Geof Vasseur www.geof-vasseur.net [email protected] Berlin 2008 Musik und Politik in Zeiten politischer Transition Der Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung: eine Analyse am Beispiel Westafrikas Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 INHALTSVERZEICHNIS Teil I : Einleitung ................................................................................................3 Teil II: Erfassung des Verhältnisses von Musik und Politik.................................7 II.1: Eine Desozialisierung von Musik ?.................................................................8 II.2: Forschungsstand............................................................................................10 II.2.a: Die Musikwissenschaften und die populäre Musik...........................12 II.2.b: Das Paradigma der Musiksoziologie.................................................17 II.2.c: Die kulturwissenschaftliche Sicht......................................................20 II.3: Entwurf eines Forschungsansatzes .............................................................23 II.3.a: Methodologie der Wirkungsforschung kultureller Praxis .................25 II.3.b: Das Beispiel der Reggae-Musik auf Jamaika ...................................27 II.3.b: Zwischenfazit ....................................................................................33 Teil III: Die politische und kulturelle Dekolonisierung Westafrikas..................34 III.1 Dekolonisierung und kulturelle Identität.....................................................36 III.1.a: Staats- und Identitätsbildung............................................................37 III.1.b: kulturelle Assimilation und kulturelle Selbstbefreiung ...................39 III.1.c: Der Künstler als Agent der kulturellen Befreiung ? ........................40 III.2: Sonderbeispiel Westafrika ? ......................................................................42 III.2.a: Traditionelle Funktion und Funktion von Tradition.........................44 III.2.b: Von Griots und Musikbeamten .......................................................46 III.2.c: Musik und Kulturpolitik im postkolonialen Westafrika...................48 III.3: Entstehung und Entwicklung der populären Musik ................................52 III.3.a: Dekolonisierung und fünfziger Jahre ...............................................52 III.3.b: Verwestlichung des Afrikanischen oder Afrikanisierung des Westlichen ?.................................................................................................55 III.3.c: Zwischenfazit : ein neues afrikanisches Bewusstsein ? ..................61 Teil IV: Musik und politischer Prozess im gegenwärtigen Westafrika ..............64 IV.1 : Interaktionen zwischen Musik und politischem Prozess .........................65 IV.1.a: Konkrete Beispiele der sozialen Reflexion und Mobilisierung durch Musik............................................................................................................68 IV.1.b: Die Verbreitung von kritischer Musik in autoritären Staaten..........73 IV.2: Rezeption von populärer Musik .................................................................74 IV.2.a: Populäre Musik als Bestandteil der afrikanischen Medienlandschaft ? ......................................................................................75 IV.3: Sozialpolitische Wenden durch Musik ? Das Beispiel Senegals................79 TEIL V: FAZIT...................................................................................................82 Quellenverzeichnis..............................................................................................84 Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 Musik und Politik in Zeiten politischer Transition: Der Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung : eine Analyse am Beispiel Westafrikas Teil I : Einleitung Dass Musik eine soziale Wirkung haben kann, ist in Gesellschaft und Wissenschaft alles andere als unumstritten. Als ich mit den Forschungsarbeiten für diese Analyse anfing, ist mir bei Einsicht in die Sekundarliteratur aus Musik- und Kulturwissenschaften klar geworden, dass dieser Aspekt von Musik und musikalischer Praxis, nämlich ihre Verbindung zu gesellschaftlichen Prozessen, gerade seit der Verbreitung der so genannten „populären“ Musik in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts heftig debattiert wird. Was für mich als aktiver Musiker eine Selbstverständlichkeit war -Musik könne in bestimmter Weise auf gesellschaftspolitische Prozesse einwirken- hat sich als ein Postulat herausgestellt, dessen Erläuterung aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine beträchtliche Herausforderung darstellt. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung in Afrika steht die Erkundung des Verhältnisses von Musik als Kunstund Ausdrucksform und von Politik als ein Komplex gesellschaftlicher Prozesse, der sich über Interessenbildung, Einflussnahme und Entscheidungen gestaltet. Bevor man sich dem afrikanischen Kontinent und seinen vielen Besonderheiten widmen kann, ist daher der Versuch unumgänglich, diese Verbindung von Musik und musikalischer Praxis zu gesellschaftspolitischen Prozessen zu erfassen, sowie die Debatte darzustellen, welche über dieser Frage schwebt; Eine Debatte, die, obwohl sie im Laufe der Jahre zwischen Musik-, Sozial- und Kulturwissenschaften zum Selbstläufer wurde, die Vielfältigkeit und Komplexität der Modalitäten von musikalischer und politischer Praxis sowie ihre zahlreichen Berührungspunkte zu Tage gebracht hat. Warum Musik ? Der erwähnte wissenschaftliche Streit fängt schon bei dem Versuch an, Musik zu definieren. Das, was Klang zu Musik macht, ist jener Prozess der Komposition, Produktion und Rezeption, der je nach fachlichem Analyseschwerpunkt sehr unterschiedlich gedeutet werden kann. So gibt es keine übergreifende Definition von Musik: Vielmehr ist die Wahrnehmung von Musik aus wissenschaftlicher Sicht stark fach- und diskursabhängig. Daher soll im ersten Teil dieses Aufsatzes anhand einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursen zum Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 Thema Musik und Gesellschaft das Verständnis von Musik skizziert werden, welches meine Analyse begleiten wird. Erst einmal gilt, dass der Fokus der Analyse nicht so sehr auf Musik als auf musikalische Praxis liegt, jene Aktivität, die ihr Wesen sowohl aus dem eigenen Streben nach künstlerischem Ausdruck als auch aus einem zwischenmenschlichen sozial- und gesellschaftsstrukturierten Prozess zieht. Allein die Aussage, dass Musik sozial strukturiert ist, stellt einen anscheinend gewagten wissenschaftlichen Schritt dar. Dennoch wird hier nicht untersucht, ob Musik in Verbindung zu gesellschaftspolitischen Prozessen gebracht werden darf -das haben die Musikwissenschaften- und Soziologie bereits seit fünf Jahrzehnten gemacht- sondern wie musikalische Praxis und gesellschaftspolitische Prozesse aufeinander einwirken. Letzteres wirft die ebenso umstrittene Frage nach der sozialen Wirkung einer kulturellen Praxis auf, eine Frage, die in Bezug auf populäre Musik ebenfalls stark diskutiert worden ist. Der Begriff von „populärer“ Musik, der in Europa und Nordamerika in Abgrenzung zu klassischer, ernster oder „Art Music“ definiert wird und primär Unterhaltungszwecken dient, lässt sich nicht ohne weiteres auf Afrika übertragen. Ich werde auf die Highlife und jenen Musikrichtungen eingehen, die sich seit der Dekolonisierung anhand vieler Einflüsse in Westafrika entwickelt haben. Sie lässt sich insofern als populär bezeichnen, als dass sie sich an ein möglichst breites Publikum richtet und über (massen)mediale Kommunikationskanäle verbreitet wird (Rundfunk, Fernsehen, Musikindustrie). Gerade das Verhältnis von populärer Musik (etymologisch als „Musik des Volkes“ zu deuten) zur Gesellschaft, in der sie stattfindet und verbreitet wird und die Funktion und Bedeutung dieser Musik wurden bereits von Musik- und Kulturwissenschaften thematisiert. Bevor dies ausführlicher dargestellt wird, gilt erst einmal, dass die Deutung der sozialen Wirkung von populärer Musik zunehmend von gesellschaftspolitischen Kontexten abhängig gemacht wird. So scheint zur Erfassung der sozialen Wirkung einer kulturellen Praxis die Thematisierung des gesellschaftspolitischen Kontextes von grundlegender Bedeutung zu sein. Dieser Rückblick auf die erwähnten wissenschaftlichen Diskussionen ist nicht ohne Vorteil für die vorliegende Analyse: Er bietet sowohl die Möglichkeit einer präzisen Eingrenzung des Verhältnisses von musikalischer und politischer Praxis an, als auch eine Vielfalt an methodischen und theoretischen Ansätzen und Analysemustern, die möglicherweise auf afrikanische Gegebenheiten übertragen werden können. Die Tatsache, dass es sich hier um Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 einen politikwissenschaftlichen Beitrag handelt, macht des weiteren eine Überwindung der Diskurse möglich, die diese Debatte prägen, und stellt einen für die Politikwissenschaften hoffentlich innovativen und fruchtbaren Forschungsgegenstand dar: Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung, Funktion und Wirkung von musikalischer Praxis (die sowohl Musik als auch Künstler und Zuhörerschaft einbindet) in sich konstituierenden politischen Systemen. Warum Westafrika ? Das Beispiel Westafrika bietet sich aus vielen Gründen an: Ausgehend von der Tatsache, dass im Zuge der Kolonialisierung Afrikas und der einhergehenden kulturellen Assimilation die Identität und das gesellschaftspolitische Bewusstsein afrikanischer Gesellschaften tiefgehend verstört wurden, bietet gerade Westafrika und insbesondere die Mandingo- Region ein fruchtbares Analysefeld zur Untersuchung der Berührungsflächen zwischen Musik und dem gesellschaftspolitischen Prozess. Einer der Ausgangspunkte meiner Gedanken ist, dass in westafrikanischen Gesellschaften der Kunst und insbesondere der Musik eine besondere gesellschaftliche Funktion zugeschrieben wird, die sich in vielerlei Hinsicht von den „westlichen“ Wahrnehmungsweisen und wissenschaftlichen Abhandlungen über populäre Musik unterscheiden lässt. Dabei wird sowohl auf die Bedeutung von traditioneller musikalischer Praxis als auch auf die oft hervorgehobene Widerstands- Aufklärungsfunktion der Musik und in der Auseinandersetzung mit der Kolonialherrschaft hingewiesen. Eine weitere Hypothese bezieht sich auf die kulturelle Identität afrikanischer Gesellschaften. Dabei wird angenommen, dass sich afrikanische Gesellschaften in einem Konflikt zwischen eurochristlichen und traditionellen afrikanischen Kulturmodellen und Wertesystemen befinden und dass für diese Gesellschaften der Bedarf besteht, diesen Konflikt zu überwinden und ein eigenständiges afrikanisches Bewusstsein zu bilden. Anhand der Darstellung unterschiedlicher musikalischer Produktionen wird im Teil III des Beitrages hinterfragt, inwiefern dieser Wertekonflikt und das daraus folgende Streben nach eigenständiger Wertenbildung sich in gegenwärtigen afrikanischen künstlerischen Produktionen, sei es in Form oder Inhalt, erkennen lässt. Anhand der Thematisierung gegenwärtiger westafrikanischer gesellschaftspolitischer Prozesse und der Analyse von künstlerischen Produktionen wird schließlich untersucht, inwiefern gegenwärtige westafrikanische Musik ein neues afrikanisches Bewusstsein in sich birgt. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Warum die politische Bewusstseinsbildung ? Der Begriff „politisches Bewusstsein“ hat meines Erachtens eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die gegenwärtigen Gesellschaften Westafrikas. Durch unterschiedliche Faktoren wie die Dekolonisierung und die wachsende Distanzierung zu ehemaligen Kolonialmächten, durch die Auflösung der bipolaren Weltordnung und die Entwicklung der globalen Wirtschaftsordnung stehen afrikanische Länder vor neuen Herausforderungen, insbesondere hinsichtlich ihrer Positionierung in dieser neuen Weltordnung. Diese Herausforderungen und das Streben vieler afrikanischer Länder nach eigenständiger Entwicklung und Identitätsbildung lassen sich anhand von Großprojekten wie der Aufbau der Afrikanischen Union (AU) oder die New Economic Partnership for African Development (NEPAD), anhand der Stellungnahmen zur Reform der Vereinten Nationen (UN) oder der wachsenden Kooperation mit emergierenden Wirtschaftsmächten sehr gut beobachten. Wenn sich die Hypothese in der Analyse bestätigen lässt, dass musikalische Praxis eine gestaltende Rolle in der politischen Bewusstseinsbildung in Westafrika verliehen wird, stellt sich demnach die Frage, ob diese Aussage ebenfalls in Hinsicht auf die neueren politischen Entwicklungen zutrifft. Ich habe eben bewusst jene Brücke zwischen musikalischer Praxis und politischem Prozess geschlagen, die in der Wissenschaft so strittig ist: Selbst wenn sich ein neues gesellschaftspolitisches Bewusstsein in der musikalischen Praxis erkennen lässt, sagt dieses nicht sogleich etwas über ihre konkrete Wirkung auf gesellschaftspolitische Prozesse aus. Zweifellos erfordert die Durchleuchtung dieses Paradigmas eine empirische Untersuchung, die hoffentlich andere nach mir ausführlicher durchführen werden. So wird schließlich neben der methodischen Auseinandersetzung mit dieser Problematik, neben der Analyse von Musikproduktionen und biographischen Recherchen über einflussreiche Künstler anhand von Auszügen aus Interviews mit Künstlern und Persönlichkeiten versucht, bestimmte Aspekte der Wirkung von musikalischer Praxis in Westafrika ausfindig zu machen, die, wenn nicht in Anspruch genommen werden soll, dass sie allgemeine Aussagen über die Wirkung von Musik auf politische Prozesse enthalten, bestimmte Aspekte des Beitrags von Musik zur politischen Bewusstseinbildung in Westafrika zu Tage bringen können. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Teil II: Erfassung des Verhältnisses von Musik und Politik In wissenschaftlichen Kreisen herrscht Einigkeit darüber, dass das Verhältnis von Musik und Politik, sei es in Musik- oder Sozialwissenschaften, unausreichend erforscht ist. Ein Grund dafür ist die progressive Verbreitung der Vorstellung, Musik und Politik entstammten zweierlei Welten und könnten daher nur schwer miteinander in Verbindung gebracht werden. Diese Vorstellung ist das Ergebnis eines Prozesses der Desozialisierung von Musik, der in Wissenschaft und Gesellschaft im Europa der Moderne stattgefunden hat. So wurde mit einer Tradition der Sozialwissenschaften gebrochen, die bis auf Plato zurückgeführt werden kann. In der „Republik“ räumte dieser der Musik und den Künsten eine wichtige Rolle zur Gestaltung und zur Wahrnehmung der sozialen Ordnung ein. In der Ethnologie wird Musik als fester Bestandteil des sozialen, religiösen und politischen Lebens der meisten Weltkulturen beobachtet. Es ist unumstritten, dass Musik bestimmte soziale Funktionen erfüllen kann, die je nach Zeit und Kultur variieren können. Aus dieser Erkenntnis kann eine Brücke zur politikwissenschaftlichen Analyse der Wirkungen von Musik auf politische Handlung und Akteure geschlagen werden. Doch dieses Thema bleibt weitgehend unerforscht. Einer der Ansprüche dieser Analyse besteht darin, einen bescheidenen aber entschlossenen Beitrag zur Rehabilitierung der Musik in den Politikwissenschaften zu leisten. Heutzutage gerät die soziale Gestaltungskraft der Musik zunehmend in den Mittelpunkt vieler wissenschaftlicher Beiträge. Zum besseren Verständnis gegenwärtiger Jugendkulturen, der Identitätsbildung ethnischer Minderheiten in Zuwanderungsgesellschaften oder in der Auseinandersetzung mit dem Widererstarken von Rechtsradikalismus wird die Rolle der Musik seit kurzem wieder hervorgehoben. Auch der „Populärmusikforschung“, ein durchaus marginaler Forschungsbereich, entnimmt man heute Aussagen zur Entschlüsselung der medialen Inszenierung von Politik, der allgemeinen Mediatisierung unserer Gesellschaft. Aus der Vielfalt der sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereiche, die versuchen, Musik als Indikator für gesellschaftliche Wandlungen zu berücksichtigen, müssen also Ansätze über die sozialwissenschaftliche Aussagekraft von Musik herausgeleitet werden. II.1: Eine Desozialisierung von Musik ? Musik hat eine unstreitbare soziale Wirkung. Es gehört zu den Zielen dieser Analyse, dies deutlicher zu belegen. Bevor nach Ansätzen gesucht wird, welche die soziale Wirkung von Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Musik thematisieren, lässt sich diese erste Feststellung erst einmal anhand einzelner Beispiele skizzieren: Die Geschichte der Musik ist geprägt von Versuchen, ihre soziale Wirkung willkürlich zu begrenzen oder unter Kontrolle zu bringen: die katholische Kirche, später auch die evangelische, unternahmen etliche Versuche, Formen nicht-kirchlicher Musik zu unterbinden. Ein etwas aktuelleres und doch ähnliches Beispiel ist das Verbot beinahe jeder Form von Musik unter dem Taliban-Regime, das von 1996 bis 1999 in Afghanistan herrschte. In der Bundesrepublik Deutschland unterliegen Musikinhalte einer strengen Kontrolle und können zensiert werden; bestimmte Musikrichtungen wie Heavy Metal oder Hardcore erwecken die Besorgnis vieler Pädagogen, die Verbreitung von Tonträgern in der rechtsradikalen Szene dagegen die der Polizei. So unterschiedlich diese Beweise auch seien, sie haben eines gemeinsam: sie zeigen, dass Musik durch die Emotionen und Wirkungen, die sie bei Hörern und Produzenten hervorruft - und die hat jeder schon gespürt - eine gewisse Macht hat1 (De Nora; 2003: 2). Ferner deuten diese Beispiele ebenfalls darauf, dass Musik ein Bestandteil etablierter sozialer Ordnung ist, der diese Ordnung mitgestalten oder gefährden kann. In dieser Hinsicht sind sich Musik und Politik sogar ziemlich ähnlich… Der Fehler, den es ist hier zu beheben gilt, besteht darin, Musik und Politik als zwei strikt getrennte Bereiche zu betrachten, die vereinzelt in Berührung kommen oder zu bestimmten Zwecken miteinander in Verbindung gebracht werden. Wichtig ist hier, die manichäische Vorstellung zu überwinden (Hans Lietzmann spricht von einem „romantischen Traum“), welche die Musik strikt als Gegenstand der Kunst in Abgrenzung zur Politik als Gegenstand der Herrschaftsausübung darstellt (Lietzmann, in Canaris; 2005: 48). Angesichts des raschen technischen Fortschrittes im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts, der mechanischen Reproduktion von Tonträgern, der weltweiten Verbreitung des Rundfunks oder des Internets und der Entwicklung einer massiven Musikindustrie, die wiederum auf eine wachsende Zuhörerschaft deutet, hätte man annehmen können, dass der Bedarf nach wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den sozialen und politischen Wirkungen von Musik ebenfalls steigen würde. Musik ist ein Gegenstand vieler wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, jedoch stellen die wenigsten von ihnen den Einfluss (power) in Frage, den Musik auf eine Gesellschaft haben kann (siehe Teil II.2). Um dies zu begründen, behauptet Tia De Nora in einem Band, der zu den wichtigsten Quellen dieser Analyse zählt, 1 De Nora spricht ferner in ihrem Aufsatz von „music’s social power“. Der englische Begriff von „Power“ lässt sich nur begrenzt im Deutschen durch Macht übersetzen. In Bezug auf Musik mag diese Übersetzung strittig sein. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 8 das Medium Musik sei in der Sozialwissenschaft zunehmend als passives erklärungsbedürftiges Objekt denn als aktiv gestaltende Kraft betrachtet worden (De Nora; 2003: 3). Ähnlich argumentiert Ute Cannaris in dem Vorwort zu ihrem Sammelband „Musik und Politik“ und schreibt, dass die „europäische Musik ihre bis dahin selbstverständlichen politischen und sozialen Kontexte verlassen“ hat und mit der Entstehung einer bürgerlichen Hochkultur zunehmend dem Kunstbegriff des Idealismus untergeordnet wurde, der besagt, Musik solle an erster Stelle dem Guten und Schönen dienen. So übernahm Musik laut Cannaris ab der Renaissance eine „gegenaufklärerische Funktion“, indem sie kontext- und bedeutungsfrei eine Ablösung vom niederem mittelmäßigen Leben ermöglichen sollte (Cannaris 2005: 23f). Dieses Verständnis der Musik als autonome Produktion und Selbstzweck hat sich in Wissenschaft und Gesellschaft durchgesetzt und hält zum Teil bis heute an (ebd: 26). Im Gegensatz zu diesem idealistischen Musikverständnis entstand eine extrem kontextuelle Musik, bestehend aus Freiheitsliedern und Hymnen der Arbeiterbewegungen, die anfangs die negativ geprägte Bezeichnung „politische Musik“ erhielt.2 Dieser Begriff, politische Musik, deutet genau auf jenes Verständnis, in dem Musik als etwas unpolitisches betrachtet wird, was von sozialen Strukturen und Ereignissen möglichst getrennt bleiben sollte. Dies mag dazu beigetragen haben, dass sich Musik weitgehend aus ihren sozialen Funktionskontexten herausgelöst hat und nur noch punktuell in Verbindung mit Politik gebracht wird. Auch für die Mehrheit der Menschen kommen Politik und Musik selten in Berührung. Musik wird heute gängig als Konsumgut oder als Freizeitbeschäftigung wahrgenommen. In der klassischen Musik oder im Jazz wird sie als absolute Kunst konsumiert oder produziert. Für die Anhänger der so genannten „populären“ Musik dient sie eher der Unterhaltung, der Entspannung oder der Möglichkeit der körperlichen Ausgelassenheit im Tanz (Dollase, in Frevel; 1997: 121). Das Politische wird vielen Menschen nur dann punktuell deutlich, wenn Idolen und Berühmtheiten sich politisch äußern oder gezielt politisch agieren, wie etwa bei Benefizkonzerten, Anti-Kriegsveranstaltungen oder Protesten aller Art. Selbst dann kann argumentiert werden, der Künstler agiere aus außermusikalischen Motiven, wobei eine Grenze zwischen dem Musikalischen und dem Politischen implizit gezogen wird. 2 Der Begriff von politischer Musik ist heute allerdings strittig: Jede Musik hat eine latente politische Dimension, die, je nachdem in welchem Kontext sie abgespielt wird, hervorgehoben werden kann (dazu mehr in Teil II.2) Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 9 In der Wissenschaft hat im Laufe des zwanzigsten Jahrhundertes ein ähnlicher Prozess stattgefunden: Musik als „abstrakte“ Kunst wurde vom sozialen Geschehen und somit von der sozialwissenschaftlichen Analyse getrennt (De Nora; 2003: 152). Indem Musik zunehmend als Kunstwerk oder als Produkt betrachtet wird, hat sie aus sozialwissenschaftlicher Sicht an Schärfe und Bedeutung verloren. Dagegen wird hier argumentiert, dass Musik aufgrund des verbreiteten Zuganges zu ihr (sei es durch Kommunikationswege wie Rundfunk, Fernsehen oder Internet) und des wachsenden Angebotes an Live-Musik und Musikproduktionsmitteln heute als Ausdrucksform und als gesellschaftliches Medium an Bedeutung und damit an sozialwissenschaftlicher Relevanz gewinnt und somit gesteigerter politikwissenschaftlicher Achtung bedarf. Doch die Politikwissenschaften scheinen ebenfalls von der Trennung zwischen Musik und Politik geprägt zu sein und viele der politikwissenschaftlichen Beiträge, die sich mit dem Verhältnis von Musik und Politik beschäftigen, stellen das Politische überwiegend als Musikmissbrauch im Kontext autoritärer Ideologien oder Machtausübung dar. In der Politikwissenschaft lassen sich zum Themenkomplex Musik und Politik kaum theoretische Ansätze finden, die an Stelle dieser restriktiven Bereichstrennung gerade die Berührungsflächen oder die möglichen Interaktivitäten der Gesellschaftsbereiche Musik und Politik erkunden, wie sie im Titel dieser Analyse suggeriert werden. Zu diesem Zweck sind Ansätze erforderlich, die zum einen die Musik eher als gesellschaftliches Medium denn als Selbstzweck und absolute Kunst betrachten und die zum zweiten die Musik systematischer mit gesellschaftlichen Wandlungen in Verbindung bringen. II.2: Forschungsstand Für die vorliegende Analyse stellt sich die Frage, auf welchen vorhandenen theoretischen Grundlage eine Analyse der Wirkung von Musik auf politische Bewusstseinsbildung in Westafrika basieren soll. Als erstes muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Themenkomplex Musik und Politik überwiegend von europäischen oder nordamerikanischen Musik- und Sozialwissenschaften und in Bezug auf heimische Phänomene thematisiert worden ist. So gehe ich auf die Gefahr ein, mich von dem eigentlichen Forschungsgegenstand ein wenig zu Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 distanzieren, um schließlich jene Versuche und Ansätze darzustellen, die heute das Theorieund Gedankengebilde zum Verhältnis von Musik und Gesellschaft bilden. Es ist fraglich, ob sich aus den dargestellten Ansätze Befunde herausleiten lassen, die unabhängig von den kulturellen Unterschieden der Bezugsregionen auf jede Form von Musik in jeder Form von Gesellschaft zutreffen könnten und aus politikwissenschaftlicher Sicht in Bezug auf Afrika geltend gemacht werden können. Das Verständnis von Musik und musikalischer Praxis und die Erfassung derer Wirkung auf gesellschaftspolitische Prozesse unterlegen dennoch einer erheblichen Komplexität, die in Abwesenheit von übergreifenden Definitionen erst einmal thematisiert werden soll, um eine analytische und begriffliche Betrachtungsweise überhaupt formulieren zu können. Zu diesem Zweck ist die Darstellung von Standpunkten aus den Musikwissenschaften, darunter der Popularmusikforschung, der Musiksoziologie, und bestimmten Sparten der Kulturwissenschaften durchaus nützlich. Diese Liste ist nicht ausführlich und, wenn bestimmte Methoden und Ansätze der einen oder anderen Fachschaft zugeordnet werden können, es darf nicht angenommen werden, dass diese Fachwissenschaften einheitliche Meinungen vertreten. Ebenso unausführlich ist die Abarbeitung der behandelten Themen. Es wird halt versucht, aus Beispielhaften wissenschaftlichen Beiträgen, die den verschiedenen Fachschaften untergeordnet werden, Ansätze, Erkenntnisse und Forschungsmethoden findig zu machen, die für die anschließende Untersuchung von Nutzen sein können. Aus diesen Bereichen lassen sich verschiedene Diskurse herausleiten, die sich unterschiedlich gut mit den Aufgaben dieser Analyse verbinden lassen. In den Musikwissenschaften zum Beispiel dominieren weiterhin die Strukturen der