Die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit im Rahmen des

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Die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit im Rahmen des SGB VIII
1. Vorbemerkung
Die Frage nach der Bestimmung oder Eingrenzung der Zielgruppe der JSA lässt sich am Besten aus zwei Blickwinkeln vornehmen.
Indem man erstens danach fragt, wer denn das sein könnte, und zweitens wer es nicht ist. Dies entspricht im Übrigen auch der
Logik des Aufbaus von Gesetzbüchern und Paragraphen. Vollständig erschließt sich ein Sachverhalt oder eine mögliche Deutung
häufig erst dann, wenn ein Paragraph ins Verhältnis zu den benachbarten Paragraphen gesetzt wird.
Seit 1990 gibt es die Jugendsozialarbeit nicht mehr nur in der Praxis sondern auch im neuen „Kinder- und Jugendhilfegesetz“, dem
SGB VIII.
Dort ist sie wohlweislich, wie der Jugendschutz (§ 14) – der allerdings zur Klärung unserer Frage keine Rolle spielt – zwischen der
Jugendarbeit und den Hilfen zur Erziehung platziert.
Diesen Blick auf die Jugendsozialarbeit, zwischen Jugendarbeit und Hilfen zur Erziehung oder in Abgrenzung zu dem was sie nicht
ist, möchte ich quasi als roten Faden aufgreifen, um mich einer näheren Definition der Zielgruppe zuzuwenden.
Ich nehme dabei bewußt in Kauf, dass ich mit diesem Vorgehen die Klärung der Überschneidungsbereiche teilweise übergehen
werde. Wo es möglich ist, ohne die Klarheit im ersten Schritt schon wieder zu verwässern, werde ich versuchen zumindest einen
Blick darauf zu werfen.
Abb.: 1
Folgende Grundlinien werden im SGB VIII benannt:
Jugendarbeit
Jugendsozialarbeit
Stichworte:
• allgemeine Entwicklungsförderung
junger Menschen
• Interessenbezogene Angebote unter
Maßgabe von Mitbestimmung und
Mitgestaltung → selbstorganisiert
• Außerschulische Jugendbildung
• Aktive Freizeitgestaltung → Kinderund Jugenderholung
• Allgemeine Jugendberatung
• Anbieter: Verbände, Gruppen, Initiativen
Stichworte:
• Zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen
• Überwindung individueller Beeinträchtigung
• erhöhter Unterstützungsbedarf
• Sozialpäd. Hilfen/ Begleitung
• Schulische und berufliche
Bildungsmaßnahmen
• Begleitete Wohnformen
• Mit Schule und BA abgestimmte
Maßnahmen
Ziel:
Anregung von sozialem Engagement
Befähigung zur Selbstbestimmung und
gesellschaftlicher Mitverantwortung
Ziel:
Eingliederung in die Arbeitswelt und soziale
Integration
Förderung der schulischen und beruflichen
Ausbildung
Ausgangslage
geeignete
Methoden
und
Angebote
Hilfen zur Erziehung
§ 27ff SGB VIII
Stichworte.
• Anspruch des
Personensorgeberechtigten auf Hilfe
• Verbindung pädagogischer und
therapeutischer Leistungen
• Intensive Betreuung und Begleitung von
Familien
• In der Regel auf längere Dauer angelegt
- Heimerziehung
- Vollzeitpflege
- Intensive sozialpädagogische
Einzelbetreuung
• Bei Bedarf Beschäftigungsmaßnahmen
nach § 13
Ziel:
Gewährleitung der Erziehung zum
Wohl
des Kindes
Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie
Vorbereitung auf ein selbständiges
Leben
In den Stichworten, die teilweise Ausgangssituationen, teilweise unterschiedliche Bedarfe und mögliche Angebotsformen
beschreiben, werden unterschiedliche Schwerpunkte benannt.
Auch aus den Zielen lassen sich Hinweise auf die Zielgruppe ableiten.
Die Jugendsozialarbeit wendet sich sicherlich kaum an junge Menschen die „nur“ einer „allgemeinen Entwicklungsförderung“
bedürfen. Sozialpädagogische Hilfen und Begleitung sind für die Zielgruppe offenbar nötig. Eine Verbindung dieser Unterstützung
mit therapeutischen Leistungen ist allerdings wiederum nicht erforderlich.
Während die Jugendarbeit jungen Menschen Angebote unter dem Aspekt Mitbestimmung und Selbstorganisation macht, sind es
bei der Jugendsozialarbeit Integrationsmaßnahmen und bei den Hilfen zur Erziehung tritt der Aspekt der intensiven Betreuung in
den Vordergrund.
Auch in den Zielen dieser drei Bereiche wird zumindest eine deutlich unterschiedliche Ausgangssituation oder ein unterschiedlicher
primärer Bedarf der Zielgruppe sichtbar.
