte, um
den gleichen Grad an Lust
zu erreichen?
5. Haben Sie jemals
pornografische Inhalte im
Internet konsumiert,
obwohl Sie in derselben
Zeit auch mit Familie,
Freunden oder dem
Partner hätten zusammen
sein können?
6. Wenn Sie nicht online
sind, denken Sie dann
daran, wieder online zu gehen, um Sex-Webseiten zu
besuchen oder sexuelle
Kontakte herzustellen?
7. Haben Sie durch Ihr
sexuelles Verhalten im
Internet Probleme mit
Familie, Freunden, dem
Partner oder dem Arbeitgeber bekommen?
(nach: »Online Sexual Addiction
Questionnaire« (OSA-Q) von
D. E. Putnam, 1999.
Der komplette Fragebogen
umfasst 24 Fragen. Wenn Sie
fünf davon mit Ja beantworten,
liegt mit großer Wahrscheinlichkeit eine Onlinesexsucht vor.)
59
Für Internetsexsüchtige
ist eine Flat­
rate so
gefährlich
wie ein
Gratis-Zapfhahn für
einen Alko­ho­liker
60
ziert. Feste Rollenverteilungen existieren nicht
mehr. Sex ist die am meisten nachgefragte Ware
im Netz. Kommerzielle Anbieter verkaufen Sex
und verdienen damit Millionen. Ähnlich wie in
einer Peepshow auf der Reeperbahn bezahlt der
Internetgaffer »Eintritt«, um fremde Körper zu
begaffen.
Das Potenzial des Mediums Internet reicht
aber noch weiter. Es verkuppelt Menschen auf
einem globalen Markt. Wer beispielsweise einen
Bettgenossen aus Irland kennen lernen will,
wird auf den entsprechenden Partnerschafts­
seiten innerhalb von fünf Minuten fündig. Unzählige Steckbriefe von Paarungswilligen sind
im Netz hinterlegt.
Bei der Suche nach Flirt- und Sexpartnern
entscheiden die Surfer selbstständig, ob sie global oder lokal suchen. Sie können ganz nah an
ihre Heimatregion heranzoomen oder den Fokus weit stellen. Auf der einen Seite steht ihnen
ein Partner-Pool aus der ganzen Welt zur Ver­
fügung; auf der anderen Seite ist es ihnen via
­Internet möglich, Menschen aus der Nachbarschaft kennen zu lernen.
Globalisiertes Liebesleben
Ähnlich wie bei E-Bay wächst zwar der globale
Markt, doch die lokalen Netzwerke sterben nicht
aus. Sie dienen dazu, schnell echte Bekanntschaften zu knüpfen. Viele Seiten werben denn
auch mit Slogans wie: »Realkontakte noch heute.« Das Internet ist beides – heimelige Provinz
und große weite Welt. Als was es sich entpuppt,
entscheidet allein der Nutzer.
Der Soziologe Arne Dekker vom Hamburger
Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie bezeichnet das Internet als »eine
Art elektronischen Spiegel, der die Utopie des
virtuellen Raums mit dem realen verbindet«.
Sex entsteht im Kopf. Deshalb ist es schwer,
überhaupt zwischen real und virtuell zu unterscheiden. Schließlich ist alles real, was sich im
Kopf eines Menschen abspielt: Fantasie- und
Gedankenwelten sind fester Bestandteil der
­Lebenswirklichkeit. Das Internet vereint Nähe
und Dis­tanz. Es erfindet und verschleiert Identitäten. Sich viele Online-Ichs zuzulegen, ist
eine besondere Form, sich zu anonymisieren.
Im Schutz zahlreicher Decknamen leben viele
User ihre Sucht aus – unerkannt und uneingestanden.