Musikgeschichtsschreibung, die vor allem den Schwerpunkt auf Werk und Musikerinnen legen (siehe dazu Wike, in Heuger 1997: 43 ). In der vorliegenden Analyse werden zwar Musik und Musikerinnen eingebunden, aber der Schwerpunkt darf nicht allein auf sie gesetzt werden, sondern muss auf ein Gesamtkomplex der Produktion, Rezeption und Wirkung von Musik erweitert werden, der auch die Gesellschaft, in der diese stattfinden, direkt einbindet. Wie es der Berliner Popularmusikforscher Peter Wike (HU) schreibt, hat „wohl kaum eine andere Frage vor allem akademisch gestimmte Gemüter in Sachen Musik ähnlich heftig bewegt wie diejenige nach den gesellschaftlichen Wirkungen gegenwärtiger „populärer“ Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 Musik, nach ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und sozialen Normen“. An der Stelle wird versucht, diese Diskussion anhand einzelner Positionen und Abhandlungsbeispielen wieder zu geben. II.2.a: Die Musikwissenschaften und die populäre Musik In seinem Aufsatz Rock gegen Rechts - Rock von Rechts beschäftigt sich der deutsche Musikwissenschaftler Rainer Dollase mit der Frage, wie und ob Rockmusik eine politische Bedeutung und Funktion haben kann (Dollase in Frevel 1997: 107-126). Dollases Aufsatz bezieht sich auf eine Reihe von Studien zur Rockmusik in Deutschland und Nordamerika, die zwischen den siebziger und neunziger Jahren verfasst wurden. Obwohl der Forschungsgegenstand von der hier relevanten Fragestellung ein wenig abweicht, ist dieser Aufsatz sowohl von methodischer als auch von inhaltlicher Relevanz und mag einzelne Anhaltspunkte bieten. Dollase bezeichnet populäre Musik als „Zeichensystem zur symbolischen Kommunikation“, So könne anhand eines vorbestimmten Zeichensystems die erwartete Wirkung bei Hörern generiert werden. Musik als „Folge von Schallwellen“ sei von Natur aus aussagenfrei und erhalte „im Laufe ihrer individuellen Rezeption gesellschaftlich und mutwillig eine politische Bedeutung“. So sei die Wahrnehmung von Musik als etwas Politisches aus psychologischlerntheoretischer Perspektive das Ergebnis eines Konditionierungsvorgangs, der sich in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft zunehmend beobachten lasse (ebd:109f). In dieser Hinsicht warnt Dollase davor, die (Rock-)Musik voreilig als politisch wirksam oder einflussreich zu betrachten, nur weil Liedertexte, Plattenhüllen oder Aussagen der Künstler oft politische Botschaften enthalten. Dabei argumentiert Dollase, dass die Bedeutung solcher Zeichensysteme überwiegend im personalen und sozialen Kontext der Rezeption entsteht und nicht der Musik zu entnehmen sind; so Dollase: „Generell ist es der Kontext von Produktion und Rezeption mehr als die Musik selbst, der Ansatzpunkte einer politischen Bedeutungsbildung offeriert“ (ebd: 111). So wird der Musik oft eine politische Wirksamkeit unterstellt, die sich kaum verifizieren lässt: „Die Etablierung eines rockmusikalischen Zeichensystem als politisch sagt über dessen Funktion, Bedeutung und Wirkung überhaupt nichts aus“ (ebd:116). Damit wirft Dollase eine für die vorliegende Analyse grundsätzlich relevante Frage auf: Bedeutet die politische Kommunikations- oder Vermittlungsfähigkeit mancher Musikrichtungen sogleich ihre politische Wirksamkeit? Sollte dies der Fall sein, muss diese Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 Wirksamkeit präzise erläutert werden. Dollase macht es nur insofern, als dass er sagt, politische Wirkung müsse auch konkrete politische Konsequenzen hervorrufen. Bevor eigene Stellungnahmen dazu formuliert werden, erscheint es mir erst einmal fraglich, ob das Verhältnis von Musik und Politik als kausal postuliert werden kann und soll. Fraglich ist zudem auch, ob politische Konsequenzen, was auch immer damit gemeint ist, überhaupt greifbar sind. Es ist in der Tat unwahrscheinlich, dass der öffentliche Erfolg eines Liedes, das sich zum Beispiel inhaltlich mit Rassentrennung auseinandersetzt, direkt zu einem Gesetzentwurf zur Aufhebung von Rassentrennung führt. Dennoch kann ein derartiger Erfolg eine gesellschaftliche Wandlung verkörpern, die sich wiederum als Druck oder zumindest als Handlungsaufforderung an politische Entscheidungsträger richtet und gegebenenfalls konkrete politische Folgen haben kann. Die Aussage, eine unterstellte politische Wirkung von Musik solle durch konkrete politische Konsequenzen bestätigt werden können, ist meines Erachtens unzureichend und trägt der Komplexität des politischen Prozesses und des Verhältnisses zwischen Musik und Politik nicht genügend Rechnung. Als Folge dessen stellt sich heraus, dass eine Untersuchung der politischen Wirkung von Musik die Thematisierung sowohl des politischen Entscheidungsprozesses als auch der betroffenen Gesellschaft erfordert. Die Musikwissenschaften, darunter auch die Popularmusikforschung, haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit der gesellschaftlichen Rezeption von Musik auseinandergesetzt und sich dabei überwiegend auf so genannte kontexttheoretische Ansätze gestützt, die der Psychologie oder der Soziologie entnommen werden. Dass musikalische Semantik weitgehend kontextabhängig ist, sollte hier nicht bestritten werden. Problematisch ist vielmehr, dass dieser Kontext oder die gesellschaftlichen Strukturen, die als Hintergrund zur Wahrnehmung von Musik dienen, als bloße, unverrückbare Gegebenheit dargestellt werden. Max Fuchs stellt in einem Aufsatz zur Popularmusikforschung fest, dass weniger die politischen Inhalte von Musik als Botschaft wahrzunehmen sind als die Formen, in denen sie verbreitet und wahrgenommen werden. So kann der Künstler, egal ob er politische Motive in seiner Handlung sieht oder nicht, kaum politischen Anspruch haben, solange er (kommerzielle) Medienkanäle nutzt und das politische oder altruistische Motiv stets mit kommerziellem und persönlichem Nutzen paart. Dies, so Fuchs, unterminiere die manchmal Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 erhoffte politische Wirkung von Musik von vornherein (Fuchs, in Rösing 1998: 15). Dabei stützt sich Fuchs analytisch auf Bourdieus Theorie der sozial-ästhetischen Segmentierung der Gesellschaft, nach der eine emanzipatorische Wirkung populärer Kunst beinahe ausgeschlossen sei, weil diese nur bereits existierende Strukturen reproduziert. An dieser Stelle lassen sich zwei typische Aspekte greifen, welche die Debatte um die Wirkung populärer Musik seit den sechziger Jahren geprägt haben. Erstens die für die Musikwissenschaften typische Verdinglichung der Musik: Musik wird als ein Selbstzweck dargestellt, von dem die Gesellschaft nach Bedarf Gebrauch machen kann. Aus diesem Paradigma hat sich eine Sicht der populären Musik entwickelt, in der Musik als Instrument der kapitalistischen und massenmedialen Gesellschaft dargestellt wird, das der Reproduktion von sozialen Strukturen und bestehender Machtverhältnisse dient. Hier lässt sich die marxistisch geprägte Sicht des Verhältnisses zwischen Kultur und Gesellschaft eindeutig erkennen, welche die Popularmusikforschung anfangs stark geprägt hat (Sheperd; 1991: 79ff/ Wike, in Heuger 1995). So wurden zahlreiche Parallelitäten zwischen der oft denunzierten Vereinfachung der musikalischen Praxis, der ständigen Reproduktion von pentatonischen Akkordfolgen, der Durchsetzung von viertaktigen Schemen und nicht zuletzt zwischen der Massenproduktion von Musik und dem Durchbruch der ebenfalls durch Massen- und Reproduktion geprägten kapitalistischen Gesellschaft festgestellt. Die Soziologie und die britischen Culture Studies haben dieses marxistisch geprägte Paradigma aufgefasst und zum Teil modernisiert. Wie es Fuchs selbst einräumt, nachdem er sich mit Bourdieus Position auseinandersetzt, „steht dieses Zwischenergebnis [populäre Musik diene nur der Reproduktion von bereits bestehenden Machtstrukturen] durchaus im Gegensatz sowohl zu persönlichen Erfahrungen als auch zu nachweisbaren pädagogischen Wirkungen einer kulturellen Praxis (Fuchs; 2005: 16).“ Die Verdinglichung der Musik macht eben die industrietypische Begrifflichkeit von Musik als Produkt oder Ware gerade möglich. Sie muss dennoch nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Im Gegenteil, diese Sicht der Musik ist äußerst vereinfacht und ermöglicht keineswegs die Erfassung ihrer Wirkung. Dagegen wird Musik hier als Ergebnis der musikalischen Praxis betrachtet, als eine gesellschaftliche Aktivität. Selbst der Kauf und das Abspielen von Tonträgern sind Aktivitäten, der Tonträger, das „Ding“ Musik, ist nur das Medium, durch das diese Aktivitäten stattfinden. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 Somit kommt man zu einer wesentlichen Erkenntnis: Um die sozialpolitische Wirkung der musikalischen Praxis zu begreifen, sind Produktion und Rezeption als aktiver Prozess zu verstehen. Außerdem muss nach den möglichen Kriterien und dem gesellschaftlichen Rahmen gesucht werden, um die Erfassung dieser Wirksamkeit zu ermöglichen. Auch hier bietet Dollases Untersuchung zur Rockmusik gewisse Anhaltspunkte. Nachdem er darstellt, wie politische Bedeutung von Rockmusik entsteht, untersucht er anhand mehrerer seit den siebziger Jahren durchgeführten Studien (deren Herstellungsort und Datum leider nur teilweise angegeben werden), ob sich eine politische Wirkung der Musik beobachten lässt. Dabei kommt er zu sehr gemäßigten methodischen und inhaltlichen Ergebnissen, die folgendermaßen wiedergegeben werden können: - Eine Studie zur Rezeption von politischen Botschaften durch Liedertexte zeigt, dass die Textkenntnis von Rockliedern im Allgemeinen bei (amerikanischen) Jugendlichen und Studenten „bedürftig“ sei und dass die Fokussierung auf Textinhalte ein unpassendes Kriterium zur Erfassung der politischen Wirkung von Rockmusik sei (ebd:119). - Laut einer Studie aus den siebziger Jahren lässt sich aus direkten Befragungen von Besuchern von Rockkonzerten kein Zusammenhang zwischen Rockmusik und politischem Engagement feststellen. Es lassen sich zwar Zusammenhänge zwischen Parteipräferenz und Musikvorliebe feststellen, doch nur 17% der Befragten stimmten der Aussage zu, diese Musik führe bei ihnen zu einer gesellschaftskritischen Haltung, wenn auch 50% von ihnen der Meinung waren, die Musik rege sie zum Nachdenken an (ebd:120f). - 75 % der Befragten sahen die „Musik als willkommene Ablenkung von Alltagsproblemen“ (ebd:121). - In einer Umfrage von neunzig deutschen Rockmusikern in den siebziger Jahren meinten rund die Hälfte von ihnen, dass sie an eine „gesellschaftskritische Wirkung“ ihrer Arbeit glaubten (ebd:122). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 Dollase schließt daraus, dass die Frage nach einer politischen Wirkung von Musik „zu einer durch gesellschaftliche Zustände bestimmten Form des Umgangs mit politisch konditionierten Zeichensystemen“ gerät. Ferner räumt Dollase der „politisch konditionierten Musik“ keine konkrete politische Wirkung ein. Eher bezeichnet er die Rockmusik als „Ersatz für echte politische Aktivität“. So sein Fazit zu dieser Studiensichtung: „Veränderungen sollte man von einem primär Unterhaltungszwecken dienenden Kulturbereich nicht erwarten. Politische Musik machen ist Dampf ablassen, Drohgebärde, Demonstration, Imponiergehabe (...) kurz, eine Ersatzbefriedigung.“ (ebd: 122) Anhand von Dollases Aufsatz wird erneut die vereinfachte Trennung zwischen Musik (als Unterhaltung) und Politik (hier als Veränderungsfaktor oder „echte politische Aktivität“) deutlich. Die Verbreitung dieser Trennung lässt sich auch anhand der zitierten Umfrage von Besuchern eines Rockkonzertes bestätigen, wobei dazu noch ein Widerspruch zwischen der intentionalen Konditionierung (der Anspruch der Musiker, politische Arbeit zu leisten) und der funktionalen Konditionierung (die Musik als Unterhaltung zu genießen und dabei die Musikindustrie zu unterstützen) festgestellt wird. Dollases Beitrag stellt einen ernsthaften Versuch dar, die gesellschaftspolitische Wirkung von Musik wissenschaftlich zu erfassen. Dennoch spiegelt er strittige Begriffs- und Ansatzbedingte Aspekte wider, die zum Teil typisch für die Musikwissenschaften sind und diese Ergebnisse relativieren. Die Darstellung von Musik als Selbstzweck, dem durch gesellschaftliche Konditionierung illusorische Eigenschaften unterstellt werden, stellt nicht das Verhältnis von Musik und Politik dar, sondern den Einfluss der Gesellschaft auf die Rezeption der Musik. Dabei wird der Aspekt der Musik als Bestandteil einer nationalen, lokalen oder Sub-Kultur und damit ihre identitätsstiftende oder identitätserhaltende Rolle, kurz ihr dynamisches Wesen, weitgehend ignoriert. Gerade für eine Untersuchung der Rockmusik in Bezug auf das Erstarken rechtsradikaler Bewegungen kommt dieser Aspekt der Identitätsstiftung durch Musik zu kurz (dazu werden im Anschluss kulturwissenschaftliche Beiträge dargestellt, die diese Funktion der populären Musik verdeutlichen). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 Auch die Gesellschaft, welche die „Schuld“ für die Konditionierung trägt, wird jenseits dieser psychologischen Ansätze unausreichend thematisiert; dabei handelt es sich um die BRD und die USA zwischen den siebziger und den neunziger Jahren. Ähnliche Umfragen zur Rockmusik zur gleichen Zeit in der DDR hätten vielleicht andere Ergebnisse gehabt… Zusammenfassend kann man Dollases kontexttheoretische Sicht der Bedeutung von Musik zustimmen. Dieser Aspekt des Verhältnisses von Musik und Politik lässt sich analytisch verallgemeinern, wobei es sich hier eher um das Verhältnis von Musik und Gesellschaft handelt. An dieser Stelle ist die begriffliche Trennung von Gesellschaft und Politik von großer Bedeutung. Gesellschaft deutet auf jenes Gebilde von Akteuren, Strukturen und Kräfteverhältnissen, in dem sich das soziale Leben gestaltet. Politik dagegen wird hier begriffstechnisch als ein aktiver Prozess verstanden, denn Politik wirkt eben an der Gestaltung der benannten Strukturen durch bestimmte Akteure mit. So ist Politik nicht mit Gesellschaft gleichzustellen, sie ist lediglich an ihrer dynamischen Gestaltung beteiligt. So sind Dollases Aussagen zur politischen Wirkung von Rockmusik nur zum Teil überzeugend: Die Ergebnisse aus den zitierten Studien sind zwar eindeutig, aber sie können nicht für die Gesamtheit der Praxis von (Rock-)Musik geltend gemacht werden. Dazu ist die Vielfalt der Berührungspunkte von Musik und dem politischen Prozess unzureichend thematisiert worden. Wenn postuliert wird, dass die Funktion der musikalischen Praxis von bestimmten politischgesellschaftlichen Kontexten abhängig ist (und dem stimme ich an dieser Stelle zu), muss auch die Vielfalt dieser Kontexte mit der Annahme berücksichtigt werden, dass auch die Funktion und damit die Wirkung der Musik je nach politisch-gesellschaftlichem Kontext variieren kann. Dollase - und das trifft auch auf die Musikwissenschaft zu - stellt dagegen vereinfachte Muster der musikalischen Praxis und des politischen Prozesses dar, die dem Facettenreichtum des Verhältnisses zwischen Musik und Politik nicht ausreichend Rechnung tragen (siehe dazu Cannaris 2005: S.14f). II.2.b: Das Paradigma der Musiksoziologie Ein weiterer Ansatz, der das Verhältnis von Musik und Politik thematisiert, findet sich in der von Max Weber und später Theodor W. Adorno geprägten Musiksoziologie. Im Vergleich zu den Musikwissenschaften liegt der Fokus der Musiksoziologie auf Aussagen, die Musik über die Gesellschaft enthalten kann, in der sie produziert wird. Aus der Artikulierung von Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 vorhandenen Kenntnissen über diese Gesellschaft und den Befunden über die Musikproduktionen wird ein besseres Verständnis gesellschaftlicher Wandlungen erhofft. Die Musiksoziologie wurde am stärksten von Adorno geprägt, wobei seine Arbeiten bis heute für wissenschaftlichen Tumult sorgen. Die Musiksoziologie und die Arbeit Adornos sollten hier insofern berücksichtigt werden, als dass sie sich als ein methodisches Erforschen der Berührungsfläche zwischen der Musik und dem gesellschaftlichen Aktionsfeld verstehen und somit einen Bruch in der musikwissenschaftlichen Tradition darstellen. Musik ist für Adorno „nicht nur Kunst eigenen Wesens, sondern auch gesellschaftliches Faktum“, das zur kritischen Ordnungsgestaltung beitragen soll. Musik wird als ein Medium dargestellt, das die Gesellschaft und bestimmte soziale Strukturen und Kräfteverhältnisse widerspiegeln kann. Der Anspruch der Musiksoziologie ist ferner, vom mikrosoziologischen Objekt der Musik ausgehend, das makrosoziologische Objekt um sie und in ihr zu finden (Adorno 1968: 236ff). So zieht Adorno eine Analogie zwischen der Komposition von Musik und der sozialen Praxis, wobei die bewusste Wahl bestimmter Tonarten, Instrumente und Musikformen zur kritischen politischen Handlung wird. Das Verhältnis von Musik und Gesellschaft, was sich daraus ergibt, ist demnach eher isomorph als interaktiv: beide entwickeln sich gemäß eigener interner Logik, die wiederum einer gemeinsamen Dynamik (Konventionen) unterliegen (De Nora 2003: 13). Der musiksoziologische Anspruch, mikromusikalische und makrosoziologische Analyse zu artikulieren, stellt jedoch eine sinnvolle Herangehensweise zur Erforschung der Interaktivität zwischen Musik und Gesellschaft dar. Adorno selbst hat sich dennoch auf eine sehr abstrakte Ansatzformulierung beschränkt und selbst keine empirische Forschung unternommen, was die Anwendungspunkte seiner Arbeit zum Teil schwer verständlich macht. Des weiteren spiegelt die musiksoziologische Arbeit Adornos meines Erachtens einige Probleme der Musiksoziologie wider: Gerade aufgrund des Anspruches, makrosoziologische Wandlungen in den „Strukturen“ der Musik ausfindig zu machen, wird überwiegend auf die Musik als Objekt fokussiert, was wiederum die Fragen nach der dynamischen Wirkung der Musik auf das soziale Leben weiterhin offen lässt. Es wird nach in der Musik enthaltenen Eigenschaften gesucht, die Gesellschaftliches widerspiegeln sollen. Dieser Ansatz bietet sich daher eher für Musikanalyse an als für eine sozialwissenschaftlich orientierte Wirkungsforschung bestimmter Musikformen. Diese Art Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 der Musiksoziologie wird zu einer Soziologie der Musik, wobei diese leichte Nuance eine Schwerpunktverlagerung darstellt, die gerade in dieser Fachschaft seit den achtziger Jahren zunehmend thematisiert wird. Die Arbeit Adornos hat dennoch sämtliche Fragestellungen aufgeworfen, die heute von der Musikwissenschaft und von der Soziologie aufgearbeitet werden, zum Beispiel in Bezug auf kognitive Funktionen der Musik oder auf die Verbindung von Musik und Ideologie und Macht3. Anlehnend an Cannaris Argumente zur Desozialiserung der Musik stellt Tia De Nora fest, dass die neuen Musikwissenschaften (New Musicology) - und das sei Adorno zu verdanken die Teilung von musikalischer Form und sozial-historischem Geschehen zum Teil aufgehoben haben und zunehmend (mikro-) musikalische und makro-soziale Elemente artikulieren (De Nora; 2003: 35ff). Insbesondere mit dem Durchbruch des Hip Hops in Nordamerika, seit der steigenden Fokussierung auf die Rolle der Musik in der Identitätsbildung von Minderheiten in westlichen Metropolen haben einige musikwissenschaftliche Beiträge die Korrelation zwischen musikalischen Produktionen und den Kategorien sozialer Strukturen wie Macht, Identität oder Hierarchie hinterfragt. Diese Beiträge basieren zum großen Teil auf der Interpretation von Texten, dem Kern mancher gegenwärtiger Musikrichtungen, insbesondere des Hip Hops, und beschäftigen sich mit dem Einsatz traditioneller Harmonien und Instrumente in modernen Musikproduktionen. Die Ergebnisse dieser Studien sind erheblich und zeigen sehr wohl, wie sehr sich bestimmte gesellschaftliche Wandlungen in der Musik wieder finden lassen, hier zum Beispiel die transkulturelle Identitätsbildung in Einwanderungsgesellschaften. Diese analytische Herangehensweise ist insofern neu für die Musikwissenschaften, als dass sie vorhandene soziale Strukturen und Prozesse als Hintergrund zur Musikanalyse stellt und die sozialstiftende Kraft von Musik als ausschlaggebend für ihre Entstehung und Praxis postuliert. Dabei ist wichtig, dass Musik weder strikt als künstlerischer Selbstzweck noch als kommerzielles Unterhaltungsprodukt bezeichnet wird, sondern allgemeiner als gesellschaftliche Handlung, die erst einmal genau kontextualisiert werden muss (Rappe; in Cannaris 2005: 133). II.2.c: Die kulturwissenschaftliche Sicht Eine systematische Kontextualisierung erscheint in der Tat notwendig, um die Vielfalt der möglichen Zwecke, Funktionen und Bedeutungen von Musik überhaupt wahrnehmen und 3 Insbesondere in Bezug auf die populäre Musik, die er verabscheute, betont Adorno, dass die Reproduktion von vereinfachten Schemen und absehbaren emotialen Effekte die Musik dazu verdammt, ideologisch zu sein ( hier im gegensatz zu ihrer kritischen Funktion ). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 1 erfassen zu können. Ist einmal dieses Paradigma akzeptiert, so lassen sich viele Anlässe erkennen, Musik zu praktizieren oder zu hören, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sei es aus Unterhaltungsbedarf, aus reinem künstlerischen Interesse, oder aus sozial-politisch bedingten Gründen. Gekoppelt an eine akteursbezogene Sicht der musikalischen Praxis schafft die Kontextualisierung nicht nur eine Reflektion von gesellschaftlichen Phämonenen durch Musik, sondern sie erläutert die Motive und bringt mögliche Eingriffspunkte der musikalischen Praxis in das gesellschaftliche Leben zum Tage. Diese Methodik lässt sich besonders gut in den Kulturwissenschaften wieder finden. Kulturwissenschaften lassen sich insofern von den bisher erwähnten Fachschaften unterscheiden, als dass sie theoretische Fragestellungen exemplarisch am Beispiel ihrer Erscheinungsformen reflektieren, und kulturelle Praxis als Denk- und Handlungsmodelle einer Gesellschaft erklären. Somit definieren Kulturwissenschaften die Besonderheit des Ausdrucksmediums und fokussieren auf analytische Reflexionen über die Veränderungen der gesellschaftlichen Praxis. So bildet Musik einen zunehmend wichtigen Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften: neben der Popularmusikforschung, die sowohl den Musik- als auch den Kulturwissenschaften zugeordnet wird, hat zum Beispiel der weltweite Durchbruch von Hip Hop das Interesse vieler Kulturwissenschaftler geweckt. Hip Hop drückt die transkulturelle Erfahrung des diasporischen Erlebens und Handelns in gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaften aus. Die Ästhetik von Hip Hop und seine kulturelle Kodifizierung in Sprache (Rap), Kunst (Graffiti), Kleidung, körperliche Ausdrucksform (u. a. Street Dance) hat ihre Wurzeln im großstädtischen Alltag und hat diesen Alltag zum Teil transformiert. Hiermit sei nur auf die Verbreitung von Graffitis und Tags in Großstädten hingewiesen oder auf die zunehmende Zahl der auf Tanz und Musik beruhenden pädagogischen Projekte - „Rythm is it“ oder das „Projekt Hip Hop“, um nur die bekanntesten zu nennen - die in Schulen oder benachteiligten Stadtteilen durchgeführt werden und deren pädagogischen Wirkung und Erfolg weitgehend unbestritten sind. Am Beispiel des Hip Hops lässt sich das von Dollase oder Fuchs aufgebrachte Argument deutlich widerlegen, die gesellschaftspolitische Wirkung von Musik sei durch die Tatsache unterminiert, dass die Musik sich durch kommerzielle profitorientierte Kanäle verbreitet: So stellt der Kulturwissenschaftler Michael Struck-Schoelen fest, dass Hip Hop, das seinen Ursprung in der afroamerikanischen Kultur hat, sich zwar imperialistisch verbreitet hat, aber stets und überall eine Lücke in der nicht mehr vorhandenen Kultur oder im Bedürfnis nach Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 einer adäquaten kulturellen Ausdrucksweise gefüllt hat (Struck-Schloen, in Cannaris; 2005: 134). Ferner argumentiert Struck-Schoelen aus seinen Erfahrungen als Kulturmanager in Köln, dass Jugendliche mit Migrationshintergund oder aus ethnischen Minderheiten sich die Merkmale der afrodiasporischen Kultur aneignen, um sich eine eigene hybride Identität zu kreieren. Er beobachtet, dass diejenigen, die sich Hip Hop zueigen machen, meistens jene Leute sind, die sich in einem Zustand des identitätsstiftenden Suchens befinden. So bietet offenbar Hip Hop als musikalische Praxis das Angebot, sich aktiv Identität zu konstruieren. Darüber hinaus hat Hip Hop zusätzliche Kommunikationskanäle geschaffen oder zumindest als Ausdrucksform jener gedient, die jenseits dieser musikalischen Praxis einen nur marginalen Anteil am inhaltlichen gesellschaftlichen Austausch haben. Am Beispiel des Hip Hops, das durchaus auf der verbalen Vermittlung durch Texte beruht, müssten schließlich auch die Aussagen von Dollase über die Rezeption von Liedertexten neu überprüft werden. Ferner genießt die von den britischen Culture Studies in den achtziger Jahren entwickelte Auffassung eine zunehmende Zustimmung in Medien, Gesellschaft und Wissenschaft, wonach diese Musik als Bestandteil jugend- und subkultureller Zusammenhänge ein soziales Widerstandspotential besitzt, das im aktiven Umgang mit ihr mobilisiert werden kann (Rike, in Heuger 1997: 25). Der Aufruf des berühmten französischen Hip Hops Sängers Joey Starr in Dezember 2005 an Präsidentschaftswahlen französische im Mai Jugendliche, 2007 sich auf Wählerlisten einzutragen, ist ein Beispiel für die dieses Mobilisierungspotentials, das sowohl der Musik, der massiven Identifikation mit dieser Figur, als auch den kommerziellen Medienkanälen zu verdanken ist. Laut Medienberichten ist diesem Aufruf eine bedeutende Steigerung der Einträge auf Wählerlisten gefolgt, insbesondere in benachteiligten Vorstädten der Pariser Metropole.4 Anhand solcher Beispiele wird erneut klar, dass die Überbrückung der herrschenden Kluft zwischen Musikprodukt, musikalischer Praxis, medialen Kommunikationskanälen und gesellschaftspolitischen Prozessen zu einer annähernd effizienten Erfassung des Verhältnisses zwischen Musik und Politik erforderlich ist. 4 Aus der Wochenzeitschrifft Le Nouvel Observateur vom 21/12/2005: http://archquo.nouvelobs.com/cgi/articles? ad=societe/20051220.OBS9433.html&host=http://permanent.nouvelobs.com/ Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 Die Kulturwissenschaften haben gezeigt, dass der Umgang mit populärer Musik durchaus als Mittel der Selbstbehauptung und des Kampfes um kulturelle Anerkennung in einer Gesellschaft dienen kann, die keineswegs statisch ist, sondern stets durch sozialpolitische Kämpfe um Einfluss, Anerkennung und Macht geprägt ist. So lässt sich der politische Gehalt musikalischer Praxis insbesondere im Rahmen dieser sozialpolitischen Kämpfe anhand zahlreicher Beispiele erfassen, die, obwohl sie selten kausale Wirkungsvorstellungen von Musik in Form von klar zu beobachtenden politischen Konsequenzen nach sich ziehen, trotzdem als Teilhabe am gesamten politischen Prozess betrachtet werden können. Dazu liefern die afroamerikanische, die westafrikanische Musik sowie ihre Aneignung durch andere kulturelle Gruppen viele Bespiele für die sozialpolitische Relevanz von Musik, die erst einmal näher durchleuchtet werden sollten. Bevor das hier am Beispiel Westafrikas erläutert wird, ist anzumerken, dass musikalische Praxis wie andere Formen des Versuchs einer Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess bestimmten vorgegebenen Kommunikations- und Rezeptionskanälen und Formen der Inhaltsvermittlung unterliegen, die widersprüchlich sein können, sich dennoch nicht zwangsläufig ausschließen. In diesem Sinne argumentieren britische Culture Studies, dass die Wertschätzung von Musik immer auch Teil des politischen Kampfes um kulturelle Hegemonie ist. Der politische Gehalt kultureller Präferenzen macht dann auch unterschiedliche Interpretationen desselben Sachverhaltes möglich. So kann der Durchbruch von Rockmusik in der BRD der Nachkriegszeit, um bei Dollases Beispiel zu bleiben, zum einen als Sieg des amerikanischen kulturellen Modells, zum anderen als Siegeszug einer unterdrückten sozialen Gruppe in der „verkrusteten Adenauergesellsschaft“ über die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer kulturellen Praxis interpretiert werden ( Kaspar Maase, zitiert in Fuchs 1995: 19). In beiden Fällen lässt sich eine beträchtliche gesellschaftspolitische Wandlung analytisch in Verbindung mit musikalischer Praxis bringen. Die politikwissenschaftliche Herausforderung besteht anschließend darin, über die Feststellung einer Parallelität hinaus den Eingriff der musikalischen Praxis in den politischen Prozess und deren Bedeutung sowie die möglichen Folgen zu hinterfragen. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 II.3: Entwurf eines Forschungsansatzes Hoffentlich hat dieser Überblick gezeigt, dass alle Versuche, populäre Musik in widerspruchsfreie und stimmige Definitionen einzufangen, die Zeichen der Vergeblichkeit tragen. Musik lässt sich weder verdinglichen noch kann man ihre Wirkung ordentlich und eindeutig messen. Vielmehr ist Musik das Resultat komplexer, widerspruchsvoller, in jedem Fall sozial strukturierter musikalischer, kultureller und kommerzieller Aktivitäten, die an das Medium Klang gebunden sind, sich durch und über dieses Medium verwirklichen und sich in ihm dennoch nicht einfach ablesen lassen. Aus der Arbeit Adornos und bestimmten Beiträgen der Musikwissenschaften lassen sich einige Lektionen zum Zweck der vorliegenden Analyse herausleiten. Wenn ein dynamisches und gegenseitiges Verhältnis von Musik und Politik postuliert wird, reicht es nicht aus, nach makrosoziologischen Aspekten in der Musik oder nach strukturellen Analogien in Musik und Gesellschaft zu suchen. Vielmehr muss nach Artikulationsmechanismen zwischen Akteur (Musiker/ Hörer) und Aktionsfeld gesucht werden. Um Musik als dynamisches Medium des sozialen Geschehens zu betrachten, muss untersucht werden, wie musikalische Handlung und nicht musikbezogene Handlung im sozialen Geschehen interagieren. Dazu müssen mögliche Eingriffe der Bereiche in den jeweilig anderen erst einmal thematisiert und, falls vorhanden, analysiert werden. Somit kann man über Adorno hinaus die aktiven Eigenschaften von Musik erfassen, das heißt, nicht nur untersuchen, inwiefern Komposition und Rezeption von Musik sozial bestimmt sind, sondern auch inwiefern Musik an der permanenten Neugestaltung von sozialen Strukturen – also auch an Politik – mitwirkt. Wie dies in der Umsetzung auszusehen hat, ist nicht eindeutig. Die Wissenschaft hat sich weitgehend mit Eingriffen von politisch-gesellschaftlichen Faktoren in die musikalische Praxis auseinander gesetzt. Folgt man De Noras Aussagen, gibt es dagegen keine Methodologie zur Beschreibung möglicher Eingriffe von Musik in soziale Strukturen (De Nora; 2003: 39). Diese ist jedoch meines Erachtens für die Erforschung des Verhältnisses von Musik und Politik unumgänglich. Es darf jedoch nicht angenommen werden, der Anspruch der vorliegenden Analyse liege ausschließlich darin, eine Theorie zur Erforschung der sozialen Kraft von Musik zu entwerfen: das Ziel der Analyse, den Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 in einem bestimmten Raum (Westafrika) zu einer bestimmten Zeit (die Gegenwart seit der Dekolonisierung) zu hinterfragen, stellt eher eine deduktive Herangehensweise dar und verhindert es schlicht, eine Theorie zu formulieren, die jene Mechanismen und Kriterien der Interaktion von Musik und Politik jenseits von Zeit und Raum festlegen würde. Die starke kontextabhängige Vermittlungsfähigkeit von Musik lässt des Weiteren keine solche Verallgemeinerung zu. Die Sichtung der zitierten Beiträge aus Musikwissenschaften und Soziologie macht deutlich, dass der Themenkomplex Musik und Politik sich kaum theoretisieren lässt. Der französische Kunstwissenschaftlicher Antoine Hennion stellt diesbezüglich fest, dass keine Verbindungen oder Interaktionen zwischen Musik und Gesellschaft erfasst oder überhaupt postuliert werden können, ohne dass es dazu klar zu identifizierende Akteure gibt (Hennion; 1995: 248). Im Sinne Hennions wird hier nicht das Verhältnis zwischen Musik und Politik in den Vordergrund der Untersuchung gestellt, sondern bestimmte Akteure, die durch ihre kontextbezogene Handlung gewisse Interaktionen bewirken. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive macht die induktive Herangehensweise eine Identifikation von gegenseitigen Eingriffsmechanismen von Musik und Politik möglich, die wiederum greifbare Aussagen über das Verhältnis von Musik und Politik enthalten können. So sehr kontextabhängig sie auch seien, haben sie eine politische Aussagekraft und sollten aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht ignoriert werden. Für die vorliegende Untersuchung lassen sich aus den bisherigen Überlegungen erst einmal zwei methodische Bedingungen für die Formulierung eines Forschungsansatzes herausleiten: Um den Beitrag der Musik auf politische Bewusstseinbildung in Westafrika zu evaluieren, muss: 1. das soziale, kulturelle und politische Umfeld thematisiert und analysiert werden, 2. auf die Handlung bestimmter Akteure in diesem Umfeld fokussiert werden, die wiederum in Verbindung mit den Erkenntnissen aus Punkt 1 zu bringen ist. In Teil III der Analyse werden demnach die Entwicklung von populärer Musik und deren Funktion in gegenwärtigen westafrikanischen Gesellschaften analysiert. Aus kontexttheoretischer Sicht scheint ein Rückblick auf die Etappen und kulturellen Folgen der Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 (De-)Kolonisierung erforderlich. Dieser Rückblick wirft die Frage nach der kulturellen Identität afrikanischer Gesellschaften im kolonialen und postkolonialen Kontext auf – eine Frage, die anhand von Beispielen aus Musikproduktionen problematisiert werden kann. Nachdem der Kontext präzis erfasst und erläutert wird, in dem nach der Wirkung musikalischer Praxis gesucht werden soll, kann auf die Handlung und Aussagen bestimmter Akteure fokussiert werden, um Befunde herauszuleiten. II.3.a: Methodologie der Wirkungsforschung kultureller Praxis Die Frage nach der sozialen Wirkung von Musik wirft ein sozialwissenschaftliches Methodenproblem auf, das bereits anhand der erwähnten musikwissenschaftlichen Beiträge sichtbar wurde: Ist die politische Wirkung überhaupt messbar – und wenn ja, wie soll sie gemessen werden? Die dargestellte fachliche Auseinandersetzung mit dieser Frage hat auch eine methodologische Seite und so herrscht auch kein Konsens über die geeigneten Methoden der Wirkungsforschung kultureller Praktiken: gestritten wird zwischen quantitativer und qualitativer Zugangsweise, über die Relevanz von biographischen und interpretativen Verfahren und nicht zuletzt über den Umgang mit der Kontextabhängigkeit der Deutung von Musik. Max Fuchs stellt dazu fest, dass „die Herstellung von politischem Bewusstsein, von Bereitschaft sich zu engagieren (...) mit einem traditionellen quantitativen Paradigma kaum erfasst werden können“ (Fuchs 1998: 13). Fuchs übt dabei Kritik an der im politischöffentlichen Feld verbreiteten Annahme, dass das, was größere Geldmengen umsetzt, auch kulturell wirksamer ist (ebd:12). Diese Kritik ist insofern gerechtfertigt, als dass das Denken in ökonomischen Kategorien sämtliche nicht wirtschaftlich-orientierten oder nicht effizienten kulturellen Praktiken sowie ihre Legitimität von der kulturellen Realität ausschließt. Problematisch ist, dass gerade die „unabhängige“ kulturelle Praxis, gerade weil sie in Medien und kommerziellen Kanälen nur punktuell vertreten ist, besonders schwer erfassbar ist. Es mag dennoch möglich sein, bestimmte Aspekte der sozialen Wirkung kultureller Praxis quantitativ zu erfassen. In Bezug auf Musik könnten die Verkaufszahlen von ausgewählten Tonträgern ermittelt oder die Besucherzahlen bestimmter Veranstaltungen und deren Entwicklung auf einen bestimmten Zeitraum erfasst werden. Dazu ist es jedoch nötig, eine vorgewählte Testgruppe auszuwählen und gezielt die politische Einstellung zu „messen“, was schon im Vorfeld problematisch erscheint, denn zur jeweiligen politischen Einstellung oder Bereitschaft müssten bei jeder Testperson weitere persönliche, sozial und familienbedingte Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 Kriterien mit einbezogen werden. Demnach können quantitative Forschungsmethoden zum Teil angewandt werden, doch der Anspruch, aus den Ergebnissen kausale und lineare Wirkungsvorstellungen herauszuleiten, scheint unrealistisch. Überhaupt ist fraglich, ob eine derartige „Wirkungsstudie“ nach direkter Kausalität streben soll. Dollase kommt in dem oben ausführlich zitierten Aufsatz zum Schluss, dass politische Wirkung von Musik ohne konkrete Untersuchungen kaum nachweisbar ist. Mit konkreten Untersuchungen sind zum Beispiel jene Studien gemeint, auf die Dollase sich anschließend bezieht. In Bezug auf die politische Einstellung stellt Dollase fest, dass grundsätzlich Parallelen zwischen dem Hören populärer Musik und der politischen Haltung erkennbar sind. Die Kausalitätsrichtung dagegen (ob das Hören der Musik diese Haltung bewirkt oder umgekehrt) bleibt prinzipiell unbestimmbar. Dennoch zieht Dollase ein eindeutiges Fazit aus den erzielten Ergebnissen: Wenn 75% der Befragten der Rockmusik einen primären Unterhaltungszweck verleihen, lässt sich in Verbindung mit den anderen Ergebnissen, etwa zur Rezeption von Liedertexten, behaupten, dass kaum politische Wirkung von Rockmusik zu erwarten sei. (Dollase, in Frevel; 1997: 119 ). So ist die Frage nach der politischen Wirkung von Musik in Aktion auf den sozialen Agenten meines Erachtens, wenn auch nur zum Teil, beantwortet. Die Antwort fällt in diesem Fall negativ aus, wobei die Ursachen für diese negativen Ergebnisse in gesellschaftlichen Rezeptionsmustern lokalisiert werden. Dollases Erkenntnisse lassen sich nur dadurch relativieren, dass die Praxis von Rockmusik stark verallgemeinert wird: in dem Aufsatz ist Rockmusik durch national und international berühmte Akteure vertreten und die Befragungen erfolgten bei Konzerten von Deep Purple, Santana, Ekseption und Nektar. Die benannten Musikergruppen bilden in den späten siebziger Jahren eher eine Kommerz- und Unterhaltungssparte dieser Musikrichtung. Mit anderen Worten: wenn eine Sparte der Rockmusik eine politische Wirkung haben soll, dann nicht diese. Anhand dieser Beispiele wird ebenfalls deutlich, dass der Erfolg jenes musikalischen Ereignisses, gemessen am Umsatz der Veranstaltung oder Zahl der Besucher, nicht sogleich sozialpolitische Wirksamkeit bedeutet. So sind quantitative empirische Methoden zur Erfassung der politischen Wirkung von Musik denkbar, aber im Allgemeinen nicht vorteilhaft: sie erfordern eine sehr genaue Eingrenzung der Zielgruppen und eine ebenso genaue Kontextualisierung der Rezeption und Aneignung der untersuchten musikalischen Praxis. So können solche Untersuchungen auch nur auf einem Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 stark begrenzten geographischen und zeitlichen Raum stattfinden, was im Fall der vorliegenden Analyse nicht angebracht wäre. Es gibt dennoch unterhalb dieser strengen empirischen Messlatte weitere Möglichkeiten der Erfassung der Wirkung von kultureller Praxis. Hier bietet sich zum Beispiel eine Annäherung an die Medienwirkungsforschung an, die der Suche nach kausalen Wirkungsvorstellungen eine Absage erteilt und darauf aufmerksam macht, dass Wirkungen zahlreiche Ursachen haben können und über einen langen Zeitraum entstehen. Die Medienwirkungsforschung hat gezeigt, dass Wirkung meistens nicht direkt und kausal messbar ist und dennoch entweder auf langer Sicht oder punktuell anhand von konkreten Beispielen erkennbar ist (Fuchs1998: 13). In dieser Hinsicht wird hier die von Hennion und De Nora formulierte akteursbezogene Untersuchungsmethode vorgezogen. Diese enthält keine etablierte Methodologie und sieht nur die systematische Interpretation einer Handlung sowie die Thematisierung des gesellschaftspolitischen Rahmens vor, in dem diese Handlung stattfindet. So mögen die Darstellung besonderer politischer und musikalischer Entwicklungen sowie die Wiedergabe von Interviews und biographischen Angaben über spezifische Akteure Aussagen enthalten, die wiederum in Verbindung mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen gebracht und somit als Beispiele einer sozialen Wirkung musikalischer Praxis gedeutet werden können. II.3.b: Das Beispiel der Reggae-Musik auf Jamaika An dieser Stelle wird versucht, die eben skizzierte Untersuchungsmethodik am Beispiel der Reggae-Musik und deren Entwicklung und Wirkung auf der westkaribischen Insel Jamaika anzuwenden. Das Beispiel von Jamaika dient vorerst der methodischen Überzeugung. Es ist aber auch insofern für den weiteren Verlauf der Analyse relevant, als dass die Insel aus geschichtlicher Sicht vieles mit Westafrika gemeinsam hat: es ist eine ehemalige britische Kolonie, die zum großen Teil von Nachfahren afrikanischer Sklaven bewohnt ist. Reggae entstand unmittelbar nach der Unabhängigkeit der Insel 1961 und verbreitete sich im Tumult eines Bürgerkrieges und scharfen innen- und sozialpolitischen Auseinandersetzungen sowie im internationalen Kontext der bipolaren Weltordnung, in der sämtliche neu entstandene Nationen ihren Platz finden mussten. Reggae gilt seit seiner Entstehung und im ganzen Verlauf seiner globalen Verbreitung als eine Protestmusik. Aus den „Ghettos“ der jamaikanischen Hauptstadt Kingston stammend wurden Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 der Reggae und seine Vertreter im schwierigen postkolonialen Kontext zu Stimmen der Dritten Welt (King; 2002: xi). Von der Denunzierung der miserablen Lebensverhältnisse auf Jamaika hin zur offenen Denunzierung der Sklaverei, der Kolonisation und zur Vereinigung aller Afrikaner hat Reggae stets politische Inhalte vermittelt, die unterschiedlichen Einklang fanden und deren Wirkung auf gesellschaftspolitische Prozesse durchaus thematisierungswürdig ist. Die leitende Figur des Reggaes ist zweifellos Bob Marley. Mit 260 Millionen verkauften Alben weltweit galt Bob Marley zu seinem Tod 1981 als der erste und größte „Popstar der Dritten Welt“ (Lee 1988: 190). Im Dezember 1976 wird Bob Marley in seinem Haus in Kingston von unbekannten Männern überfallen und angeschossen. Dabei werden er, seine Frau und sein Manager von mehreren Gewehrkugeln getroffen. Zu jener Zeit hieß es, dieser Überfall sei auf die Auseinandersetzung von Gangs und Banditen zurückzuführen, die in den Ghettos der Hauptstadt mafiöse Aktivitäten trieben, an denen der reich gewordene Bob Marley teil haben sollte (White; 1991:288f). Doch schnell wird der Anschlag auf Bob Marley auf den Bürgerkrieg auf Jamaika zurückgeführt, bei dem sich Anhänger der marxistischen People’s National Party (PNP) und Anhänger der von den USA unterstützten Jamaica Labour Party (JLP) bekämpften. Bob Marley, der der PNP und ihrem demokratischen „Unabhängigkeitsprogramm“ näher stand, obwohl er beide Seiten und vor allem die Zunahme der Gewalt und die miserablen Lebensverhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung der Inseln kritisierte, genoss einen zunehmenden Rückhalt in der jamaikanischen Jugend und der jamaikanischen Unterschicht. Man fürchtete sogar, dass Marleys Aussagen bei dem am folgenden Tag geplanten Friedenskonzert in Kingston den anstehenden Wahlsieg der JLP zum Kippen bringen würden, was die amerikanischen Interessen im Karibischen Becken hätte gefährden können. Mittlerweile ist es unumstritten, dass der unaufgeklärte Anschlag auf Bob Marley politisch motiviert war. 1983 gab sogar ein ehemaliger CIA Agent bekannt, dass die amerikanischen Geheimdienste in das Attentat verwickelt waren (ebd:304). Die Wahl gewann Michale Manley von der marxistischen PNP und 1980, als der Bürgerkrieg noch anhielt, gelang es Bob Marley bei einem öffentlichen Konzert, das kurz vor der nächsten Wahl stattfand, beide Anführer der angefeindeten Parteien auf die Bühne zu holen, damit diese sich die Hand geben, was sie auch zum ersten und letzten Mal in der Geschichte des Bürgerkrieges taten. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 Durch den Einfluss, den Marley mit seiner Musik ausübte, wurde er sowohl zu einer Ikone der Jugend- und Protestkultur, zuerst auf Jamaika, dann in England und später weltweit, als auch zu einem unumgänglichen politischen Faktor des Inselgeschehens. Zwischen den sechziger und siebziger Jahren erhielt die mit dem Reggae eng verbundene Rastafari-Bewegung, eine ursprünglich an das Alte Testament gebundene religiöse Bewegung, die im äthiopischen Kaiser Ras Tafar I (Haile Selassie) ihren Propheten sieht, eine zunehmende politische Orientierung, die sich in der Musik wieder finden lässt. Diese Politisierung geht auf verschiedene Faktoren zurück: Aufgrund ihrer religiösen Dissidenz und ihrer stetigen Denunzierung der sozialen Ungleichheiten auf Jamaikas waren die Rastafaris Opfer einer systematischen polizeilichen Verfolgung auf der Insel. Die „Reggaevorfahren“ „Ska“ und „Rock Steady“ waren bereits in den sechziger Jahren jene Musikrichtungen, die soziale Verhältnisse denunzieren und angehen wollten. Im Reggae der siebziger Jahre vereinten sich die Jugend der Ghettos von Kingston mit der Rastafari Bewegung, so dass der Reggae eine sowohl spirituelle als auch sozialkritische Funktion erhielt. Im Reggae, der trotz der chronischen Zensur zur wichtigsten Musik des jamaikanischen Rundfunks wurde, fanden beide Gruppen ein Mittel zum Ausdruck und zur Identitätsstiftung (King 2002: 109). Außerhalb der Insel erhielten ferner die Aussagen sämtlicher panafrikanischer Denker und Staatsmänner - darunter Lumumba, Sekou Touré, aber auch Bob Marley und nicht zuletzt Haile Selassie- im Hinblick auf die Rückkehr aller Afrikaner auf den afrikanischen Kontinent („Repatriation Plan“) und die wiederholten pazifistischen und panafrikanischen Appelle eine starke Resonanz innerhalb der Rastafaris und ferner der internationalen Reggae Zuhörerschaft (ebd: 28,96f). Mit der Internationalisierung des Reggaes in den siebziger Jahren, der zeitgleich in England, Nordamerika und Westafrika dank Künstlern wie Jimmy Cliff oder Bob Marley einen Durchbruch erlebte, mit der zunehmenden Desillusion über die postkolonialen Verhältnisse in afrikanischen Ländern und schließlich mit der Verbreitung der Black Power und der panafrikanischen Bewegungen an britischen und nordamerikanischen Universitäten findet eine „Universalisierung“ des Reggaes statt, der zu einer panafrikanischen Musik wird, welche in Armut, Korruption und Gewalt – sei es auf Jamaika oder in afrikanischen Ländern – die gleichen Ursachen sieht. Aufgrund seiner panafrikanischen Positionen, seiner Aussagen über die notwendige Selbstständigkeit und die Vereinigung aller afrikanischer und afroamerikanischer Völker, seiner stetigen Denunzierung der „physischen und mentalen Sklaverei“ gilt Bob Marley an Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 2 der Seite von Patrice Lumumba oder Rodney King als eine der wichtigsten Aufklärungsfiguren für Afrika. So waren 1980 Bob Marley and the Wailers Ehrengäste der offiziellen Unabhängigkeitszeremonie von Simbabwe. Als die Band ihr Lied „Zimbabwe“ anspielte, das die Hymne der panafrikanischen Freiheitskämpfer im rhodesischen Bürgerkrieg war, brachen Unruhen aus. Tausende Leute brachen die Polizeisperren durch und überrannten das Stadiongelände, auf dem Prince Charles und sämtliche afrikanischen Staatschefs versammelt waren. Die Armee musste intervenieren und setzte damit der offiziellen Staatszeremonie ein Ende (White 1991: 1-4). David Chen und Wayne Chang beobachten, dass Reggae nicht nur von panafrikanischen sondern auch von Befreiungsbewegungen in Nicaragua, auf dem Tienanmen Platz und vor der Berliner Mauer als Protestmusik eingesetzt wurde. Dazu schreibt der Reggae-Spezialist Jay S. Kaufmann: „the world- wide acceptance of Reggae provides evidence that the power of music to influence political and social change is not limited to Jamaican Society” (Kaufmann, zitiert in King; 2002: xii). Der britische, aus Jamaika stammende Reggaesänger Linton Kwesi Johnson (LKJ) bezeichnet Reggae in folgender Weise: „the sounds of a society in the process of transformation, a society undergoing profound political and historical change“(ebd: 45). Diese Aussage lässt sich dem aus den Kulturwissenschaften entstammenden Ansatz anschliessen, wonach die soziale Wirkung von musikalischer Praxis dort am deutlichsten zu beobachten ist, wo sich eine (Re-)Konstruktion von sozialen, kulturellen und identitären Wertesystemen vollzieht (Struck-Schoelen; 2005:129). An dieser Stelle bieten sich zwei Annäherungen an, die breitere Aussagen über die Funktion und Bedeutung musikalischer Praxis in bestimmten sozialpolitischen Kontexten zu Tage bringen und somit für die vorliegende Analyse von großer Relevanz sind: Auf einer eher theoretischen Ebene lässt sich feststellen, dass Probleme des Alltags, soziale Themen und Frustrationen in Musik behandelt und mit Rhythmus, aussagekräftigen Tönen und Harmonien so verbunden werden, dass sie von Hörern, wenn nicht stärker, zumindest intensiver identifiziert und wahrgenommen werden und zugleich soziales Interesse und persönliche Emotionen bündeln können. Diese Aussage trifft beinahe auf jede Musik zu, die auf kulturelle und sozialpolitische Wandlung gerichtet ist: Obwohl Musik nicht immer kohärent und von den Inhalten her auch durchaus widersprüchlich sein kann, schafft sie zusätzliche Kommunikations- und Informationskanäle für sonst unerreichte Hörer und ungehörte Redner (Lock 2005: 142). Letzteres wird verstärkt, wenn Musik die Funktionen anderer Medien Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 erfüllt, zum Beispiel bei Gruppen, die Meinungsbildung, Informationen und Wertebildung aus der Musik entnehmen, wie es oft bei Hip Hop Hörern Fall ist (Struck-Schoelen 2005:131/ Locke 2005: 142) oder in Gesellschaften, in denen Rundfunk als wichtigste Informationsquelle dient und Musik als Teil des Sozialisierungsprozesses hervorgehoben wird. Diese letzten Aspekte sind insbesondere in Bezug auf Westafrika von besonderer Bedeutung und werden anschließend ausführlicher erläutert. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass längst nicht nur Texte, die man als politisch betrachten würde, Emotionen und Interessen bündeln können. Vielmehr ist das Politische im gesamten Prozess musikalischer Praxis zu suchen. Hier ist die Annäherung an die Musiksoziologie von Bedeutung, wonach auch Komposition und musiktechnische Vorgehensweise ebenfalls als sozial relevant betrachtet werden können. Dazu dient die indisch-englische Band Asian Dub Foundation (ADF) als Beispiel, die durch ihre moderne Mischung aus elektronischen Techniken, traditionellen indischen Instrumenten und Reggae-Einflüssen in den neunziger Jahren weltweit für Aufmerksamkeit und Erfolg sorgte: „Whatever anyone says about Asian Dub Foundation’s so called „political“ lyrics, no one would have taken any notice if it wasn’t for ADF’ s sound and its inherent energy (…) For us, programming wasn’t just a technical issue, but carried emotional and social weight- certain sounds suggesting certain themes and lyrics...