Loristraße 1 80335 München Die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit im Rahmen des SGB VIII 1. Vorbemerkung Die Frage nach der Bestimmung oder Eingrenzung der Zielgruppe der JSA lässt sich am Besten aus zwei Blickwinkeln vornehmen. Indem man erstens danach fragt, wer denn das sein könnte, und zweitens wer es nicht ist. Dies entspricht im Übrigen auch der Logik des Aufbaus von Gesetzbüchern und Paragraphen. Vollständig erschließt sich ein Sachverhalt oder eine mögliche Deutung häufig erst dann, wenn ein Paragraph ins Verhältnis zu den benachbarten Paragraphen gesetzt wird. Seit 1990 gibt es die Jugendsozialarbeit nicht mehr nur in der Praxis sondern auch im neuen „Kinder- und Jugendhilfegesetz“, dem SGB VIII. Dort ist sie wohlweislich, wie der Jugendschutz (§ 14) – der allerdings zur Klärung unserer Frage keine Rolle spielt – zwischen der Jugendarbeit und den Hilfen zur Erziehung platziert. Diesen Blick auf die Jugendsozialarbeit, zwischen Jugendarbeit und Hilfen zur Erziehung oder in Abgrenzung zu dem was sie nicht ist, möchte ich quasi als roten Faden aufgreifen, um mich einer näheren Definition der Zielgruppe zuzuwenden. Ich nehme dabei bewußt in Kauf, dass ich mit diesem Vorgehen die Klärung der Überschneidungsbereiche teilweise übergehen werde. Wo es möglich ist, ohne die Klarheit im ersten Schritt schon wieder zu verwässern, werde ich versuchen zumindest einen Blick darauf zu werfen. Abb.: 1 Folgende Grundlinien werden im SGB VIII benannt: Jugendarbeit Jugendsozialarbeit Stichworte: • allgemeine Entwicklungsförderung junger Menschen • Interessenbezogene Angebote unter Maßgabe von Mitbestimmung und Mitgestaltung → selbstorganisiert • Außerschulische Jugendbildung • Aktive Freizeitgestaltung → Kinderund Jugenderholung • Allgemeine Jugendberatung • Anbieter: Verbände, Gruppen, Initiativen Stichworte: • Zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen • Überwindung individueller Beeinträchtigung • erhöhter Unterstützungsbedarf • Sozialpäd. Hilfen/ Begleitung • Schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen • Begleitete Wohnformen • Mit Schule und BA abgestimmte Maßnahmen Ziel: Anregung von sozialem Engagement Befähigung zur Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Mitverantwortung Ziel: Eingliederung in die Arbeitswelt und soziale Integration Förderung der schulischen und beruflichen Ausbildung Ausgangslage geeignete Methoden und Angebote Hilfen zur Erziehung § 27ff SGB VIII Stichworte. • Anspruch des Personensorgeberechtigten auf Hilfe • Verbindung pädagogischer und therapeutischer Leistungen • Intensive Betreuung und Begleitung von Familien • In der Regel auf längere Dauer angelegt - Heimerziehung - Vollzeitpflege - Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung • Bei Bedarf Beschäftigungsmaßnahmen nach § 13 Ziel: Gewährleitung der Erziehung zum Wohl des Kindes Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Vorbereitung auf ein selbständiges Leben In den Stichworten, die teilweise Ausgangssituationen, teilweise unterschiedliche Bedarfe und mögliche Angebotsformen beschreiben, werden unterschiedliche Schwerpunkte benannt. Auch aus den Zielen lassen sich Hinweise auf die Zielgruppe ableiten. Die Jugendsozialarbeit wendet sich sicherlich kaum an junge Menschen die „nur“ einer „allgemeinen Entwicklungsförderung“ bedürfen. Sozialpädagogische Hilfen und Begleitung sind für die Zielgruppe offenbar nötig. Eine Verbindung dieser Unterstützung mit therapeutischen Leistungen ist allerdings wiederum nicht erforderlich. Während die Jugendarbeit jungen Menschen Angebote