Wie können Therapeuten den Betroffenen
helfen? Erste Behandlungsprogramme gegen
Internetsexsucht stammen aus den USA und
sind an die Therapie von Spiel- oder Sexsucht
angelehnt. Die Logik dieser Therapie: Zunächst
soll sich der Süchtige bewusst machen, wie problematisch sein Pornokonsum ist und wie wichtig es für ihn wäre, etwas dagegen zu tun. Das
beginnt etwa damit, den Internetzugang abzumelden oder Schutzprogramme zu installieren,
die einschlägige Webangebote blockieren. Wie
bei einem Alkoholiker lautet die Vorgabe Abstinenz. Wenn überhaupt, dann soll ein Patient das
Internet zunächst nur noch am Arbeitsplatz
nutzen.
Ist dieses Ziel erreicht, kann der Süchtige damit beginnen, wieder einen »normalen« Umgang mit der eigenen Sexualität und dem Verführungsmedium Internet zu entwickeln. Kontrollierter Umgang lautet das Gebot! Das
bedeutet für den Betroffenen: Er muss nach
reizvollen Alternativen zum Internet suchen.
Während der gesamten Behandlung achtet
der Therapeut auf etwaige andere psychische
Leiden, die mit der Sucht in Verbindung stehen
könnten. Das ist wichtig, weil die Erfahrung
zeigt, dass Internetsexsüchtige häufig an anderen psychischen Störungen leiden wie etwa
Zwangs- oder Angststörungen. Außerdem ist
bei ihnen nicht selten die Impulskontrolle beeinträchtigt und die Persönlichkeit gestört.
Einige Internetsexsüchtige sind pädophil
veranlagt, wie Studien belegen. Bei ihren sexuellen Aktivitäten im Netz ist es Pädophilen möglich, virtuelle Identitäten anzunehmen. Nicht
nur in Chat-Texten und Mails können sie beliebig viele Rollen durchspielen, auch mittels
Sprachverfremdung und Bildbearbeitung können sie sich in eine ganz andere Person verwandeln. Manche von ihnen suchen mit über 50
Profilen gleichzeitig nach Kontakten.
Besonders gefährlich wird es dann, wenn Pädophile die Identität eines Kindes annehmen,
um sich Minderjährigen anzunähern oder um
herauszubekommen, wo ein Kind wohnt und
wann es das nächste Mal auf den Spielplatz geht.
Tatsächliche Übergriffe sind jedoch selten, wie
G&G 10_2008
Wer bei Google das Stichwort Sex eingibt,
erhält 783 000 000 Links.
Ein gigantisches Verführungspotenzial
eine Studie des Soziologen David Finkelhor von
der University of New Hampshire aus dem Jahr
2004 beweist. Finkelhor und sein Team befragten 1501 Jugendliche im Alter zwischen 10
und 17 Jahren. 19 Prozent der Befragten, so das
Ergebnis der Studie, berichten zwar davon, im
Internet bereits sexuell belästigt worden zu
sein; kein Jugendlicher wurde jedoch außerhalb
des Netzes sexuell attackiert.
Das Internet ist ein Netzwerk für alle – leider
auch für Pädophile. Allerdings setzt bei Weitem nicht jeder pädophil veranlagte User seine
Fantasien in die Tat um. Dennoch geht vom
­Internet eine Gefahr aus: Sexualstraftäter nehmen im Web Kontakt zu potenziellen Opfern
auf oder vernetzen sich untereinander. Sie tauschen kinderpornografische Inhalte aus und
planen mitunter auch ihre sexuellen Übergriffe
online.
Die Täter fühlen sich sicher
Die Angst, erwischt zu werden, ist unter Tätern
nicht besonders groß. Zwar ist das Internet für
den versierten Fachmann längst nicht mehr anonym. So gelingt es der Polizei immer wieder,
Händler illegaler Pornografie zu ermitteln und
Speichermedien zu beschlagnahmen. Doch in
der schier unendlichen Weite des Netzes können Täter leicht fliehen, da es zumeist an Ka­
pazitäten fehlt, das beschlagnahmte Material
schnell auszuwerten.