“ (ADF Collective in Franklin 2005: 8). An dieser Aussage wird deutlich, dass die sozialpolitische Vermittlungskraft von Musik weder strikt im sozialpolitischen Entstehungskontext noch strikt anhand von Liedertexten, sondern im gesamten Prozess der musikalischen Praxis zu suchen ist, wobei dies alles sich nicht ohne weiteres trennen lässt. So wird hier der Prozess musikalischer Praxis nicht als „Ersatz für echte politische Aktivität“ betrachtet, sondern als eine künstlerische Aktivität, deren politische Seite für manche Agenten inhärent sein kann. Dies ist zum Beispiel der Fall von Reggae und vom afrikanischen Hip Hop, die durchaus als Protestmusik betrachtet werden können, doch auch einem ästhetisch-musikalischen Wertesystem unterliegen, in dem Künstler genau so wie im sozialpolitischen System gezielt handeln und sich bewegen. Der Durchbruch und der Einfluss von Reggae lässt sich demnach zum einen aus musikanalytischer Sicht erläutern, als Musik, welche die Marginalisierung zur Zeit ihrer Entstehung überwinden konnte, weil sie nicht nur inhaltlich, sondern auch rhythmisch und harmonisch überzeugen und die Identifikation eines Großteils der Inselbevölkerung mit dieser Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 Musik bewirken konnte. Zum anderen muss der Durchbruch des Reggaes auf Jamaika in einem besonderen kulturellen und sozialpolitischen Kontext lokalisiert werden, in dem auch der Bedarf nach solcher Identifizierung und nach dem Ausdruck einer kulturellen und sozialen Not zu erkennen ist. Letzteres führt uns zur zweiten Annäherung, die sich an dem Beispiel des Reggaes auf Jamaika anbietet: Diese erfolgt auf empirischer Ebene. So liegt die Analogie zwischen dem jamaikanischen Beispiel und den kulturellen und sozialpolitischen Prozessen nahe, die westafrikanische Länder seit ihrer Unabhängigkeit prägen. In diesem präzisen Kontext von Transformation, sozialpolitischer Gestaltung und kultureller Identitätsbildung muss nach der sozialpolitischen Wirkung musikalischer Praxis gesucht werden. Auf dieser Grundlage lässt sich am besten ein Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung erfassen. Im Fall Jamaikas ist die soziale Wirkung des Reggaes zum Beispiel an dem Einfluss von Künstlern auf das Wahlverhalten sichtbar. Stephen A. King stellt fest, dass die Ergebnisse einer Wahl auf Jamaika bis in den achtziger Jahren von der Unterstützung bestimmter Künstler abhängig waren (King; 2002: 107f). Dies lässt sich an der erwähnten Wahl von 1976 erahnen, wobei hier eine Koinzidenz und keine Kausalität festgestellt werden kann. Dudley Thomson, Jamaikas Außenminister von 1976 bis 1978, betont das Interesse sämtlicher Politiker an einer Kooperation mit Reggae-Künstlern wie Bob Marley: „ Reggae expressed the wishes and sentiments of the people (…) That protest came through music and through their songs. And they said what they agreed and disagreed with. And you could find out really what the people where thinking by what song they sang. It was one way by which you could gage the people.” (Thomson in King 2005: 109) Reggae hat sich im Laufe der Jahre auf Jamaika von einer Bedrohung für die nationale Sicherheit zu einem wichtigen friedensstiftenden gesellschaftspolitischen Faktor entwickelt, welcher mit der Zeit von allen Gesellschaftsschichten und Akteuren respektiert wurde. Heute zählt Reggae zum offiziellen Kulturgut der Insel und die Tatsache, dass Jamaika der Entstehungsort des Reggae ist, gilt als wichtigstes Werbe-Argument der Tourismusindustrie der Insel (ebd:112f/ 122ff). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 So hat Reggae die Entwicklung Jamaikas seit ihrer Unabhängigkeit 1961 auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Weise geprägt. Diese Prägung im Hinblick auf Meinungsbildung oder Entstehung einer neuen wirtschaftlichen Branche, die bis heute von Bedeutung ist, würde ich als sozialpolitische Wirkung der musikalischen Praxis bezeichnen. Trotz der Abwesenheit strikter kausaler Verbindungen und Begründungen ist die Gestaltungskraft des Reggaes in der jamaikanischen Gesellschaft kaum zu bestreiten. II.3.b: Zwischenfazit Es ist nach Sichtung der wissenschaftlichen Beiträge zum Komplex von Musik und Politik schwierig klarzustellen, inwiefern Auswirkungen von musikalischer Praxis auf gesellschaftspolitische Prozesse erfasst oder gar theoretisiert werden können. Dass die Vermittlungsfähigkeit von Musik nichts Konkretes über ihre effektive soziale Wirkung aussagt, heißt jedoch nicht, dass diese Wirkung nicht vorhanden ist, und die Tatsache, dass die soziale Wirkung musikalischer Praxis sich weder anhand von klassischen empirischen Kriterien noch kausal erfassen lässt, sollte nicht der Grund sein diese Wirkung ganz abzustreiten. Die Wirkung von Musik muss immer in einem bestimmten Kontext gedeutet werden; daher lässt sie sich weder theoretisieren noch verallgemeinern. Das heißt nicht, dass der Kontext die Musik macht, sondern nur, dass die Funktion und Wirkung von Musik je nach Kontext unterschiedlich gedeutet werden kann und soll. So lassen sich Parallelen zwischen der Musik und dem Entstehungskontext feststellen, welche viel über die Interaktivität von Musik und Gesellschaft aussagen. Es ist des Weiteren von grundlegender Bedeutung, musikalische Praxis als gesellschaftliche Aktivität wahrzunehmen. Auch sie findet in einem bestimmten Kontext statt und wirkt auf diesen Kontext ein, indem sie Emotionen, Identifizierungsmuster, Mobilisierung von Menschen und Identitätsstiftung schafft und auf den Ebenen der Produktion, Vermittlung und Rezeption zur sozialen Gestaltungskraft beisteuert. Dieser elementare Aspekt von musikalischer Praxis scheint von den Musikwissenschaften und der Soziologie manchmal übersehen zu werden. Musik darf jedoch nicht auf diese soziale Gestaltungskraft reduziert werden: Letztere ist vielmehr ein fester Bestandteil musikalischer Praxis, der an bestimmten „Stellen“ oder Momenten der gesellschaftspolitischen Gestaltung deutlicher beobachtet werden kann. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 Schließlich macht dieser etwas breiter gefächerte Ansatz viele Darstellungsweisen des Verhältnisses von Musik und Politik möglich. So kann die politische Instrumentalisierung von Musik in autoritär geprägten Gesellschaften als Missbrauch von Musik zu ideologischen oder machtpolitischen Zwecken dargestellt werden. Ebenso kann Musik als wirtschaftliches Instrument von profitorientierten Unterhaltungsindustrien in einer etablierten, marktorientierten kapitalistischen Gesellschaft gedeutet werden. Wichtig ist nur, dass Musik und musikalische Praxis auf keine dieser Darstellungen reduziert wird. So kann ebenfalls argumentiert werden, dass musikalische Praxis eine gestaltende Rolle und eine soziale Wirkung in jenen Stadien und Nischen des gesellschaftspolitischen Prozesses haben kann, in denen sich eine (Re-)Konstruktion von kulturellen und identitären Wertesystemen vollzieht. Gerade in der afroamerikanischen Musik lassen sich zahlreiche Beispiele musikalischer Praxis nennen, die in einem solchen gesellschaftlichen Prozess politische Einflussnahme nach sich ziehen. Wenn dieser Einfluss nicht kausal zu belegen und konkret greifbar ist, sollten die Berührungspunkte berücksichtigt werden, an denen diese gestaltende soziale Wirkung von Musik sichtbar wird. Reggae ist nur eins dieser Beispiele, welches hier wegen der auf der Hand liegenden Verbindung mit dem afrikanischen Kontinent und dessen Geschichte gewählt wurde. So wird in den kommenden Teilen der Analyse mit dem gleichen analytischen Vorgang versucht, anhand bestimmter Beispiele der musikalischen Praxis und einer Kontextualisierung gesellschaftspolitischer Prozesse in Westafrika Aspekte des Beitrags von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung zu durchleuchten. Teil III: Die politische und kulturelle Dekolonisierung Westafrikas Die Analyse der gesellschaftspolitischen Prozesse, die sich im gegenwärtigen Westafrika vollziehen, macht eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit des Kontinentes unumgänglich. Der Kontakt zu den Kolonialmächten und den Werten, Religionen, Sprachen, die sie mitbrachten und aufzwangen, ist hier von zentraler Bedeutung. Afrika südlich der Sahara ist heutzutage der Schauplatz einer Fusion zwischen traditionell afrikanischen und europäischen Werten und Normen. Manda Tchebwa schreibt in einem Band über afrikanische Musik, dass Künste in Afrika die ganze Vitalität eines Kontinents widerspiegeln, in dem künstlerische Praxis und Alltag besonders eng ineinander verstrickt seien (Tchebwa; 2005: 15). Im letzten Teil der Analyse Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 wurde gezeigt, dass die enge Verbindung zu gesellschaftlichen Verhältnissen oder ihre Reflexion und Mitgestaltung zu den Eigenschaften der musikalischen Praxis zählen kann. In dieser Hinsicht scheint die musikalische Praxis in Afrika tatsächlich aufgrund der Traditionen, der kolonialen Vergangenheit und der aktuellen herrschenden Verhältnisse auf dem Kontinent ein besonderes Beispiel darzustellen: Aus ethnologischer Sicht ist eines der zentralen traditionellen Merkmale afrikanischer Gesellschaften der Glaube, dass das morale und gemeinschaftliche Leben von Vorfahren überwacht und beobachtet wird. Musik ist dabei das Medium zur Kommunikation mit den Vorfahren und dient der Verstärkung der irdischen und transzendentalen gemeinschaftlichen Bindung (Sowande 1972: 64). Des Weiteren ist die große Mehrheit der afrikanischen musikalischen Praxis mit religiöser oder sozialer Handlung verbunden und die Musik wird eher nach ihrer sozialen Relevanz als nach ihrem Unterhaltungspotential bewertet. Zu jeder alltäglichen Handlung, zu jedem sozialen Ereignis gibt es das passende Lied (Fletcher; 2001: 147f). Heute lässt sich dieses traditionell geprägte Merkmal von Musik ein wenig relativieren: durch die Urbanisierung und den großen Einfluss des europäischen Kulturmodells lässt sich eine große Kluft zwischen ländlichen und städtischen Räumen beobachten, wobei vorkoloniale gesellschaftliche Gebräuche, die sehr auf kleinere dörfliche Strukturen zugeschnitten sind, in Städten tendenziell an Bedeutung verlieren. Dennoch bleibt das gemeinschaftliche Bewusstsein, das auf Jahrhunderte langen Traditionen beruht, tief in afrikanischen Gesellschaften verankert. Um dies näher durchzuleuchten, wird die Entwicklung des Umgangs mit diesem traditionellen Erbe im Laufe der Kolonisierung und im postkolonialen Kontext im kommenden Teil dargestellt. Dabei wird im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit weniger auf die koloniale Zeit selbst als auf die Folgen der Kolonisation eingegangen. So wird auf jene Phase fokussiert, die in der afrikanischen und französischen Literatur als „Indépendances“ bezeichnet wird, als die Zeit der afrikanischen Unabhängigkeiten. Diese Zeitspanne ist etwas breiter angelegt und erstreckt sich auf die Zeit vor und nach den nominalen politischen Unabhängigkeiten. Dieser Begriff deutet auf den Anfang eines Prozesses kultureller und politischer Verselbstständigung, ein Prozess, der die Identitätssuche zerrissener Gesellschaften in sich birgt und mit der (Neu)Bildung eines gesellschaftlichen und politischen Bewusstseins verbunden ist. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 Afrikanische Gesellschaften befinden sich im Zuge der Dekolonisierung in einem Identitätskonflikt zwischen vorkolonialen und europäischen kulturellen Modellen, dessen Überwindung zu den wichtigsten Aufgaben und Herausforderungen der postkolonialen Zeit gehört. An dieser Stelle befindet sich die Berührungsstelle zwischen künstlerischer Praxis und politischem Prozess, die im Laufe des kommenden Teils thematisiert wird: Auf politischer Ebene ist die Identitätsfrage von großer Relevanz für die Entwicklung eines politischen Systems, Bevölkerungsgruppen sowohl hinsichtlich der nationalen Integration verschiedener in Prozess multi-ethnischen Staaten als auch im der Verselbstständigung auf internationaler Ebene. Diese Suche nach Eigenständigkeit vollzieht sich auch auf kultureller Ebene: so wird die Zwiespalt zwischen europäischen kulturellen und politischen Einflüssen und dem Drang zur Schaffung eines afrikanischen Bewusstseins, das dem traditionellen Erbe des Kontinents einen angemessenen Platz wieder gewähren würde, ebenfalls durch Musik und musikalische Praxis verkörpert. Anschließend wird über die Feststellung dieser Parallele hinaus untersucht, welche Funktion Musik, Künstler und musikalische Praxis im Rahmen dieser Identitätssuche haben können und ferner inwiefern Musik und politischer Prozess im Zuge der Unabhängigkeiten afrikanischer Staaten interagiert haben. Zu diesem Zweck werden zunächst die Auseinandersetzung und der Umgang afrikanischer Gesellschaften mit den politischen und kulturellen Folgen der Kolonisation thematisiert und anschließend mit bestimmten Merkmalen der Entwicklung populärer Musik in Verbindung gebracht. III.1 Dekolonisierung und kulturelle Identität Die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Afrikas wirft zwangsläufig die Frage nach den Auswirkungen der aufgezwungenen Etablierung von fremden Strukturen und Normensystemen durch die Kolonialmächte auf. Zweifellos hat die Kolonisierung die afrikanischen Gesellschaften weitgehend transformiert und geprägt und schwerwiegende wirtschaftliche und kulturelle Folgen gehabt. Die geschichtliche Analyse der Kolonisierung und deren Umstände und die politikwissenschaftliche Analyse heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse sollten dennoch unter unterschiedlichen kritischen Blickwinkeln erfolgen. Dies bedeutet nicht, dass das Übel der Kolonisation in irgendeiner Weise relativiert werden soll, sondern nur dass im Laufe von mehreren Jahrzehnten gesellschaftlicher Autonomie Entwicklungen stattfanden, die neue Prozesse zu Tage gebracht haben, für deren Erläuterung Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 der strikte Hinweis auf die koloniale Vergangenheit nicht länger ausreichend ist. Genauso bietet die ideelle afrozentrische Sicht eines afrikanischen Kontinents, der vor der kolonialen Zeit friedlich und wohlhabend gewesen sei und strikt zu seinen traditionellen Wurzeln zurückkehren sollte, keinerlei Ansatzmöglichkeiten im heutigen Kontext. Vielmehr sollte die Betrachtung des gegenwärtigen Afrikas dessen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verhältnisse zum Zeitpunkt der Dekolonisierung als Gegebenheit und Ausgangspunkt für künftige Entwicklungen betrachtet werden. III.1.a: Staats- und Identitätsbildung In dieser Hinsicht ist die postkoloniale Phase als ein Kontext zu betrachten, in dem sich afrikanische Gesellschaften als unabhängige Nationalstaaten bilden müssen. Dieser Prozess richtet sich zum einen nach außen auf die internationale Staatengemeinschaft, zum anderen nach innen auf die eigene Bevölkerung, die damit veranlasst wird, sich als Nation zu verstehen. In Afrika wie auch sonst wo auf der Welt sind die heutigen Nationalstaaten jedoch das Ergebnis zahlreicher politischer und kriegerischer Auseinandersetzungen und Aufteilungen zwischen imperialistischen Mächten, die den einheimischen Bevölkerungen meist fremd waren. Der Nationalstaat stimmt selten mit einem homogenen kulturellen Raum überein. Vielmehr bezieht der Nationalstaat seine Existenz aus einer Verwaltung, einem Rechts- und Versorgungssystem, territorialen Staatsgrenzen und meistens einer Amtsprache. Daraus ergibt sich auf lange Sicht eine gewisse Kohärenz, die als Grundlage zur Entstehung eines nationalen oder patriotischen Bewusstseins dienen kann. Das soziale Zusammenleben, staatliche Institutionen und Einrichtungen, der Verkehr von Personen innerhalb der Staatsgrenzen, die Information und die Teilnahme am politischen Geschehen dieses Nationalstaates tragen dazu bei, dass das staatliche Territorium progressiv von allen Bürgern als gemeinsames Territorium wahrgenommen und anerkannt wird. Dieser Prozess der nationalen Integration vollzieht sich in Europa seit mehreren Jahrhunderten und ist immer noch im Gange. Mit der Auflösung des Ostblocks und Jugoslawiens sind neue Nationalstaaten entstanden, die derzeit genau diese Entwicklung durchmachen. Auch in Deutschland ist die Frage, ob das nationale Territorium (das seit gerade 16 Jahren besteht) einer homogenen kulturellen Einheit entspricht, weiterhin aktuell und umstritten. So auch in Afrika: Die endgültige Grenzziehung in Afrika geht auf die Berliner Konferenz von 1884/85, in der ausschließlich europäische Länder die Aufteilung des Kontinentes in staatliche Einheiten und Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 kolonialen Gebieten festlegten, sowie auf weitere bilaterale Abkommen zwischen den Kolonialmächten zurück (Messailloux 1997: 11). Als auf der Berliner Kongo-Konferenz die europäischen Großmächte Afrika-Fragen verhandelten, war die koloniale Besetzung Afrikas dennoch längst im Gange: seit der portugiesischen Präsenz in Mozambique und Angola ab dem 16. Jahrhundert; seit der französischen Besetzung Ägyptens unter Napoleon ab 1800; oder seit Großbritanniens Annexion von Lagos in Nigeria im Jahr 1861. Der schwierigste Aspekt der Staatsbildung in Afrika besteht meines Erachtens darin, dass durch die koloniale Besetzung und diese Aufteilung verschiedene Bevölkerungsgruppen sich zu einer territorialen Einheit oder Grenzen bekennen mussten, die durchaus künstlich und vor allem nicht im Interesse der ansässigen Bevölkerungen, sondern im strikten wirtschaftlichen und machtpolitischen Interesse europäischer Mächte konstruiert wurden. Man sollte jedoch nicht annehmen, dass die vorkoloniale Aufteilung Afrikas viel homogener war: Wie die Reiche der vormodernen Welt waren auch sämtliche vorkolonialen Staaten Vielvölker-Gebilde, auch meist mit hegemonialer Struktur. Die politischen Identitäten im vorkolonialen Afrika bildeten sich eher vor dem Hintergrund bestimmter „vager kultureller Gemeinsamkeiten“ aus als aufgrund ethnischer Homogenität (Bley 2005: 280ff). Zudem konnten und können sich diese Zuordnungen und Identitäten schnell wandeln. So sind - entgegen der Annahme, die koloniale Herrschaft habe allein die Wurzeln der politischen Instabilität gelegt, die Afrika seit der Dekolonisierung prägt - die nationalen und sprachbezogenen Unterschiede und Zugehörigkeiten, die aus der kolonialen Herrschaft hervorgegangen sind, heute wesentlich prononcierter als die „ethnischen“, und die kolonialen Grenzen haben die Einheiten afrikanischer Gesellschaften selten zerrissen, sondern diese schlicht manipuliert (Messailloux 1997: 12). Die Aufteilung Afrikas ist im Zuge der Dekolonisierung nicht gründlich in Frage gestellt worden und es wurde von der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) beschlossen, diese unberührt zu lassen (Nohlen 1991: 506). So sind meines Erachtens nicht nur die willkürliche Grenzziehung oder die unterstellte mangelnde ethnische Homogenität in afrikanischen Staaten der Grund für Identitätskonflikte, sondern eher die Tatsache, dass afrikanische Gesellschaften durch die Erlangung der Unabhängigkeit innerhalb kürzester Zeit von dem Status untergeordneter Kolonien, in denen einheimische Identität unterbunden wurde, zum Status von eigenständigen Nationalstaaten, in denen die Identitätsfrage geradezu entscheidend ist, übergegangen sind. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 So standen die politischen Eliten Afrikas unmittelbar nach der Unabhängigkeit vor der Aufgabe, nationale Identitäten zu schaffen, die sowohl die Eigenständigkeit des eigenen Landes als auch die Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent widerspiegeln sollten. Insbesondere in ehemaligen französischen Kolonien, in denen die politische Bildung und das politische System stark vom französischen Nationsverständnis geprägt wurden, wurde diese Aufgabe von den Führungseliten sehr ernst genommen. So ist der Prozess der Staatsbildung in Afrika ist durchaus von der schwierigen Auseinandersetzung mit den kulturellen Werten und Modellen geprägt, aus denen gemeinschaftliche oder nationale Identitäten herausgeleitet werden sollte. III.1.b: kulturelle Assimilation und kulturelle Selbstbefreiung Die Kolonisierung hat nicht bewirkt, dass alle traditionellen Gebräuche sowie das gesamte kulturelle Erbe des vorkolonialen Afrikas verschwunden sind, sondern dass diese heute nur stückweise wiedergegeben werden können (Komani; 1984; S.80). Dies habe zur Folge, so Komani, dass sich afrikanische Gesellschaften in einem „ideologischen Leerraum“ befinden, der einerseits von einem traditionellen Erbe geprägt ist, der durch kulturelle Assimilation verzerrt wurde und heute zum Teil überidealisiert wird, und andererseits von westlichen Werten, die im kolonialen und im postkolonialen Kontext ebenfalls verzerrt wiedergegeben werden (ebd, S.235). Aus diesem Leerraum, den ich nicht länger als ideologisch sondern eher als identitär betrachten würde, ergibt sich auch ein Streben nach einer eigenständigen Formulierung von Identität. Identität wird nicht nur konstruiert, sie erfolgt durch (persönliche) Bekennung und Anerkennung (von Dritten). An dieser Stelle lässt sich das Bemühen um die Bewahrung der eigenen Identität von dem Streben nach der Bildung und der Behauptung einer Identität unterscheiden. Es handelt sich dabei jedoch um zwei verschiedene Formen der Identitätsbehauptung. In Bezug auf afrikanische Gesellschaften findet die erste Form in einem kolonialen Kräfteverhältnis statt und deutet auf den „Kampf“ um die Bewahrung und Anerkennung eines Erbes, wobei die Behauptung der Identität und ihre Ausdrucksformen als Mittel des Widerstandes interpretiert werden können. Die zweite Form deutet wiederum auf die Herausforderung, sich eigenständig und frei von Zwang zu entwickeln und dabei die erforderliche Auseinandersetzung mit den bestehenden Erben progressiv und produktiv Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 3 durchzumachen. Beide Aspekte haben einen gemeinsamen Leitfaden, nämlich eine gewisse Entbindung vom kolonialen Modell, sei es politisch oder kulturell gemeint. Dieser Prozess, der als kulturelle Selbstbefreiung bezeichnet werden kann, ist zweideutig und beinhaltet sowohl die militante Entbindung von einem fremden Modell, das unter Zwang durchgesetzt wurde, als auch den Prozess, sich dieses Modell eigen zu machen, um daraus eine eigene Identität und einen eigenen Weg abzuleiten entlang dessen sich die Gesellschaft frei und neu entfalten kann. Die kulturelle Dekolonisierung ist daher ein wichtiger Prozess innerhalb der Dekolonisierung selbst, der sich in der Zeit vor und nach der politischen Unabhängigkeit vollzieht. Es wird im Folgenden versucht zu zeigen, inwiefern Kunst und Künstler in Westafrika an diesem Prozess beteiligt werden. III.1.c: Der Künstler als Agent der kulturellen Befreiung ? Heute herrscht weitgehend Konsens darüber, dass das traditionelle Erbe afrikanischer Gesellschaften, wenn es durch die Kolonisierung und die Urbanisierung an Gewicht und alltäglicher Anwendung verloren haben mag, zumindest im Bewusstsein afrikanischer Gesellschaften tief verankert bleibt und weiterhin identitätsstiftend ist. Die Gebräuche und kulturellen Praktiken der vorkolonialen Zeit und das Wissen, das durch die orale Tradition trotz der Kolonisation weiter vermittelt werden konnte, stellten unmittelbar nach Erlangung der Unabhängigkeit wenige Elemente einer Identität dar, die man als eigen oder einheimisch betrachten könnte. Gerade dieses Erbe und seine künstlerischen Manifestationsformen haben während der Kolonisierung und im Zuge der kulturellen Assimilation für erhebliche Teile der kolonisierten Bevölkerung als besonderer Anhaltspunkt gedient, was ihre Bedeutung als Bestandteil eines afrikanischen Bewusstseins zusätzlich gesteigert hat. Im Zuge der Dekolonisierung hat sich diese Konstellation verändert; Kunst und Gesellschaft stehen vor neuen Herausforderungen. Eine von ihnen besteht darin, sich im Zuge der politischen Unabhängigkeit eigenständig zu etablieren und anerkannt zu werden. Diese Herausforderung ist ein wiederkehrendes Thema, das von afrikanischen Philosophen und Intellektuellen vor und nach der Phase der Unabhängigkeit unterschiedlich behandelt wurde. Dennoch haben sowohl Senghors Konzept der „Négritude“, N’Krumahs Theorie des „Consciencism“ als auch der Panafrikanismus und sein Nachfolger, der Afrozentrismus, eins gemeinsam, nämlich den Ausgangspunkt, dass afrikanische Gesellschaften sich in einem Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 Konflikt zwischen eurochristlichen Werten und Einflüssen einerseits und traditionellen afrikanischen Werten und Normen andererseits befinden, und dass die Notwendigkeit besteht, diesen Konflikt zu überwinden und ein eigenständiges afrikanisches Bewusstsein zu bilden, das den Weg für Fortschritt öffnen und dem afrikanischen Trauma ein Ende bereiten soll (Bebbé- Njoh; 2002: 94). Diese Idee der Bildung eines afrikanischen Bewusstseins nährte den Boden für die große Mehrheit der afrikanischen politischen Bewegungen, vielleicht sogar für die Erkämpfung der Unabhängigkeit, und fand ab den sechziger Jahren - verknüpft mit einer neuer Interpretationsweise von marxistischen Ansätzen - Anwendung in den sozialistischen Systemen Ghanas, Senegals, Guineas oder der Elfenbeinküste, deren Erfolg jedoch durchaus strittig ist. Dennoch blieben Kunst und Künstler in dieser Zeit und auch noch später in den achtziger Jahren, als eher von großer Desillusion und „Afro-Pessimismus“ die Rede war, wichtige Akteure dieses Prozesses der Bewusstseinsbildung. Noch 1985 schrieb der kongolesische Philosoph Kimoni, dass es zum Auftrag afrikanischer Künstler gehöre, Afrikas kulturelles Erwachen zu initiieren (Kimoni; 2005: 231). Fünfzehn Jahre später schreibt Makili Gassama, Literaturkritiker, dass „in diesen drei Jahrzehnten der Unabhängigkeit, geprägt von Sorglosigkeit und Unverantwortlichkeit, niemand außer den Künstlern und Schriftstellern seinen Auftrag anständig erfüllt hat“ (Mwaria/ Mc Laren (Hrsg) 2000:11).5 Ferner lässt sich im Allgemeinen beobachten, dass die sich große Mehrheit der afrikanischen künstlerischen Produktionen inhaltlich mit Afrika und den dort herrschenden Verhältnissen beschäftigt und aus dem Bedarf hervorgeht, die Geschehnisse des Kontinents zu verstehen und wiederzugeben. Der afrikanischen Literatur wird ständig und in allen Phasen ihrer Geschichte diese moralische Funktion verliehen (Kesteloot; 2001: 15). In der Musik lässt sich das anhand sämtlicher Musikrichtungen wie „Afro-Reggae“, „Afro-Calypso“ oder „AfroBeat“ wieder finden (siehe dazu Teil III.3). In Abgrenzung zum jamaikanischen Reggae oder zum karibischen Calypso definieren sich diese Musikrichtungen zum großen Teil durch diese soziale Reflexion und die direkte Verbindung und Identifikation mit dem afrikanischen Kontinent und dessen gesellschaftlichen Herausforderungen, wobei das Präfix Afro auf eine 5 Eigene Übersetzung aus dem Französischen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 sowohl ästhetische als auch inhaltliche Besonderheit hinweist (Darré 1996: 164/ Bender in Erlmann 1991: 31). In einer Abhandlung zum Afro-Calypso in Sierra Leone schreibt Wolfgang Bender, dass der Unterschied zum karibischen Calypso mehr auf der inhaltlichen und kontextuellen Ebene als auf der musikalischen Ebene zu finden ist. Afrikanische Musik, so Bender, ist „ein Spiegel der Veränderung des Bewusstseins und der Verlaufsformen der Entkolonialisierung, weil sie sich nicht zuletzt auch immer wieder mit gesellschaftlichen und auch explizit politischen Ereignissen befasst“ (Bender in Erlmann 1991: 33). Die Bildung eines Selbstbewusstseins soll in Afrika quasi programmatisch durch die Kunst erfolgen. Sie gehört zu den primären Aufgaben des Künstlers und könnte ferner als eine Funktion der Kunst in westafrikanischen Gesellschaften verstanden werden. III.2: Sonderbeispiel Westafrika ? Die Bedeutung der Musik im Alltag afrikanischer Gesellschaften ist oft offensichtlich, doch ihr Einfluss, ihre Funktion und Bedeutung in dem gesellschaftspolitischen Entstehungsprozess bleibt ein sehr marginaler Forschungsgegenstand. In diesem Kapitel wird versucht, die gesellschaftlichen und politischen Faktoren und Prozesse darzustellen, die zur Entstehung und Schaffung einer einheimischen populären Musik geführt haben. Die Musik, die ich folgend als „populär“ bezeichne, ist im Laufe des zwanzigsten Jahrhundert entstanden, zuerst während der Kolonialzeit und später im Zuge der Dekolonisierung. Der Begriff „populär“ deutet auf die Industrialisierung der Produktions- und Diffusionsweise, also auf eine Musik, die sich an ein möglichst breites Publikum richtet. Wenn in Bezug auf Afrika von populärer Musik die Rede ist, sind damit sehr vielfältige Genres gemeint. Der Begriff populäre Musik enthält dabei keine ästhetische Bedeutung, wie etwa bei der westlichen „Pop Musik“. Man neigt dazu, afrikanische Musik in traditionelle und moderne Musik aufzuteilen. Diese Aufteilung trägt jedoch der Komplexität der allgemeinen Entstehung und Bedeutung von populärer Musik in Afrika nicht Rechnung (Quelle 1: Suzuki 2002). Es wird anschließend versucht, diese Komplexität und die Vielfalt und Bedeutung der populären Musik in Westafrika am Beispiel von musikalischen Produktionen aus Ländern wie Guinea, Elfenbeinküste, Ghana oder Nigeria deutlich zu machen. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 Das Beispiel Westafrikas wurde einerseits für die starke musikalische Tradition ausgesucht, die zu den wichtigsten kulturellen Habiti der Mandingo- und der Golfregion zählt, und andererseits für die enorme Vielfalt an musikalischer Praxis und Produktionen, die seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dort zu beobachten ist. Wenn sich synkretische Musikformen im Laufe des zwanzigsten Jahrhundert auf dem ganzen Kontinent verbreiteten, geschah es am meisten und vor allem am frühesten in Westafrika. Dies lässt sich auf unterschiedliche Faktoren zurückführen: Viele Länder Westafrikas waren unter britischer Verwaltung. Die britische Kolonisierungspolitik war eher wirtschaftlich orientiert und ließ eine vergleichsweise flexible Kulturpolitik zu, so dass in britisch verwalteten Gebieten (darunter insbesondere Nigeria, Ghana und Sierra Leone) bereits im neunzehnten Jahrhundert synkretische Musik produziert wurde (Manuel; 1988: 89f). In den von Frankreich verwalteten Gebieten lassen sich solche Entwicklungen erst viel später beobachten. Ein weiterer Faktor ist die rasche Entwicklung vieler urbaner Handels- und Kommunikationszentren im Golf von Benin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert: in die Häfen von Accra, Cotonou, Abidjan oder Lagos strömten musikalische Einflüsse aus aller Welt, welche die Entstehung neuer Musikformen gefördert haben. Dank der vergleichsweise schnelleren Urbanisierung und Modernisierung Westafrikas verbreiteten sich neue Einflüsse über Rundfunk, Schallplatten oder über aus Europa importierte Medien, die zusätzliche Anregungen für neue musikalische Produktionen geschaffen haben. So gilt diese Region heute als das Entstehungsgebiet der Musik, die heute weltweit die Grundlagen der „Worldmusic“ bildet6. Aus analytischer Sicht lässt sich anhand des Beispieles der gegenwärtigen westafrikanischen Musik zwei wichtige Verbindungen untersuchen: die Verbindung zwischen traditionellen Kulturgütern und populärer Kultur einerseits, die im Zuge der Kolonisierung willkürlich getrennt wurden und andererseits die Verbindung zwischen populärer Musik und gesellschaftspolitischem Bewusstsein. Die Analyse Westafrikas ist hier insofern besonders fruchtbar, als dass traditionelle Kulturgüter (in Form von oraler Tradition und sozialgerichteter musikalischer Praxis) in vielen Ländern der Region im postkolonialen Kontext als politische Instrumente der Bewusstseinsbildung eingesetzt wurden. Der Grund für die Wahl dieses Instrumentes der Bewusstseinsbildung liegt dabei im westafrikanischen Kulturgut selbst. So scheint gerade in Westafrika die Musik einen 6 Die Worldmusic (oder Musik der Welt) ist vorerst ein wirtschaftliches Konzept aus den achtziger Jahren, als die wichtigsten Musikkonzerne dem Beispiel der Entwicklung afrikanischer Musik folgten und traditionelle Musik aus aller Welt aufgriffen und vertrieben. Es wurde somit ein neuer Markt eröffnet, der sehr schnell an Bedeutung gewann. (Siehe dazu Darré 1996) Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 besonders hohen gesellschaftlichen Stellenwert zu haben, den es hier erst einmal zu erläutern gilt. III.2.a: Traditionelle Funktion und Funktion von Tradition Zu den wichtigsten Aspekten der Besonderheit westafrikanischer Gesellschaften in Bezug auf Musik zählt die Einbindung von Musik in nahezu allen alltäglichen Aufgaben und gesellschaftlichen Ritualen. In dieser Hinsicht wird auf eine gesellschaftliche Funktion von Musik hingewiesen, die hier als fester Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation und der Sozialisierung zu verstehen ist. Der nigerianische Komponist und Musikethnologe Fela Sowande unterscheidet verschiedene Ebenen der Einbindung von Musik in sozialen und strukturellen Mustern in vorkolonialen westafrikanischen Gesellschaften. Er verleiht somit der traditionellen Musik rituelle, soziale, funktionale und Unterhaltungsfunktionen: die rituelle Funktion besteht aus Musik, die öffentliche religiöse Zeremonien und Rituale begleitet. Dabei handelt es sich zum Beispiel um sogenannte „Praise Songs“, die in ganz Westafrika verbreitet sind, wobei Musik und Gesang der Bindung sowohl innerhalb der Gruppenangehörigen als auch zu geistigen übermenschlichen Kräften (engl. „Psyche“) dient. Die soziale Ebene bezieht sich auf Musik, welche der moralischen und sozialen Bildung, der Integration und Zugehörigkeit innerhalb der Gruppe dienen soll. Die funktionale Ebene bezieht sich auf Musik, welche die tägliche Arbeit und die häuslichen Aufgaben begleitet und erleichtert (Sowandé in UNESCO 1972: 64f). Über diese alltäglichen Funktionen der musikalischen Praxis der vorkolonialen Zeit hinaus gehört Musik als Tradition neben der oralen Tradition und dem Tanz zu jenen Mitteln der Bewahrung von Erbe und Geschichte, der Aufrechthaltung und Weitergabe besonderer Merkmale einer Gemeinschaft, des Dialogs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die einerseits in der vorkolonialen Zeit ohne Archivierung und Verschriftlichung, andererseits im Zuge der Kolonisierung und der Unterdrückung der kulturellen Identität von grundlegender Bedeutung sind. Trotz der strukturellen Veränderungen, die seit der Kolonialzeit und durch diese stattgefunden haben, stellt Musik bis heute ein wichtiges Instrument der Sozialisierung westafrikanischer Gesellschaften dar (Tchebwa; 2005:15). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 Mit Traditionen sind jene gesellschaftlichen Handlungsformen, Gebräuche und Wissen gemeint, die weitergegeben werden und den Erfahrungsschatz bestimmter Gesellschaften bilden. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass Traditionen bei der Weitergabe verändert werden und sich den gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen können. Somit lässt sich sagen, dass der Begriff von Tradition trotz seiner Bindung an Vergangenem einen Neuerungsprozess verbergen kann. Die Analyse der Musik und der Kunst im Allgemeinen bietet in dieser Hinsicht interessante Ansatzmöglichkeiten an: einerseits ist die gegenwärtige Musik weiterhin geprägt von diesem traditionellen Erbe, andererseits finden sich viele traditionelle Gebräuche afrikanischer Gesellschaften in gegenwärtigen Kunstformen wieder. Das beste Beispiel ist wahrscheinlich die orale Tradition. Als Grundstein vieler westafrikanischen Kulturen und als Zeugnis ihrer Geschichte, ihres sozialen Aufbaus und ihrer Gebräuche wird heute die orale Tradition zugleich als Vorgängerin und als wichtigste Inspirationsquelle der gegenwärtigen afrikanischen Literatur betrachtet. Des Weiteren ist die orale Tradition trotz der gängigen Verschriftlichung und Archivierung heute noch in vielen Teilen Westafrikas (insbesondere in ländlichen Gebieten) sehr verbreitet (Kesteloot: 2001; S.14ff). Als Bestandteil des sozialen Zusammenlebens und des kulturellen Erbes hat sie ebenfalls Auswirkungen auf die künstlerischen Schaffensprozesse in Theater, Literatur und Musik: Die Musik hat insofern Teile der Funktionen der oralen Tradition in der Gegenwart übernommen, als dass sie sozial und gesellschaftlich relevante Inhalte auf festen Tonträgern oder über Medien wie Rundfunk und Fernsehen übermitteln kann. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Griots, Träger der oralen Tradition, weiterhin stark am musikalischen Geschehen in Westafrika beteiligt sind, zeigt letztendlich, dass die orale Tradition heute sowohl in traditioneller Anwendung als auch in gegenwärtiger künstlerischer Praxis weiterhin die Bindung zwischen künstlerischen Produktionen und gesellschaftlichem Geschehen prägt. So herrscht in Westafrika weiterhin eine starke Bindung zwischen Traditionen und Gegenwart, die weitgehend durch Musik verkörpert wird. Unter den Traditionen und Gebräuchen, die als wichtiger Kulturgut und Identitätsmerkmal der Region gelten, werden Musik und ihre tiefe Verankerung in der gesellschaftlichen Ordnung besonders hervorgehoben. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 III.2.b: Von Griots und Musikbeamten Unter den vielen Kulturen Westafrikas hat die Mandingo Kultur wahrscheinlich den größten und stärksten Einfluss auf die heutige Region gehabt. Die Mandinka, „Mendé“ oder „Manden“ sind ein Volk, dessen Ursprung im Mali des 11. oder 12. jahrhundert liegt. Im 13. Jahrhundert befreit Sundjata Keita das kleine Mandinka-Volk von dem Joch der Sossos, gründet anschließend das Königreich von Mali und proklamiert die Mandingo Charta, welche die Sklaverei verbietet und eine menschen- und handelsrechtliche Grundlage schafft (Schulz 2001: 10ff). In den folgenden Generationen wird das Mali-Königreich erheblich wachsen. Die daraus entstandene Einflusszone der Mandingo-Kultur umfasst die heutigen Territorien von Burkina Fasso, Elfenbeinküste, Guinea und Mali und streckt sich von Nigeria bis hin zum Senegambia Raum über weite Teile des Benin-Golfes. Ein besonderes Merkmal der Mandingo-Kultur, das die vielen politischen Tumulte der Region überlebt hat, sind die „Griots“ oder „Jeli“-Sänger.7 Die Griots sind gesellschaftliche Figuren, die in der Mandinka Ordnung zwar der Kaste der Handwerker angehörten (die in der gesellschaftlichen Stratifizierung über den Sklaven und unter dem Adel standen), jedoch als Musiker, öffentliche Sprecher, Diplomaten und Erzähler dienten (Hoffman 2001: 11ff). Somit hatten sie zugleich künstlerische und politische Funktionen: einerseits begleiteten sie gesellschaftliche Rituale und waren ferner für Unterhaltung zuständig, andererseits waren sie als einzige Figuren dieser Kaste mit der führenden Schicht in Verbindung. Jeder Griot hatte einen „Patron“, den er rühmen sollte, aber auch als einziger unbestraft kritisieren durfte. Ferner waren die Griots für die Weitergabe von Kultur und Geschichte sowie für die Information der Volksangehörigen zuständig. Somit waren die Griots trotz ihrer „niedrigen“ gesellschaftlichen Stellung weise und hoch geachtete Figuren dieser Gesellschaft und gelten heute als traditionelle und legitime Väter und Vertreter der musikalischen Praxis in Westafrika (Conrad 2002: 2,4,15). Der Status eines Griot ist erblich und jeder kann sich zum Griot machen, der einen Griot zu seinen Vorfahren zählt. Namen wie Keita, Diabaté oder Kanté deuten auf jene GriotsDynastien, die eine 800 Jahre starke Tradition vertreten, welche alle politischen Tumulte überstanden hat. So sind die berühmten Musiker Salif Keita und Mori Kanté oder Sékou Diabaté, die viel zum internationalen Durchbruch der westafrikanischen Musik und ferner der 7 Die Begriffe Griot oder Jeli deuten auf dieselbe Kaste innerhalb der Mandingo Ordnung. Der Begriff Jeli kommt aus dem Raum um Mali, Niger und Burkina Faso. Der Begriff Griots stammt aus dem Französischen und wird eher im Golf von Benin verwendet. In dieser Analyse wird der Begriff Griot gewählt (siehe dazu: Fletcher; 2001: 149) Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 Weltmusik beigetragen haben, mehr oder weniger direkte Nachfahren der Griots des heute noch verehrten Sundjata Keita. Die Musik, die traditionellen Gesänge und Instrumente stellen eins der wenigen verbleibenden Bindeglieder zwischen dieser Zeit und der Gegenwart dar (Lee; 1986: 21). Ferner sahen und sehen sich sämtliche Künstler aus der Mandingo-Region wie Alpha Blondy, Touré Kounda oder Féla Kuti oder der derzeit erfolgreichste ReggaeSänger Afrikas, Tiken Jah Fakoly, als die direkten Nachfolger der Griots berufen. (Tchebwa: 2005; S.14) Auch die gesellschaftliche Funktion der Griots hat sich im Laufe der Generationen und trotz der strukturellen und gesellschaftlichen Umbrüche der Kolonialzeit bewahrt, und die Griots gehören heute noch zu den habiti der regionalen Kultur. So gab es 1985 die größte GriotsVersammlung der Gegenwart, als 3000 Jeli und Griots aus der gesamten MandingoEinflusszone nach Kita, Mali, zur Eröffnung der „Jelibolon“ („Halle der Griots“) strömten und dort eine Woche lang tagten und ihr Oberhaupt wählten (Hoffmann; 2000: 8). Die Relevanz der Funktion der Griots ist in ländlichen Gebieten deutlicher als in Städten und viele der heutigen Griots könnten heute als Musiker und Unterhalter gelten, was ihre politische Funktion nur zum Teil relativiert. Eine Aufgabe der Griots in der vorkolonialen Zeit war es zum Beispiel, die Krieger mit ihrem Gesang und ihrer Musik zu ermutigen. So beobachtet Barbara Hoffmann, die sich jahrelang mit den Jeli-Sängern Malis beschäftigt hat, dass Lieder der wichtigsten Griots der Region immer dann ununterbrochen über den nationalen Rundfunk ausgestrahlt werden, wenn das Land vor einer schweren Herausforderung steht, wie zum Beispiel während des Staatsstreichs von 1991 (ebd: 11). Nicht alle Musiker Westafrikas sind sogleich Griots, und mit der Verbreitung der populären Musik in den fünfziger und sechziger Jahren hat sich auch die musikalische Praxis, die eigentlich traditionell als Kastensache gilt, in einem gewissen Sinne „demokratisiert“. Viele Traditionsverfechter klagen damit gegen einen Machtverlust der Griots. Sékou Diabaté, Gründer und Gitarrist der Highlife Kultband „Bembeya Jazz“ betonte dagegen, dass die Griots sich ihrer Zeit anpassen müssen und dass im Grunde genommen nur ihre Kundschaft sich dadurch ändere: Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 „Wir spielen nicht länger für einzelne Familien, sondern für alle. Wir loben nicht länger unsere Patrons, sind aber die Angestellten und Kritiker unserer Staatsmänner“8(Lee; 1986: 51). So sind die Griots gerade aufgrund ihrer starken Bindung zu den Traditionen und ihrer Gruppen- und Schichtübergreifenden Anerkennung in einigen Ländern Westafrikas im Zuge der Dekolonisierung und der kulturellen Selbstbefreiung von den Führungseliten mancher Länder zu den Agenten der Schaffung einer neuen lokalen afrikanischen Identität ernannt worden. Als Beamte wurden sie auf Kosten von Staaten oder Staatsparteien in Guinea, Elfenbeinküste, Ghana oder Nigeria dazu beauftragt, ihren Mitbürgern und der Welt das neue Gesicht Afrikas zu zeigen (siehe dazu Teil III. 2.c). Man könnte sich fragen, wo der Unterschied zwischen diesem Phänomen und einer staatlich gesteuerten Propaganda liegt. Es muss betont werden, dass diese Musik trotz ihrer nicht zu überhörenden nationalistischen Akzente eine sehr breite Popularität genoss. Dieses Verhältnis zwischen autoritären politischen Merkmalen und florierender Kultur stellt tatsächlich ein Paradoxon für gegenwärtige (westliche) Denkmuster dar, das es an dieser Stelle zum Verständnis der afrikanischen Besonderheit zu überwinden gilt. III.2.c: Musik und Kulturpolitik im postkolonialen Westafrika Anfang der sechziger Jahre rufen Staatsmännern wie Sékou Touré (Guinea) oder Houphouet Boigny (Elfenbeinküste) eine „ kulturelle Revolution“ aus. In diesen Ländern mit vergleichsweise schlecht verbreiteten Medien und geringen Alphabetisierungsquoten werden Musik und Tanzspektakel (die in den sechziger unter der Bezeichnung „Ballets Africains“ für weltweites Aufsehen sorgen) zu den wichtigsten Instrumenten dieses Unternehmens gemacht. Wenn die Tanzspektakel eher auf lokale Eliten und auf das Ausland gerichtet waren, sollte die Musik gezielt die lokale Bevölkerung ansprechen (Lee 1988: 48). Nur staatliche Haushalte sind zu der Zeit in der Lage, Anlagen und Instrumente zu besorgen oder Tonstudios zu finanzieren. Armee, Polizei, Verwaltung: jede Beamtenkörperschaft erhält die nötige Ausstattung und gründet Orchester, die jährlich bei festivalartigen Wettbewerben auftreten. Die Gewinner erhalten den Titel „Nationalorchester“ und dürfen im Ausland auftreten. Tournee- und Werbekosten werden ebenfalls staatlich finanziert. Zu diesen Orchestern zählen Gruppen wie Bembaya Jazz, Les Amazones de Guinée (Guinea), Horaya Band (Mali), die 8 eigene Übersetzung aus dem Französischen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 Olympic Moro Jazz Band (Nigeria) oder die Akpata Jazz aus Sierra Leone - von Premier Albert Margai selbst finanziert (Lee 1988: 55-61/ Erlmann 1991: 26). Mit der Zeit und dem steigenden Erfolg werden die Mitglieder dieser Orchester zu Berufsmusikern, und die Leitung der erfolgsreichsten Orchester wird berühmten Griots anvertraut. In der Regel erhalten die wichtigsten Orchester in den Hauptstädten Konakry, Freetown, Lagos, Abidjan oder Cotonou Lokale, die sie selbst bewirtschaften und in denen sie auftreten sollen, wenn sie nicht auf Tournee sind,. Für manche dieser Gruppen ist das Repertoire stark eingeschränkt. Die Musik soll zugleich traditionelle und moderne Elemente integrieren und dient im Inland dem Widerstand gegen die verführerische westliche Popmusik der sechziger Jahre und der Verbreitung der modernen afrikanischen Kultur im Ausland (Lee 1988: 55). In Konakry, der Hauptstadt von Guinea, widmet sich Sékou Touré ganz der „Identité culturelle“, gründet einen staatlichen Plattenvertrieb und übernimmt die Kontrolle über den kolonialen Radiosender „Radio Banane“, der ab 1959 - ein Jahr nach der Unabhängigkeit - in „Voix de la Révolution“ umbenannt wird und nur noch einmische Musik senden darf (Suzuky 2002) 9. Im Gebäude des nationalen Rundfunks befindet sich das einzige Tonstudio des Landes und bis 1977 werden alle guineischen Produktionen dort nach sorgfältiger Auswahl aufgenommen. Justin Morel, von 1979 bis 1992 Vorsitzender des Nationalen Rundfunks Guineas, Radio Television Guinée und anschließend Kommunikationsbeauftragter der UNESCO in Guinea, erinnert sich an die Anfangszeiten der „kulturellen Revolution“ : „Am ersten Tag [nach dem Beschluss von 1959] sind wir durch die Straßen von Konakry gezogen, um die Folklore aufzuzeichnen, die vor Ort zu finden war. Später haben wir Mannschaften gebildet, die ins Landesinnere gehen sollten und dort systematisch aufnehmen mussten, was sie hörten. Das Ziel war, der nationalen Identität Guineas einen wirklichen Sinn zu geben“10( Morel zitiert in Lee 1988: 59). Achken Akba, Dirigent von Bembeya Jazz, behauptet, dass Sékou Touré, der bereits als militanter Gewerkschaftler und Frankreichkritiker mit Houphouet Boigny, Léopold Senghor und dem Ghanaer Nkrumah die Vision eines neu auferstehenden afrikanischen Kontinents 9 Dieser Rundfunksender RTG (Radio Télé Guinée) erhielt den Spitznamen „Radio Banane“, denn er diente während der kolonialen Herrschaft überwiegend der Information von Plantagenbesitzer über den Verkehr von Waren- und Containerschiffen. Unter der Aufsicht von Sékou Touré wurde er gänzlich zum Zweck einer propagandaartigen Kulturpolitik umgebaut. Die Hälfte der Sendezeit sollte aus Musikprogrammen bestehen. Dazu Lee 1988: 58. 10 Eigene Übersetzung aus dem Französischen. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 4 teilte, die Idee seiner „Révolution Culturelle“ bei einem Konzert des ghanaischen HighlifeMusikers E.T Mensah hatte: „ Wir kannten nur die französische Kultur und ihre Musik. Für die erste große Veranstaltung nach der Unabhängigkeit hat unser Präsident [Sékou Touré] in allen Provinzen nach einem Orchester gesucht, das seine Gala mit Musik aus unserer Heimat begleiten könnte. Er hat keins gefunden. So musste er sich an den ghanaischen Präsidenten Kwamé Nkrumah wenden. Dieser hat dann seine Tempo Dance Band geschickt, die für diese Gelegenheit von E.T. Mensah geleitet wurde. Das war die erste afrikanische Band, die nach der Unabhängigkeit in Guinea gespielt hat. Dann wurden wir beauftragt unsere eigene Band zu gründen.“ (Akbah zitiert in Suzuki 2002). Vor der Unabhängigkeit gab es in Guinea - und das gilt für alle ehemaligen französischen Kolonien - keine einheimische populäre Musik. In Konakry gab es neben der Militärkapelle, die Marschmusik spielte, ganze zwei Orchester, die jeweils „Joviale Symphonie“ (Fröhliche Symphonie) und „Douce Parisette“ hießen, und ausschließlich europäische und karibische Musik spielten. Alle Dirigenten der Orchester in der französischen Einflusszone kamen aus der William Ponty Musikhochschule in Dakar, einer Schule für klassische Musik (ebd). In Nigeria wird ebenfalls Anfang der sechziger der Import ausländischer Musik verboten. Da auch wird in ländlichen Gebieten nach anderen Rhythmen und musikalischen Einflüssen gesucht, die bislang nicht verzeichnet waren. So werden traditionelle Rhythmen und Melodien wie das nigerianische Juju und das ghanaische Kokomba den Radiozwecken anhand moderner Technik und Instrumente (Schlagzeug, Bassgitarre, elektrische Gitarre und Blasinstrumente) angepasst (Lee 1988: 59). Die Staatsparteien Nigerias, der Elfenbeinküste, Benins oder Guineas „leihen sich“ gegenseitig Gruppen aus Nachbarländern für ganze Spielsaisons. Der Erfolg ist groß und mit der Unterstützung des Rundfunks entwickeln sich insbesondere während der sechziger Jahre neue Musikrichtungen und eine bedeutende Musikindustrie, die zum raschen Durchbruch einer populären Musik beitragen. Die politische Förderung der einheimischen Musik ist ein Phänomen, das in vielen westafrikanischen Ländern (insbesondere in ehemaligen französischen Kolonien) auf den Willen der Eliten zurückzuführen ist. Das Beispiel von Sékou Touré, zugleich bekannt als gnadenloser Diktator und als größter Förderer afrikanischer Kultur, steht für eine Politik, die in Guinea, Benin, Elfenbeinküste und Senegal durchgeführt wurde. So wurde die Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen in einer neuen Nation zugleich durch den autoritären Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Zwang einer sozialistischen Bürokratie und durch die Begeisterung der Bevölkerung für neue kulturelle Praktiken vorangetrieben. Dank der großen Achtung, welche die Griots in der Bevölkerung genießen und der bereits großen Popularität mancher von ihnen, dank der neuen künstlerischen Möglichkeiten, die sich aus der Integration von einheimischen Rhythmen und Musikformen und westlichen Techniken und Instrumenten ergaben, dauerte es nicht lange, bis sich synkretische Musikformen an der Seite der importierten oder nachgespielten westlichen Popmusik verbreiteten (Suzuky 2002). Dieser Durchbruch ist unter anderem den politischen Führungskräften zu verdanken und die enorme Steigerung der Produktion von Musik bleibt heute einer der wenigen Erfolge dieser staatlich gesteuerten Révolution Culturelle. Orchester wie Bembeya Jazz in Guinea, Rochereau mit dem kongolesischen Sänger Tabu Ley, der bis 1972 erhebliche fünf Millionen Platten in ganz Afrika verkaufte, und Alfa Jazz in Benin haben zum Durchbruch einer Industrie der Musik beigetragen, deren wirtschaftliche Relevanz nicht unbeachtet bleiben sollte. Andererseits ist damit eine Musikkultur entstanden, welche die willkürliche Trennung zwischen traditioneller Musik, die nur heimlich gespielt werden sollte, und westlicher Musik, die der Unterhaltung der europäischen Minderheiten dient, endgültig aufgehoben hat. III.3: Entstehung und Entwicklung der populären Musik III.3.a: Dekolonisierung und fünfziger Jahre Die Verbreitung einheimischer populärer Musik im zwanzigsten Jahrhundert verläuft unterschiedlich in den verschiedenen Gebieten Westafrikas. Wie bereits angedeutet unterscheiden sich dabei die ehemaligen französischen und britischen Kolonien zu den Anfangszeiten. In den von Großbritannien kontrollierten Gebieten begannen afrikanische Musiker vergleichsweise sehr früh, etwa um die Jahrhundertwende mit einheimischen und westlichen Ideen zu experimentieren. In den von Frankreich verwalteten Gebieten bestand dagegen eine deutliche Abgrenzung zwischen der einheimischen, traditionell gebundenen Musik auf der einen Seite und der von Franzosen beherrschten städtischen Musik auf der anderen Seite. So E.T Mensah: „Die Franzosen beherrschten die Schwarzen gesellschaftlich, und dies hatte Auswirkungen auf die Musik. Sie ließen weiße Musiker aus Paris für sich arbeiten, während die Afrikaner nicht auf dem neusten Stand waren. (…) In sozialer und Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 musikalischer Hinsicht hat die Entwicklung in den französischen Gebieten erst mit der Unabhängigkeit eingesetzt, und nun möchten sie aufholen.