Gleichwohl gibt es bereits in den einzelnen Paragraphen Querverweise auf gemeinsame Zuständigkeiten wie z.B. im § 27 „bei
Bedarf Beschäftigungsmaßnahmen nach § 13“ oder in § 11 der Hinweis „alle relevanten gesellschaftlichen Bezüge aufgreifen“.
D.h., dass in diesen Fällen jeder Bereich seinen Teil auch übergreifend beizutragen hat.
2. Betrachtung der Ausgangslage
Zur Betrachtung der Ausgangslage der Zielgruppe der Jugendsozialarbeit gibt das Gesetz zwei zentrale Begriffe vor:
Die „soziale Benachteiligung“ und die „individuelle Beeinträchtigung“. Diese Begriffe füllen sich relativ schnell mit konkreten Inhalten
wenn man sie, wie schon im Vorwort empfohlen, in einen Bezugsrahmen bringt.
Wenn man der sozialen Benachteiligung, die den gesellschaftlichen Aspekt in’s Auge nimmt, einen sozusagen als normal oder
durchschnittlich zu erwartenden Rahmen danebenstellt.
Und wenn man der individuellen Beeinträchtigung, die mehr den personenbezogenen Aspekt aufgreift, den Zustand der
entwicklungshemmenden Behinderung entgegensetzt.
Nebenbei wird daran auch die konzeptionelle Besonderheit der Jugendsozialarbeit, einerseits den gesellschaftlichen
Bezugsrahmen und andererseits die Person in den Blick zu nehmen, gut sichtbar.
In der folgenden Übersicht habe ich versucht, die Ausgangslage der Zielgruppe beispielhaft zu konkretisieren und abzugrenzen.
Abb.: 2
Ausgangslage der Zielgruppe der Jugendsozialarbeit: im Verhältnis zu einem „normalen“
sozialen Umfeld und zur Behinderung
Normales soziales
Umfeld
Stichworte:
• Vorhandene allgemein übliche
Ressourcen
• Förderndes Umfeld
• Rückzugsmöglichkeiten in der
Wohnung gegeben
• Durchschnittliche
Sprachförderung
• Vermittlung sozialer
Orientierung und Werte
• Erzieherische Grundlinie
erkennbar
• etc. ...
•
Soziale Benachteiligung
Stichworte:
• Armut der Familie
• Beengte Wohnverhältnisse/Ressourcenmangel
• Eingeschränkte familiäre
Unterstützungsstruktur
• Mangelnde Sprachförderung
• Unvollständige Familie
• Wertvermittlung und soziale
Orientierung mangelhaft
• Fehlende erzieherische
Grundlinie
• etc. ...
Individuelle
Beeinträchtigung
Stichworte:
Dyscalkulie/Legasthenie
Leichte Formen der
Lernbehinderung
• Schwerhörigkeit/einseitiger
Hörverlust
• Körperliche Einschränkungen
• Beeinträchtigende
Erkrankungen
• etc. ...
•
•
Verstärkte Entwicklungsbehinderung der Person
Stichworte:
Behinderungen, die spezielle
Maßnahmen nach sich ziehen
• Verhaltensstörungen mit
langfristiger therapeutischer
Begleitungsnotwendigkeit
• Wohl des Kindes wegen
erzieherischer Defizite stark
gefährdet
• etc.
•
3. Betrachtung des daraus folgenden Entwicklungsprozesses
Um nun zur Zielgruppe der Jugendsozialarbeit zu werden, muss aus der festgestellten Ausgangslage auch ein erhöhtes Maß an
Förderbedarf erwachsen!
Die soziale Benachteiligung oder Individuelle Beeinträchtigung ist ja nicht unbedingt zwangsläufig mit dem Scheitern im Übergang
Schule – Beruf verknüpft.
Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns steigt wohl mit dem Maß der Benachteiligung und Beeinträchtigung, es gibt aber auch
zahlreiche Beispiele, wo gerade der Nachteil eher als Motivationsschub gewirkt hat.
Tatsache ist jedoch, dass durch die soziale Benachteiligung und/oder individuelle Beeinträchtigung ein Entwicklungsprozess
ausgelöst wird, in dem Kompensationshandlungen unterschiedlicher Art vollzogen werden.
Das Ziel für die einzelnen Personen ist dabei grundsätzlich der Erhalt oder Gewinn von Würde und Selbstachtung.
Für die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit ergibt sich nun aus der vorliegenden Ausgangslage ein Entwicklungsprozess mit sich
verfestigenden, negativen Kompensationshandlungen.
Diese können entweder stark nach außen gerichtet sein oder eher nach innen.
Im Spannungsbogen zwischen diesen Polen begegnet uns in der Praxis die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit.
