Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Kapitel 2 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit als Forschungsfeld rekonstruktiver Sozialforschung Das Forschungsfeld dieser Arbeit – die sozialpädagogische Praxis in Projekten der Jugendsozialarbeit - erweist sich aus vielfältigen Gründen als sehr unhandlich und begriffssystematisch kaum zu fassen. Zum einen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte, die von verschiedensten Trägern mit unterschiedlichsten Zielperspektiven organisiert und durchgeführt werden und deren Finanzierung über Zuschüsse oder Vollfinanzierungen aus Mitteln des Kinder- und Jugendplanes des Bundes, der Länder und Kommunen, des Europäischen Sozialfonds und spezifischer Sonderprogramme der Europäischen Union, sowie Mitteln aus der Arbeitsmarktförderung, der beruflichen und allgemeinen Bildung, dem BSHG und Fonds, z.B. im Bereich der Migrationssozialarbeit, sowie Stiftungen privaten und öffentlichen Rechts, sichergestellt wird und die an entsprechende inhaltliche oder zielgruppenspezifische Vorgaben gebunden sind. Andererseits erscheint die theoretische Beschäftigung mit diesem Teilbereich der Kinder- und Jugendhilfe aufgrund unterschiedlicher Bezugsgrößen zur Bestimmung der Zielgruppe über soziologische und psychologische Bedingungsfaktoren schwierig, so dass Jugendsozialarbeit – auch über ihre rechtliche Verankerung im SGB VIII (KJHG) - mehr als eine Art „Restkategorie“ wirkt. Grundsätzlich kann dieses Handlungsfeld charakterisiert werden als der Bereich, in dem Projekte entwickelt und Maßnahmen durchgeführt werden sollen, die sich an alle diejenigen Jugendlichen wenden, die in der Lebensphase Jugend, gekennzeichnet als Prozess des „Hereinwachsens in die Gesellschaft“ (Galuske 2001, 885), Probleme aufweisen, die auf einen nicht reibungslosen Verlauf dieses Prozesses schließen lassen. Diese relativ ausufernde Beschreibung des Handlungsfeldes Jugendsozialarbeit befördert Vorstellungen der Träger, für unterschiedlichste Aufgaben und Zielgruppen zuständig zu sein, kann darüber hinaus aber auch als ein Grund dafür angesehen werden, dass die Thematisierung der Jugendsozialarbeit sowohl in statistischer Hinsicht als auch in wissenschaftlichen Untersuchungen sehr rudimentär ist und bisher nur in Teilbereichen und dann vor allem im Kontext von Evaluationsstudien zu spezifischen, modellhaften Projekten vorgenommen wurde (vgl. Rauschenbach 2004, 14 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit 295), nicht jedoch im Bereich der Entwicklung, resp. Anwendung pädagogischer Theorien in bezug auf das Feld. Mit dem Begriff Jugendsozialarbeit wird zunächst ein sozialpädagogisches Handlungsfeld im Rahmen der Jugendhilfe beschrieben, für das sich eine trennscharfe Definition bislang nicht etablieren konnte und für das sich demzufolge aufgrund der Uneindeutigkeit der Diskurse eine quasi behelfsmäßige Bestimmung über den § 13 SGB VIII anbietet (vgl. Galuske 2001). Andererseits werden entweder verschiedene Zielgruppen, Arbeitsfelder oder spezifische Angebote identifiziert, um das Feld Jugendsozialarbeit näher charakterisieren zu können. Während sich nach Gögercin (1999) Jugendsozialarbeit als „flankierende Hilfe auf dem Weg zum Beruf und im Beruf sowie als Jugendberufshilfe, als Jugendwohnen, als Eingliederungshilfe, als „Hilfe zur Erziehung“, als „Bildungs- und Freizeithilfe“ (ebd., 14) vollzieht, führt Wabnitz (2003) aus, dass sich Jugendsozialarbeit rechtssystematisch zwischen der Jugendarbeit und den Hilfen zur Erziehung verorten lässt (vgl. auch: Mollenhauer 1990, 64). Neben der Schwierigkeit, den Begriff, bzw. das Handlungsfeld analytisch zu fassen und zu definieren, lässt sich feststellen, dass das theoretische Interesse an Jugendsozialarbeit bisher relativ marginal ist, so dass theoretische Richtungen oder übergreifende Konzepte, wie sie sich z. B. in der Entwicklung der Jugendarbeit durchaus finden lassen, nicht, bzw. nur in spezifischen Ansätzen existieren und sich ihre Reichweite auf eine konkrete Praxis beschränkt. Das mag zum einen daran liegen, dass die Jugendsozialarbeit durch ihre gesetzliche Fassung im § 13 KJHG der Auffassung einiger Autoren zufolge zwar einen subjektiven Regelrechtsanspruch (vgl. Wabnitz 2003, 52) darstellt, bzw. Münder/Schruth (2002, 129) einen subjektiven Rechtsanspruch erkennen, der jedoch – gemessen an der finanziellen Ausstattung dieses Teilbereiches der Kinder- und Jugendhilfe durch die Kommunen (vgl. Fülbier/Schäfer 1999) - kaum Auswirkungen auf die Förderung und damit Initiierung von entsprechenden Projekten auf kommunaler Ebene im Sinne einer Breitenförderung von Maßnahmen der Jugendsozialarbeit gehabt hat. Insofern soll dieses Kapitel einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte von Jugendsozialarbeit liefern, um nach einer Beschreibung der Zielgruppen und Aufgabenfelder, der strukturellen Eingebundenheit über unterschiedliche (finanz-) politische und trägerspezifische Zuständigkeitsbereiche zu einer vorläufigen Begriffsbestimmung zu kommen und daran anschließend einige Perspektiven der weiteren Entwicklung von Jugendsozialarbeit aufzuzeigen. Dabei zielt die Darstellung des Feldes auf die Frage, in wie weit die pädagogischen Angebote und Interventionen in der Jugendsozialarbeit geeignet sind, um Jugendlichen in der Phase der 15 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Vergesellschaftung nicht nur über das Nachholen von Schulabschlüssen, Erlernen der deutschen Sprache und die Bereitstellung von überbetrieblichen Ausbildungsgängen, sondern auch über persönlichkeitsorientierte Angebote eine Übergangshilfe für eine spätere Erwachsenenexistenz zu eröffnen. 2.1 Geschichte der Jugendsozialarbeit Eine historische Rekonstruktion des Handlungsfeldes Jugendsozialarbeit weist zurück auf Unterstützungsleistungen für Erwerbslose, die in den Anfängen bereits zur Zeit des Kaiserreiches existierten und zur Zeit der Weimarer Republik weiter ausgebaut und formalisiert wurden. 2.1.1 Die Kaiserzeit Gögercin legt 1999 mit der Veröffentlichung „Jugendsozialarbeit. Eine Einführung“ ein sehr umfassendes Werk über das sozialpädagogische Handlungsfeld Jugendsozialarbeit vor und sieht die historischen Wurzeln der Jugendsozialarbeit als einen Teil der Jugendverbandsarbeit und der Wohlfahrtsverbände, die zurück reichen bis in das 19. Jahrhundert. „Kräftiges Bevölkerungswachstum, rasant zunehmende Verstädterung, Auflösung traditioneller sozialer Bindungen, Not und Elend großer Bevölkerungskreise, Erhöhung der Mobilität und damit Zunahme der Migration sowie Herausbildung stark differenzierter Berufsstrukturen sind Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert. Als eine Antwort auf die Not der jungen Menschen im Zuge dieser ‚industriellen Revolution’ entwickelte sich die Jugendsozialarbeit seit etwa 1800“ (Gögercin 1999, 23). Er stellt dabei unter Rückgriff auf Breuer (1992) insbesondere die Initiativen der katholischen Träger heraus und nennt die Angebote des von Adolph Kolping 1846 gegründeten Katholischen Deutschen Gesellenvereins (vgl. Ebel 1981, 216), zahlreiche Ordens- und Genossenschaftsgründungen, beispielhaft die ‚Oratorien‘ von Don Bosco, katholische Jugendvereine, Arbeiter und Arbeiterinnenvereine und den Auf- und Ausbau eines organisierten Mädchenschutzes. Die Gründung solcher „Jugendorganisationen“, in denen Gögercin und Breuer die ersten Ansätze einer Jugendsozialarbeit entdecken wird von Seydel (1974) und Ebel (1981) auch als Entstehung der Jugendarbeit allgemein bezeichnet, wobei Seydel dabei auf den bereits 1834 von dem Bremer Pastor Mallet gegründeten „Hilfsverein für Jünglinge“ verweist (Seydel 1974, 9). 16 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Das Konzept der Arbeit mit den Jugendlichen in solchen Vereinigungen war pragmatisch geprägt und richtete „sich im wesentlichen auf zwei Einrichtungen: Örtliche Gesellenvereine mit der Absicht, gute Christen in Familie und Staat heranzubilden; Gesellenhäuser (Kolpinghäuser), die als Herbergen und Versammlungsräume auch den wandernden (familienlosen) Mitgliedern Zuflucht und Heimstatt boten“ (Ebel 1981, 110). Zusammen mit weiteren Vereinsgründungen, z.B. des „Verein(s) der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins“ 1904 durch Dr. Broh (vgl. ebd., 109) weisen diese frühen Anfänge einer Arbeit mit Jugendlichen im Übergangsbereich zur Arbeitswelt darauf hin, dass ursprünglich eine enge Verbindung zwischen dem Jugendarbeit Gedankengut und einer und an den Überzeugungen Beruflichkeit junger einer aufkeimenden Menschen orientierten Jugendsozialarbeit festzustellen ist. Diese Nähe zur Jugendarbeit wird auch in den neuerlichen Äußerungen von Breuer (2005) deutlich, in denen er mit Blick auf die Jugendhilfe darauf hinweist, dass Jugendsozialarbeit „nicht aus der Jugendhilfe heraus entstanden [ist], sondern als übergreifende Aktion von Jugendseelsorge und Jugendarbeit, von Caritas und ihren Fachverbänden, Genossenschaften von und berufsständischen von Organisationen, eigenständigen Trägern von von Orden und Heimstatt und Jugendsozialarbeit. Und wir sind als Selbsthilfeeinrichtungen konzipiert und entwickelt worden, nicht aber als Funktionsträger öffentlicher Jugendhilfe oder anderer Behörden, nicht als deren Antragsteller oder gar Auftragnehmer, nicht mit Hilfe von Jugendhilfe- und anderen Etats“ (ebd., S. 12). Dass eine solche historische Rekonstruktion auch Implikationen für eine pädagogische Praxis beinhaltet, wird im Folgenden noch näher ausgearbeitet. 2.1.2 Jugendsozialarbeit in der Zeit der Weimarer Republik In der Zeit der Weimarer Republik entwickelt sich die Jugendsozialarbeit insbesondere durch die Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes am 14.06.1922 und sein Inkrafttreten am 01.04.1924, durch gesamtpolitische Rahmenbedingungen und die Entwicklung des Arbeitsmarktes (hohe (Jugend-) arbeitslosigkeit) während der gesamten Zeit der Weimarer Republik, insbesondere als Folge der Weltwirtschaftskrise (ausgelöst durch den Bösenkrach von New York am 25.10.1929), in deren Verlauf im Februar 1932 6,13 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos registriert waren, weiter (vgl. Gögercin 1999, 23f.). Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz markiert dabei eine Veränderung der Perspektive von Jugendhilfe: „Sein Verständnis erwuchs aus einer durchaus ernstgemeinten Sorge um 17 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Kinder und Jugendliche. Es ging davon aus, daß die Akteure der Jugendhilfe besser als die Betroffenen wissen, was ‚das Beste‘ für sie ist, und sie deswegen legitimiert sind, dieses gegebenenfalls auch mit sanftem Druck umzusetzen. In diesem Verständnis war auch Jugendsozialarbeit konzipiert“ (Münder 1995, 12). Einen umfassenden historischen Überblick über die Entwicklung der Jugendsozialarbeit in der Zeit der Weimarer Republik liefert Hermanns (2001), der aufgrund seiner interessanten Parallelen zur heutigen Situation der Arbeitsmarktpolitik an dieser Stelle näher ausgeführt werden soll. Neben dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 haben die Erwerbslosenfürsorge, eine Verordnung des Rates der Volksbeauftragten von 1918, die eine Fürsorge der Gemeinde für erwerbslose Menschen, die arbeitsfähig und –willig waren, und später die sich daraus durch Aufnahme versicherungsrechtlicher Elemente entwickelnde Erwerbslosenfürsorge und die gesetzliche Verankerung der Berufsberatung, in dessen Folge von 1919 ab an ein lückenloses Netz von Berufsämtern aufgebaut wurde, für die Entwicklung der Jugendsozialarbeit große Bedeutung. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Gedanken und Ideen nennt Hermanns vor allem Persönlichkeiten wie Hermann Nohl, Gertrud Bäumer, Alice Salomon, Marie Braun und Agnes Neuhaus, die der Jugend- oder Frauenbewegung nahe standen sowie Joseph Beeking und Heinrich Weber, die der Caritasbewegung entstammten, und die wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Jugendsozialarbeit in der damaligen Zeit gaben. Er verweist darauf, dass die Jugendbewegung in der Nachkriegszeit eine Blütezeit erlebte und der Reformpädagogik, der Jugendarbeit und der Volksbildung wichtige Impulse gab (vgl. Hermanns 2001, 24). In die Zeit der Weimarer Republik fällt auch die Berufsbildungstheorie Georg Kerschensteiners, die ein lange Zeit tragendes Fundament für die Berufsschulen geschaffen hat und Einfluss auf theoretische Grundlagen einer berufsorientierten Jugendarbeit entwickeln konnte. „Die berufsorientierte Bildungsreform wandte sich gegen den im Bildungssystem des 19. Jahrhunderts dominanten Neuhumanismus, der zwar nach Wilhelm von Humboldt auf eine befreiende Bildung für den Menschen zielte, aber allmählich in eine unlebendige Wissensbildung umgedeutet wurde. Als Allgemeinbildung war sie lebens- und wirklichkeitsfremd geworden und hatte wichtige Lebensbereiche wie Wirtschaft, Arbeit und Soziales aus dem Blick verloren. Deshalb strebte Kerschensteiner eine neue Menschenbildung über die Berufsbildung an. Nach seiner Theorie vollzieht sich Bildung nur im Beruf“ (Hermanns 2001, 25). 