unter dem Aspekt Mitbestimmung und Selbstorganisation macht, sind es bei der Jugendsozialarbeit Integrationsmaßnahmen und bei den Hilfen zur Erziehung tritt der Aspekt der intensiven Betreuung in den Vordergrund. Auch in den Zielen dieser drei Bereiche wird zumindest eine deutlich unterschiedliche Ausgangssituation oder ein unterschiedlicher primärer Bedarf der Zielgruppe sichtbar. Gleichwohl gibt es bereits in den einzelnen Paragraphen Querverweise auf gemeinsame Zuständigkeiten wie z.B. im § 27 „bei Bedarf Beschäftigungsmaßnahmen nach § 13“ oder in § 11 der Hinweis „alle relevanten gesellschaftlichen Bezüge aufgreifen“. D.h., dass in diesen Fällen jeder Bereich seinen Teil auch übergreifend beizutragen hat. 2. Betrachtung der Ausgangslage Zur Betrachtung der Ausgangslage der Zielgruppe der Jugendsozialarbeit gibt das Gesetz zwei zentrale Begriffe vor: Die „soziale Benachteiligung“ und die „individuelle Beeinträchtigung“. Diese Begriffe füllen sich relativ schnell mit konkreten Inhalten wenn man sie, wie schon im Vorwort empfohlen, in einen Bezugsrahmen bringt. Wenn man der sozialen Benachteiligung, die den gesellschaftlichen Aspekt in’s Auge nimmt, einen sozusagen als normal oder durchschnittlich zu erwartenden Rahmen danebenstellt. Und wenn man der individuellen Beeinträchtigung, die mehr den personenbezogenen Aspekt aufgreift, den Zustand der entwicklungshemmenden Behinderung entgegensetzt. Nebenbei wird daran auch die konzeptionelle Besonderheit der Jugendsozialarbeit, einerseits den gesellschaftlichen Bezugsrahmen und andererseits die Person in den Blick zu nehmen, gut sichtbar. In der folgenden Übersicht habe ich versucht, die Ausgangslage der Zielgruppe beispielhaft zu konkretisieren und abzugrenzen. Abb.: 2 Ausgangslage der Zielgruppe der Jugendsozialarbeit: im Verhältnis zu einem „normalen“ sozialen Umfeld und zur Behinderung Normales soziales Umfeld Stichworte: • Vorhandene allgemein übliche Ressourcen • Förderndes Umfeld • Rückzugsmöglichkeiten in der Wohnung gegeben • Durchschnittliche Sprachförderung • Vermittlung sozialer Orientierung und Werte • Erzieherische Grundlinie erkennbar • etc. ... • Soziale Benachteiligung Stichworte: • Armut der Familie • Beengte Wohnverhältnisse/Ressourcenmangel • Eingeschränkte familiäre Unterstützungsstruktur • Mangelnde Sprachförderung • Unvollständige Familie • Wertvermittlung und soziale Orientierung mangelhaft • Fehlende erzieherische Grundlinie • etc. ... Individuelle Beeinträchtigung Stichworte: Dyscalkulie/Legasthenie Leichte Formen der Lernbehinderung • Schwerhörigkeit/einseitiger Hörverlust • Körperliche Einschränkungen • Beeinträchtigende Erkrankungen • etc. ... • • Verstärkte Entwicklungsbehinderung der Person Stichworte: Behinderungen, die spezielle Maßnahmen nach sich ziehen • Verhaltensstörungen mit langfristiger therapeutischer Begleitungsnotwendigkeit • Wohl des Kindes wegen erzieherischer Defizite stark gefährdet • etc. • 3. Betrachtung des daraus folgenden Entwicklungsprozesses Um nun zur Zielgruppe der Jugendsozialarbeit zu werden, muss aus der festgestellten Ausgangslage auch ein erhöhtes Maß an Förderbedarf erwachsen! Die soziale Benachteiligung oder Individuelle Beeinträchtigung ist ja nicht unbedingt zwangsläufig mit dem Scheitern im Übergang Schule – Beruf verknüpft. Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns steigt wohl mit dem Maß der Benachteiligung und Beeinträchtigung, es gibt aber auch zahlreiche Beispiele, wo gerade der Nachteil eher als Motivationsschub gewirkt hat. Tatsache ist jedoch, dass durch die soziale Benachteiligung und/oder individuelle Beeinträchtigung ein Entwicklungsprozess ausgelöst wird, in dem Kompensationshandlungen unterschiedlicher Art vollzogen werden. Das Ziel für die einzelnen Personen ist dabei grundsätzlich der Erhalt oder Gewinn von Würde und Selbstachtung. Für die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit ergibt sich nun aus der vorliegenden Ausgangslage ein Entwicklungsprozess mit sich verfestigenden, negativen Kompensationshandlungen. Diese können entweder stark nach außen gerichtet sein oder eher nach innen. Im Spannungsbogen zwischen diesen Polen begegnet uns in der Praxis die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit. Am praktischen Beispiel ergibt sich folgende exemplarische Darstellung für diesen Prozess von Kompensationshandlungen: Abb.: 3 Nach außen gerichtete Kompensationshandlungen Kleinkindphase Die Welt und vielfältige Fähigkeiten entdecken, Neugierde, Glauben an Zukunft und guten Platz in der Gesellschaft „Normaler“ Entwicklungsprozess Kleinkindphase Die Welt und vielfältige Fähigkeiten entdecken, Neugierde, Glauben an Zukunft und guten Platz in der Gesellschaft Nach innen gerichtete Kompensationshandlungen Kleinkindphase Die Welt und vielfältige Fähigkeiten entdecken, Neugierde, Glauben an Zukunft und guten Platz in der Gesellschaft Einschulung Große Zukunftspläne, dazu gehören wollen, Motivation zu lernen Einschulung Große Zukunftspläne, dazu gehören wollen, Motivation zu lernen Einschulung Große Zukunftspläne, dazu gehören wollen, Motivation zu lernen Erste Schuljahre, Beginn d. Notengebung Mangelnde Förderung u. Unterstützung im soz. Umfeld, schlechte Rahmenbedingungen, in der Folge schlechtes schulisches Abschneiden Profilierung z.B. über „Clownrolle“ etc. Erste Schuljahre, Beginn d. Notengebung Interesse und Förderung im soz. Umfeld, einzelne schulische Erfolge, Anerkennung für Leistungen, ggf. Ermutigung und Hilfe durch Eltern ... Erste Schuljahre, Beginn d. Notengebung Mangelnde Förderung u. Unterstützung im soz. Umfeld, schlechte Rahmenbedingungen, in der folge schlechtes schulisches Abschneiden Selbstschutz durch unauffälliges Verhalten etc. ... Hauptschulalter Schulischer Stillstand, mangelnder Glaube an Lernerfolg „Clownrolle“ nicht mehr tragbar, sie erscheint zunehmend lächerlich Hauptschulalter Schulische Weiterentwicklung, Sicherheit auch schlechte Leistungen „ausbügeln“ zu können, Unterstützung von zu Hause Experimentieren mit dem eigenen Erwachsenenbild Hauptschulalter Schulischer Stillstand, mangelnder Glaube an Lernerfolg „Unauffälligkeit“ reicht nicht mehr aus, Ziel von Spott im Klassenverband Abschlußphase Schule Respekt durch aggressives Verhalten, Zusammenschluß in „Banden“, Ignorieren mangelhafter schulischer Leistungen Abschlußphase Schule Einbindung in den Klassenverband, positive Auseinandersetzung mit den schulischen Leistungen und Schwankungen Abschlußphase Schule Schutz durch starke Abschottung, Einzelgängertum, kommentarloses Hinnehmen mangelhafter Leistungen Schulabschluss Wunsch nach beruflicher Integration Schulabschluss Wunsch nach beruflicher Integration Schulabschluss Wunsch nach beruflicher Integration ERGEBNIS: Soziale und berufliche Integration auf der Leistungs- und Verhaltensebene stark behindert. ERGEBNIS: Voraussetzung für schrittweise berufliche Integration gegeben ERGEBNIS: Soziale und berufliche Integration auf der Leistungs- und Verhaltensebene stark behindert. 