All diese Merkmale der »Triple-A-Engine«
fördern den suchtartigen Konsum und die Produktion von Internetpornografie.
Bei Personen, die illegale Pornografie konsumieren, gestaltet sich der Ausstieg aus der Sucht
besonders schwierig. Die Täter bagatellisieren
ihr Verhalten häufig mit Ausreden wie »Solche
Fotos sind doch sowieso im Netz« oder »Ein
Nacktfoto schadet keinem Kind«.
Diese Menschen müssen lernen, sich in ihre
Opfer einzufühlen, indem sie deren Perspektive
einnehmen und sich fragen: Was geschieht mit
der Psyche eines Kindes, das Pornografen ausbeuten?
www.gehirn-und-geist.de
Liegt eine schwere Sucht vor, setzen Psychiater manchmal Medikamente ein, etwa Selektive
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI).
Die­se Substanzgruppe hat sich bei der Behandlung von Depressionen, Ängsten und Zwängen
bewährt. Seit Anfang der 1990er Jahre wird sie
von Ärzten verwendet, um die Symptome von
Sexsüchtigen abzumildern. Doch trotz aller bisherigen Behandlungserfolge suchen Forscher
immer noch nach der idealen Therapie.
Das Internet hat eine neue sexuelle Revolu­
tion ausgelöst – so wie seinerzeit die Antibabypille. Mediziner und Psychologen müssen darauf reagieren, indem sie wirksame Therapien
für Süchtige entwickeln. Noch liegen keine umfangreichen Evaluationsstudien darüber vor,
wie gut es bisher gelingt, diese neue Suchtform
zu heilen. Die Störung ist nach wie vor wenig erforscht. Erschwerend kommt hinzu, dass viele
Süchtige keine Hilfe suchen, wie Psychiater beklagen: Über Sexsucht werde nicht geredet, die
Scham sei zu groß.
Neben zahlreichen Chancen birgt das Internet auch Risiken. Darin gleicht es jeder anderen
innovativen Großtechnologie. Eine der gravierendsten Gefahren ist zweifelsohne das Suchtpotenzial der Maschine mit den drei As – zu denen im Deutschen noch ein viertes hinzukommt: A wie abhängig machend!
Der 19-jährige Gymnasiast Oliver hat das zu
spüren bekommen. Er ist abhängig geworden –
vom Internet und vom Sex. Nun muss er im
Zuge einer Psychotherapie lernen, wie sich das
eigentlich anfühlt: ein Leben ohne Onlinesex.
Sein Therapieziel hat er selbst formuliert: Wieder sexuell begehren zu können, jenseits des
World Wide Web. Ÿ
Literaturtipps
Briken, P. et al.: Diagnosis and
Treatment of Sexual Addic­
tion: A Survey among Ger­
man Sex Therapists. In: Sexu­
al Addiction & Compulsivity.
Nr. 14, S. 131 – 143, 2007.
Carnes, P.: Out of the Sha­
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Eichenberg, C.: Klinische Psy­
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Manning, J. C.: The Impact of
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Marriage and the Family: A
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Sexual Addiction & Compul­
sivity 13, S. 131 – 165, 2006.
Roth, K.: Sexsucht. Krankheit
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Ch. Links, Berlin 2007.
weblinks
www.onlinesucht.de
Homepage des ersten
deutschen Vereins zur Hilfe
Onlinesüchtiger. Infor­
mationen, Links und Online­
beratung
www.sexhelp.com
Nikolas Westerhoff ist promovierter Psychologe und
Informationen und Selbst­
Redakteur bei G&G.
test in englischer Sprache
Beim Verfassen dieses Artikels wurde er wissenschaft­
www.golem.de/0804/
lich beraten von den Psychiatern Andreas Hill, Peer
58932.html
Briken und Wolfgang Berner. Sie arbeiten am Institut
Film über Anhörung zu
für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des
Onlinesüchten im Bundestag
Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
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