18 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Hermanns beschreibt die Wirkungen der Jugendarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik mit Einschränkungen in der Identitätsbildung, sozialer Unsicherheit, finanzieller Unsicherheit, Abnahme der persönlichen Widerstandskraft, Zunahme der Kriminalitätsgefährdung und gleichzeitige Politikverdrossenheit und politische Radikalisierung (vgl. ebd., 27). Ähnliche Aspekte finden sich ebenfalls in den aktuellen Diskussionen um Jugendarbeitslosigkeit wieder. Auch die damaligen arbeits-, bzw. sozialpolitischen Maßnahmen lassen deutliche Parallelen zum aktuellen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Denken erkennen. So wurde die Arbeitsfürsorge in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg erheblich ausgebaut und „umfasste die gesamten sozialpolitischen Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsgelegenheit für arbeitsfähige Arbeitslose, die nicht kurzfristig auf dem Arbeitsmarkt untergebracht werden konnten. Sie bestand in der Vermittlung von Pflicht- und Notstandsarbeiten“ (ebd., 28), (soziale Tätigkeiten, Instandhaltung öffentlicher Anlagen, Kultivierungsarbeiten zur Nahrungsmittelproduktion und Volksversorgung) die gemeinnützigen Charakter hatten. Die Auszahlung von Unterstützung wurde an den regelmäßigen Besuch von Pflichtbildungskursen und die Übernahme von Pflicht- und Notstandsarbeiten gebunden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Diskussion über die Frage, inwiefern das Problem der Arbeitslosigkeit durch die Wirtschaft verursacht ist und nur mit Mitteln der Wirtschaft gelöst werden kann, die im Rahmen der Debatte um die Verabschiedung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung auf dem 40. Fürsorgetag von Wunderlich angestoßen wurde. Wunderlich nennt neben der wirtschaftlichen Unterstützung auch Berufsberatung, Ausbildung und Umschulung als wesentliche Mittel der Arbeitsfürsorge zur Integration arbeitsfähiger Menschen in die Wirtschaft (vgl. ebd., 30) und fordert auch präventive Maßnahmen. Bildungsmaßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit erschöpfen sich jedoch in der Verlängerung der Schulzeit und verstärkter Verschulung, wohingegen „sozialpädagogisch orientierte Maßnahmen für arbeitslose Jugendliche [...] aus dem Kriterienkatalog der Reichsanstalt ausgeschlossen [waren]“ (ebd., 31). 2.1.3 Die Zeit des Nationalsozialismus In den umfassenden wirtschaftlichen Problemen der Weimarer Republik und vor allem in der Aushöhlung demokratischer Grundlagen durch außer Kraft setzen weiter Teile der Verfassung durch die Regierungen Brüning (1929-1932) und Papen (1932-1933) 19 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit und der Gewöhnung an die Hilflosigkeit der Politik in bezug auf die wirtschaftlichen Einbrüche und die hohe Arbeitslosigkeit sieht Münchmeier (2001, 39) wichtige Ursachen dafür, dass es keine gesellschaftliche Kraft gab, die sich dem NS-Terror wirksam widersetzen konnte, sondern dass sich eine relativ große Bereitschaft entwickeln konnte, „Hitler eine Chance zu geben, die Krise mit seinen Mitteln zu beheben“ (ebd.). In der Folge sanken die Arbeitslosenzahlen von 4,8 Mio. 1933 auf nur noch 119.000 im Jahre 1939, Staatsverschuldung wobei diese einher Vollbeschäftigung geht und „durch mit einer hoch beispiellosen subventionierte Beschäftigungsprogramme, durch die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, durch den mit Prämien gesteuerten Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsmarkt und durch eine Vielzahl von „Notstandsarbeiten“ und neu geschaffenen Arbeitsplätzen im Rahmen des Landjahrs und es Freiwilligen Arbeitsdienstes“ (Münchmeier 2001, 41) erkauft wird. Die Jugendhilfe wird umgestaltet und die Auslesepraxis der Jugendlichen in Erziehungsfähige und Erziehungsunfähige quasi wissenschaftlich durch genetische Determinierung begründet. Alle erziehbaren Jugendlichen wurden nach und nach in der Hitlerjugend zusammengefasst, Jugendverbände der sog. „bündischen Jugend“ aufgelöst und Unerziehbare mit Kriegsbeginn in Jugendkonzentrationslagern untergebracht und festgesetzt (vgl. ebd., 43). An die Erfahrungen mit den freiwilligen Arbeitsdiensten in der Weimarer Republik anknüpfend, wird 1935 für Jungen und Mädchen der verpflichtende Reichsarbeitsdienst eingeführt. „Unter diesen Vorgaben verkehren sich Ziele und Konzepte von Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe in ihr Gegenteil. An die Stelle von Integration treten Auslese und Ausgrenzung. Es verwundert deshalb nicht, dass man es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr wagt, an die Tradition des Arbeitsdienstes anzuknüpfen, obwohl die ‚Not der Zeit‘ allen Anlass dazu geboten hätte“ (ebd., 46). In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden zahlreiche Einrichtungen der Jugendsozialarbeit durch Bomben der Alliierten zerstört (vgl. Gögercin 1999, 24), da neben den ursprünglichen Formen der Jugendsozialarbeit, die von dem nationalsozialistischen Regime mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ohnehin bereits stark zerschlagen worden, neue Einrichtungen mit sozialdisziplinierendem Charakter, wie Arbeitsdienst oder Pflichtjahr für Mädchen, von der Regierung aufgebaut wurden. 20 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit 2.1.4 Die Entwicklung der Jugendsozialarbeit ab 1945 Die eigentliche Geburtsstunde der Jugendsozialarbeit wird von mehreren Autoren mit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Nachkriegsdeutschlands markiert (Breuer 2001, vgl. auch v. Bothmer 1996, Galuske 2001, Müller-Schöll 1991), in dem weite Teile der Jugend durch Kriegsfolgen in Notsituationen geraten waren (Vertriebene, Obdachlose, Waisen, Rückkehrer aus dem Arbeits- oder Kriegsdienst, junge Menschen im Bergbau und in der Landwirtschaft, junge Menschen auf dem Land) und denen die Jugendsozialarbeit nichts anzubieten hatte. Aus dieser Herausforderung entstand im Kettlerhaus der Katholischen Arbeitnehmerbewegung in Köln bereits am 04.06.1945 das erste Jugendwohnheim, das sich, wie die Jugendsozialarbeit selbst, insgesamt als Selbsthilfewerk der Jugend sah (vgl. Breuer 2001). Müller-Schöll führt aus, dass sich in den Nachkriegsjahren im Schnittfeld der Jugendarbeit, die sich mit Traditionen, Zielen, Arbeitsweisen und Schwerpunkten der Jugendbildungsarbeit im Sinne einer Standortbestimmung auseinandersetzen musste, und der Jugendfürsorge, die durch die Weiterentwicklung von sozialpädagogischer Arbeitsformen des casework, groupwork und community organization in den USA herausgefordert war, erste Ansätze von Jugendsozialarbeit herausgebildet haben, wobei er als Motto ebenso wie Breuer die „Hilfe zur Selbsthilfe“ thematisiert und in ihrem Programm ebenfalls „Jugendwohnheime in verschiedensten Größen (mit 25-200 Plätzen für Jugendliche): Jugendwohngemeinschaften, Jugendgemeinschaftswerke (oder Gilden), gemeinnützige Lehrwerkstätten, Förderkurse und berufsorientierte Maßnahmen [und] offene Jugendarbeit“ (Müller-Schöll 1991, 51f) verwirklicht sieht. Alle Einrichtungen und Maßnahmen waren gekennzeichnet durch den Selbsthilfecharakter, ein ganzheitliches Konzept, den Grundsatz der Freiwilligkeit, pädagogisch hochmotivierte Leiter, Zusammenarbeit zwischen den Leitern und den Jugendlichen, Partizipation und der Überzeugung, dass Arbeit die physische und psychische Existenz sichern kann (vgl. Breuer 2001, 49f). Dabei wurde das Potenzial der Jugendsozialarbeit erheblich durch Zugänge aus der Wirtschaft und dem kommunal - staatlichen Raum gefördert. Die Mitarbeiter verfügten über soziale, wissenschaftliche, pädagogische, handwerkliche oder verwaltungsmäßige Grundkenntnisse oder Ausbildungen (vgl. Müller-Schöll 1991), wobei ein wichtiger Faktor in der Jugendsozialarbeit der Anfangsjahre auch die ehrenamtliche Mitarbeit war – ein Phänomen, dass bis heute weitgehend verschwunden ist. So war es nach Faltermeier (1997, 530) das Ziel von Jugendsozialarbeit, der Nachkriegsjugend und den Flüchtlingsjugendlichen in Heimstätten und offenen 21 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Jugendgemeinschaftwerken ein Zuhause zu geben und sie mit handwerklichen Qualifikationen auszustatten, die ihnen eine berufliche und finanzielle Existenz sichern sollten. In bezug auf die Zielgruppen der Jugendsozialarbeit in der Nachkriegszeit wird eine erstaunliche Breite, Offenheit und Vielseitigkeit der Jugendsozialarbeit deutlich. Breuer identifiziert insgesamt 9 verschiedene Zielgruppen, mit unterschiedlich vielen Untergruppen: „I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. Aus Evakuierung zurückströmende Kinder und Jugendliche Junge Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft Auf Zeit oder auf Dauer hin elternlos gewordene Jugend Wohnungslose Jugend Junge Flüchtlinge, Vertriebene, Spätaussiedler, Staatenlose, Illegale Wandernde, streunende Jugend Arbeits- und berufslose Jugend Junge Menschen im Zugriff fremder Mächte, z.B. Fremdenlegion Gefährdete und kriminell gewordene junge Menschen“ (Breuer 2005, 5) Breuer führt weiter aus, dass sich aufgrund dieser Zielgruppenbestimmung eine Altersverteilung ergibt, die weit über das seinerzeit anerkannte Maß an Jugendlichkeit hinausgeht: „Aus diesen neun großen Zielgruppen und ihren Untergruppen speiste sich das Zielgruppenpotential der Jugendsozialarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar nicht nur im Hinblick auf junge Menschen im Alter von 14-18 Jahren, sondern in noch erheblich höherem Maß im Hinblick auf junge Menschen im Alter von 18-25, bzw. 27 Jahren“ (ebd.). Rolf Lenhartz, erster Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk (BAG JAW), dem bundesweiten Zusammenschluss sämtlicher Trägerorganisationen im Bereich der Jugendsozialarbeit, beschreibt 1952 erstmals die Hauptformen der Jugendsozialarbeit: Jugendwohnen, Grundausbildungslehrgänge, gemeinnützige berufsfördernde Ausbildungsstätten, Maßnahmen und überbetriebliche Ausbildungskurse Jugendgemeinschaftswerke (offene und und geschlossene). Dazu entwickelten sich seit Ende der 40er bis Mitte der 60er Jahre weitere Handlungsfelder: schulbezogene Jugendsozialarbeit, Entwicklung außerschulischer berufsbezogener Bildungsmaßnahmen „seit Mitte der 50er Jahre auch lebenskundliche und berufsorientierende Seminare, Freizeiten u.ä. für Schulentlassene“ (Breuer 2001, 55), Berufsbildungswerke für Menschen mit Behinderungen, Mädchensozialarbeit und Weiterentwicklung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Garantiefonds (vgl. ebd.). Bereits in der zweiten Hälfte der 50er Jahre hatte sich somit die Jugendsozialarbeit als drittes Feld neben der Jugendfürsorge und der Jugendpflege bereits soweit etabliert, 22 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit dass Verdun 1957 forderte, die Jugendsozialarbeit als eine „bleibende, reguläre Funktion des sozialen Lebens“ (Verdun 1957, zit. nach Breuer 2001, 74) zu installieren, da „Bedeutung und Bedürfnisse des beruflichen Zurechtkommens der nachwachsenden Generation“ (ebd.) sie dauerhaft verlangten. Gehring (1959) weist der Jugendsozialarbeit bereits sehr früh einen eigenen Standort im Feld der öffentlichen Grundversorgung mit Blick auf familienunterstützende, ergänzende und –ersetzende Hilfen für Kinder und Jugendliche zu. Jugendsozialarbeit habe nicht nur einen zeitlich begrenzten Auftrag, sondern sei berufen, „in unserem Erziehung- und Bildungswesen einen legitimen Platz neben anderen Erziehungsträgern wie Elternhaus und Kirche schulischer und beruflicher Ausbildung einzunehmen“ (Gehring 1959, 415). Die Träger der Jugendsozialarbeit zeichneten sich durch unterschiedliche Trägerpotenziale aus, „die sich gegenseitige ergänzten und zu einer spannungsreichen Kooperation zusammenfanden“ (Breuer 2001, 59). Breuer unterscheidet diese Potenziale in Träger, die ihre Arbeit speziell als Antwort auf die Not der Nachkriegszeit verstanden haben, Träger aus dem Bereich berufsbezogener Qualifikationen, Jugend- und Wohlfahrtsverbände und religiöse Orden und „Träger von Einrichtungen und Maßnahmen, die unter spezifisch arbeitsmarkt- und nachwuchspolitischen Aspekten konzipiert wurden“ (ebd., 59). Darüber hinaus nennt er kommunale Träger und Großträger wie das CJD – Christliches Jugenddorfwerk e.V. der evangelischen Kirche, den Internationalen Bund für Sozialarbeit Jugendsozialwerk e.V., die Kolping - Bildungswerke und die Ordensgemeinschaft der Salesianer Don Boscos, die nach Breuer eine eigene Position einnehmen. Breuer weist darauf hin, dass es keine Träger gegeben hat, die unmittelbar und bewußt an die Formen berufsbezogener Jugendsozialarbeit in der NS-Zeit angeknüpft haben (vgl. Münchmeier 2001, 46). Gleichwohl hat es in allen genannten Trägerpotenzialen Mitarbeiter gegeben, „die während der NS-Zeit in Lehrlingsheimen/Jugendwohnheimen, in Lehrwerkstätten, im Reichsarbeitsdienst sowie auch in Führungsstellen der HJ und der Deutschen Arbeitsfront tätig waren“ (Breuer 2001, 60). Die am 19.05.1949 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk (BAG JAW) avancierte nach Breuer schnell zu einem anerkannten Fachgremium für die Jugendsozialarbeit. Als Folge der Schwierigkeit, insbesondere männliche Mitarbeiter für die Jugendsozialarbeit zu gewinnen, wurden unter anderem speziell längerfristige Heimleiterlehrgänge eingerichtet, deren Absolventen später durch ein Aufbaustudium einen staatlichen anerkannten Abschluß erlangen konnten. 