4. Feststellung des erhöhten Förderbedarfs / der erkennbaren Symptome Aus diesem Entwicklungsprozess leitet sich nun der im SGB VIII benannte „erhöhte Förderbedarf“ ab. Hinweise, dass es sich bei einer Person um die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit handeln könnte, sind dabei in der Regel eine Vielfachkombination z.B. der folgenden Symptome: - Schlechte Noten und Bemerkungen / keine Abschlüsse - Probleme mit der Zeitstruktur - wenig Zielgerichtetes, planvolles Handeln - Arbeitslosigkeit - Aggressivität, mangelnde Konfliktfähigkeit - Unkenntnis gesellschaftlicher Grundregeln - schlechte Selbsteinschätzung, mangelnder Realitätsbezug - gestörte Gruppenfähigkeit - starke Zurückgezogenheit - etc. ... Wenn auch diese Symptome schon sehr starke Hinweise sein können, ist trotzdem immer auch zu fragen, was an Ausgangssituation und Entwicklungsprozess dahinter steht. Es würde sicher wenig Sinn machen einen arbeitslosen Jugendlichen, der keine der Vorbedingungen erfüllt und sonst auch keine weiteren Symptome aufzeigt, nun gleich in eine Maßnahme der Jugendsozialarbeit zu stecken. Gleichwohl kann eine längere Arbeitslosigkeit einen Entwicklungsprozess auslösen, in dem sich negative Kompensationshandlungen entsprechend verfestigen. Wichtig ist jedoch, dass sich Jugendsozialarbeit erst aus dem erhöhten Förderbedarf, der sich aus einem Entwicklungsprozess ergibt, ableitet. 5. Eignung des Angebotes für die betroffene Person Wenn nun die Ausgangssituation deutlich ist; die negativen Kompensationshandlungen geklärt sind; die Symptome festgestellt und das Ausmaß des Förderbedarfs benannt ist; dann bleibt noch eine letzte Frage zu klären um zu dem klaren und eindeutigen Ergebnis „Zielgruppe Jugendsozialarbeit“ zu kommen: Sind die sozialpädagogischen Hilfen, welche sich aus der Ausgangssituation und dem Entwicklungsprozess der Zielgruppe ableiten ausreichend und geeignet? Ist die Prognose bzgl. des Einsatzes der Methoden und Angebote der Jugendsozialarbeit positiv? Diese Fragen sollten sinnigerweise mit einem klaren „ja“ beantwortet werden können. Im Blick auf Zielgruppe möchte ich hier zusätzlich zwei häufig stammtischartig benutzten Argumenten eine deutliche Position entgegensetzen: „Ein bisschen zu viel Unterstützung kann auf keinen Fall schaden“ und „lieber wenigstens ein bisschen was und weg von der Straße als gar nichts“. Die pädagogische Erfahrung lautet: Unter- wie Überforderung führen beide in die Regression, also zu einer Verschlechterung des Ausgangszustandes. Insoweit ist die Frage nach der Paßgenauigkeit und Eignung des Angebotes auch keine Marginalie sondern eine Pflicht verantwortungsvollen Handelns. Sozialpädagogische Hilfen sind hier schlicht wie eine wohl dosierte Medizin für ein ganz bestimmtes Krankheitsbild zu sehen. Um die Wirksamkeit des Angebotes prüfen zu können ist es sinnvoll die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit in ihrer ganz speziellen Lebenssituation wahrzunehmen. Eine Lebenssituation in der die eigenständige Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bezüglich beruflicher und sozialer Integration auf Grund der aufgezeigten Ausgangslagen, Entwicklungsprozesse und feststellbaren Symptome deutlich behindert ist. Eine Lebenssituation in der das bestehende Beziehungsgeflecht und festgefahrene Haltungen positive Entwicklungen eher behindert denn fördert. UND FAZIT: Wenn man sich der Zielgruppe nähern will, reicht es nicht aus, einfach einen Einzelbegriff wie „benachteiligt“ in den Raum zu werfen oder ein Einzelsymptom wie „arbeitslos“ herauszugreifen. Man wird sich wohl die Mühe machen müssen einen etwas umfangreicheren Blick auf die einzelne Person zu werfen. München, Oktober 2005 Klaus Schenk Landesreferent Evangelische Jugendsozialarbeit Bayern e.V.