“ (E.T. Mensah zitiert in Erlmann 1991: 24). Dieser Gegensatz spiegelt die unterschiedliche Kolonialpolitik der beiden Staaten wider: Frankreichs Programm der kulturellen Assimilation zeichnete sich durch eine scharfe Trennung zwischen importierter französischer Kultur und einheimischer Kultur aus, während die Politik Großbritanniens eher wirtschaftlich denn missionarisch orientiert war und somit toleranter gegenüber der sich abzeichnenden Afrikanisierung kultureller Praktiken. So lassen sich auch zwei Entwicklungen unterscheiden, die sich im Laufe der Jahre nach der Unabhängigkeit der Gebiete angenähert und den so genannten „Highlife“-Stil gebildet haben. In Ghana, Nigeria, Sierra Leone, Liberia und Kongo entstanden mit der Verbreitung der Gitarre ab den zwanziger Jahren eine Gitarren- und Liedermusik, die von kleinen Ensembles gespielt wurde und narrative und sozialkritische Inhalte hatte (Manuel 1988: 90). Laut Manuel spielten angeblich Seemänner aus den Häfen des Golfes von Benin eine wichtige Rolle in der Entstehung dieser Musik, denn sie kamen als Erste in Verbindung mit karibischer und afroamerikanischer Musik, von der diese Gitarrenmusik weitgehend inspiriert war. Diese Ensembles erhielten die Bezeichnung „Palmwine Bands“, weil sie überwiegend in Hafenkneipen spielten, in denen Palmenlikör das Hauptgetränk war (ebd: 90f). Diese Musik, welche die erste Form der Highlife-Musik darstellt, verbreitete sich insbesondere zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren und wurde in Nigeria, Liberia, Ghana und Kongo aufgegriffen, wo sie anschließend mit lokalen traditionelleren Elementen kombiniert und jeweils zu „Juju“ und „Kokomba“ oder Highlife entwickelt wurde (Siehe unten, Abb.1). Parallel zu den Gitarrenbands gab es Tanzkapellen, die eher auf die Unterhaltung der Europäer in ehemaligen Kolonien gerichtet waren. Diese Kapellen, die im Vergleich zu Highlife-Gruppen eher aus Blas- und Orchesterinstrumenten bestanden, formierten sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert aus Militär- und Kirchenorchestern und spielten ursprünglich Walzer, Polka, Quadrille oder Marschmusik. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als zahlreiche Soldaten aus Europa und den Antillen nach Afrika ins zivile Leben zurückkehren, werden Jazz, Swing, Rumba und Calypso eingeführt und in die Programme dieser Tanzkapellen integriert. In britischen Gebieten, insbesondere Ghana und Nigeria spielten die Tanzkapellen bereits seit den dreißiger und vierziger Jahren synkretische Abweichungen westlicher und afroamerikanischer Musik, wobei die Instrumente, Soli und Struktur dem Jazz Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 entnommen und mit einheimischen Perkussionen (Klaven, Trommeln) und Gesangsharmonien gemischt waren (Manuel 1991: 92f). Auch hier hat sich die elektrische Gitarre durchgesetzt und gehört ab den fünfziger Jahren zur festen Besetzung der Tanzkapellen. In den französischsprachigen Gebieten taucht synkretische afrikanische Musik erst in den fünfziger Jahren auf. Paradoxerweise war es eine Musik aus dem damals belgischen Kongo, die als Erste in die ehemaligen französischen Kolonien Westafrikas gelangte. Dies liegt zum Teil daran, dass viele Lieder der „Kongo Musik“ auf französisch gesungen wurden. Des Weiteren waren die Musikmärkte stark von der kolonialen Verwaltung und bis zu ihrem Ende kontrolliert, so dass Musik aus den Nachbarländern sorgfältig gefiltert wurde. So kam die Musik aus dem Kongo früher auf den Markt, obwohl sie eigentlich später als die Highlifeformen der britischen Gebiete entstand. Die Kongo-Musik entstand in den vierziger Jahren in Kinshasa und war stark von lateinamerikanischer Musik und Rhythmen geprägt. Sie ist durch eine Reihe von Blasinstrumenten sowie elektrische Gitarren gekennzeichnet (Erlmann 1991: 25). Unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den späten fünfziger und Anfang der sechziger Jahre verbreitet sich diese Musik besonders schnell im französischsprachigen Westafrika. Einige der so genannten Orchestres Nationaux sowie die Musiker der afrikanischen Ballettensembles reisen ins Ausland und kommen dort in Berührung mit modernen Jazz- und Rockklängen, die später ihre Musik beeinflussen werden. Die Zeit um die Unabhängigkeit in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahre ist eine besonders entscheidende Phase in der Entstehung afrikanischer populärer Musik. In einer Zeit, in der europäische Jugend- und Popkultur auch in Westafrika an Einfluss gewinnt, ist durch die politische Entscheidung, einheimische Musik und Kultur zu fördern (und teilweise aufzuzwängen), eine Wende zu beobachten, die der Musik und der musikalischen Praxis tatsächlich ein neues Gesicht verleiht. Diese Wende ist insbesondere von der „Demokratisierung“ der musikalischen Praxis geprägt, die nicht länger das Privileg bestimmter studierter Afrikaner und europäischer Musiker war, und von der Verbreitung oder Popularisierung traditionell gestalteter Musikformen, die dank des Rundfunks, der entstehenden Musikindustrie und moderner Instrumentalisierung (hier im wörtlichen Sinne) den heimlichen dörflichen Raum verlassen und einen Platz in Urbanisierung und Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Modernisierung gefunden hat (Lee 1988: 59). Somit hat diese Wende zum Teil den Boden für die Entstehung der gegenwärtigen afrikanischen populären Musik genährt. Abbildung 1 : Entwicklung der populären Musik in Westafrika in den 50er/ 60er Jahren Juju (Nigeria) Palmwine Bands (Benin Golf) Kokomba (Ghana) HIGHLIFE Merengue „Tanzkapellen“ (Bläser, Trommeln) „Kongo Music“ (Benin, Togo, Guinea, Côte d’Ivoire) Benin Golf, Kongo Rumba (Sierra Leone) Franz. Einflusszone Britische Einflusszone Anfang der 60er Jahre III.3.b: Verwestlichung des Afrikanischen oder Afrikanisierung des Westlichen ? Trotz der politischen Entscheidung in einzelnen Ländern, ausländische Musik aus dem Markt und dem Rundfunk zu verbannen, verschwand nicht sogleich alle westliche Popmusik aus Westafrika. In die Häfen strömte weiterhin Musik aus aller Welt und die aus der Kolonialzeit importierte europäische Jugendkultur behielt weiterhin eine wichtige Rolle, die von dem Austausch mit der europäischen Diaspora aufrechterhalten wurde. So entstanden Anfang der sechziger Jahre, insbesondere in Gambia, Sierra Leone, Benin und Ghana viele Schüler- und Studentenbands, die die Musik der Beatles, der Rolling Stones oder amerikanischer Stars wie Elvis Presley und James Brown nachspielten. Diese Bands hatten im Vergleich zu den bereits erwähnten Orchestern unterschiedliche Zuhörerschaften. Die Tanzkapellen hatten ein älteres Tanzpublikum, die Palmwein Gitarrenbands richteten sich eher an ein ländliches oder armes städtisches Publikum, die Popbands standen eher für die gebildete oder westlich orientierte Jugend der Großstädte. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Diese Popbands sind insofern von Bedeutung, als dass sie die westlichen Musikrichtungen Pop, Rock und Soul einführten. Unter Ihnen waren junge Menschen, die Wehrdienste oder Studien in Großbritannien absolvierten und geprägt von der neuen Rock- und Popkultur der Insel zurückkehrten. In Liberia, das als älteres selbstständiges Land eine etwas andere Entwicklung vorweist und in gesteigerter Verbindung mit den Vereinigten Staaten stand, waren Ray Charles, James Brown, Otis Redding oder Jimmy Hendrix bereits außergewöhnlich populär. Der Austausch und der Verkehr von Bands und Musikern zwischen Liberia, Ghana, Sierra Leone und später Nigeria, das eine Zeitlang aus politischen Gründen von dieser Entwicklung abgeschottet blieb11, und die weiter existierende Verbindung zur Metropole führten zur regionalen Verbreitung jener Musikrichtungen aus den USA und Großbritannien, die von „Schwarzen“ gespielt wurden und in „weißen“ Gesellschaften besonders erfolgreich waren (Fletcher 2001: 619). Es dauerte längere Zeit, bis es der Popmusik gelang, in die französischsprachigen Gebiete Westafrikas einzusickern, was größtenteils daran liegt, dass sie ein Produkt der englischsprachigen westlichen Länder ist. Die Kongo-Musik blieb die vorherrschende Musik der französischen Einflusszone, und wenn Funk- und Soulelemente zunehmend in die KongoMusik integriert wurde, haben sich die wenigsten Highlife- und Kongokünstler der französischsprachigen Länder Westafrikas mit der westlichen Popmusik der sechziger und siebziger Jahre auseinandergesetzt. Viele von ihnen zogen dagegen nach Paris, wo eine beträchtliche Musikkultur- und Produktion innerhalb der dort ansässigen Diaspora entstand. Insofern hat sich die Kongo-Musik auch entwickelt, insbesondere unter dem Einfluss von Jazz und dem Austausch mit karibischer Musik. Der Saxophonist Manu Dibango aus Kamerun und sein „Soul Makossa“, das ein weltweiter Hit wurde, ist ein perfektes Beispiel für die Modernisierung der Kongo-Musik und integriert Jazz, Soul, und Funkelemente mit traditionellen Perkussionen und einheimischer Sprache. Die Kongo-Musik stellt bis heute eine besondere Sparte afrikanischer populärer Musik dar. Mit der großen Diaspora in Frankreich und der breiten Zuhörerschaft im französischsprachigen Westafrika und den Antillen besteht ein autonomer Produktions- und Rezeptionsmarkt, der, wenn er seit den achtziger Jahren durch den Zuwachs von Reggae und Hip Hop an Bedeutung verloren hat, sich von den weiteren Markt- und Stilentwicklungen getrennt entwickelt hat. (Darré 1996: 72). 11 Zu diesen politischen Gründen zählen zum einen der politische Entschluss, den Import ausländischer Musik zu verbieten und vor allem der nigerianische Bürgerkrieg um die Sezession der Provinz Biafra von 1967 bis 1970. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Die Teilung der Stilrichtungen westafrikanischer populärer Musik (in Pop-, Tanz- und Palmwine Bands) hat sich im Laufe der siebziger relativiert. Dem ist eine große Vielfalt synkretischer Musikformen gefolgt, die sowohl durch den Einfluss afroamerikanischer Musikformen als auch durch die zunehmende Integration einheimischer Elemente geprägt ist. Die Popbands und ihre Zuhörerschaft haben sich insbesondere auf Anstoß ghanaischer und nigerianischer Musiker zunehmend der Juju- und Kokomba-Gitarrenmusik zugewandt. Erlmann spricht in dieser Hinsicht von einer „Wiederbelebung der Volksmusik“, die mit der Distanzierung des jungen städtischen Publikums von dem so genannten „colo“-Stil einherging12. Zu der Zeit zeichneten sich die ersten großen Erfolge von Liedern ab, die im Stil der afroamerikanischen Musikrichtungen wie Soul, Reggae oder Funk gespielt und in einheimischen Sprachen wie Ga, Akan oder Yoruba (und nicht länger auf Englisch) gesungen wurden. Zusammenfassend sind die siebziger Jahre die Zeit einer Annäherung der afrikanisierten Popmusik und der verwestlichten lokalen Volksmusik, die zur Entstehung der Musikrichtungen wie Afro-Jazz, Afro-Calypso oder Afro-Reggae geführt hat. Ofo und die Black Company spielen „Afrodelic Funk“, The Funkees entwickeln den „Afro-Rock“ (Erlmann 1991: 31). Fela Ransome Kuti kehrt 1970 nach dem Bürgerkrieg in Nigeria aus London zurück, entwickelt den Afro-Beat und nennt seine Londoner Band Kooala Lobitos in Africa 70’s um (Coker 2001: 29). Der Afro-Beat ist das beste Beispiel der Fusion zwischen westlichen und westafrikanischen Vorstellungen von Musik: es umfasst Juju- und FunkGitarrenelemente, Improvisation und Solotechnik aus dem Jazz sowie afrikanischen Gesang und hat den Anspruch, inhaltlich die Formen und Funktionen traditioneller afrikanischer Musik zu reproduzieren. Während westliche populäre Musik dazu neigt, kurze schlagfertige Lieder zu produzieren, zeichnet sich die Musik von Fela Kuti insbesondere durch die Repetition von Themen in fünfzehn bis dreißig Minuten langen Stücken sowie durch ausschließlich sozialkritische Textinhalte aus, die sich mit den Problemen des modernen urbanen Afrika auseinandersetzen. Bevor in weiteren Teilen der Analyse näher auf das Werk Fela Kutis und dessen Auswirkungen auf sozialgesellschaftliche Prozesse eingegangen wird, kann erst einmal betont werden, dass die Fusion afrikanischer und afroamerikanischer Musik im Afro-Beat ein enormer Ansporn für Musiker aus ganz Westafrika gewesen ist, sich von der bisherigen Übertönung westlicher Musik zu lösen (Bender in Erlmann: 33 / siehe Abb. 2). 12 Mit „colo“ Styl sind einerseits die Tanzkapellen der sechziger Jahren, andererseits das Nachspielen westlicher Pop- Musik gemeint, das die Popbands damals ausmachten (Manuel 1988: 92). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Ferner steht diese Entwicklung mit dem Durchbruch der panafrikanischen Idee in Afrika in Verbindung, die paradoxerweise im Laufe des zwanzigsten Jahrhundert mehrheitlich von Afroamerikanern propagiert wurde, bevor sie von afrikanischen Politikern wie Kwane Nkrumah, Patrice Lumumba oder gar Haile Selassie aufgegriffen wurde (Mabe 2004: 152ff)13. Nach der zum Teil politisch aufgezwungenen und elitären Rückkehr zur Volksmusik in den sechziger Jahren scheint schließlich der unausweichliche Einfluss westlicher populärer Musik die Entstehung einer populären Musik möglich gemacht zu haben, die man nicht länger als synkretisch sondern wohl als afrikanisch im modernen Sinne bezeichnen kann. Diese Entwicklung ist zum großen Teil auf den steigenden Austausch unabhängiger Länder und Gesellschaften mit dem Westen und den ehemaligen Kolonialmächten zurückzuführen. Letzteres könnte widersprüchlich erscheinen. Dennoch ist diese Entwicklung aus heutiger Betrachtung, in einer Zeit, wo Kulturen zunehmend ineinander fließen, nicht zuletzt in der Musik durchaus vorstellbar. Nachdem sie unmittelbar nach der Unabhängigkeit im Zuge der „kulturellen Revolution“ in manchen westafrikanischen Gesellschaften aufgezwungen wurde, hat die traditionelle Musik ihren gebührenden Platz in der westafrikanischen Musiklandschaft eingenommen. Sie ist nun einerseits eigenständig als Folklore vorhanden und andererseits in die modernere populäre Musik eingebunden. Bei der westlichen Musik, die übernommen wurde, handelt es sich überwiegend um afroamerikanische Musik wie Jazz, Soul und Reggae, neuerdings auch Hip Hop; eine Musik, die sich wiederum stark nach Afrika hin orientiert, um sich dort Inspiration und Rechtfertigung zu holen, wie es bereits am Beispiel des jamaikanischen Reggae erläutert wurde. Schließlich kann die Entwicklung der gegenwärtigen afrikanischen Musik nicht getrennt von den Einflüssen der weltweiten musikalischen und politischen Bewegungen betrachtet werden, die von den Nachfolgern afrikanischer Sklaven in Latein- und Nordamerika, der Karibik und der afrikanischen Diaspora in Europa initiiert wurden. Diese Vernetzung ist bereits aus ästhetischer Sicht anhand des großen Einflusses von Calypso, Blues, Rumba, Reggae, Soul und Jazz belegt worden. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist diese Verbindung zu weiteren 13 Als politische Bewegung begann der Panafrikanismus nicht in Afrika sondern auf den Westindischen Inseln. Henry Sylvester Williams aus Trinidad prägte den Begriff mit seinem 1. panafrikanischen Kongress 1900. Bis heute hat Marcus Garvey aus Jamaika und später in New York in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die größte panafrikanische Bewegung geleitet. Panafrikanismus bedeutet im Wesentlichen die Einheit aller schwarzer/afrikanischer Menschen weltweit, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität. Dieser Bewegung geht es ferner darum, die afrikanische Geschichte aus einer pro-afrikanischen Perspektive im Gegensatz zu einer eurozentrischen Perspektive zu sehen, um eine Rückkehr zu traditionellen afrikanischen Vorstellungen und zur afrikanischen Kultur zu ermöglichen. (siehe dazu Nohlen 1991: Artikel Panafrikanismus, S. 152) Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 schwarzafrikanischen Gemeinschaften allgegenwärtig: Die afrikanischen Befreiungsbewegungen, die panafrikanische und später die afrozentristische Bewegung sind ebenfalls zum großen Teil außerhalb von Afrika entstanden, bevor sie Resonanz auf dem Kontinent fanden. Dies liegt vermutlich daran, dass eine solche Reflexion in einem kolonisierten Afrika, das für die meisten von der Außenwelt abgeschottet war und unter vollkommener Kontrolle der Kolonialherrschaft stand, deutlich schwerer hervorzubringen und zu verbreiten war. Dieses Paradigma lässt sich anhand des folgenden Zitats von Fela Kuti bestens illustrieren: „Es kam der Zeitpunkt, an dem ich vom Jazz Gebrauch zu machen begann, und ich gebrauchte den Jazz als eine Übergangsstufe zur afrikanischen Musik. Später, als ich dann nach Amerika kam, wurde ich mit der afrikanischen Geschichte konfrontiert, der ich nicht einmal hier [in Nigeria] ausgesetzt gewesen war. Damals begann ich zu erkennen, dass es nicht afrikanische Musik war, die ich gespielt hatte. Ich hatte auf den Jazz zurückgegriffen, während ich in Wirklichkeit auf afrikanische Musik hätte zurückgreifen sollen, um Jazz zu spielen. So war es Amerika, das mich zu mir selbst zurückbrachte“ (Fela Kuti zitiert in Erlmann 1991: 29). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der veränderte gesellschaftliche Kontext im Zuge der Dekolonisierung und der erleichterte Austausch mit weiteren afrikanischen Gemeinschaften die Rezeption sämtlicher politischer und künstlerischer Einflüsse vergünstigt hat, die während der Kolonialzeit weitgehend unterbunden blieben. Die Behauptung einer eigenen Identität und der Ausdruck eines eigenen Bewusstseins sind eben nur in Abgrenzung zu anderen Modellen möglich. Im Fall Afrikas macht erst die Aneignung und anschließend die Distanzierung vom europäischen Modell durch afrikanische Intellektuellen und Künstler die Entstehung eines gegenwärtigen afrikanischen Modells möglich. Dies lässt sich sowohl aus politischer als auch aus künstlerischer Sicht verifizieren: Die programmatische Schaffung einer Identität in Abwesenheit von greifbaren geschichtlichen Grundlagen stellt ein gefährliches Unternehmen dar. Beispiele für die Konfliktträchtigkeit einer konstruierten und aufgezwungenen Identität lassen sich reichlich aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhundert herauslesen. In künstlerischer Hinsicht fällt auf, dass der politische Erfolg der Wiederbelebung der traditionellen Musik zum großen Teil der Unterstützung von bereits populären Figuren (den Griots) zu verdanken ist. Ferner war die staatliche Förderung insofern von Nutzen, als dass sie die finanziellen Mittel für die Produktion populärer Musik aufbrachte. Zudem ist dieser Erfolg vor allem in ehemaligen französischen Kolonien zu beobachten. In den britannischen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 Gebieten, wo der Einfluss durch westliche Musik weniger unterbunden wurde, fand dagegen ein automatisches Zusammenkommen von westlichen und afrikanischen Elemente, wobei sich Musiker durch die Übertönung afroamerikanischer populärer Musik deren afrikanische Grundlagen wieder zu eigen machen konnten. Abbildung 2: Der Einfluss von Jazz und Pop Rock in den 60er/70er Jahren Bembeya Jazz, Kongo Music orchestres nationaux Rochereau Makossa Manu Dibango Reggae Jimmy Cliff Rock & Pop Soul, Rock Bobby/ Tony Benson Viele Bands spielen westl. Hits nach. Jazz / Bebop Fela Ransome Kuti Afro-Hili M. Dibango Afro Reggae Alpha Blondy Afro Beat Fela Kuti Cross Beat Afro Rock : Zeit der eigenen Kompositionen Direkter metropolischer Einfluss Franz. Einflusszone Britische Einflusszone Mitte der 60er Jahre Ende der 70er Jahre III.3.c: Zwischenfazit : ein neues afrikanisches Bewusstsein ? An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob populäre Musik in Westafrika ein neues Bewusstsein in sich birgt und für westafrikanische Bevölkerungen hervorgebracht hat. Die Entwicklung der musikalischen Praxis nach der Unabhängigkeit westafrikanischer Länder gleicht einer zunehmenden Neueinbindung von Aspekten der vorkolonialen musikalischen Praxis. Diese ist aus reiner ästhetischer Sicht unwiderlegbar und lässt sich durch den verbreiteten Einsatz Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 5 einheimischer Sprachen, Instrumente und Gesänge belegen. Des Weiteren können der gegenwärtigen afrikanischen populären Musik weitere Merkmale eingeräumt werden, die an die funktionalen Aspekte der vorkolonialen musikalischen Praxis erinnern können: insbesondere die soziale und moralische Vermittlungsfunktion der gegenwärtigen populären Musik wird von vielen Beobachtern und Künstlern als Eigenschaft afrikanischer Musik hervorgehoben. Ferner wurde gezeigt, dass die Bildung eines Selbstbewusstseins durch die Kunst und insbesondere die Musik, weil sie aufgrund ihrer Verbreitung durch Rundfunk und günstigen Vertrieb die größte Resonanz innerhalb der Bevölkerung hat, quasi programmatisch erfolgt: einerseits durch den politischen Willen der Führungseliten, welche die Musik als Instrument der „kulturellen Befreiung“ eingesetzt haben, andererseits durch die eigene Zielsetzung der Künstler selbst, welche die soziale Reflexion und Vermittlung im Zuge der Dekolonisierung zu ihren primären Aufgaben gemacht haben. So Fela Kuti : „Der politische Teil ist notwendig. Ich kann nicht verstehen, warum sich afrikanische Musik mit etwas beschäftigen sollte, was unser jetziges Leben nicht betrifft. Unsere Musik sollte nicht von der Liebe handeln, sie sollte sich mit der Realität beschäftigen und damit, was uns jetzt bevorsteht (…) Sogar die Musik, die wir davor hatten, war für Zwecke wie Religion, Arbeit und Politik bestimmt; und so bietet der Afro-Beat einen Anlass für die Politik, denn das ist der Anlass, in dem wir uns nun befinden: das Leiden eines Volkes“ (Fela Kuti in Erlmann 1991: 31). Tiken Jah Fakoly, der derzeit erfolgreichste Reggae-Sänger Afrikas aus der Elfenbeinküste, der wegen seiner Kritik an dem Ivorschen Regime ins Exil nach Mali ziehen musste, über die Rolle der Sänger: „Ich glaube, dass viele Leute viel zu sagen haben, aber man gibt ihnen nicht die Gelegenheit dazu. Ich habe sie. Ich kann lesen, reden und reisen. Es wäre eine Schande, wenn ich nichts sagen würde“( Quelle 2).14 Und zu der Besonderheit des afrikanischen Reggae : „Wir, diejenigen, die in Afrika geboren sind, berichten über unsere Gegenwart. Wir reden über die Wirklichkeit. Wir leben nicht im Traum. Sie [die jamaikanischen Künstler] träumen davon, nach Afrika zurückzukehren. Unsere Botschaft ist anders. Jamaikanische Künstler können die heutigen Probleme der Elfenbeinküste nicht kennen. Das ist für mich gerade das Ziel von Reggae: jeder Künstler muss über seine Region berichten. Wir haben die 14 Auszug aus einem Interview von 4/11/2004 , eigene Übersetzung aus dem Französischen. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Möglichkeit Grenzen zu durchqueren: ich kann über den Irak singen, doch meine Priorität muss die Elfenbeinküste bleiben, Afrika“ (ebd). Hier eine Stellungnahme Alpha Blondys zum gleichen Thema: „Afrikanischer Reggae ist in der Tat ein engagierter Reggae, weil er überwiegend von gegenwärtigen Problemen handelt. Er handelt darüber, was wir tagtäglich erleben. Und das hat Ergebnisse: die Analphabeten erfahren über den Zustand ihres Landes, indem sie den Künstlern des Kontinentes zuhören: das ist eine erstmalige Errungenschaft“(Quelle 3 )15. Diese Zeugnisse sind ein deutlicher Beweis dafür, dass zumindest die Künstler selbst ihrer Musik eine soziale und bewusstseinsbildende Funktion verleihen. Ferner geknüpft an die Aussagen über die traditionell geprägt und kulturell verankerte Funktion der Musik in Westafrika stellen diese Zeugnisse zusätzliches Beweismaterial für die Aussage dar, dass die gegenwärtige populäre Musik dieser Region ein afrikanisches Selbstbewusstsein in sich birgt. Um schließlich feststellen zu können, ob Musik tatsächlich zur politischen Bewusstseinsbildung in der Region beiträgt, muss untersucht werden, ob diese Aussagen weiterhin in Verbindung mit Entwicklungen und Merkmalen des politischen Prozesses gebracht und artikuliert werden können. Bevor dieser letzte analytische Schritt im nächsten Teil der Analyse erfolgt, lässt sich erst einmal Folgendes beobachten: Ausgehend von der Vermittlung und Weitergabe eines kulturellen Erbes, das auch die Bestände einer vorkolonialen Identität enthielt und von einem fremden kulturellen Modell gestört wurde, hat die Musik im Zuge der Dekolonisierung zur Neubildung einer Identität beigetragen, die erstmals nach der Kolonialzeit frei gewählt werden sollte. Wenn anfangs die Schaffung einer afrikanischen Identität in den jungen Nationalstaaten Westafrikas programmatisch erfolgt und staatlich gelenkt wird, scheint sich die afrikanische Identität in der Musik auf längere Sicht selbst zu etablieren: dies geschieht durch die progressive Einbindung und die Symbiose afrikanischer und westlicher Klänge, durch die Distanzierung vom europäischen Kulturmodell (verkörpert durch die Popkultur) und schließlich durch die zum Teil militante Hervorhebung einer afrikanischen Besonderheit in der musikalischen Praxis, verkörpert durch die systematische politische Reflexion und die Fokussierung auf das lokale sozialpolitische Geschehen. 15 Auszug aus einem Interview aus dem 16/11/2005, eigene Übersetzung aus dem Französischen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Das Streben nach Selbstbewusstsein und kultureller Selbstständigkeit scheint Anfangs der Trieb dieses Prozesses gewesen zu sein, der zum Teil die Dekolonisierung hervorrief und sich heute noch vollzieht. Dass es sich dabei um ein neues Selbstbewusstsein handelt, hat die Analyse ebenfalls gezeigt. Die Entwicklung der musikalischen Produktionen zeigt zuerst eine Zwiespalt von kulturellen Einflüssen: diese Zwiespalt ist an den verschiedenen Zuhörerschaften und Funktionen der Musikpraktiken sichtbar, die dargestellt wurden: so war unmittelbar nach der Dekolonisierung die traditionelle musikalische Praxis weiterhin ein Bestand der ländlichen, privaten und der religiösen Sphäre, welcher der sozialen Stratifizierung der Gesellschaft unterlag. Populäre Musik dagegen trug die Zeichen der Kolonialherrschaft. Progressiv haben sich diese Einflüsse vereint und die Grundlage für neue Stilrichtungen geschaffen, und die populäre Musik Westafrikas gilt nun als afrikanisch. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass sich die Künstler die Aspekte beider kulturellen Erben zu eigen machen müssen, um eine eigenständige Identität formulieren zu können, die mittlerweile als solche hervorgehoben wird. Meines Erachtens hat diese Entwicklung der musikalischen Praxis positiv zum Selbstbewusstsein afrikanischer Gesellschaften beitragen: einerseits hat sie eine befreiende Wirkung in Hinsicht auf die Überwindung der kolonialen Mentalität gehabt, andererseits stellt die afrikanische Musik mit einem Rezeptionsmarkt von geschätzten 800 Millionen Hörern weltweit eine beträchtliche Wirtschaftsbranche dar, die sich unter Umständen auch positiv auf die Verhältnisse mancher westafrikanischer Gesellschaften auswirken kann (Tchebwa 2005: 74). Letzteres hängt dennoch von vielen Faktoren ab, die wiederum mit den sozialen und politischen Entwicklungen auf dem Kontinent zusammenhängen. Daher sollte hinterfragt werden, ob die durchaus positiven Entwicklungen und Fortschritte, welche die musikalische Praxis in Afrika seit der Dekolonisierung zu verzeichnen hat, sich auch positiv auf die politischen Prozesse auswirken können. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Teil IV: Musik und politischer Prozess im gegenwärtigen Westafrika Die Frage, ob die positiven Entwicklungen der musikalischen Praxis in Westafrika sich auf politische Prozesse der Region auswirken können, ist bewusst gewagt: sie setzt eine dynamische Verbindung zwischen musikalischer Praxis und politischem Prozess voraus und postuliert ferner mögliche Auswirkungen von Musik auf den politischen Prozess. Im theoretischen Teil der vorliegenden Analyse wurde in Anlehnung an die Soziologen Hennion und De Nora festgestellt, dass eine derartige Verbindung nicht theoretisiert werden kann, sondern dass diese Verbindung nur anhand von klar zu identifizierenden Akteuren, deren Handlung und Folgen gezielt analysiert werden sollen (siehe Teil I.3.1). So wurden bisher in der Analyse musikalische und gesellschaftspolitische Prozesse untersucht, die, einmal in Verbindung miteinander gebracht, gewisse Interaktionen musikalischer Praxis und politischem Prozess zu Tage bringen können. Des Weiteren sind Merkmale und Entwicklungen sowohl aus dem musikalischen als auch aus dem gesellschaftlichen Bereich dargestellt worden, welche auf ein privilegiertes Verhältnis von Musik und Politik in (west)afrikanischen Gesellschaften hinweisen. Es muss nun anhand von konkreten Beispielen, Ereignissen, Zeugnissen und Angaben aus westafrikanischen Ländern untersucht werden, inwiefern Einflüsse der Musik auf politische Prozesse festgestellt werden können. IV.1 : Interaktionen zwischen Musik und politischem Prozess Bisher sind im Laufe der Analyse folgende Berührungsstellen zwischen musikalischer Praxis und dem politischen Prozess in Westafrika seit der Dekolonisierung aufgebracht worden: Eine Instrumentalisierung der einheimischen Musik zu Zwecken der Förderung einer lokalen oder nationalen Identität in postkolonialen Gesellschaften, wobei Musik als Medium der nationalen Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit eingesetzt wurde. Dabei wurde die Rolle der Künstler als wichtige Akteure in diesem Prozess der Identitätssuche hervorgehoben. Es lässt sich insofern eine Interaktion feststellen, als dass staatliche Akteure durch die Förderung und Finanzierung von Produktion, Vertrieb und Ausstrahlung von Musik zur erfolgreichen Verbreitung dieser Musik beigetragen und somit die musikalische Praxis in postkolonialen Gesellschaften beträchtlich angespornt haben. Ferner hat die Politik aus ästhetischer Sicht die Richtung zum Teil mitbestimmt, die diese Musik haben sollte (nämlich eine Mischung aus traditionellen Instrumenten, Melodien und Gesängen und moderner Technik und Merkmale Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 westlicher populärer Musik). Wiederum haben die politischen Akteure, in diesem Fall Staatsparteien und Führungseliten, von der Achtung und der Stellung profitiert, welche Künstler und Musiker, insbesondere die Griots, innerhalb der Bevölkerung genossen und nach Unterstützung der Bevölkerung für ihre politischen Projekte gesucht. Schließlich haben bestimmte Akteure vermutlich wirtschaftlich von dem Vertrieb und dem Erfolg dieser Musik profitiert. An erster Stelle kommen Staaten wie Guinea, Elfenbeinküste oder Nigeria, in denen der Musikvertrieb einem staatlichen Monopol unterlag. In weiteren Ländern wären ausländische Investoren aus England, Frankreich oder den USA für den Vertrieb der Orchester zuständig, so dass in diesen Fällen nicht gesagt werden kann, wer am meisten von den Einnahmen der Musikindustrie profitiert hat. Diese Vermutungen sind generell schwer zu belegen, denn Zahlenangaben über Auflagen von Tonträgern aus der Zeit vor den achtziger Jahren sind kaum erhältlich (Collins 1977: 57). So ist auch das Ausmaß des Erfolges der „neuen“ populären Musikformen schwer einschätzbar. Der nigerianische Vorgänger von Fela Kuti, Victor Uwaifo, verkaufte allein in Nigeria 100.000 Schallplatten seines ersten Highlife Erfolgsliedes Joromi zwischen 1966 und 1969 (Erlmann 1991: 29). Rochereaus zweites Album verkaufte sich fünfmillionenfach innerhalb von fünf Jahren in ganz Afrika. Verglichen mit den Erfolgen von Elvis Presley und den Beatles, die um die gleiche Zeit 300 Millionen Schallplatten weltweit verkauften, sind diese Zahlen gering. Gemessen an damaligen westafrikanischen Verhältnissen sind sie dennoch beträchtlich (Lee 1988: 59/ Tchebwa 2005: 49). Um 1970 gibt es in Nigeria 22 Plattenspieler für tausend Einwohner, 6 Rundfunkempfänger für hundert Einwohner (Collins 1977: 60). In diesem Hinblick sind 100.000 verkaufte Schallplatten tatsächlich eine sehr hohe Verkaufsauflage, die wiederum auf eine große Popularität innerhalb der Bevölkerung hinweist. Schließlich deutet ein Phänomen auf den zunehmenden Erfolg der populären Musik, das bis heute in Westafrika von großer Bedeutung ist: die Piraterie. Die Piraterie ist der Verkauf billiger Kopien von Tonträgern, der ohne Beachtung von Lizenzen und Urheberrechten auf dem Schwarzmarkt erfolgt. Die ersten Beschwerden über Piraterie gingen 1965 in Guinea und 1967 in Nigeria ein. Rein wirtschaftlich deutet die Piraterie auf eine gesteigerte Nachfrage nach Tonträgern (Erlmann 1991: 39). Diese Angaben und die große Zahl an Bands, die in der Zeit entstanden, würde ich als Beweise für den Erfolg der populären Musik im postkolonialen Westafrika betrachten. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Es ist schwierig einzuschätzen, inwiefern sich diese Entwicklung auf den politischen Prozess auswirkte, und es können keine konkreten Angaben über einen Einfluss der Musik in dieser Hinsicht gemacht werden. Es wurde bereits gezeigt, dass die Verbreitung der populären Musik zur Identitätsbildung in postkolonialen afrikanischen Gesellschaften beigetragen hat. Ich würde ferner behaupten, dass diese Entwicklung in Ländern wie Guinea, Ghana und Elfenbeinküste zur Popularität und zur Unterstützung der politischen Projekte von Sekou Touré, Kwame N’krumah oder Houphouet Boigny beigetragen hat. Erst einmal abgesehen von der Wertung über die Umsetzung dieser Projekte, die autoritäre repressive monoparteiliche Staatsysteme produziert haben, lässt sich sagen, dass die Interaktion von Künstlern und Führungseliten wichtige Schritte in Richtung einer kulturellen Dekolonisierung und einer Selbstbewusstseinsbildung afrikanischer Gesellschaften bedeutet. Die Resonanz der „neuen“ populären Musik Westafrikas innerhalb der Bevölkerung einerseits und ihr weltweiter Einfluss auf die Entwicklung der populären Musik andererseits spricht für ein dynamisches und produktives Verhältnis, das nicht ausschließlich als „Missbrauch der Musik durch Politik“ betrachtet werden darf, obwohl die Musik zum Teil zu machtpolitischen Zwecken instrumentalisiert wurde. Politiker und Staatsmänner haben zügig den Wert der Unterstützung von Künstlern erkannt und sie seit der Unabhängigkeit stets für propagandaartige Zwecke an ihrer Seite gesucht: Diese Tendenz ist in traditionellen gesellschaftlichen Muster verankert und stellt ein Fortbestehen des Verhältnisses zwischen Griot und Patron und ferner der gesellschaftlichen Verankerung der musikalischen Praxis im Mandingo-Kulturraum dar. Viele Künstler haben tatsächlich die Stimme der Führungseliten in ihren Liedern getragen. Insbesondere in jenen Ländern, in denen Produktion und Vertrieb von populärer Musik staatlich gesteuert waren, hat die Politik weitgehend den Inhalt der Produktionen mitbestimmt, die vertrieben wurden. Dies gilt insbesondere für Guinea, Togo und Elfenbeinsküste, wo viele Künstler ihren Durchbruch einer gewissen Treue und Aufopferung gegenüber politischen Führern zu verdanken haben (Lee 1988: 57, 62f). Nicht zuletzt Alpha Blondy, der heute stets Korruption und schlechte Regierungsführung in seinem Herkunftsland Elfenbeinküste denunziert, war zum Beispiel ganz dem ivorschen Staatsmann Houphouet Boigny ergeben. Noch 1985 widmete er Boigny zwei Lieder aus seinem internationalen Durchbruchsalbum „Apartheid is Nazism“. Seine widersprüchliche Ergebenheit dem ivorschen Führer gegenüber erklärt Alpha Blondy als Ausdruck seiner Dankbarkeit für die Forderung der einheimischen Musik und Kultur in der Elfenbeinküste. (Quelle 4: RFI Musique) Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Es wäre dennoch eine Täuschung anzunehmen, dass die populäre Musik und die Künstler in Westafrika ganz der politischen Elite ergeben sind. Dies lässt sich höchstens in Bezug auf die Zeit unmittelbar nach der Entlassung in die Unabhängigkeit sagen, während der die politischen Führer auch die Hoffnungsträger einer neugeborenen Gesellschaft waren. Houphouet Boigny und Sekou Toure waren wichtige Gewerkschaftler zu Kolonialzeiten, Leopold Senghor und Nwame N’Krumah waren angesehene Akademiker in Europa und wurden tatsächlich als Befreier empfangen. Ferner haben Künstler ebenfalls von dieser Unterstützung profitiert, denn sie wurden vom Staat bezahlt, ausgestattet und gefördert. Mit der progressiven Entwicklung einer autonomen Musikproduktion und der steigenden Enttäuschung über postkoloniale Verhältnisse hat sich dieses Verhältnis zwischen populären Künstlern und Führungseliten dennoch geändert. Von der Rolle der „Agenten der kulturellen Revolution“ sind ab Ende der sechziger Jahre zahlreiche populäre Musiker und Sänger zu wichtigen Kritikern der politischen Apparate geworden. IV.1.a: Konkrete Beispiele der sozialen Reflexion und Mobilisierung durch Musik Die populäre Musik in Westafrika scheint tatsächlich stärker von ihrer allgegenwärtigen Bindung zu gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrer sozialen Reflexion als von ihrer Ergebenheit zur politischen Führung geprägt zu sein. Diese Tendenz vieler Künstler, stets schlechte Regierungsführung und Lebensverhältnisse zu denunzieren, die auch die gegenwärtige afrikanische Musik zum Teil ausmacht, wurde bereits skizziert. Sie stellt meines Erachtens eine weitere Interaktion zwischen musikalischer Praxis und politischem Prozess dar, die für die Analyse von besonderer Bedeutung sein kann. Die Auseinandersetzung mit den lokalen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse zählt zu den wichtigsten Merkmalen, gar zu den Aufgaben der afrikanischen Musik. Diese Feststellung mag verallgemeinernd wirken, sie taucht dennoch in jedem Beitrag zu diesem Thema auf (siehe dazu u. a. Tchebwa 2005/ Fletcher 2001/ Erlmann 1991/ Manuel 1988/ Lee 1988). Wenn die soziale Ausrichtung der musikalischen Praxis in westafrikanischen Gesellschaften in den verschiedenen Ären der afrikanischen Geschichte in unterschiedlicher Weise ausfällt, bleibt sie stets zu beobachten: als Teil der Sozialisierung und der gesellschaftlichen Kommunikation in vorkolonialen Gesellschaften, als Ausdrucksform zum Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Widerstand und zur Bewahrung einer unterdrückten kulturellen Identität im kolonialen Kontext, als Instrument und Katalysator der Identitätsbildung im Dekolonisierungskontext, und schließlich - dies ist zumindest die hier aufgebrachte These - als Medium zur Information, Kritik und Denunzierung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse auf dem Kontinent in der Gegenwart. Dies lässt sich einerseits anhand von den Inhalten beispielhafter musikalischer Produktionen aus dem westafrikanischen Reggae, dem Afro-Beat und neuerdings dem Hip Hop belegen, andererseits aus den Auseinandersetzungen von Künstlern und Führungseliten, die im Zuge der zunehmenden postkolonialen Desillusion zu beobachten sind. Nach der Euphorie der Unabhängigkeit trat in Westafrika ein Gefühl der Desillusion ein, das zur Entstehung dessen geführt hat, was in der Wissenschaft als Afro-Pessimismus bezeichnet wird (Nohlen 1991: 272). Getrieben von der Enttäuschung über das Fortbestehen der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten, über die mangelnde Demokratisierung und die steigende Korruption der Eliten und über die anhaltende Abschottung von internationaler Wirtschaft und Staatenwelt verbreitet sich ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber Politikern, die immer mehr den ehemaligen Kolonialmächten ergeben zu sein scheinen. Auch das wachsende Bewusstsein über den vergleichsweise niedrigen und langsamen Entwicklungsgrad mancher afrikanischer Staaten, der auf internationaler Ebene und in Afrika von Medien, Zivilgesellschaft und internationalen Institutionen zunehmend thematisiert wird, regt viele Intellektuelle und Künstler dazu an, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen und diese auf dem Kontinent zu verbreiten. Der Afro-Pessimismus erreicht seinen Höhepunkt mit der wirtschaftlichen Rezession ab Mitte der siebziger Jahre, die sich in Westafrika unter anderem in einem Sturz der Rohstoffpreise (darunter Kakao und Kaffee, die wichtigsten Exportgüter der Region) und zu einer strukturellen Veränderung des internationalen Gütertausches auswirkt und die Abhängigkeit Afrikas auf internationaler Ebene steigert. Die Auflistung der Traumata und Hemmnisse, welche die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas erschweren, könnte an dieser Stelle fortgeführt werden. Dennoch wird hier nicht auf die übliche katastrophale menschliche, politische und wirtschaftliche Bilanz der postkolonialen Zeit eingegangen. Es ist nicht das Ziel der Analyse, Lösungsansätze für das, was gängig als „Kontinent der Hungerleider“ oder als „Spielplatz der schwarzen Tyrannen“ betrachtet wird, zu formulieren (Der Spiegel Nr. 16: 110-130). Ebenso wenig wird hier auf Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Pläne zur „Rekolonisierung der Elendsnationen“ oder zur Überwindung des „afrikanischen Fluchs“ eingegangen (ebd.: 128). Diese Umstände gelten als allgemeiner Analysekontext, sondern hier geht es darum, die musikalische Praxis als einen gesellschaftlichen Aspekt darzustellen, der erstens von grundlegender Bedeutung im Alltag afrikanischer Gesellschaften ist, zweitens positive produktive Entwicklungsmuster aufweist und drittens so gut wie nie im Rahmen von sozialpolitischen Analysen zu dem Kontinent erwähnt wird, obwohl er bereits weltweite kulturelle und wirtschaftliche Folgen aufweist. In dieser Hinsicht ist es wichtig festzuhalten, dass Musik und Musiker im Zuge der Rezession und der Desillusion weiterhin eine gewisse Aufklärerrolle behalten haben, obwohl ihnen diese Rolle seitens der politischen Führung nicht immer geboten blieb: Keita Fodéba, Gründer und Leiter der guineischen „Ballets Africains“, wurde von 1969 Sekou Touré wegen seiner steigenden Kritik an dem politischen System Guineas inhaftiert und starb im Gefängnis (Lee 1988: 54). Salif Keita, Saxofonist und Sänger des malinschen Nationalorchester Rail Band de Bamako und eine der wichtigsten Figuren der gegenwärtigen afrikanischen Musik, wird 1970 zum Exil gezwungen, als er sich weigert, propagandaartige Lieder für den Putschisten Mussa Traoré zu spielen (Quelle 4 : RFI Musique). Fela Kuti verbrachte aufgrund seiner politischen Dissidenz beinahe sieben Jahre seines Lebens in nigerianischen Gefängnissen (Coker 2001: 12). Tiken Jah Fakoly und Alpha Blondy verließen jeweils 1996 und 1998 ihr Heimatland Elfenbeinküste, nachdem sie mehrere Morddrohungen erhalten, die sich auf ihre Kritik des Regimes von Henri Konan Bedié bezogen (Quelle 3/ 4). 2004 hat das Zensurkomitee der Demokratischen Republik Kongo alle kongolesischen Hip Hop Bands und den Import von Hip Hop aus dem Ausland schlicht verboten (Lock 2005: 158). Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass die Musik und die musikalische Praxis bei politischen Eliten als Nährboden und Katalysator für politischen Protest gefürchtet sind, was wiederum für ihr Aufklärungs- und Mobilisierungspotential spricht. Letzteres wird hier anhand von Anekdoten und biographischen Angaben über die Sänger Alpha Blondy und Fela Ransome Kuti näher beleuchtet. Alpha Blondy Die folgende Anekdote mag eine Vorstellung des Mobilisierungspotentials eines Künstlers wie Alpha Blondy in Westafrika geben: 1984 muss Alpha Blondy an einem Konzert in Konakry, Guinea, teilnehmen. Aufgrund von schlechten klimatischen Bedingungen muss das Konzert abgesagt werden. Sekou Touré sieht nicht ein, warum die Veranstaltung abgesagt Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 werden soll und verbietet dem Sprecher des nationalen Rundfunks, die Information bekannt zu geben, so dass sich zehntausende Menschen im Stadion von Konakry versammeln. Das Stadion von Konakry steht nach heftigen Regenfällen unter Wasser, was die Installation von elektrischen Geräten verhindert. Sobald die Information um zehn Uhr abends letztendlich verbreitet wird, brechen im Stadion Unruhen aus, die die Stadt tagelang in den Ausnahmezustand versetzen und erst durch den Putsch von Lansana Konté (der bis heute an der Macht ist) beendet werden (siehe dazu Lee 1988: Kapitel 1). Dieser Staatsstreich ist sicherlich nicht ausschließlich auf die Absage eines Konzertes zurückzuführen, dennoch zeugt diese Anekdote einerseits von jener schwer greifbaren Verbindung zwischen musikalischen und politischen Geschehnissen in Westafrika, die allgegenwärtig ist. Auch die große soziale Mobilisierungskraft von Musik kann an solchen Ereignissen gemessen werden: Nach der Veröffentlichung des Albums „Yitzhak Rabin“, das mit Titeln wie „Armée Francaise“, „Guerre Civile“ und „New dawn“ die mit Abstand virulenteste Produktion Alpha Blondys darstellt, strömen am 26.12.1998 200.000 Menschen zu seinem Konzert in Abidjan. So kann Alpha Blondy als einziger unbestraft vor einer jubelnden Masse von 200.000 Menschen in einer offenen Botschaft an den Präsidenten Henri Konan Bedié sein neues Lied „La Queue du Diable“ vorführen (Quelle 4): « Monsieur le Président, excusez- moi du dérangement Vous voulez combattre la corruption ? Je vous propose ma solution Justifiez d’abord votre fortune, Justifiez la fortune de vos ministres… » Alpha Blondy, La Queue de Diable, Elohim, 1999, EMI Fela Ransome Anikulapo Kuti Die gesamte musikalische und politische Laufbahn des nigerianischen Sängers und Erfinders des Afro-Beats Fela Ransome Anikulapo Kuti ist die perfekte Illustration des stürmenden Verhältnisses von Musik und Politik in post-kolonialen westafrikanischen Gesellschaften. Neben der bereits erwähnten ästhetischen Besonderheit und Innovation seiner Musik bleibt Fela Kuti bis heute die Inkarnation des politischen Kampfes von Künstlern gegen die Militärregime der postkolonialen Phase. Getrieben von der panafrikanischen Ideologie kehrt Fela Kuti 1970 nach Nigeria zurück, wo er sich mit täglichen Konzerten im „Shrine“, bei denen aktive politische Arbeit von Musikern und Angestellten geleistet wird, schnell dem Regime von Obasanjo anfeinden wird. Nach einer Inhaftierung wegen des Besitzes von Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 6 Marihuana gründet Fela Kuti in Lagos die Kalakuta Republik, benannt nach dem Gebäude, in das er inhaftiert wurde. Das Anwesen, in dem mehrere hundert Menschen leben und arbeiten, wird in den folgenden Jahren das Ziel systematischer Fahndungen, die in Nigeria von Soldaten durchgeführt werden, die gängig „Kill and Go“ benannt werden (Coker 2001: 50). Die allmächtigen Brigaden, die in Nigeria an der Spitze des Rechtsystems stehen, erhalten den Spitznamen „Zombie“ nach dem Erfolg des gleichnamigen Liedes Kutis über die alltägliche Brutalität des nigerianischen Militärs. In Reaktion auf dieses Lied strömen am 26.01.1977 rund tausend bewaffnete Soldaten in das Anwesen Kutis ein. Das Haus wird niedergebrannt, manche Frauen vergewaltigt und nackt auf offener Strasse vorgeführt. Fela Kutis 77-jährige Mutter wird aus dem zweiten Stock des Hauses gestürzt, ein Redakteur der Regierungstageszeitung Daily Times, der zufällig vor Ort war, wird von Polizisten mit hunderten von Passanten willkürlich niedergeschlagen. Fela Kuti wird bewusstlos ins Militärkrankenhaus von Lagos gebracht und anschließend wegen des Besitzes von Marihuana inhaftiert (ebd 62-68). Die öffentliche Reaktion auf diese Fahndung, vor allem durch die private Presse, Studentenorganisationen und Anwalts- und Arbeitgeberverbände, wurde so heftig, dass Staatschef Obasanjo selbst, der die Fahndung vermutlich angeordnet hatte, eine Untersuchungskommission einberief, die jedoch als einzige Folge hatte, dass Fela Kuti und seine verhafteten Anhänger auf Kaution entlassen wurden. Der ruinierte Kuti zieht ins Exil nach Ghana, wo er bereits sehr populär ist (als Erster hat Fela Kuti Lieder auf Pidgin komponiert, einem englischen Dialekt, der in der ganzen ehemaligen britannischen Einflusssphäre verstanden wird, um möglichst viele Afrikaner durch seine Texte zu erreichen). Dort trifft er auf Studentenorganisationen, die im Protest gegen den Militärdiktator Ignatus Kutu seine Lieder „Zombie“ und „V.I.P - Vagabonds In Power“ als Hymnen gewählt haben. Nach der Veranstaltung vieler Konzerte und Demonstrationen an der Seite der vier Studentenorganisationen Accras wird Kuti als persona non grata deklariert und zur Rückkehr nach Lagos gezwungen. Kurz darauf kündigt er die Gründung einer Partei an, Movement Of the People (MOP), mit der er bei der Wahl von 1979 antreten will. Die Partei wird von der Wahlkommission nicht zugelassen und Kuti darf nicht antreten. Von diesem Zeitpunkt an erhält er in ganz Afrika den Spitznamen „Black President“, weil er als einziger Kandidat für die kulturelle Emanzipation und die Denunzierung einer „Neokolonisierung“ stand (ebd: 101f). Nach diesem Scheitern in Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 der Politik reist Kuti mehrere Jahre lang in afrikanische Universitäten als Lektor zu Themen wie „Afrikanische Persönlichkeit“ und „Korruption und Regierung in Afrika“. Während seiner Laufbahn produzierten Fela Kuti and The Africa 70’s 54 Alben, die sich weltweit millionenfach verkauften. Diese Beispiele dienen nicht der rücksichtslosen Verehrung von Künstlern, die selbst widerspruchsvolle Figuren sind. Vielmehr dienen diese Beispiele der Fragestellung, inwiefern solche Künstler als Agenten der politischen Bewusstseinsbildung betrachtet werden können. Wenn auch nicht empirisch festgestellt werden kann, ob zum Beispiel Fela Kuti mit seiner Musik zur politischen Bewusstseinsbildung beigetragen hat, kann dennoch behauptet werden, dass seine Auseinandersetzung mit den Militärregimen Westafrikas innerhalb seiner Anhängerschaft als Katalysator der kritischen Haltung gegenüber diesen Regimen gewirkt hat. In dieser Hinsicht kann die Musik, wenn auch indirekt, als Medium dieser Kritik betrachtet werden. Dem oft aufgebrachten Argument, die politische Handlung von Musikern sei außermusikalisch motiviert, wird hier widersprochen: gerade der Musik verdanken Musiker ihre Popularität, und wenn aus musikalischer und öffentlicher Haltung eine einheitliche Linie zu erkennen ist, kann die Musik als Medium der politischen Einflussnahme und somit als politische Arbeit betrachtet werden. Im Fall von westafrikanischen Gesellschaften, und ferner von Gesellschaften, in denen informative Medien entweder einer starken staatlichen Kontrolle unterliegen oder allgemeinen schwer zugänglich sind, erweist sich Musik sogar als besonders günstiges Medium zur politischen Arbeit. IV.1.b: Die Verbreitung von kritischer Musik in autoritären Staaten Dass die Verbreitung einer kritischen Musik trotz starker politischer Kontrolle stattfinden konnte, lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Erstens erfolgt die Produktion eines Großteils der populären afrikanischen Musik im Ausland. Neben attraktiveren Geschäfts- und Arbeitsverhältnissen und einer internationalen professionellen Musikszene bieten Länder wie Frankreich, Großbritannien oder die USA Zuflucht für verfolgte Künstler, die von dort aus nicht nur für den afrikanischen sondern für den internationalen Musikmarkt produzieren können. Diese Musik ist auch auf den afrikanischen Markt gerichtet und anschließend auf diesem erhältlich, was die Verbreitung einer Musik möglich macht, die aus politischen Gründen nicht immer auf afrikanischem Boden produziert werden kann. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Zweitens gilt, dass selbst in jenen Ländern, in denen kulturelle Praktiken einer starken staatlichen Zensur unterliegen, die grenzüberschreitende Piraterie weitgehend zur Verbreitung von Tonträgern beiträgt. Die Piraterie, die heute einen geschätzten Anteil von 80% am afrikanischen Musikmarkt hat, entwickelte sich auch aufgrund der Unerschwinglichkeit von Tonträgern und der hohen Versteuerung von Importgütern und konnte sich aufgrund mangelhafter Grenzkontrollen und Gesetzgebung in diesem Bereich zu einem Phänomen entwickeln, das mittlerweile stark organisiert und aus der Kontrolle der Entscheidungsträger geraten ist (Tchebwa 2005: 60f). Paradoxerweise ist die Piraterie zugleich für den Erfolg und für die Flucht vieler Talente verantwortlich, die im Ausland nach besseren und sicheren Vertriebschancen suchen. Nichts desto trotz lässt sich seit den siebziger Jahren die Entwicklung einer, wenn auch bescheidenen, autonomen Musikindustrie feststellen, die nicht zuletzt von berühmten Künstlern angespornt wird und die staatlichen Monopole in allen westafrikanischen Ländern abgelöst hat. Wenn diese autonome Musikindustrie noch vor erheblichen Herausforderungen steht und der großen Produktions- und Rezeptionsnachfrage auf dem Kontinent noch nicht nachkommen kann und durch zunehmende Piraterie und mangelnde Investitionen gebremst wird, weist sie stets positive Entwicklungsmuster auf und bietet ferner erste Aufstiegschancen für junge Künstler (ebd.: 53f). Auch diese jüngere Generation von Musikern zeichnet sich durch starkes politisches Engagement aus und findet in der musikalischen Praxis eine Ausdrucksform und zugleich eine Möglichkeit der Einflussnahme auf den politischen Prozess und die Hoffnung auf eine Existenzgründung. IV.2: Rezeption von populärer Musik Bevor Letzteres am Beispiel der florierenden Hip Hop Kultur in Westafrika verdeutlicht wird, muss man sich dem Bereich der Rezeption gegenwärtiger populärer Musik zuwenden. Eine Frage, die im theoretischen Teil dieser Analyse aufgeworfen wurde, ist die Frage nach der sozialen Wirkung einer kulturellen Praxis, einerseits nach der Existenz einer solchen Wirkung, andererseits nach den wissenschaftlichen Mitteln zur Messung dieser Wirkung. Dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die soziale Wirkung von Musik sich kaum anhand von sozialwissenschaftlichen empirischen Mitteln messen lässt: Dazu wäre eine Felduntersuchung in einem begrenzten geographischen und zeitlichen Raum erforderlich und ferner wäre die Kausalitätsrichtung zwischen musikalischer Wirkung und politischer Handlung nicht bestimmbar, was die Formulierung von unwiderlegbaren Feststellungen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 verhindert. Dagegen wurde argumentiert, dass die soziale Wirkung von Musik, wenn sie weder theoretisch noch anhand von klassischen empirischen Mitteln deutlich zu belegen ist, vielmehr in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten gefunden werden kann. Dabei wurde insbesondere auf die identitätsstiftende Rolle von Musik und musikalischer Praxis hingewiesen, einerseits in sich konstituierenden politischen Systemen, wie es am Beispiel Jamaikas oder Guineas erläutert wurde, andererseits in jenen Nischen und Gruppen einer Gesellschaft, in denen ein gesteigerter Bedarf an kultureller Identifizierung besteht, wie etwa bei Jugendlichen mit Migrationshintergund in Einwanderungsgesellschaften. Gegenwärtige westafrikanische Gesellschaften, in denen nach Erlangung der Unabhängigkeit einerseits neue eigenständige politische Systeme gebildet werden sollten und andererseits eine progressive Entbindung vom eurochristlichen kulturellen Modell stattfindet, stellen genau diesen Kontext von Transformation, sozialpolitischer Gestaltung und kultureller Identitätsbildung dar, in dem die Rezeptionsbereitschaft von Musik, die auf sozialpolitische Wandlung gerichtet ist, als besonders hoch postuliert wird. Ferner konnten im Laufe der Analyse weitere Faktoren identifiziert werden, die auch als kulturelle afrikanische Besonderheiten betrachtet werden können und für eine vergleichsweise gesteigerte gesellschaftliche Rezeptionsbereitschaft von Musik sprechen: dazu gehören die kulturell bedingten Funktionen der musikalischen Praxis im gesellschaftlichen Alltag und die Vermittlungsfunktion der Musik, die sich in allen Phasen der Geschichte westafrikanischer Gesellschaften beobachten lässt. Nun wird versucht, dieses Postulat einer sozialpolitischen Gestaltungskraft afrikanischer populärer Musik möglichst empirisch im Kontext der Rezeption zu belegen. Die These, die bereits skizziert wurde und nun endgültig untersucht wird, ist die, dass die Musik in gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaften ein privilegiertes Medium zur Vermittlung von gesellschaftspolitischen Inhalten darstellt. IV.2.a: Populäre Musik als Bestandteil der afrikanischen Medienlandschaft ? Die bisherigen Angaben über die erfolgreiche Verbreitung der populären Musik in postkolonialen Gesellschaften, die hohe Nachfrage nach Tonträgern, die an den hohen Verkaufszahlen und der immer wachsenden Piraterie deutlich wird, deuten darauf, dass der quantitative Konsum von Musik in westafrikanischen Gesellschaften sehr hoch liegt. Um der Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 aufgestellten These näher zu kommen, müsste man den qualitativen Konsum von Musik untersuchen, mit anderen Worten untersuchen, in welchem Kontext oder zu welchem Zweck Musik gehört wird. In dieser Hinsicht kann an die oben zitierte Aussage von Alpha Blondy erinnert werden, der darauf hinweist, dass Musik die Analphabeten auf dem Kontinent über die Ereignisse im eigenen Land informiert. Solch eine Aussage ist zwar mit erhöhter Vorsicht zu betrachten, sie mag dennoch auf eine weitere Eigenschaft afrikanischer Gesellschaften in Bezug auf die „Funktion“ von Musik deuten: In Gesellschaften, in denen audiovisuelle Medien zu den wichtigsten Informationsquellen für die Bevölkerung gelten, kann Musik in der Tat eine informative Funktion erfüllen. Ein wichtiger Aspekt, der bisher etwas außer Acht gelassen wurde und von grundlegender Bedeutung sein kann, ist der Rundfunk, der ebenfalls stark zur Verbreitung von Musik beiträgt. Der Rundfunk ist zweifellos das meist genutzte Medium Afrikas. Aus Studien des British Broadcast Corporation (BBC World Service Trust) ergibt sich, dass 91% der Bevölkerung Ghanas mindestens einmal pro Woche Radio hören, 90% in Senegal, 88% in Nigeria. Dagegen sind es jeweils 19, 22 und 6 %, die wöchentlich eine Tageszeitung lesen (Quelle 5: BBC 2006: 27/36). Einer der Gründe für diesen beträchtlichen Unterschied, der auch die allgemeine Bedeutung des Rundfunks steigert, ist die vergleichsweise geringe Alphabetisierungsrate, die in den meisten westafrikanischen Ländern unter 50% liegt (siehe unten Abb.3). Mit 13 bis 19 Fernsehgeräten für Tausend Einwohner in den benannten Ländern stellt das Medium Fernsehen auch keine Konkurrenz zum Rundfunk dar (Tchebwa 2005: 47). Eine Schätzung aus dem Jahr 1998 geht in der Tat von einem Durchschnitt von 20 Rundfunkempfängern für Hundert Einwohner in Afrika südlich der Sahara aus (Furniss/ Fardon 2000: 32). Schließlich ist Rundfunk auch das am meisten zugängliche Medium, und ein weiterer Grund für den enormen Vorsprung des Rundfunks unter den Medien ist sicherlich auch der Preis- und Mobilitätsfaktor: Rundfunkempfänger sind deutlich erschwinglicher als Fernseher, sie funktionieren mit einfachem Funk- und Batteriebetrieb, unabhängig von Strom und Anschluss, und sind auf lange Sicht weniger kostenaufwändig als Druckmedien. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Abbildung 3: Alphabetisierungsrate von Erwachsenen (+15) nach Geschlecht in ausgewählten westafrikanischen Ländern (Stand von 09/ 2006) LAND Gesamt Männer Frauen Benin Cote d’ Ivoire Ghana Guinea Mali Niger Senegal Sierra Leone Togo (in %) 34,7 48,7 57,9 29,5 19,0 28,7 39,3 35,1 53,2 (in %) 47,9 60,8 64,4 42,6 26,7 42,9 51,1 46,9 68,7 (in %) 24,3 38,6 49,8 18,1 11,9 15,1 29,2 24,4 38,5 Quelle 6: UNESCO Institute for Statistics In ihrem Sammelband African Broadcast Cultures: Radio in Transition bringen Fardon & Furniss die Diversifizierung der Rundfunklandschaft (durch Privatisierung oder autonome Sendeweise) direkt mit dem Modernisierungs- oder Demokratisierungsprozess in Verbindung. Dabei deuten sie auf die rasche Vermehrung von privaten Sendern und „Gemeinschaftssendern“ (Community Radio) hin, die seit Ende der achtziger Jahre zu beobachten ist. Die privaten Sender unterscheiden sich von den nationalen öffentlichen und internationalen Sendern wie BBC, Radio France International oder Deutsche Welle und sind mittlerweile in allen Staaten auf nationaler und regionaler Ebene vorhanden: Ghana zählt 84 unabhängige Studios, Mali 75 und Senegal 35. Der Begriff Community Radio deutet auf lokale Sender hin, die oft entweder von Privatpersonen oder überwiegend nicht-staatlichen Akteuren der Zivilgesellschaft zu nicht kommerziellen Zwecken betrieben werden (Myers in Fardon/Furniss 2000: 90). In den Ländern, in denen ein Demokratisierungsprozess stattfindet, ist der Zuwachs an Sendern am stärksten, wobei beobachtet wird, dass diese Entwicklung den politischen Wandlungen oft voraus war. Dabei spielten auch „hausgemachte“, meist illegale Sender, die von Privatpersonen wortwörtlich gebastelt werden und eine Reichweite von bis zu hundert Kilometer haben können, eine wichtige Rolle. So Myers zu einem Gemeinschaftssender in Mali: “Having visited the village of Tori where an illiterate electrician had set up a radio station, I had witnessed the enthusiasm of the villagers for their station. The local school headmaster Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 as well as the village headman confirmed the usefulness of village radio for education and communication” (ebd: 93). So wird im Fall Malis, Burkina Fasos und Benins den Gemeinschaftssendern, die auch als einzige die große Sprachvielfalt dieser Staaten decken können und somit als so genanntes grassroots Instrument, sprich der Demokratisierung von unten, schlechthin gelten, ein wichtiger Beitrag zur friedlichen Demokratisierung zugesprochen (BBC 2006: 29)16. Myers betont ferner, dass dieser Prozess besonders in jenen Gesellschaften am effektivsten eingeschätzt wird, die noch stark von der oralen Tradition geprägt sind, nämlich in Westafrika, insbesondere in ländlichen Gebieten, wo die gemeinschaftliche Mitbenutzung einzelner Rundfunkgeräte Gang und Gäbe ist (Myers 2000: 91). Besonders erwähnenswert ist, dass die Programme dieser privaten und Gemeinschaftssender in der Regel zu 50% aus Nachrichten und 50% aus Musik und Gesang besteht, wobei Gesang für jene traditionelle Praxis der Griots steht, die aus sarkastischer Auseinandersetzung und Wiedergabe der lokalen Ereignisse besteht. In städtischen Gebieten sind insbesondere die privaten kommerziellen und die internationalen Sender beliebt, wobei private kommerzielle Sender mehrheitlich lokale populäre Musik ausstrahlen, die internationalen Sender BBC und RFI und deren Studios in afrikanischen Großstädten werden für ihren ausführlichen und hochqualitativen informativen Inhalt vorgezogen (Abdulkadir in Fardon/Farniss 2000: 130). So stellt Graham Mython, Mitarbeiter der afrikanischen Abteilung der BBC fest, dass sowohl die BBC als auch RFI die größte Zuhörerschaft auf dem afrikanischen Kontinent jeweils außerhalb von England und Frankreich haben (Furniss/ Fardon 2000: 22). So greifen ironischerweise Bewohner Lagos oder Abidjans auf Überseesender zurück, um zu erfahren, was in ihrer eigenen Stadt passiert! Die Bedeutung des Rundfunks in afrikanischen Gesellschaften kann an dieser Stelle nur unzureichend thematisiert werden. Aus den Angaben lassen sich dennoch folgende Erkenntnisse herausleiten: Die hohe Nutzung des Rundfunks und die große Nachfrage nach informativen Inhalten weist trotz der geringen Alphabetisierung und der oft beklagten mangelnden Bildung in gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaften auf ein erhöhtes politisches Bewusstsein der afrikanischen Bevölkerung hin. So kann auch Musik in diesem 16 Ein gegenteiliges Beispiel stellt die oft erwähnte Bedeutung des Senders Radio Television des Mille Collines beim Genozid im Ruanda dar, der nach seiner Übernahme durch Hutu-Rebellenführer für die systematische Aufhetzung gegen die Tutsi-Bevölkerung eingesetzt wurde (siehe Dazu Fardon/Furniss 2001: Kapitel 14). Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Kontext der Information und gesellschaftlichen Kommunikation einbezogen werden. Es wäre natürlich übertrieben, der Musik und den rein informativen Rundfunkprogrammen, die im Stundentakt aktuelle Nachrichten ausstrahlen, den gleichen informativen Gehalt zuzusprechen. Dennoch kann Musik - von der oft genug behauptet wurde, sie sei stark sozial und politisch ausgerichtet - als wichtiger Bestandteil der Rundfunklandschaft im Kontext einer hohen Rezeptionsbereitschaft von politischen Inhalten ebenfalls als Medium zur politischen Bewusstseinsbildung betrachtet werden. IV.3: Sozialpolitische Wenden durch Musik ? Das Beispiel Senegals Eins der derzeit wichtigsten Phänomene der Jugendkultur in mehreren westafrikanischen Ländern, insbesondere im westlichen Teil des Benin Golfes und im Senegambia-Raum, ist die rasche Verbreitung von Hip Hop. (Lock 2005: 150). Hip Hop hat Westafrika um etwa dieselbe Zeit erreicht wie Europa. Anfang der achtziger Jahre verbreiten sich Aufnahmen aus den USA in den englischsprachigen Ländern Liberia, Sierra Leone und Ghana. Der größte Zuwachs wird dennoch Ende der achtziger in Senegal festgestellt, wo die Gruppe „Positive Black Soul“, bestehend aus zwei Jugendlichen aus Dakar, eine internationale Karriere an der Seite von bereits kultigen französischen und amerikanischen Figuren des Rap startet. Mittlerweile wird der Senegal gängig nach den USA und Frankreich als die dritte Hip Hop Nation der Welt bezeichnet (Marozsta 2002: 88). Hip Hop steht in Westafrika nicht unbedingt an der ersten Stelle der musikalischen Beliebtheitsskala. Die Highlife-Musik und ihre Nachfolger, die man heute weltweit als afrikanische Musik bezeichnet, sowie der Reggae sind noch die am meisten verbreitete Musikformen. Doch in Ländern wie Senegal, Sierra Leone und Liberia, wo der Durchschnittsalter bei etwa 17 Jahren liegt und 40 bis 45 % der Bevölkerung jünger als 14 sind, stellt Hip Hop zweifellos eine der wichtigsten musikalischen Entwicklungen der Zukunft dar (Lock 2005: 146/ BBC 2006: 27). Katrin Lock sieht in ihrem Beitrag zum Hip Hop in Senegal und Sierra Leone den Durchbruch dieser Musik in direkter Verbindung mit der massiven Arbeitslosigkeit von Jugendlichen in diesen Ländern. Die städtische Arbeitslosigkeit (48% in 2005 im Senegal) betrifft gerade den Teil der Bevölkerung, welcher derzeit dem Arbeitsmarkt beitritt (Lock 2005: 148). Ein Großteil der jungen Generation ist in westafrikanischen Gesellschaften insofern benachteiligt, als dass sie weder in ländlichen Strukturen, die sich derzeit zum großen Teil auflösen, noch im städtischen Raum, wo der Arbeitsmarkt den rasanten Zuwachs an jungen Arbeitskräften Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 kaum absorbieren kann, ernsthafte Perspektiven und Zukunftschancen hat. In dieser Hinsicht bietet Hip Hop dieser zum Teil entmutigten Generation eine willkommene Beschäftigung und eine Möglichkeit an, sich am gesellschaftlichen Geschehen zu beteiligen und diese Umstände zu denunzieren. Interessant ist dabei, dass gerade dieser Teil der Bevölkerung, der im Zuge der massiven Landflucht in die Ballungszentren der anwachsenden Vorstädte kommt, eine Gruppe darstellt, die von der Politik unzureichend wahrgenommen wird, obwohl sie seit mehreren Jahrzehnten rasante Wachstumsmuster aufweist. Dieses Phänomen lässt sich in nahezu allen modernen Gesellschaften beobachten und so steht Hip Hop im Senegal, aber auch in den USA, Frankreich und Deutschland als Symbol für den Ausdruckswillen jener jungen Menschen, die sich am Rande einer Gesellschaft befinden, die ihnen immer weniger zu bieten hat. So titelt die Wochenzeitschrift Der Spiegel vom 16.04.2007 einen vierseitigen Artikel über die Berliner Hip Hop Szene „Stimmen aus den Ghettos: während die Politik über die Unterschicht debattiert, melden sich die Betroffenen selbst zu Wort.“(Der Spiegel Nr.16, 16.04.2007, 180-185). Wenn der kommerzielle Teil des europäischen und amerikanischen Hip Hop wegen einer provokativen Verehrung von Wohlstandssymbolen, Sexismus und Gewaltbereitschaft zunehmend kritisiert und zum Teil als soziale Ausdrucksform diskreditiert wird, scheint der afrikanische Hip Hop im Gegenteil von einer politischen aufklärenden Ausrichtung geprägt zu sein (Franklin 2005: 12). So Jean Marie Messier, als er Geschäftsführer des internationalen Unterhaltungskonzerns Vivendi Universal war: „Der Senegal hat den Rap, nachdem er ihn importiert hat, vollkommen „senegalisiert“ und aus ihm die aktivste Form der politischen Kritik gemacht“ (Le Monde vom 09.04.2001, zitiert in Marozsta 2002: 90). Offenbar setzt der Hip Hop zurzeit die Tradition der sozialen Reflexion und der politischen Kritik in der afrikanischen populären Musik fort. Von Anfang an hat Hip Hop die Schwächen der Transformation denunziert, in der sich afrikanische Gesellschaften befinden, und so findet sich im afrikanischen Rap von Positive Black Soul, Yeleen (Mali) oder Gohkby Sound System stets Kritik an den negativen Folgen der Globalisierung der Weltwirtschaft für Afrika, aber auch - in lokalerer Hinsicht - an der schlechten Lage des Bildungswesens oder an der Korruption der Entscheidungsträger. Zusammenfassend lässt sich einerseits sagen, dass die politische Sphäre zum bevorzugten Objekt des Hip Hop wurde und andererseits, dass der Hip Hop zunehmend zur politischen Sphäre gehört. Mbaye fügt hinzu, dass dabei die Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Ernsthaftigkeit, mit der der Hip Hop am Politischen rüttelt, viel zu seiner Glaubwürdigkeit beigetragen hat. Hip Hop SängerInnen, so Mbaye, sind oft „gebildeter“ als der Großteil ihrer Zuhörerschaft und gehören zu den wenigen, die es wagen, aus der Masse der Stimmlosen heraustreten, um ihren Unmut kundzutun. Mbaye zitiert einen Sprecher des größten privaten Rundfunks Dakars „FM de Dakar“: „Die senegalesischen Rapper sind wie Lehrer. Sie geben der Bevölkerung viele Ratschläge und verstehen es, unsere Kultur auf originelle Weise aufzuwerten“ (Mbaye in Rythmes 06/1999: 46) Ein entscheidendes politisches Ereignis, das die Rolle des Hip Hop im Senegal deutlich macht, stellt die Präsidentschaftswahl aus dem Jahr 2000 dar. Nach 26 Jahren sozialistischer monoparteiischer Führung wurde die Opposition erstmals gewählt. Scheinbar wurde die Jugend zu einem großen Teil durch Hip Hop Sänger zum Urnengang mobilisiert: Über die vielen Radiosender, die der lokalen Musik verpflichtet sind, hatten sich die Sänger von Positive Black Soul, Gohkby Sound System und BMG 44 in Liedern und Interviews für den Machtwechsel stark gemacht. Die Partei des Staatschefs Abu Diouf hatte wiederum versucht, Sänger zu bezahlen, damit sie Abdoulaye Wade (der die Wahl schließlich gewann) in ihren Liedern diskreditieren (Lock 2005: 152). Dabei wurde einer der Sänger von BMG 44, der ein Angebot von Diouf abwies, anschließend von Parteianhängern fast totgeschlagen, worauf sonst zahme Zeitungen und Radiosender in die Debatte eingriffen und erstmals kritisch Stellung zur politischen Lage des Landes bezogen (Marouzsta 2002: 93). So sind sich Beobachter darüber einig, dass Hip Hop die Stimme des Machtwechsels in die Reihen der Jugend getragen hat. Somit hat die Politik auch die Macht dieser wachsenden jungen Unterschicht, die in großer Mehrheit für Wade gewählt hat, erstmals gespürt. Lock beobachtet ferner, dass Wade seit seiner Wahl in seinen Reden zahlreiche Begriffe und Ausdrucksweisen aus dem Hip Hop Jargon der Hauptstadt verwendet und sich somit direkt an diese Bevölkerungsgruppe richtet (Lock 2005: 153). Dieses Beispiel von Hip Hop im Senegal ist für die Analyse von zweifacher Relevanz: Erstens bringt es die politische Agenda einer jungen Generation zu Tage, die bisher von den politischen Arenen afrikanischer Gesellschaften ausgeschlossen blieb, heute den größten Teil der Bevölkerung des Kontinentes ausmacht und sich offenbar ihrer Geschichte, sozialwirtschaftlichen Lage und ihres gesellschaftlichen Gestaltungspotentials bewusst ist. In jenen Ländern wie Senegal, Liberia oder Ghana, die sich in einer demokratischen Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 7 Transitionsphase befinden, scheint der Hip Hop neben oftmals marodem Bildungswesen und bescheidener Presselandschaft als Instrumentarium der vertikalen Austragung von gesellschaftlichen Anliegen zu dienen. Ferner gilt die musikalische Praxis, auch wenn dies eine idealistische Feststellung ist, als Beschäftigung und gesellschaftliche Beteiligung in jenen Gesellschaften, die besonders schwer von Arbeits- und Perspektivlosigkeit getroffen sind. Zweitens kann am Beispiel von Senegals erster demokratischer Wahl, bei der Beobachter den Künstlern und privaten Radiosendern eine wichtige Aufklärerrolle gegenüber der Bevölkerung verleihen, eine Form der Einflussnahme von Musik auf den politischen Prozess festgestellt werden, wobei der ganze musikalische Prozess von der Produktion hin zur Verbreitung der Tonträger von dem Willen nach gesellschaftlicher Wandlung geprägt ist. So kommen sowohl Marazsto als auch Lock beim Beispiel der Wahl in Senegal zum Schluss, dass Abdoulaye Wade den Großteil der Stimmen von Jugendlichen dem gemeinsamen Auftreten von Radiosendern und Hip Hop Sängern für einen Machtwechsel zu verdanken hat (Marazsto 2002: 93/ Lock 2005: 152). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieses Phänomen, das bereits im Fall Jamaikas beobachtet wurde, sich in weiteren Ländern mit ähnlichen demographischen, sozialpolitischen und kulturellen Entwicklungsmustern wiederholen könnte. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 8 TEIL V: FAZIT „They could not understand that African Art is essentially utilitarian and social, they separate culture from the people, art from real life (…) No author has ever been able to interpret the inner meaning of music, which in Africa is part of the social and intellectual life” (Sekou Touré in Enzewor 2001: 371). Dieses Zitat aus einer Rede von Sékou Touré illustriert bestens die Komplexität und die Vielfalt der Fragestellungen, die zur Untersuchung des Beitrages von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung in afrikanischen Gesellschaften aufgeworfen werden: Zum einen die Hinterfragung der Verbindung zwischen Musik und gesellschaftspolitischem Geschehen. Im Gegensatz zur musik- und sozialwissenschaftlichen Tradition- werden hier Musik und Politik nicht als getrennte Gesellschaftsbereiche betrachtet. Wer diese Trennung aufhebt, deutet implizit auf eine soziale Funktion von Musik, die parallel zum künstlerischen Wesen bestehen kann, und postuliert die Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme. Die Erfassung der Funktionalität und des Einflusses von Musik innerhalb einer Gesellschaft stellt dennoch eine Reihe von wissenschaftlichen Problemen dar, welche die Formulierung von empirisch verifizierbaren Feststellungen erschwert. Aus diesem Grund wurde im Laufe der Analyse überwiegend nach Interaktionen und Berührungsstellen zwischen musikalischer Praxis und politischem Prozess gesucht. Dabei wurde ein dynamisches Verhältnis zwischen Musik und Politik in jenen Gesellschaften (oder Nischen einer Gesellschaft) festgestellt, in denen einen gesteigerten Bedarf nach sozialer und kultureller Selbstbehauptung zu beobachten ist. Dieser Bedarf weist wiederum auf eine erhöhte Rezeptionsbereitschaft für künstlerische Produktionen hin, die auf soziale und kulturelle Wandlung gerichtet sind. So hat sich an den aufgebrachten Beispielen westafrikanischer Ländern folgendes bestätigt: In politischen Systemen, die sich in einem Prozess der Identitätssuche befinden, wie zum Beispiel im postkolonialen Afrika, das zwischen eurochristlichen und vorkolonialen kulturellen Wertesysteme gespalten ist, kann Musik durchaus als politisches Instrument der Identitätsbildung dienen. Letzteres wirft die Frage nach der Rezeption von Musik auf. Diesbezüglich macht Tourés Zitat die Besonderheit westafrikanischer Gesellschaften deutlich: Musik hat in Westafrika ein hohes gesellschaftliches Stellenwert und nicht so sehr die Unterhaltungsfunktion von Musik als ihre soziale Vermittlungskraft steht im Vordergrund der musikalischen Praxis. Gekoppelt Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 8 an die Aussagen über die soziale Reflexion, welche die afrikanische Musik prägt, über hohe Nachfrage und Konsum von Musik und über die traditionelle Einbindung von Musik im gesellschaftlichen Geschehen lässt sich in der Tat sagen, dass Musik in westafrikanischen Gesellschaften eine vergleichsweise starke Vermittlungskraft hat. Wenn es übertrieben wäre, der Musik eine rein informative Funktion zu verleihen, lässt sich sagen, dass Musik als gesellschaftliches Kommunikationsmedium, insbesondere in Gesellschaften mit geringer Alphabetisierung und schwerem Zugang zu Medien, eine informierende und oder gar eine aufklärende Rolle haben kann. Auch wenn der Beitrag von Musik zur politischen Bewusstseinsbildung im gegenwärtigen Westafrika weder übergreifend definiert noch empirisch gemessen werden kann, erscheint mir die Aussage, dass Musik zur politischen Bewusstseinbildung beitragen kann, als eine für die Politikwissenschaften wichtige Erkenntnis. Letzteres wurde anhand der Beispiele erläutert, bei denen ein gegenseitiges Einwirken von musikalischer Praxis und politischem Prozess und eine gesellschaftliche Gestaltungskraft von Musik identifiziert wurden, die gegebenenfalls politische Konsequenzen nach sich ziehen können, wie etwa am Beispiel Senegals. Man sollte dennoch die „Macht“ der Musik nicht überschätzen und es ist fraglich, ob Musik als Form der politischen Partizipation geeignet ist, um eben politische Wandlung zu bewirken. Die Gestaltungskraft von populärer Musik kann je nach gesellschaftlichem Kontext variieren und nicht alle Musik dient der sozialen Reflexion. In dieser Hinsicht scheint die Analyse der populären Musik in gegenwärtigen westafrikanischen Gesellschaften eine besondere Konstellation darzustellen, die sozusagen alle Voraussetzungen erfüllt, um von einer politischen Bedeutung der Musik reden zu können. Dazu gehört ein gesellschaftlicher Kontext, ein Bedarf nach kultureller Identifizierung, eine hohe musikalische Produktivität und nicht zuletzt eine hohe Rezeptionsbereitschaft, die auch durch ausreichenden Vertrieb befriedigt werden muss. Nichts desto trotz sind im Laufe der Analyse Berührungsflächen zwischen Musik und Politik identifiziert worden, die meines Erachtens Hinweise für eine gesteigerte Achtung der musikalischen Praxis zur Deutung von sozialer, gesellschaftlicher und politischer Wandlungen auch außerhalb von Afrika sprechen. Property Geof Vasseur, www.geof-vasseur.net, all rights reserved 8 Quellenverzeichnis Abdulkadir, Mansur: Popular Culture in Advertising; In Fardon, Richard / Furniss, Graham (Hrsg): African Broadcast Cultures, Radio in Transition, James Currey Publishers, London, 2000; S. 128- 144 Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1968 BBC (World Service Trust): African Media Development Initiative, Research Summary Report, BBC World Service Trust, London, 2006 Bender, Wolfgang: „We are proud to be in the Commonwealth“ - Sierra Leone und der Afro- Calypso; In Erlmann, Veit (Hrsg): Populäre Musik in Afrika, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin, 1991; S.33- 58 Bley, Helmut: Künstliche Grenze, natürliches Afrika? In Informationszentrum 3. 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