23 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Besonders in den großen Flächenbundesländern war das Verhältnis von Behörden und Jugendsozialarbeit offen und „vom Suchen nach Formen einer neuen Zusammenarbeit gekennzeichnet“ (ebd., 65) (z.B. durch die Mitarbeit von Politikern und Beamten in freien Institutionen). Durch die Bestimmung des Bundesjugendplanes vom 18.12.1950, Landeskuratorien einzurichten, entstand „erstmalig eine gemeinsam abgestimmte Gesamtplanung von Einrichtungen der Jugendsozialarbeit und eine gemeinsam verhandelte und verbindlich verabschiedete Absprache über die Finanzierung solcher Maßnahmen“ (ebd., 69). Naturgemäß waren für die Jugendsozialarbeit mit ihrem „über den Bereich der Jugendhilfe hinausreichendem Charakter“ (ebd., 71) weitere Gesetze von hoher Bedeutung. Wesentliche Unterstützung erhielt die deutsche Jugendsozialarbeit ab 1949 aus dem Marshall-Plan, durch Mittel von der Victor-Gollancz-Stiftung und durch Spenden der Schweizer Europahilfe, seit 1950 aus Mitteln des McCloy Fonds, der Norwegischen Europahilfe für Jugendwohnheime und das Schwedische Rote Kreuz. Jugendsozialarbeit hat durch die drei großen Handlungsfelder Katastrophenhilfe, Jugendberufshilfe und Eingliederungshilfe „wegweisende und umfassende Beiträge zur personalen Stabilisierung, zur beruflichen Sozialisation und zur gesellschaftlichen Integration politisch und sozial benachteiligter junger Menschen geleistet“ (ebd., 73). Mit Beginn der 1980er Jahre veränderten sich die Erscheinungsformen der Jugendsozialarbeit im Zusammenhang mit der Chancengleichheitsdebatte in dessen Folge neue Formen der Integration von benachteiligten Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt entwickelt werden mussten. „Es ging nicht mehr um ‚begleitende‘ sozialpädagogische sozialpädagogisch Programme, orientierter sondern um eigenständige Berufsvorbereitung, Angebote Berufsausbildung und sozialpädagogisch orientierter Beschäftigung. Jugendsozialarbeit beteiligte sich an arbeitsmarktpolitischen sog. Benachteiligtenförderungsprogrammen“ (Gögercin 1999, 26). Alle von der Jugendsozialarbeit bereitgestellten Hilfen zielten darauf, durch Lernprozesse benachteiligten Jugendlichen unter Schaffung von Zugangsmöglichkeiten zu Beruf und Arbeit eine dauerhafte (Re-)Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Ein besonderer Einschnitt war die mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) erstmalig im Gesetzestext erscheinende „Legaldefinition“ von Jugendsozialarbeit. Jugendsozialarbeit hat darüber ihre vorläufige rechtssystematische Absicherung 24 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit gefunden, wie von Münder näher ausgeführt wird. „Mit relativ weiten Formulierungen wird nun in § 13 SGB VIII (umfassender als dies im Jugendwohlfahrtsgesetz – JWG der Fall war) Inhalt und Umfang von Jugendsozialarbeit beschrieben. Danach zielt sie nicht nur auf teilsektorale Integration von jungen Menschen, sondern auf eine ganzheitliche Förderung der Entwicklung und der Integration bezogen auf die Handlungsfelder Jugend und Schule, Jugend und Ausbildung, Jugend und Arbeit, Jugend und Arbeit, Jugend und Wohnen, Jugend und gesellschaftliche Eingliederung“ (Münder 1995, 11). Im Gegensatz zu der eher positiven Lesart der rechtlichen Bestimmung haben diese allerdings in bezug auf die verschiedenen Praxisformen und die weite Schneidung der Zielgruppen von Jugendsozialarbeit nach Breuer vor allem im Zuge der Finanzknappheit von Ländern und Kommunen zu deutlichen Begrenzungen geführt. „Schon früh hatten uns Juristen und Politiker bei der langjährigen Diskussion um ein neues Kinder- und Jugendhilferecht darauf aufmerksam gemacht, daß die Vergesetzlichung einer dem Staat aufgegebenen Förderung in aller Regel Einschränkungen bei der Förderung dieser Aufgabe mit sich bringt. Vielleicht haben wir dabei zu sehr nur an die öffentlichen Mittel gedacht, doch der Gesetzgeber hat beim §13 KJHG solche Einschränkungen auch auf andere Weise vorgenommen, u.a. durch eine gegenüber den Vorgängergesetzen deutliche Einengung der Klientel von Jugendsozialarbeit“ (Breuer 2005, 8). Bei sehr enger Auslegung des Gesetzestextes bleibt kaum noch Spielraum für eine breite Angebotsvielfalt von Jugendsozialarbeit, da die Maßnahme dem Ausgleich sozialer Benachteiligungen dienen muss, es sich bei den Zielpersonen um sozial, und nicht kulturell oder politisch, benachteiligten oder individuell beeinträchtigen Menschen handeln muss, die in erhöhtem Maß auf Unterstützung angewiesen sind. Es muss im Vorfeld ein Nachweis erbracht werden, dass die Maßnahme geeignet ist, es bedarf einer qualifizierten sozialpädagogischen Begleitung, einer Erhebung über bereits von anderen Fachbehördern geförderten Maßnahmen mit ähnlicher oder gleicher Zielrichtung und die Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe. Die Berücksichtigung der historischen Entwicklung von Jugendsozialarbeit verdeutlicht, dass man diesem Handlungsfeld nur näherungsweise gerecht wird, wenn sich eine Begriffsdefinition, die sich durchgesetzt zu haben scheint (vgl. dazu auch: Rauschenbach 2004, 281), ausschließlich an der rechtlichen Kodifizierung ausrichtet. Obgleich zur Zeit aufgrund des umfangreichen Angebotsfeldes unterschiedlicher Träger, der Finanzierungsweisen und Zuständigkeiten und der Diversifizierung pädagogischer Handlungspraxen eine Begriffsbestimmung schwierig ist, erscheint es nicht ausreichend zu sein, Jugendsozialarbeit nur als Teil von Jugendhilfe zu 25 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit bestimmen. Jugendsozialarbeit hat eine rechtliche Bestimmung über das KJHG, dies ist jedoch – zumindest historisch betrachtet – eine nachträglich eingeführte Bestimmung, die nur einen Teil der Jugendsozialarbeit zu erfassen in der Lage ist. 2.2 Rechtssystematische Stichpunkte zur Jugendsozialarbeit und ihr Verhältnis zur Politik Diese insgesamt recht weite Schneidung des pädagogischen Handlungsfeldes findet ihre rechtliche Grundlage im Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII, §13: § 13 Jugendsozialarbeit (1) Jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern. (2) Soweit die Ausbildung dieser jungen Menschen nicht durch Maßnahmen und Programme anderer Träger und Organisationen sichergestellt wird, können geeignete sozialpädagogisch begleitete Ausbildungsund Beschäftigungsmaßnahmen angeboten werden, die den Fähigkeiten und dem Entwicklungsstand dieser jungen Menschen Rechnung tragen. (3) Jungen Menschen kann während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen oder bei der beruflichen Eingliederung Unterkunft in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen angeboten werden. In diesen Fällen sollen auch der notwendige Unterhalt des jungen Menschen sichergestellt und Krankenhilfe nach Maßgabe des § 40 geleistet werden. (4) Die Angebote sollen mit den Maßnahmen der Schulverwaltung, der Bundesagentur für Arbeit, der Träger betrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildung sowie der Träger von Beschäftigungsangeboten abgestimmt werden. (BMFSF 2005) Als ein durch die Aufnahme in das Gesetzeswerk ausgewiesenes, originäres Feld der Kinder- und Jugendhilfe, besteht die Aufgabe, die durch §2 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII eine Leistung der Jugendsozialarbeit Jugendhilfe darin, darstellt „jungen (vgl. Menschen Wabnitz durch 2003, 48), Angebote von von sozialpädagogischen Hilfen im Rahmen der Jugendhilfe Lebenshilfe [zu] leisten bei der Bewältigung von Problemen, die sich für sie während der Schule, beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, während derselben, und beim Übergang in die Arbeitswelt ergeben“ (ebd., Hervorhebungen i.O.). 26 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Münder/Schruth (2002) führen in bezug auf die mögliche Anspruchsgrundlage für junge Menschen auf Leistungen der Jugendhilfe ihre Untersuchungsergebnisse der Rechtsgrundlage von Jugendsozialarbeit nach §13 Abs. 1 SGB VIII näher aus. Die Versäulung der Jugendhilfe – ursprünglich vom Gesetzgeber als Weiterentwicklung und Spezifizierung der Leistungen für Jugendliche nach dem JWG gedacht – hat faktisch zu einer vielfältigen Separierung der Leistungserbringer geführt, de jure „ergibt sich die Anforderung zu einer sozialpädagogisch inhaltlichen, rechtlich abgesicherten Vernetzung der angebotenen Leistungen“ (ebd., 126). Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen objektiven Rechtsverpflichtungen öffentlicher Träger, aus denen sich keine Leistungsansprüche für das Individuum ableiten lassen, und subjektiven Rechtsansprüchen, die von der Perspektive des Leistungsberechtigten ausgehen. Zwei wesentliche Elemente für subjektive Rechtsansprüche sind Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen. Die Stellung von Jugendsozialarbeit im SGB VIII ergibt sich nach Münder/Schruth auch schon aus der Reihenfolge im Gesetz: Die Jugendsozialarbeit befindet sich zwischen der Jugendarbeit (§§11, 12) und den Maßnahmen zum erzieherischen Kinder- und Jugendschutz (§14). Der zentrale Aspekt der Jugendsozialarbeit liegt in der sozialen Integration, die durch unterschiedliche Maßnahmen erreicht werden kann. Münder weist darauf hin, dass das Herzstück der Jugendsozialarbeit, die Jugendberufshilfe (vgl. von Bothmer 1996) ein zur Zeit anerkannter Bereich ist – insbesondere die gelungene Schul- und Berufsbiographie ist ein Zeichen gelungener sozialer Integration (vgl. ebd. 130; Liebau 2002). Im Gegensatz zur Jugendarbeit lässt sich aus der Gesetzesformulierung des §13 SGB VIII ein eindeutiger subjektiver Rechtsanspruch herauslesen. Als Gründe dafür führt Münder die konkrete Benennung einer Zielgruppe der Jugendsozialarbeit und die explizite Ausformulierung der Förderungsleistungen an: Jugendsozialarbeit richtet sich nicht allgemein an alle jungen Menschen, für die sie allgemeine Förderungsangebote bereitstellen soll (objektive Rechtsverpflichtung öffentlicher Träger), sondern an eine konkrete Zielgruppe, für die sie spezielle Förderungsleistungen bereitzustellen hat (subjektiver Rechtsanspruch). Als Tatbestandsvoraussetzungen Benachteiligung oder führt individuelle das Gesetz den Begriff Beeinträchtigung“ und einen „soziale „erhöhten Unterstützungsbedarf“ (ebd., 129) an. Dabei führt die allgemeine Rechtsliteratur aus, dass eine soziale Benachteiligung dann vorliegt, „wenn die altersgemäße gesellschaftliche Integration nicht wenigstens durchschnittlich gelungen ist“ (ebd.) und individuelle Beeinträchtigungen „alle psychischen, physischen oder sonstigen persönlichen Beeinträchtigungen individueller Art“ (ebd.) umfassen. Der erhöhte 27 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Unterstützungsbedarf bezeichnet Unterstützungsleistungen, die über die durchschnittlichen „Förderungs- und Vermittlungsbemühungen in Ausbildung, Beruf und sozialer Integration“ (ebd.) hinausgehen. Die Rechtsfolgen aus den subjektiven Rechtsansprüchen sind im Gesetz klar benannt: es handelt sich um sozialpädagogische Hilfen, deren gesetzlich vorgeschriebenes Ziel die Förderung der sozialen Integration ist und die über die Angebotspalette der Jugendberufshilfe weit hinaus reichen. Münder stellt heraus, dass es insbesondere Aufgabe der Jugendsozialarbeit ist, sozialpädagogische Hilfen in den Feldern zu entwickeln und anzubieten, in denen die Fähigkeiten der Jugendlichen zur Wahrnehmung von Angeboten, die Selbstbestimmung, Mitverantwortung und soziales Engagement erfordern, unterentwickelt ist. Konkretisiert verbirgt sich dahinter der Anspruch, für die Zielgruppen der Jugendsozialarbeit Angebote zu entwickeln, in denen Partizipation, Teilhabe und Reflexivität der Lebensführung vermittelt werden. Die Auseinandersetzung mit den sog. Tatbestandsvoraussetzungen des §13 Abs. 1 SGB VIII, auf die auch Breuer (2005, 8) in seinen Anmerkungen zur erheblichen Verengung der ursprünglichen Zielgruppe von Jugendsozialarbeit aufmerksam gemacht hat, führt Wabnitz zu den Rechtsfolgen dieser Bestimmung, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind: „§13 Abs. 1 stellt insoweit auch eine der zahlreichen leistungsrechtlichen Konkretisierungen der kinder- und jugendhilferechtlichen Generalzielsetzung des §1 Abs. 1 SGB VIII dar, nämlich junge Menschen zu fördern mit dem Ziel der Unterstützung ihrer Entwicklung und Erziehung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten“ (Wabnitz 2003, 51). Rechtssystematisch ließe sich die Forschungsfrage dieser Arbeit also auch so begründen, dass empirisch nachvollzogen wird, in wie weit sich in den Thematisierungen der Jugendlichen dokumentiert, dass die Praxis in der Jugendsozialarbeit diesen Konkretisierungsformen nachkommt. Aufgrund der rechtlichen Grundlage ist es also folgerichtig, wenn Rauschenbach Jugendsozialarbeit als einen „Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe mit Aufgabe, die schulische, berufliche und soziale Integration sozial benachteiligter und/oder individuell beeinträchtigter junger Menschen zu unterstützen und zu fördern“ (Rauschenbach 2004, 281) fasst, obgleich sich damit das ursprünglich gezeichnete Bild von Jugendsozialarbeit deutlich verändert. Neben dem KJHG finden sich weitere Rechtsgrundlagen der Jugendsozialarbeit auch im Geltungsbereich des SGB III (Arbeitsförderungsgesetz) und des Bundessozialhilfegesetz (BSHG). „In der Praxis ist entsprechend weniger das KJHG 28 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit als vielmehr das SGB III und seit 1999 das ebenfalls über die Arbeitsverwaltung gesteuerte Sofortprogramm (sowie diverse arbeitsmarktpolitische Länderprogramme [...]) maßgeblich für die Jugendberufshilfe“ (BMFSFJ 2002, 175). Bereits einige Jahre zuvor kommen Fülbier/Schäfer in einer exemplarischen Studie zur Bedeutung des §13 KJHG für die Jugendsozialarbeit auf kommunaler Ebene zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Die Verfasser kommen bei der Analyse der Daten aus der Fachserie 13 des Statistischen Bundesamtes, der Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und der statistischen Erhebungen der BAG JAW zum Jugendwohnen, zur Eingliederungshilfe und zur Jugendberufshilfe zu dem Schluss, dass bei allen öffentlichen Trägern der Jugendhilfe die Jugendsozialarbeit „ein relativ bescheidenes Schattendasein“ (Fülbier/Schaefer 1999, 502) führt. Als eine Folge des §13 KJHG beschreiben die Verfasser zwar eine rechtliche Vereinfachung der Legitimation der Jugendsozialarbeit, die allerdings in Bezug auf finanzielle Argumentationen nicht durchgehend zum Erfolg geführt hat – so geht ein Großteil der Projekte in der Jugendsozialarbeit auf die Anschubfinanzierung durch landespolitische Förderinstrumente oder auf die Modellförderung „Arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit“ des Bundes zurück. der 2 Fülbier/Schäfer konstatieren einen engen Bezug der Jugendsozialarbeit zu Arbeitsverwaltung und Schule, eine relative Distanz zu den Allgemeinen Sozialen Diensten, Erziehungshilfen oder Jugendgerichtshilfen, was dauerhaft zur Folge hatte, dass „die Jugendhilfe als einer der ursprünglichen Hauptakteure der Interessenvertretung junger Menschen, die von Arbeitslosigkeit nach der Schule bedroht bzw. arbeitslos sind, [...] fast überall an den Rand gedrängt worden sind“ (Fülbier/Schaefer 1999,505). Diese Tendenz wird anhand von Beispielen aus Nordrhein-Westfalen, z.B. im Rahmen der Neuen Steuerung weiter ausgeführt. Sie beanspruchen keine Repräsentativität für ihre Darstellung und empfehlen abschließend, Einrichtungen, Maßnahmen und Projekte aufzubauen, die eindeutig sozialpädagogisch ausgerichtet sind und sich erst in zweiter Linie als Akteur der Arbeitsmarktpolitik zu verstehen. Zunächst sollten also die Probleme, Lebenslagen und Interessen der Jugendlichen im Vordergrund stehen und nicht ein arbeitmarktpolitisches Interesse der medienwirksamen Senkung der Jugendarbeitslosigkeit durch Unterbringung dieser Jugendlichen in Qualifizierungsmaßnahmen. 2 Zur grundsätzlichen Bedeutung von Modellprojekten für die Jugendsozialarbeit vgl. auch Lorenz 2001. 29 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Diese Analyse des Datenmaterials wird durch den 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung weitestgehend bestätigt: „Der laut Kinder- und Jugendhilfestatistik durch die Kinder- und Jugendhilfe ausgebrachte Anteil für die Jugendsozialarbeit betrug im Jahre 1999 für ganz Deutschland 213,46 Euro (417,5 Mio. DM). Dies sind nur 1,2 % der gesamten Bruttoausgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Nach dem SGB III wurden hingegen für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen 456,58 Euro (893 Mio. DM) aufgewendet und weitere 547 Euro (1707 Mio. DM) für die Förderung der Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen eingesetzt [...]. Aus dem Sofortprogramm standen weitere 1,02 Milliarden Euro (2 Mrd. DM) für die Jugendberufshilfe zur Verfügung“ (BMFSFJ 2002, 175). Dadurch wird deutlich, dass der größte Anteil der Finanzierung von Jugendsozialarbeit, resp. Jugendberufshilfe auf die Förderinstrumenten nach SGB III entfällt, wobei die Jugendsozialarbeit „auch Finanzierungsquellen im BSHG [hat]. Zu nennen sind z.B. die ‚Hilfen zur Arbeit‘ nach § 19 BSHG“ (Fülbier 2002, 763). Durch die Schilderung der Praxis, die sich über die Finanzierung sehr deutlich absetzt von der rechtlichen Kodifizierung von Jugendsozialarbeit über das KJHG wird deutlich, dass Leistungen der Jugendsozialarbeit im Rahmen der Jugendhilfe eher eine marginale Größe darstellen. Aus diesem Grunde sollte eine Bestimmung des Handlungsfeldes Jugendsozialarbeit/Jugendberufshilfe nicht ausschließlich vor dem Hintergrund des SGB VIII erfolgen, da die Praxis der Jugendsozialarbeit, resp. der Jugendberufshilfe mittlerweile – gemessen an ihrer finanziellen Ausstattung – auf den Bereich der Arbeitsmarktpolitik rekurriert und damit, auch durch ihre entsprechende Lobbyarbeit, selber zu einem Akteur in der Arbeitsmarktpolitik geworden ist. Die enge Verknüpfung der Jugendsozialarbeit mit dem SGB III im Bereich berufsbezogener Jugendsozialarbeit wird auch durch die Auswirkungen des „4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (im engeren Sinne: SGB II) deutlich, auf die das Bundesjugendkuratorium in einer Stellungnahme hinweist: „Junge Menschen – vor allem aber benachteiligte Jugendliche – sind vor dem Hintergrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation besonders bedroht, in prekäre Lebensverhältnisse zu geraten und die zukünftig wachsende Gruppe der ‚Working poor‘ zu stellen, also derjenigen, die auf dem Billiglohnsektor Arbeit nachgehen müssen, von der sie kaum oder gar nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Veränderungen sind angesichts dieser Problematik dringend erforderlich, damit bereits in den Schulen angelegte Ungleichheitsstrukturen, die entlang sozialer, wirtschaftlicher, sozialräumlicher und ethnischer Segmentierung verlaufen, nicht weiter zementiert werden. Durch die neuen Entwicklungen auf dem Arbeits- und 30 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Ausbildungsmarkt zeichnen sich neben Chancen auch neue Risiken gerade für junge Menschen ab. Die mit dem SGB II vollzogenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt stehen nicht vorrangig unter dem Vorzeichen, die dringend benötigten neuen Arbeits- oder Ausbildungsplätze zu schaffen. Sie sollen eine schnellere Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen und den Druck auf Arbeitssuchende erhöhen, um hierdurch die Kosten der Arbeitslosigkeit zu senken. Bildung als Bestandteil von Ausbildung und Arbeit wird im Rahmen der Hartz’schen Reformen nicht thematisiert – stattdessen wird die Herstellung schnellst möglicher Beschäftigungsfähigkeit angestrebt. Auf Grund der unverändert schlechten Ausbildungs- und Arbeitsmarktlage sind aber Zweifel an einer effektiveren Vermittlung von Jugendlichen geboten“ (Bundesjugendkuratorium 2005, 4). Die enge Verbindung der Jugendsozialarbeit mit der Arbeitsmarktpolitik und ihre entsprechenden finanziellen Abhängigkeiten stellt die Träger von Projekten und Maßnahmen in diesem Handlungsfeld in der Nachfolge des 4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vor weitreichende Fragestellungen. So haben die durch das SGB II eingeführten neuen Handlungsrationalitäten, die von Arbeitsagenturen, den Arbeitsgemeinschaften zwischen Arbeitsagentur und Kommune und den optierenden Kommunen umgesetzt werden, letztlich auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Projekte und damit auch auf die Frage der sozialpädagogischen Professionalität in den einzelnen Maßnahmen. Wenn sozialpädagogische Professionalität beispielweise als reflexive Professionalität (vgl. Dewe/Otto 2002) gefasst wird und damit nicht von der Nutzbarmachung und Anwendung eines wahren, gültigen Wissens ausgegangen wird, sondern von der Relationierung von Wissen zwischen Professionellem und Fallbezug, rückt die Interaktion zwischen Professionellem und Adressaten ins Zentrum des Aushandlungs-, bzw. Interventionsprozesses. Die Handlungsrationalitäten des SGB II scheinen demgegenüber allerdings eher von der Anwendung eines Kriterienkataloges zur Diagnose und zum Profiling der arbeitslosen Jugendlichen auszugehen, um sie anschließend entsprechend ihres Förderbedarfes zu kategorisieren und daran anschließend auf diese Zielgruppe entsprechend ausgerichtete Angebote anzuwenden. Ein solches Verständnis von Professionalität ignoriert weitestgehend die persönliche Ebene der Aushandlung von Bedeutungen und das Verstehen von Biographien, bzw. das Bemühen darum. So artikuliert sich in der Nachfolge der Sozialgesetzreformen Diskussionsbedarf in der Jugendsozialarbeit beispielsweise über die Fragen, wie sie sich selbst als Dienstleister 31 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit in den neuen Netzwerk und Kooperationsstrukturen versteht, wie sie sich zu den Verfahren der Steuerung und Wirksamkeitsüberprüfung verhält und welche Auswirkungen die neue Sozialgesetzgebung insgesamt auf die Jugendberufshilfe und ihr Selbstverständnis haben wird. Insofern ist Jugendsozialarbeit „im Schnittpunkt von Jugend-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik [angesiedelt] und geht über den Rahmen der [...] Kinder- und Jugendhilfe hinaus. Die Jugendsozialarbeit kann insofern als der Bereich identifiziert werden, der sich am stärksten mit den benachteiligten Jugendlichen und damit auch den Risikogruppen im Sinne der PISA-Studie beschäftigt“ (Rauschenbach 2004, 282). Die Politikbereiche können dabei allerdings noch weiter umrissen werden, da auch die Wohnungsbau- und vor allem die Sozialpolitik eine bedeutsame Rolle spielen (vgl. Fülbier 2002, 755). Gleichzeitig scheinen einzelne Handlungsfelder der Jugendsozialarbeit auch in neue politische Zuständigkeitsbereiche über zu gehen. So wurde im Kontext der konzeptionellen Weiterentwicklung der Jugendgemeinschaftswerke zu Jugendmigrationsdiensten diskutiert, diese zukünftig der Innenpolitik zuzuordnen. Insgesamt kann jedoch durch die vorangegangenen Ausführungen festgehalten werden, dass die Bezüge zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik insgesamt bestimmender sein dürften, als die Auswirkungen in anderen Politikfeldern. Aufgrund der den Politikbereichen entsprechenden institutionellen Verortung in verschiedenen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern bietet sich trotz der ausgeführten Anfragen an dieses sozialpädagogische Handlungsfeld für die Jugendsozialarbeit die Chance, eine der letzten Möglichkeiten zu sein, um benachteiligte Jugendliche überhaupt noch bildungsmäßig zu erreichen. Dabei gelangt die Jugendsozialarbeit durch die Vernetzung unterschiedlicher Bildungssegmente zu einer besonderen Bedeutung. Sie repräsentiert einen der wenigen Bildungsbereiche, der durch seine Adressatenorientierung und seine Positionierung Jugendbildung als Prozess der Unterstützung von Subjektivierungstendenzen des Individuums in der Schnittstelle formeller, informeller und non-formeller Bildung initiieren kann. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von Jugendsozialarbeit und Schule in der Spannung zwischen unterschiedlichen Bildungsbereichen insgesamt noch genauer zu analysieren (vgl. Kap. 7.3). Erste Ansatzpunkte einer solchen Analyse ergeben sich im empirischen Teil vor allem durch die Gruppendiskussionen Meer und Feld, in denen eine schulische Perspektive des jeweiligen Projektes von den Jugendlichen in unterschiedlicher Ausprägung thematisiert wird (vgl. S. 377), wobei eine umfangreiche Analyse nicht im Kernbereich dieser Arbeit liegt und somit in der Auswertung des Datenmaterials keine explizite Berücksichtigung findet. 32 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Ein zu anderen Bildungsfeldern komplementäres Bildungsverständnis der Jugendsozialarbeit (vgl. Sandhaas 1986, 401) kann mit dem Begriff „Qualifizierung für individuelle Lebensgestaltung“ bezeichnet werden. So „ergeben sich vielfältige Ansatzpunkte für eine Qualifizierung der Lebenspraxis, die von der Auseinandersetzung mit alltäglichen Lebens- und Verhaltensweisen über die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemstellungen bis zur Reflexion der Konstitutionsbedingungen von Sozialität überhaupt reichen. [...] Bildung ist hierbei wesentlich soziale Bildung; sie vollzieht sich in heterogenen sozialen Kontexten und erfordert eine soziale Reflexivität Rahmenbedingungen“ (Sting 2002, 384). bzgl. ihrer Voraussetzungen und Jugendsozialarbeit hat aufgrund ihres spezifischen Methodenrepertoires, ihres institutionellen Settings und ihrer rechtlichen Verankerung die Chance, insbesondere für Jugendliche in problematischen Lebenssituationen Bildungsressourcen bereitzustellen, die zu solchen „Selbstbildungsprozessen“ anregen. In dieser Betrachtungsweise bleibt Jugendsozialarbeit nicht nur ein Feld, in dem Bildungsabschlüsse nachgeholt, Sprachkurse belegt, Berufe erlernt und soziale Konflikte bearbeitet werden können. Jugendsozialarbeit wird zu einem eigenen pädagogischen Handlungsfeld. In diesem Sozialisationsfeld können individuelle Bildungsprozesse stattfinden, die eine Chance zu mehr Subjektivität benachteiligter Jugendlicher beinhalten. 2.3 Handlungsfelder der Jugendsozialarbeit Aufgrund der vielfältigen rechtlichen Grundlagen und der insgesamt immer noch einigermaßen ausdifferenzierten Zielgruppe, die unter der Bezeichnung „Benachteiligung“ gefasst wird, ergibt sich ein breites Spektrum von Angeboten und Projekten in Rahmen von Jugendsozialarbeit, das nur schwerlich systematisiert werden kann. So finden sich im „Handbuch Jugendsozialarbeit“ neben etablierten und historisch gewachsenen Ansätzen wie der Jugendberufshilfe, dem Jugendwohnen der Migrationssozialarbeit und der Schulsozialarbeit auch neuere Handlungsfelder, die sich zum Teil auf einen pädagogischen Ansatz, zum Teil auf eine konkrete, als problematisch erkannte Zielgruppe, beziehen. Dazu gehören unter anderem die aufsuchende Mädchen- Jugendsozialarbeit und (Streetwork Jungensozialarbeit, und Freiwilliges mobile Soziales Jugendsozialarbeit), Trainingsjahr, EU- Freiwilligendienste, Arbeit mit gewaltbereiten und rechtradikalen Jugendlichen, Arbeit in Jugendhilfebetrieben und Produktionsschulen, Projekte zur Berufsausbildung von Jugendlichen sowie die Arbeit mit Schulverweigerern. Wahrscheinlich entstehen 33 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit durch die Veränderungen der Sozialgesetzgebung in den vergangenen Jahren wiederum neue Felder im Bereich des Fallmanagements oder im Bereich der Arbeitsgelegenheiten und der Beratung von arbeitslosen Jugendlichen. Für den Bereich der Jugendberufshilfe vermittelt eine Übersicht über die wesentlichen Arbeitsbereiche und Maßnahmen einen Eindruck von der Vielfältigkeit der einzelnen Handlungsansätze und Projekte. Vermittlung von Allgemeinbildung Sprachkurse Schulabschlüsse Berufsorientierung/Vorbereitung Tip-Lehrgänge (testen, informieren, probieren) Grundausbildungslehrgänge Förderlehrgänge Lehrgänge zur Verbesserung beruflicher Bildungs- und Eingliederungschancen (BBE) Pflegevorschulen/Hauswirtschaftliche Grundlehrgänge Diverse Länderprogramme – auch aus dem Bereich der Jugendhilfe Berufsvorbereitende Programmteile des Sofortprogramms der Bundesregierung - Berufsausbildung Berufsausbildung in außerbetrieblichen Ausbildungen (BaE) Reha-Ausbildung Vollzeitschulische Ausbildung Ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) Übergangshilfen nach BaE Programme der Länder Berufsqualifizierende Anteile des Sofortprogramms - Berufliche Weiterbildung und (qualifizierende) Beschäftigung Nachqualifizierung Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) Arbeiten und Lernen Beschäftigung nach dem BSHG Sonstige Beschäftigungsprojekte (z.B. SAM) Programme der Länder (häufig mit ESF-Mitteln kofinanziert) Beschäftigungswirksame Anteile des Sofortprogramms - Weitere Angebote (sozialpädagogische) Beratungsstellen aufsuchende Ansätze schulbezogene Jugendsozialarbeit Projekte für Schulverweigerer Modellprojekte (z.B. des Kinder- und Jugendplans der Bundesregierung, aber auch der Länder, der Bundesanstalt für Arbeit , EU etc.) Internationaler berufsbezogener Austausch - Abb. 1: Übersicht über wesentliche Arbeitsbereiche der Jugendberufshilfe (auf der Basis einer Systematisierung der BAG JAW 1998) In: BMFSFJ 2002, 176 34 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit An dieser – sicherlich unvollständigen und unsystematischen – Aufzählung wird deutlich, dass die Kontextsysteme für die pädagogische Praxis von Jugendsozialarbeit vergleichbar bleiben: Jugendsozialarbeit ist in ihren zentralen Arbeitsbereichen auf formale Bildungsinstitutionen in ergänzender oder ersetzender Hinsicht, und auf die nach wie vor als zentral bezeichnete Sozialisationsinstanz Erwerbsarbeit bezogen. Die nach wie vor große gesellschaftliche sowie individuelle Bedeutung von Erwerbsarbeit führt auf der anderen Seite aber auch zu einem Dilemma in der Orientierung von Jugendberufshilfe, wie des von Galuske (1993) beschrieben wurde. Auch Mack stellt in seinen Ausführungen zum Thema Jugend und Arbeit heraus, dass der Beruf und die Berufstätigkeit nach wie vor eine hohe Bedeutung für Jugendliche hat 3 (vgl. Mack 2001, 247) und nimmt im Kontext von Bildung und Erziehung wieder Bezug darauf. So ergibt sich eine Spannung daraus, dass zwar die freie Zeit des Menschen einen immer größeren Spielraum einnimmt und an Bedeutung für die Sinnfindung gewinnt, die Erwerbsarbeit aber als eine zentrale Instanz von individueller Sinnfindung und gesellschaftlicher Integration bestehen bleibt – mit steigender Tendenz, je knapper das Gut Erwerbsarbeit wird. Dadurch bleiben junge Menschen „zur Entwicklung ihrer Identität und für die Gewinnung eines Selbstbewusstseins auf Formen traditioneller beruflicher Bildung angewiesen“ (Mack 2001, 261). Im Allgemeinen wird von vielen Autoren übereinstimmend das sozialpädagogische Handlungsfeld mit folgenden Handlungsfeldern konturiert (vgl. Gögercin 1999, Galuske 2001, Fülbier 2002): - Jugendberufshilfe - Schulsozialarbeit - Jugendwohnen - Mobile, bzw. Aufsuchende Jugendsozialarbeit - Migrationssozialarbeit - Geschlechtsspezifische Jugendsozialarbeit Die starke Ausdifferenzierung von Projekten in den verschiedenen Handlungsfeldern, die für den Bereich der Jugendberufshilfe exemplarisch dargestellt wurde, die unterschiedlichen Zuständigkeiten in den Behörden auf kommunaler Ebene, in den Ländern und beim Bund, die vielfältigen Finanzierungsformen lassen letztlich für die Träger der Jugendsozialarbeit eine sehr enge Kopplung an politische Interessen 3 Diese Einschätzung wird darüber hinaus auch durch die Gruppendiskussionen mit Jugendlichen in unterschiedlichen Projekten der Jugendsozialarbeit bestätigt (vgl. Kap. 7.6). 35 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit entstehen und setzen sie somit auch in eine Abhängigkeit von politischen Entscheidungen. Breuer (2005) weist darauf hin, dass eine solche Verhältnisbestimmung in der Jugendsozialarbeit neu ist: In ihrer historischen Entwicklung konnte sich Jugendsozialarbeit in ihren Anfängen in einer Situation bewegen, in der sie in einem kooperativen Miteinander mit Entscheidungsträgern in der Politik und Verwaltung agieren konnte. Aufgrund der engen politischen Bezüge und entstandenen Abhängigkeiten ist die aktuelle Situation eher davon gekennzeichnet, dass die Jugendsozialarbeit als ein Akteur in Form eines Auftragnehmers zum Dienstleister von politischen Interessen geworden ist. Da Jugendsozialarbeit in einem nur sehr kleinen Umfang regelfinanziert ist, lässt sich in der Praxis der Jugendsozialarbeit ein Phänomen ausmachen, dass mit ‚Projektismus’ beschrieben werden könnte. Je nachdem in welchem politischen Feld Fördergelder akquiriert werden konnten, hat Jugendsozialarbeit ein passendes Angebot entwickelt und unter ihrem Etikett Finanzierungen erhalten (vgl. Breuer 2005, 11). Dies könnte als zentrales Strukturmerkmal des Handlungsfeldes Jugendsozialarbeit beschrieben werden und dadurch als ein Indiz für die relativ unterentwickelte Kultur eines professionsinternen Diskurses über pädagogische Leitkategorien bzw. die Abstinenz theoretischer Konzeptionen oder Theorien interpretiert werden. Darüber hinaus führt die starke Ausdifferenzierung des Handlungsfeldes aufgrund der ausgeführten Strukturmerkmale zu dem Problem der Herstellung von Kohärenz unterschiedlichen Projekte und Konzepte untereinander, so dass kaum von einem einheitlichen Handlungsfeld gesprochen werden kann. Dabei ist Jugendsozialarbeit nach Müller-Schöll durchaus über alle Handlungsfelder durch eine gemeinsame Aufgabe miteinander verbunden: „Sie will jungen Menschen um ihrer selbst willen qualifizieren. Sie will Interessiertheit wecken, ihr Werte vermitteln, sie ganzheitlich fördern, ihre Flexibilität entfalten, ihr Überblicke und Einblicke in Strukturen vermitteln, ihr Zusammenhänge verständlich machen, das typisch Menschliche erkennen lassen. Sie will junge Menschen zur Kreativität und Zusammenarbeit motivieren. Sie will ihre musischen und sozialen Fähigkeiten entwickeln. Vor allem will sie zur Findung von Werten und Zielen anregen“ (MüllerSchöll 1991, 56). Interessant ist diese – mittlerweile fast 15 Jahre alte - Beschreibung pädagogischer Ziele und Grundaxiome von Jugendsozialarbeit vor allem vor den Ausführungen möglicher Veränderungen durch die Bestimmungen im neuen SGB II, da MüllerSchöll in seinen Ausführungen weiter fortfährt, dass Jugendsozialarbeit davon 36 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit ausgeht, dass „jeder Mensch ein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat. Infolgedessen sind es nicht bestimmte Gruppen – beschrieben anhand eines ‚Mackenkataloges’, Sonderschüler, beschrieben anhand Verhaltensgestörter, stigmatisierender Begriffe Milieugeschädigter, (wie gesellschaftlicher Randsiedler usw.) -, sondern es sind Jugendliche, die sich auf dem Weg von der Schule in den Beruf befinden, die sich mit der Berufs- und Arbeitswelt auseinandersetzen, die in ihrer Lebens- und Lerngeschichte benachteiligt sind und aufgrund ihrer Schichtenzugehörigkeit von einer Teilhabe an der grundsätzlich jedem Menschen zugesicherten freien Entfaltung gehindert werden“ (ebd., 57). Die Auseinandersetzung mit dem SGBII lässt jedoch vermuten, dass genau diese Beschreibung pädagogischer Arbeit im Rahmen der Jugendsozialarbeit in der Zukunft mehr und mehr an den Rand gedrängt werden könnte. Dennoch liegt die Chance einer sich als Bildungsressource für benachteiligte Jugendliche verstehenden Jugendsozialarbeit zunächst in der Überwindung ihrer persistierenden einseitigen und ausschließlichen Orientierung an der Ökonomie. 2.4 Die Träger von Jugendsozialarbeit insgesamt relativ komplexen Bedingungsgefüge im Handlungsfeld Jugendsozialarbeit ergeben sich neben den bereits ausgeführten Strukturmerkmalen der unterschiedlichen Politikbereiche und der Finanzierungsgrundlagen auch über die ausdifferenzierte Landschaft von Trägern der Jugendsozialarbeit. Diese wird in Deutschland vor allem von freien Trägern der Jugendhilfe, öffentlichen Trägern der Jugend- und Sozialhilfe auf Bundes- und Landesebene und den Kommunen sowie privat-gewerblichen Trägern und betriebsgebundener Jugendsozialarbeit gewährleistet. Zu den freien Trägern gehören neben den Wohlfahrtsverbänden auch andere Träger der Jugendsozialarbeit, z.B. der Internationale Bund (IB), das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) oder das Kolping Bildungswerk, bei denen Jugendsozialarbeit die zentrale Säule ihrer Tätigkeiten umfasst, die darüber hinaus aber auch noch andere Leistungen der Jugendhilfe erbringen. Daneben bieten auch große Fachverbände wie IN VIA – Katholische Mädchensozialarbeit e.V. oder der Fachverband Evangelische Jugendsozialarbeit im Rheinland – Evangelische Heimstatthilfe, die meist den großen Wohlfahrtsorganisationen angeschlossen sind, Angebote in diesem Handlungsfeld an. Zudem gibt es noch eine weitere Gruppe von Trägern, die nur örtlich-regional begrenzt Angebote in der Jugendsozialarbeit machen, und Initiativen in den neuen 37 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Bundesländern, die aus Lehrlingswohnheimen, betrieblichen Berufsschulen und Bildungseinrichtungen entstanden sind. Die freien Träger haben sich in einer bundesweiten Struktur zu der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (BAG JAW) zusammengeschlossen, die als Fachorgan die politische Interessenvertretung, die fachliche Weiterentwicklung und die Koordinierung der einzelnen Trägergruppen und ihrer Angebote gewährleistet und somit als eine Fach- und Servicestelle für Jugendsozialarbeit gelten kann. Der BAG JAW gehören folgende Trägergruppen an (vgl. Fülbier 2002, 756): Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (BAG JAW) Arbeitsgemeinschaft der freien Trägergruppe Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV) – Gesamtverband, Frankfurt/Main Internationaler Bund für Sozialarbeit (IB) – Freier Träger der Jugend-, Sozialund Bildungsarbeit e.V., Frankfurt/Main Deutsches Rotes Kreuz, Berlin Evangelische Trägergruppe Bundesarbeitsgemeinschaft Ev. Jugendsozialarbeit (BAG EJSA), Stuttgart Katholische Trägergruppe Bundesarbeitsgemeinschaft Kath. Jugendsozialarbeit (BAG KJS), Düsseldorf Sozialistische Trägerschaft Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bundesverband e.V., Köln Örtlich-regionale Trägergruppe Bundesarbeitsgemeinschaft örtlich-regionaler Träger (BAG ÖRT), Zehdenick Abb. 2: Mitglieder in der BAG JAW Ebenfalls vertreten in der BAG JAW ist der Arbeitskreis „Benachteiligte Jugendliche“ des Bundesverbandes deutscher Privatschulen (VDP). Darüber hinaus haben sich die Träger der Jugendsozialarbeit auf Länderebene wiederum zu 8 Landesarbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen, um ihre Interessenvertretung gegenüber den Ländern besser koordinieren zu können. 38 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Landesarbeitsgemeinschaften der Jugendsozialarbeit Landesarbeitsgemeinschaft „Freie Träger der Jugendsozialarbeit“ in Sachsen, Torgau Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Bayern, München Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Baden-Württemberg, Stuttgart Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Rheinland-Pfalz, Mainz Landesarbeitsgemeinschaft Hessen, Frankfurt/Main Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen, Hannover Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen, Köln Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit Berlin und Brandenburg, Berlin (vgl. Fülbier/Münchmeier 2001, 1263 Abb. 3: Landesarbeitsgemeinschaften der Jugendsozialarbeit In Bezug auf die Trägerstruktur in der Jugendsozialarbeit stellen Fülbier/Münchmeier 2001 fest, dass sich insgesamt „ein ‚Markt der Jugendsozialarbeit‘ entwickelt [hat], der in den nächsten Jahren noch bunter bzw. undurchschaubarer wird. Dies, nicht zuletzt bedingt durch nationale und europäische Ausschreibungs- und Bewilligungsbedingungen“ (ebd. 1260). Damit prognostizieren Fülbier/Münchmeier eine Entwicklung, die nur wenige Jahre später durch die Reformen in der Sozialgesetzgebung und der damit verbundenen neuen Ausschreibungspraxis im Bereich der Jugendsozialarbeit für viele freie Träger bereits Realität geworden ist. Bastin sieht in seiner Bestandsaufnahme über die Form der Organisation und des Selbstverständnisses freier Träger eine Spannung zwischen der Orientierung an dem eigenen Wertverständnis und dem Paradigma der Dienstleistungserbringung. Unter Rückgriff auf die Definition von Non-Profit-Organisationen (NPO) durch das John Hopkins Comparative Non Profit Sector Project, nach der alle diejenigen privaten Organisationen als NPO‘s bezeichnet werden, „die eine formale Organisationsstruktur besitzen, keine Gewinne an Eigentümer oder Mitglieder ausschütten, sondern diese für den Organisationszweck [...] verwenden, ein Mindestmaß an Selbstverwaltung aufweisen, und durch ein Mindestmaß an Freiwilligkeit (freiwilliger Beitrag, ehrenamtliche – und Freiwilligenarbeit, freiwillige Mitgliedschaft) gekennzeichnet sind“ (Bastin 2001, 1209f) können die freien Träger der Jugendsozialarbeit dieser Gruppe zugeordnet werden. 39 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Solche Organisationen fungieren als intermediäre Vermittlungsinstitution zwischen den Teilsystemen Staat, Markt und informellen Bereich. „Intermediäre Organisationen sind Organisationsbildungen, die stets unterschiedliche Aufgaben zugleich mit einer je unterschiedlichen Mixtur der Handlungslogiken der Teilsysteme, zwischen denen sie vermitteln, zu erbringen haben“ (Bastin 2001, 1211). Die typische Handlungslogik liegt nach Bastin für Non-Profit-Organisationen in den Formen von Kooperation und Verhandlung. Sie erfüllen in der Kompensation der Phänomene des Staats- und Marktversagens eine positive Funktion und müssen dementsprechend auf ihre gesellschaftliche Funktion hin analysiert werden. Bastin führt aus, dass die Dienstleistungen, die von Freien Trägern erbracht werden, personenbezogener sozialer Art sind, was die Besonderheit der Gleichheit von Produktion und Leistung hervorbringt: Der Konsument ist aktiv am Prozess der Dienstleistung beteiligt und wirkt koproduktiv mit. Ohne seine Beteiligung und Kooperation kommt keine Dienstleistung zu Stande. Das Selbstverständnis der freien Träger ist gekennzeichnet von einem wertorientierten Profil, das neben der direkten Hilfe für bestimmte Zielgruppen und soziale Dienstleistungen unter anderem auch Hilfe zur Selbsthilfe, Partizipation, Anwaltsfunktion, Weiterentwicklung der sozialpolitischen Gestaltung umfasst. Die gesellschaftliche Funktion der freien Träger ist gekennzeichnet durch: - Hilfe, Beratung, Betreuung, Dienstleistung - Weltanschauungsverband und Sinnstiftungsagentur - Aufklärung und Information - Sozialanwaltschaft - Fachberatungs- und Sachkompetenz - Kompensation Die Herausforderungen für freie Träger durch den gesellschaftlichen Wandel sieht Bastin in erster Linie gekennzeichnet durch demografische Veränderungen, technologische Entwicklungen, die Krise der Erwerbsarbeit, Armut und soziale Deklassierung, Migrationsbewegungen, Individualisierung und Pluralisierung und der Krise des Sozialstaats und seiner Finanzierung. Er beschreibt die aktuellen Modernisierungsstrategien der freien Träger mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Effizienz und des Dienstleistungsangebotes und der Schärfung des besonderen Profils Freier Träger. In Bezug auf die Zukunftsperspektiven besonders unter Berücksichtigung der Zielgruppe benachteiligter Jugendlicher sieht Bastin die freien Träger als Produkt und Motor des gesellschaftlichen Wandels, dessen Bewältigung und Gestaltung die 40 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit wesentliche gesellschaftliche Funktion als intermediäre Vermittlungsorganisation ist. Dabei haben die Freien Träger das Selbstverständnis, neben der Schule und der Familie einen eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verfolgen. Die Grenzen der Rationalisierung und Privatisierung liegen nach Bastin dort, „wo dem notwendigen Hilfebedarf der benachteiligten Jugendlichen nicht mehr entsprochen bzw. ein gesellschaftlicher Hilfebedarf geleugnet wird“ (Bastin 2001, 1221). Er führt weiter aus, dass die Wertorientierung ein Spezifikum der freien Träger ist, ohne das eine intermediäre Funktion nicht wahrgenommen werden kann. „Konkret geht es um liebevoll statt lieblos bereitgestellte Hilfen, um eine verständliche Sprache, um transparente Informationen über das eigene Leistungsangebot, um die Bereitstellung von Selbstbestimmung berücksichtigenden Partizipationsmöglichkeiten und die Vermeidung von Bittstellersituationen. Gesellschaftlichen und sozialen Wandel werden vor allem diejenigen Träger meistern, die interne Wirtschaftlichkeit und Effizienz mit einer sinnstiftenden und glaubwürdigen Wertorientierung verbinden (ebd, 1222). Die Vielfältigkeit der Trägergruppen mit ihren unterschiedlichen Wertgerüsten, die als eine zentrale Handlungsmotivation für die Arbeit in diesem Feld sowohl auf der überregionalen Ebene als auch auf der konkreten Ebene der Arbeit mit den Jugendlichen „vor Ort“ gelten können, verdeutlicht, dass es insgesamt sehr schwierig ist, ein theoretisches Gerüst für das Gesamtfeld der Jugendsozialarbeit zu entwickeln. 2.5 Begriffsbestimmung Der Begriff Jugendsozialarbeit kennzeichnet eine vor allem in bayrischen Raum Anfang der 50er Jahre einsetzende Entwicklung, die Arbeit in den Jugendsozialwerken einheitlich als „Jugendsozial-Arbeit“ zu bezeichnen. „In dem Maße, wie Träger, Trägergruppen und Fachkräfte ihre Arbeit nicht nur als kriegsfolgenbedingte – und damit zeitlich begrenzte – Aufgabe , sondern als auf Zukunft hin erforderliches Handlungsfeld der Jugendhilfe erkannten, in dem Maße, wie statt von ‚Jugendberufsnot‘ von ‚Jugend und Beruf‘ die Rede war, legte sich die Suche nach einer Bezeichnung des neuen Handlungsfeldes nahe, die sowohl ihre ursprünglichen kriegsfolgenbedingten als auch ihre sich abzeichnenden bleibenden Aufgaben im Übergangsfeld von Jugend- und Sozialhilfe, Arbeitsmarkt- und Nachwuchspolitik angemessen zum Ausdruck brachten und die zugleich das neue Handlungsfeld der Jugendhilfe einleuchtend von den bisherigen Handlungsfeldern ‚Jugendpflege‘ und ‚Jugendfürsorge‘ abgrenzte“ (Breuer 2001, 65). 41 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Galuske (2001) weist darauf hin, dass es in den bisherigen Versuchen, Jugendsozialarbeit als Begriff, bzw. als pädagogisches Handlungsfeld eindeutig zu bestimmen, nicht gelungen ist, eine trennscharfe Definition zu entwickeln. So ist Jugendsozialarbeit nach Galuske weder die Sozialarbeit mit Jugendlichen, noch kann sie ausschließlich auf den Begriff der Jugendberufshilfe reduziert werden (auch wenn dass in vielen Veröffentlichungen immer wieder geschieht, in denen Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe gleich gesetzt werden, vgl. z.B. BMFSFJ 2002). „Dagegen gibt es keine Indizien, die für eine Herleitung des Begriffs ‚Jugendsozialarbeit‘ von social work, Sozialarbeit, sprechen. Eine Verwendung des Begriffs ‚Jugendsozialarbeit’ im Sinne von jugendbezogener Sozialarbeit würde ein völlig anderes Handlungsfeld-, Zielgruppen- und Institutionenverständnis voraussetzen, als es in der Tat im Umfeld bayrischer Jugendsozialarbeit Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre gegeben war“ (Breuer 2001, 65). Mitte 1952 hat sich der Begriff terminologisch etabliert und wurde parallel dazu auch trägerspezifisch rezipiert. 1954 erschienen mehrere Aufsätze und Arbeiten zum Begriff Jugendsozialarbeit. Die Schwierigkeit, das Handlungsfeld Jugendsozialarbeit begrifflich zu fassen und eindeutig zu definieren, wird auch in den Äußerungen Gögercins deutlich: „Einmal wird bei den Definitionsversuchen von einem Arbeitsfeld ausgegangen, einmal wird eine bestimmte Zielgruppe oder ein bestimmtes Angebot in den Vordergrund gestellt, Jugendsozialarbeit, einmal werden Jugendberufshilfe oder Begriffe wie berufsbezogene arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit synonym verwendet“ (Gögercin 1999, 13). Galuske (2001) sieht einen Grund für die Schwierigkeit einer trennscharfen Definition des Begriffes darin, dass „Jugendsozialarbeit“ ein Arbeitssegment bezeichne, „welches anders als andere Felder der Jugendhilfe wie z.B. die Kinder –und Jugendarbeit, die erzieherischen Hilfen, die Kindertageseinrichtungen usw., schon begrifflich keinen abgrenzbaren thematischen oder zielgruppenorientierten Fokus aufweist“ (ebd., 886). Er formuliert eine Annäherung an eine Definition von Jugendsozialarbeit über die rechtliche Kodifizierung durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz. „Unter Jugendsozialarbeit lassen sich jene Maßnahmen und Angebote der Jugendhilfe zusammenfassen, die sich vorrangig und unmittelbar der beruflichen und sozialen Integration von sogenannten sozial benachteiligten bzw. individuelle beeinträchtigten Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Übergang von der Schule ins Erwerbssystem widmen“ (ebd.). Nach Galuske ist die Jugendsozialarbeit als „berufsbezogener Teil der Jugendhilfe“ (Fülbier/Schäfer 1999, 500) „das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, das 42 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit unmittelbar an der Grenzlinie zum ‚Ernstbereich Arbeitswelt’ angesiedelt ist“ (Galuske 2001, 885). Gegenüber dieser tendenziellen Engführung der Jugendsozialarbeit auf eines der zentralen Aufgabenfelder, der beruflichen Integration und damit auf das Handlungsfeld Jugendberufshilfe begründet sich die Auffassung Faltermeiers (1997) aus dem Verständnis der letzten 50 Jahre. Er führt aus, dass die „auf Umfeld, Schule und Beruf bezogene[n] Hilfen für junge Menschen in besonderen sozialen Verhältnissen [...] insbesondere zu mehr Chancengleichheit verhelfen und dazu beitragen [sollen], daß die betroffenen jungen Menschen am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen (!) Leben der Gesellschaft teilhaben können“ (ebd., 530). Implizit formuliert Faltermeier damit einen Bildungsanspruch der Jugendsozialarbeit, der mit Liebau (2002) folgendermaßen gerahmt werden könnte: „Der uomo universale wäre also der Mensch, der sich – über die notwendige Erwerbsarbeit hinaus – in den verschiedenen Lebensbereichen des Alltags, der Kultur und Kunst, der Öffentlichkeit und Politik in wissenschaftlich und religiös aufgeklärter, ethisch angemessener Weise aktiv beteiligen kann. ‚Bildung’ könnte man dann übersetzen als Teilhabeinteresse und Teilhabefähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen. Das ist an konkrete Qualifikationen gebunden, die freilich über die Erwerbsarbeit hinausweisen, bzw. von vornherein jenseits der Erwerbsarbeit angesiedelt sind. [...] Es ist nicht nur für die Zukunft des unseres Bildungssystems, sondern für die Gesellschaft im Ganzen entscheidend, Bildung nicht nur auf vorberufliche Qualifikation, sondern auf Lebensführung und Lebensbewältigung zu beziehen“ (ebd., 29-30). Der Diskurs über Bildung wird jedoch nicht in Richtung dieser Begriffsbestimmung geführt, sondern - wie in der politischen Bildungsdebatte durchgängig – auf die Ausbildung nachweisbarer, arbeitsmarktrelevanter Qualifikationen verkürzt und so „entpädagogisiert“. Damit wird der Bildungsbegriff ausgehöhlt und bleibt als Leerformel für die Aneignung von Informationen und bestenfalls noch zur Konstruktion von Wissen übrig, wobei diese Funktionen nach wie vor von der Schule übernommen werden. Die Beschäftigung mit den Begriffen informelles Lernen und informelle Bildung läuft ebenfalls darauf hinaus, die Zertifizierung der informell angeeigneten Kompetenzen voran zu treiben und sie arbeitsmarktgängig zu machen (vgl. Kap.3.4). 43 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit 2.6 Jugendsozialarbeit zwischen Arbeitsmarktorientierung und Bildung 2.6.1 Arbeitsmarktorientierung als Problem für Jugendsozialarbeit Die Veröffentlichungen von Galuske (vgl. z.B. Galuske 1993, 1998, 1998a, 2001, 2001a) untersuchen die Perspektiven der Jugendsozialarbeit „am Beispiel ihres konzeptionellen Herzstücks, der Jugendberufshilfe“ (Galuske 2001, 888). Galuske geht dabei davon aus, dass die Jugendarbeitslosigkeit an der ersten und zweiten Schwelle nur oberflächlicher Ausdruck eines tief greifenden Wandels der Arbeitsgesellschaft ist, der sich durch den Rückgang von Vollerwerbsarbeitsplätzen mit der Tendenz einer dauerhaften Unterbeschäftigung kennzeichnen lässt und bezieht sich dabei auf Veröffentlichungen von Gorz (2000) und Beck (1999, 2000). Dieser These folgend ist das Konzept der Jugendberufshilfe als „Brücke zur Arbeitswelt“ nicht schlüssig. Den Projekten attestiert Galuske in erster Linie zwei Funktionen: Selektion und sekundäre Integration. Er markiert drei Forschungslücken, die er in der Erforschung produktiver Bewältigungsformen in Zeiten der Arbeitslosigkeit, in der Erstellung qualitativer Langzeitstudien der Klienten von Jugendberufshilfe-Projekten über Biographieverläufe, Bewältigungsstrategien und Belastungen sowie in der Durchführung von vergleichenden Studien von Projekten mit unterschiedlichen Konzepten zur Thematisierung des gelingenden Projektalltags und die Einbindung von Projekten in die Lebenswelt kennzeichnet. Darüber hinaus stellt er die Frage, welche Rolle und Funktion die Soziale Arbeit im Kontext der Modernisierung der Arbeitsgesellschaft hat. Galuske verdeutlicht, dass das gesellschaftliche Phänomen der Arbeitslosigkeit in erster Linie auf grundlegende Veränderungen in der Arbeitsgesellschaft zurück zu führen ist und setzt damit einen konsequenten Akzent gegen eine Tendenz, Arbeitslosigkeit als individuelles Phänomen zu kennzeichnen und damit Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, für ihre Situation ausschließlich selbst verantwortlich zu machen. Die Verschärfung einer solchen Strategie lässt sich an der Logik des neuen SGB II nachvollziehen. 44 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Deutlich wird dies auch in der Veröffentlichung einer Studie der Bundesagentur für Arbeit, in der die mangelhaften Kompetenzen der Jugendlichen, die mit entsprechenden Schulabschlüssen auf den Ausbildungsmarkt kommen, gebrandmarkt wird. 4 Die Auswirkungen einer solchen Strategie der „Redefinition eines ‚Arbeitsmarktproblems‘ zu einem Problem defizitärer Subjektausstattung“ (Galuske 2001 889) liegen vor allem auch im Bereich des Selbstkonzept der Betroffenen. So führt Heinz (1996) in seinen Analysen zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen aus, dass „sozial benachteiligte Jugendliche [...] häufig als Problemgruppen des Bildungssystems oder des Arbeitsmarkts zu einem homogenen Sozialtypus (Lernschwache; Ausbildungsverweigerer; Dauerarbeitslose) zusammengefaßt [werden]. Dies ist soziologisch und sozialpsychologisch gesehen Unfug. Denn die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen variiert nach Schulpolitik, Konjunkturzyklus und Arbeitsmarktfluktuation. In schlechten Zeiten gehören auch Hauptschüler, Realschülerinnen und Jugendliche in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit wie Bremen, Duisburg, die neuen Bundesländer, Liverpool und Barcelona dazu. In guten Zeiten schrumpft die Problemgruppe auf Jugendliche ohne Schulabschluß, Sonderschüler und junge Leute, die nach abgebrochener Lehre bzw. durch Entlassungen arbeitslos geworden sind. [...] Wie die Studien des Sozialpsychologen Erving Goffman (z.B. 1975) aus der Perspektive der Betroffenen verdeutlichen, hat soziale Benachteiligung zur Folge, daß sie mit einer ‚beschädigten Identität‘ umgehen müssen. Das Etikett, zu einer Problemgruppe im Bildungssystem oder am Arbeitsmarkt zu gehören, wirkt sich auf das Selbstbild und die Wahrnehmung von Ausbildungs- und Arbeitsgelegenheiten als Stigma aus. [...] Daraus ergibt sich für solche Jugendlichen die ambivalente Situation als sozial Benachteiligte, z.B. in Förderprogrammen lernen zu sollen, berufliche Chancen wahrzunehmen und gleichzeitig mit dem Stigma der Leistungsschwäche oder verweigerung umgehen zu müssen. Sie befinden sich aber nicht nur in einem prekären Qualifizierungsabschnitt, sondern auch in einem Sozialisationsprozeß, der ihren Übergang in den Erwachsenenstatus erschwert und ihre Identität beeinflußt. So können wir mit Goffman annehmen, dass nicht nur die soziale, sondern auch die persönliche Identität durch die Normalisierungserwartungen, die die Träger von 4 Die Tagesschau vom 18. August 2005 zitiert die Studie mit den Worten: „20 Prozent der Schulabgänger eines Jahrgangs sei nicht ausbildungsreif. Deshalb könne es nicht nur Sache der Arbeitgeber sein, genügend Lehrstellen bereit zu stellen. Die Regierung müsse auch die Bildungsarmut bekämpfen.“ [vgl. URL: http://www.tagesschau.de/sendungen/0,1196,OID4646576_OIT4646714,00.html], Download: 19.08.2005 45 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit beruflichen Bildungs- und Fördermaßnahmen an die Betroffenen stellen, beeinflußt wird“ (Heinz 1996, 153f). Ausgehend von diesen Beschreibungen vernachlässigt Galuske in seinen Überlegungen bewusst weitere Faktoren, die als Ursache von Arbeitslosigkeit gelten können, und die eher in der Individualität der Betroffenen liegen, wie die Faktoren Bildung, Ausbildung, Geschlecht, Nationalität, regionale Differenzen, da sie seiner Auffassung zufolge „keine Ursachen von Arbeitslosigkeit darstellen, sondern lediglich Selektionskriterien“ sind (Galuske 1998a, 540), die darüber entscheiden, welche Platzierung auf dem Arbeitsmarkt der Einzelne aufgrund der Ausprägung von spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen einnimmt. Aus diesen Überlegungen entwickelt Galuske ein Konzept, das auf Projektarbeit, Beschäftigung und Qualifikation zwar komplett nicht verzichten will, den Fokus aber nicht auf den Arbeitsmarkt richtet, „sondern vielmehr die Klienten selbst, ihre Lebenslagen und Lebenswelten, ihre sozialen Netzwerke, ihre Bewältigungs- und Deutungsmuster und nicht zuletzt ihre Lebenspläne und Sinnkonstruktionen zum Ausgangspunkt der sozialpädagogischen Unterstützung“ (Galuske 2001, 892) machen will. Mit dem geforderten Wechsel des pädagogischen Bezugs vom Arbeitsmarkt zur Lebenswelt der Jugendlichen liefert Galuske erste Ansatzpunkte einer Berücksichtigung gesellschaftlicher Realität, in der zwar die Stabilität eines Normalarbeitsverhältnisses immer brüchiger wird, die Bedeutung von Erwerbsarbeit für die persönliche Sozialisation und Sinnkonstruktion nach wie vor eine zentrale Bedeutung für das Individuum haben wird. Die Jugendberufshilfe steht nach Galuske in der Gefahr durch einseitige „Arbeitsmarktfixierung“ unglaubwürdig zu werden. Er sieht in der Orientierung an der Lebenswelt der Klienten einen Zugang zur Initiierung von „lebenslauffördernden Lernprozessen“, die es den Klienten erlauben, „auch unter den Bedingungen einer modernisierten Arbeitsgesellschaft gelingenderen Alltag (vgl. Thiersch 1986) zu praktizieren“ (Galuske 2001, 891). So liegt seiner Auffassung nach die Zukunft der Jugendberufshilfe nicht in einer gesteigerten Effizienz und Effektivität bei der Umsetzung der Orientierung von Maßnahmen an dem Arbeitsmarkt, „sondern in der Unterstützung und Begleitung der Jugendlichen auf der Suche nach neuen Mustern sozialer Integration. [...] Jugendlichen einzureden, wenn sie ihren Hauptschulabschluß nachholen und anschließend eine Lehre – welche auch immer – absolvieren, könnten sie in die ruhigen Bahnen der (beruflichen) Normalbiographie einmünden, wird auch von den Jugendlichen zunehmend als das erkannt, was es ist, nämlich das „Pfeifen im dunklen Wald“ einer Gesellschaft, die auf der Suche nach neuen Mustern sozialer 46 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Integration und materieller Absicherung ist, ohne bislang überzeugende Alternativen entwickelt zu haben“ (Galuske 1999, 266f). Dabei bleibt jedoch offen, was genau unter dem Begriff „lebenslauffördernde Lernprozesse“ zu verstehen ist, auch wenn er diese als eine Art „BiographieUnterstützungsmanagement“ (Galuske 2001, 892) bezeichnet. Galuske arrangiert die theoretischen Überlegungen im Kontext eines gesellschaftlichen Phänomens, dem zum einen politisch, zum anderen individuell begegnet werden muss, wobei die subjektive Perspektive, d.h. die Frage nach pädagogischer Theorie in Bezug auf die Arbeit mit den von gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozessen betroffenen Individuen sekundär bleibt und keine Antworten darauf gegeben werden, wie eine solche Veränderung der grundsätzlichen Ausrichtung in der unmittelbaren Praxis der Jugendsozialarbeit Niederschlag finden kann. Neben den Arbeiten von Galuske stehen in Bezug auf das Handlungsfeld Jugendsozialarbeit auch die Ansätze von Krafeld, der unter anderem der Frage nachgeht, wie Jugendliche in unterschiedlichen Projekten lernen, mit Desintegrationsrisiken leben zu lernen (vgl. Krafeld 1997) und auf spezifische Teilproblematiken, wie den Chancen einer geschlechtssensiblen Jungenarbeit im Kontext von Jugendsozialarbeit hinweist (vgl. Krafeld 2001), und die „Vorschläge für einen subjektorientierten, sozialpädagogischen Umgang mit arbeitslosen Jugendlichen“ (Scherr/Stehr 1995), die auf eine subjekttheoretische Rekonstruktion der Jugendsozialarbeit hindeuten (vgl. Scherr 1990, 1992). 2.6.2 Subjektorientierte Bildung in der Jugendsozialarbeit Der von Scherr (vgl. Scherr 1997, 1998) im Kontext von Jugendarbeit weiter ausgearbeitete subjekttheoretische Ansatz sozialpädagogischer Praxis stellt dagegen eine pädagogisch-normative Theorie dar, die „auf das Ziel ausgerichtet ist, Bildungsprozesse zum Subjekt, zu einer selbstbewußten und selbstbestimmten Lebenspraxis zu ermöglichen“ (Scherr 1998, 148). Mit der Veröffentlichung „Subjektorientierte Jugendarbeit“ entwickelt Scherr 1997 eine elaborierte Theorie emanzipatorischer Jugendpädagogik (vgl. Sturzenhecker 2002), in der er sich explizit auf den von Honneth (1992) diskutierten Begriff der Anerkennung bezieht: „Eine zentrale lebensgeschichtliche und soziale Bedingung der Entwicklung und Entfaltung von Subjektivität kann als soziale Anerkennung des Individuums beschrieben werden [...] Nur wenn wir die Erfahrung machen, daß unsere besonderen Eigenschaften, das was uns als Person ausmacht, sozial anerkannt und respektiert wird, können wir auch 47 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit uns selbst als Personen erkennen und achten, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen entwickeln“ (Scherr 1997, 50f). So können diese Ausführungen über ihre ursprünglichen Konkretisierung für die Jugendarbeit hinaus auch für andere Zielgruppen der Jugendhilfe interessant werden. So hat beispielsweise Sturzenhecker (2002) unter Rückgriff auf Scherr (2000) herausgestellt, dass insbesondere die Zielgruppe der offenen Jugendarbeit zu den sogenannten Modernisierungsverlierern gehört und dadurch ein spezieller Bedarf an Anerkennung besteht: „Auch den Modernisierungsverlierern [...] mangelt es – pädagogisch betrachtet – nicht nur an Geld und Arbeit, sondern auch an für sie attraktiven Chancen der Erfahrungen eigener Stärken, der Selbstreflexion und der Auseinandersetzung mit den ihnen gesellschaftlich zugemuteten Lebensbedingungen. Soziale Ausgrenzung geht potentiell mit weitreichenden Beschädigungen der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls einher. Eine an der Leitformel ‚Subjektbildung‘ ausgerichtete Jugendarbeit schließt folglich diese Teilgruppe Jugendlicher nicht aus, sondern steht ganz zentral vor der Aufgabe, für diese attraktive Angebote zu entwickeln, die sich nicht auf Verwahrung und Betreuung reduzieren“ (Scherr 2000, 206). So ist der subjekttheoretische Ansatz nach Scherr in der Lage, eine gemeinsame Zielperspektive für unterschiedlichste Zielgruppen außerschulischer Pädagogik auszuweisen, „das Selbstverständnis der Jugendarbeit bildungstheoretisch zu begründen und die Jugendarbeit damit in der Tradition einer kritisch- emanzipatorischen Pädagogik zu verorten sowie Jugendarbeit als eigenständiges Feld (sozial-)pädagogischer Praxis zu bestimmen, [...in der] über die Sozialisationsleistungen der Familie und der Schule hinausgehende, diese Leistung nicht nur ergänzende Lern- und Entwicklungsangebote“ (Scherr 1998, 148) vorgehalten werden. Eine subjekttheoretische Grundannahme dieses Ansatzes ist dabei, dass Individuen grundsätzlich fähig sind, „sich zu den naturalen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Lebenspraxis willentlich und bewusst zu verhalten“ (Scherr 1992, 159). Damit wird deutlich, dass in der Konstruktion von Scherr Subjektivität grundsätzlich bereits vorausgesetzt werden muss: Subjektivität ist kein Zustand, der in der Zukunft z.B. durch Bildungsarbeit erreicht wird, sondern der partiell immer schon vorhanden ist und in seinen Ausprägungen gesteigert werden kann. Scherr setzt den von ihm verwendeten Subjektbegriff damit deutlich ab von der Vorstellung eines absoluten, autonomen Subjektes, das in sämtlichen Entscheidungen unabhängig ist und lediglich die eigene Vernunft als Bestimmungsmacht anerkennt. So meint Subjektwerdung auch „nicht die Ersetzung vollständiger Abhängigkeit durch vollständige Autonomie, 48 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit sondern die lebensgeschichtliche Erweiterung der Spielräume selbstbewußten und selbstbestimmten Handelns in sozialen Beziehungen. [...] Subjektivität ist so betrachtet konstitutiv ‚soziale Subjektivität‘“ (Scherr 1997, 49). Im Gegensatz zum dem in der Jugendarbeit durch die Theorien von Giesecke (1971) eingeführten und nach wie vor gebräuchlichen Begriff der Emanzipation, der nach Scherr eher auf politische Mündigkeit rekurriert, versteht Scherr Subjektbildung als einen prinzipiell unabschließbaren Prozess, „in dem vorgefundene Abhängigkeiten und unbewußte Handlungsroutinen schrittweise und graduell durch eine bewußtere und selbstbestimmtere Gestaltung der eigenen Lebenspraxis ersetzt werden“ (Scherr 1998, 154). Dabei bezeichnet Subjektivität die Fähigkeit des Individuums, sich als bewusst planend und agierend in der eigenen Lebenspraxis wahrzunehmen und sich zu ihren natürlichen und sozialen Bedingungen zu verhalten. Subjektivität ist nicht ausreichend mit Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein beschrieben, vielmehr sind die Prozesse der Ermöglichung bzw. Verhinderung von selbstbestimmter Lebenspraxis zu thematisieren (vgl. Scherr 1992,160). Deutlich wird dadurch, dass die Konstruktion von Subjektivität neben der lebensgeschichtlichen Dimension immer auch an die soziale Eingebundenheit des Individuums gekoppelt ist (vgl. Scherr 1997, 50). „Vielmehr – und deshalb ist der Anerkennungsbegriff gleichermaßen grundlegend – geht es um die Ermöglichung ‚sozialer Subjektivität‘ [...], das heißt um eine möglichst selbstbestimmte, gleichzeitig aber konstitutiv auf Kooperation, Kommunikation und auf Strukturen sozialer Anerkennung angewiesene Lebenspraxis. [...] Die zentrale Aufgabe einer subjektorientierten Jugendarbeit ist vor diesem Hintergrund darin zu sehen, durch Strukturen wechselseitiger Anerkennung als Subjekt gekennzeichnete soziale Beziehungen zu ermöglichen, in denen Bildungsprozesse in Richtung auf eine selbstbewußte und selbstbestimmte Lebenspraxis möglich werden“ (Scherr 1998, 154f). Deshalb ist die Frage, ob die Individuen Subjekte ihrer Lebenspraxis oder vielmehr nur die Effekte sozialer Strukturen sind, falsch gestellt. „Vielmehr ist die Frage, in welchen Formen und in welchen Dimensionen Individuen unter den ihnen auferlegten Lebensbedingungen zu selbstbewußter und selbstbestimmter Lebenspraxis in der Lage sind, empirisch zu wenden“ (Scherr 1992, 160). Verlängert man diese Theorie der Jugendarbeit, die ihre Ausgangspunkte in der etwa von der pädagogischen Bildungstheorie (vgl. Heydorn) und der kritischen Sozialphilosophie (vgl. insbes. Adorno) entwickelten Annahme hat, dass es die Aufgabe der Pädagogik ist, Bildungsprozesse zu einer selbstbewussteren und selbstbestimmteren Lebenspraxis zu ermöglichen (vgl. Scherr 1998, 154), um die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit, was aufgrund der historischen Entwicklung von 49 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Jugendsozialarbeit durchaus angemessen erscheint, dann würde dies bedeuten, dass Jugendsozialarbeit als Teil von Jugendarbeit und nicht als Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit eine eigenständige Bildungsverantwortung Bundesjugendkuratorium 2002). Rechtssystematisch hat (vgl. dazu wäre dann der auch §13 – Jugendsozialarbeit – tatsächlich eine Konkretisierung des allgemeinen Rechtes von Kindern und Jugendlichen durch geeignete Maßnahmen und Projekte der Jugendhilfe, so wie er in §1 KJHG formuliert ist, in seiner Entwicklung gefördert zu werden und zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ erzogen zu werden. Die Kritik Scherrs richtet sich - ähnlich wie in den Ausführungen von Galuske für den Referenzpunkt der Jugendberufshilfe - auf die Interpretation einer sozialpädagogischen Praxis, in der die Übernahme von, bzw. Integration in sozial legitimierte Normalitätsstandards als (Wieder-)Herstellung von Subjektivität angesehen wird und sieht in der Konstruktion von Gegenerfahrungen zu dem Gefühl politischer Ohnmacht, dem Verlust des inneren Systems der Selbstbildung und der selbstbewussten Gestaltung des Alltags Anknüpfungspunkte einer sozialpädagogischen Praxis mit dem Ziel, Partizipation, politische Willensbildung und Bildung von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung erfahrbar werden zu lassen (vgl. Scherr 1992). „Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse einerseits wie sozialpädagogische Institutionen und Handlungsformen andererseits sind demnach dahingehend zu analysieren, wie sie auf den Bildungsprozess individueller Subjektivität unterstützend bzw. begrenzend einwirken“ (Scherr 1992, 161). Da nach Scherr die Erwerbsarbeit neben neu hinzugekommenen Momenten das Kernmoment sozialer Identität ist, das auch in Zukunft Bedeutung haben wird, muss die „Krise der sozialintegrativen Kraft des Modells der berufsfixierten Identität des männlichen Erwachsenen“ (ebd. 163) als Provokation an eine Bildungstheorie verstanden werden, „die an der Entwicklung individuell angemessener, sozial anerkennungsfähiger und ökologisch verträglicher Formen der Lebenspraxis interessiert ist“ (ebd. 164). Dabei verweist eine solche Bildungspraxis, die sich am Subjektbegriff orientiert, zunächst auf den Sachverhalt, dass die Aneignung von Wissensbeständen, sowie von Wahrnehmungs-, Interpretations-, Handlungs- und Bewertungsmuster nicht als einseitige Prägungsprozesse, die im Kontext von Sozialisation ablaufen, gedacht werden können, sondern immer auf die Verarbeitungs- und Konstruktionsleistung des Individuums verweisen sind. Die Eigenleistung des Individuums im Prozess der Aneignung von Informationen und Wissen wird damit für sowohl für die Aufnahme als auch für das Resultat der Aufnahme zu einer wichtigen Größe. 50 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Als weiteren Aspekt nennt Scherr (2004) die Unmöglichkeit, Bildung und Sozialisation auf einen sozialen Zusammenhang, einen Ort oder eine Zeit einzuschränken, da immer dann, „wenn Individuen an Kommunikations- und Handlungszusammenhängen teilnehmen, die dazu geeignet sind, Veränderungen im Individuum auszulösen“ (ebd., 90) immer auch die Möglichkeit von Bildung gegeben ist. Dazu sei es allerdings nötig, zwischen Lern- und Bildungsprozessen zu unterscheiden, da Bildungsprozesse Lernprozesse einer besonderen Qualität sind, „in denen sie die Grundstrukturen des individuellen Selbst- und Weltverhältnisses konstruieren, verfestigen bzw. verändern“ (ebd.) (vgl. dazu auch: Kap. 3.6). Ferner vollzieht sich ein subjektbezogener Bildungsbegriff in den vier Dimensionen Subjekt-Werdung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, in denen ein reflexives Selbstverhältnis entwickelt werden kann. Scherr charakterisiert diese Dimensionen wie folgt: „Subjekt-Werdung: Entwicklung von Sprach-, Handlungs- und Reflexionsfähigkeit, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Erweiterung der Spielräume selbstbestimmten Handelns Selbstachtung: Entwicklung des Selbst(wert)gefühls und grundlegender Selbstkonzepte durch Erfahrungen sozialer Anerkennung bzw. Missachtung Selbstbewusstsein: Entwicklung des Wissens über eigene Fähigkeiten, Bedürfnisse und Interessen sowie eines rational begründeten Selbstverständnisses (individuelle und soziale „Identitäten“) Selbstbestimmung: Entwicklung von Potenzialen zu einer eigensinnigen und eigenverantwortlichen Lebensgestaltung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Möglichkeiten und Zwängen.“ (Scherr 2002b, 95). Dass ein solches Bildungsverständnis einigermaßen voraussetzungsvoll ist, zeigt sich an dem Aspekt der Bedeutung des Selbstwertgefühls und Kompetenzbewusstseins des Individuums für die Fähigkeit und Bereitschaft, sich Wissensbestände anzueignen, Ausdrucksformen zu entwickeln und Reflexionsangebote anzunehmen. Letztlich ist eine Theorie der Subjektbildung nach Scherr grundsätzlich auch darauf verwiesen, sich mit der sozialen Eingebundenheit der Individuen auseinanderzusetzen und „nach den sozialen Bedingungen der Entwicklung, Stabilisierung und Veränderung von Selbst(wert)gefühl, Selbstachtung, Selbstbewusstseins- und Selbstbestimmungsfähigkeit zu fragen, also etwa danach, wie an soziale Positionen (Klassenlagen, Milieuzugehörigkeit, Genderklassifikation, ethnische Zuordnungen usw.) gebundene Erfahrungen und Eigenschaftszuschreibungen auf individuelle Bildungsprozesse einwirken“ (Scherr 2004, 92). 51 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Daraus folgen die Fragen, ob in den Bildungsprozessen in der Jugendsozialarbeit durch Prozesse informeller und non-formeller Bildung und des Bezugs der beiden Bildungsformen zueinander ein selbstbestimmteres Leben ermöglicht werden kann und wie eine beschädigte oder begrenzte Subjektivität Ausgangspunkt von Lernprozessen sein kann. Im Hinblick auf die Entwicklung eines Bildungsverständnisses in der Jugendsozialarbeit würde die pädagogische Aufgabe in der Adaption der von Scherr beschriebenen „Anforderungen an eine zeitgemäße Jugendbildungsarbeit“ für das Klientel der Jugendsozialarbeit bedeuten. „Der Bildungsbegriff ist so zu akzentuieren, dass er die Auseinandersetzung mit jeweiligen Problemen der alltäglichen Lebensführung einschließt, denn [... Jugendsozialarbeit] als Bildungsarbeit kann nicht voraussetzen, dass ihre Adressaten bereits Lösungen biografischer und sozialer Problemlagen gefunden haben und auf dieser Grundlage fähig, in der Lage und motiviert sind, sich Kompetenzen und Wissen anzueignen. Die unausgesprochene Unterstellung, dass Kinder- und Jugendliche auf der Grundlage hinreichender psychischer und sozialer Sicherheit in der Lage sind, angebotene Bildungschancen zu ergreifen, erweist sich auch im Kontext von Schulen zunehmend weniger als tragfähig. Damit gewinnt ein Verständnis von Subjektbildung an Relevanz, das darauf hinweist, dass auch schulische und berufliche Chancen davon abhängen, dass Selbstachtung, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit entwickelt werden können“ (Scherr 2002, 104f). In Bezug auf die sozialpädagogische Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen steht sozialpädagogische Praxis angesichts der vielfältigen Formen des Umgangs mit und der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit vor einem schwierigen Balanceakt, in dem es gilt, einerseits einen differenzierten Blick auf individuelle Biographien der Jugendlichen zu entwickeln, sie mit spezifischen, begrenzten und bewältigbaren Problemen zu konfrontieren, die ein Grund für ihre Erfolglosigkeit auf dem Arbeitsmarkt darstellen können (vgl. Scherr/Stehr 1995, 43), sie andererseits aber auch zu motivieren, sich weiterhin auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und nach Beschäftigungsmöglichkeiten zu suchen. Scherr/Stehr beschreiben diese Praktiken als „sanfte Abkühlung“ und „Aufheizung“. Daneben gelte es aber auch zu realisieren, dass nicht bei allen Jugendlichen eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt möglich sei. „Sozialpädagogisches Handeln bedarf also des differenzierten Blicks auf die einzelnen Jugendlichen, um individuelle Subjektivität, um Selbstvertrauen, Wertschätzung und soziale Anerkennung auch für jene Jugendlichen erfahrbar zu machen, denen die dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt verwehrt bleibt“ (Scherr/Stehr 1998). 52 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Die subjektorientierte theoretische Fundierung sozialpädagogischer Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe könnte in Adaption der Ausführungen von Scherr (1998) weiterführende Hinweise darauf geben, Jugendsozialarbeit als ein eigenständiges pädagogisches Feld zu begründen und dabei die vielfältigen theoretischen Ansatzpunkte und Konzeptionen der Jugendsozialarbeit zu integrieren, da sie in der Lage ist, unterschiedliche Arbeitsformen auf ein gemeinsames Ziel zu beziehen (vgl. ebd., 160). Eine Fragestellung der sozialwissenschaftlichen Analyse der Bildungsprozesse in der Jugendsozialarbeit ist, ob es möglich ist, Prozesse der sozialen und beruflichen Desintegration benachteiligter Jugendlicher durch ein Konzept zu verändern, das durch die Bildung zum Subjekt versucht, die Lebensbedingungen in Richtung auf eine selbstbestimmtere und selbstbewusstere Lebenspraxis zu verändern. Dabei werden formale Qualifikationen, die für die Aufnahme einer Beschäftigung nach wie vor grundsätzlich nötig sind, nicht weiter berücksichtigt und die Frage nach „selbstbewußter und selbstbestimmter Lebenspraxis“ (ebd., 160) von dem subjektbildenden Faktor Erwerbsarbeit abgekoppelt. Jugendsozialarbeit in diesem Sinne verstanden als ein Teil außerschulischer Jugendarbeit ist angesiedelt in der Schnittstelle zwischen Schule, Beruf, Jugendarbeit und Hilfssystemen und stellt aufgrund der vielfältigen Arbeitsansätze ein differenziertes System von sozialpädagogischer (Aus-) Bildung dar, das in der Lage ist, im Übergang von Schule zum Beruf Bildungsarrangements zu initiieren, die formelle, non-formelle und informelle Bildungsbereiche (vgl. Evans 1981, Sandhaas 1986) gleichermaßen umfassen. So hat Jugendsozialarbeit immer auch ein Mandat auf mehreren Ebenen: Im Sinne einer qualifizierenden Jugendberufshilfe trägt sie zum Erwerb grundsätzlich benötigten Wissens für die Aufnahme einer Arbeit bei und hat darüber hinaus aber auch die Aufgabe, „mit Jugendlichen, die arbeitslos oder auf Einfacherwerbsarbeitsplätze verwiesen sind, nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie Selbstverwirklichung, Selbstachtung und eine selbstbestimmte Lebensführung unter den jeweils vorgefundenen Bedingungen der Arbeit bzw. der Arbeitslosigkeit möglich sind“ (Scherr/Stehr 1998, 434). Dabei weist der Bildungsgedanke der Jugendsozialarbeit durch die Chance der Verbindung unterschiedlicher Bildungsformen sowohl über das Konzept der subjektorientierten Bildung als auch der lebensweltorientierten Arbeit in der Entwicklung „lebenslauffördernder Lernprozesse“, der reinen Orientierung an Qualifikationen und dem Nachholen von formalen Abschlüssen, sowie der internationalen Klassifikation der OECD hinaus. 53 Kapitel 2 Sozialpädagogische Praxis in der Jugendsozialarbeit Insofern könnte ein für die Jugendsozialarbeit ausgearbeiteter Bildungsbegriff, der die o.g. Anteile unterschiedlicher Konzepte berücksichtigt eine theoretisch-begriffliche Klammer darstellen, die alle Handlungsbereiche umfasst und die eine Verbindung zwischen einer soziologischen Sichtweise in Form der Berücksichtigung und Analyse der in §13 KJHG beschriebenen „sozialen Benachteiligungen“ und der eher von psychologischen Theorietraditionen erfassten so genannten „individuellen Beeinträchtigungen“ darstellt. 54