Am praktischen Beispiel ergibt sich folgende exemplarische Darstellung für diesen Prozess von Kompensationshandlungen:
Abb.: 3
Nach außen gerichtete
Kompensationshandlungen
Kleinkindphase
Die Welt und vielfältige Fähigkeiten
entdecken, Neugierde, Glauben an
Zukunft und guten Platz in der
Gesellschaft
„Normaler“
Entwicklungsprozess
Kleinkindphase
Die Welt und vielfältige Fähigkeiten entdecken,
Neugierde, Glauben an Zukunft und guten Platz in der
Gesellschaft
Nach innen gerichtete
Kompensationshandlungen
Kleinkindphase
Die Welt und vielfältige Fähigkeiten
entdecken, Neugierde, Glauben an Zukunft
und guten Platz in der Gesellschaft
Einschulung
Große Zukunftspläne, dazu gehören
wollen, Motivation zu lernen
Einschulung
Große Zukunftspläne, dazu gehören wollen, Motivation
zu lernen
Einschulung
Große Zukunftspläne, dazu gehören wollen,
Motivation zu lernen
Erste Schuljahre, Beginn d.
Notengebung
Mangelnde Förderung u.
Unterstützung im soz. Umfeld,
schlechte Rahmenbedingungen, in der
Folge schlechtes schulisches
Abschneiden
Profilierung z.B. über „Clownrolle“ etc.
Erste Schuljahre, Beginn d. Notengebung
Interesse und Förderung im soz. Umfeld, einzelne
schulische Erfolge, Anerkennung für Leistungen, ggf.
Ermutigung und Hilfe durch Eltern ...
Erste Schuljahre, Beginn d. Notengebung
Mangelnde Förderung u. Unterstützung im
soz. Umfeld, schlechte Rahmenbedingungen,
in der folge schlechtes schulisches
Abschneiden
Selbstschutz durch unauffälliges Verhalten
etc. ...
Hauptschulalter
Schulischer Stillstand, mangelnder
Glaube an Lernerfolg
„Clownrolle“ nicht mehr tragbar, sie
erscheint zunehmend lächerlich
Hauptschulalter
Schulische Weiterentwicklung, Sicherheit auch schlechte
Leistungen „ausbügeln“ zu können, Unterstützung von
zu Hause
Experimentieren mit dem eigenen Erwachsenenbild
Hauptschulalter
Schulischer Stillstand, mangelnder Glaube an
Lernerfolg
„Unauffälligkeit“ reicht nicht mehr aus, Ziel
von Spott im Klassenverband
Abschlußphase Schule
Respekt durch aggressives Verhalten,
Zusammenschluß in „Banden“,
Ignorieren mangelhafter schulischer
Leistungen
Abschlußphase Schule
Einbindung in den Klassenverband, positive
Auseinandersetzung mit den schulischen Leistungen
und Schwankungen
Abschlußphase Schule
Schutz durch starke Abschottung,
Einzelgängertum, kommentarloses
Hinnehmen mangelhafter Leistungen
Schulabschluss
Wunsch nach beruflicher Integration
Schulabschluss
Wunsch nach beruflicher Integration
Schulabschluss
Wunsch nach beruflicher Integration
ERGEBNIS:
Soziale und berufliche Integration auf
der Leistungs- und Verhaltensebene
stark behindert.
ERGEBNIS:
Voraussetzung für schrittweise berufliche Integration
gegeben
ERGEBNIS:
Soziale und berufliche Integration auf der
Leistungs- und Verhaltensebene stark
behindert.
4. Feststellung des erhöhten Förderbedarfs / der erkennbaren Symptome
Aus diesem Entwicklungsprozess leitet sich nun der im SGB VIII benannte „erhöhte Förderbedarf“ ab.
Hinweise, dass es sich bei einer Person um die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit handeln könnte, sind dabei in der Regel eine
Vielfachkombination z.B. der folgenden Symptome:
- Schlechte Noten und Bemerkungen / keine Abschlüsse
- Probleme mit der Zeitstruktur
- wenig Zielgerichtetes, planvolles Handeln
- Arbeitslosigkeit
- Aggressivität, mangelnde Konfliktfähigkeit
- Unkenntnis gesellschaftlicher Grundregeln
- schlechte Selbsteinschätzung, mangelnder Realitätsbezug
- gestörte Gruppenfähigkeit
- starke Zurückgezogenheit
- etc. ...
Wenn auch diese Symptome schon sehr starke Hinweise sein können, ist trotzdem immer auch zu fragen, was an
Ausgangssituation und Entwicklungsprozess dahinter steht.
Es würde sicher wenig Sinn machen einen arbeitslosen Jugendlichen, der keine der Vorbedingungen erfüllt und sonst auch keine
weiteren Symptome aufzeigt, nun gleich in eine Maßnahme der Jugendsozialarbeit zu stecken.
Gleichwohl kann eine längere Arbeitslosigkeit einen Entwicklungsprozess auslösen, in dem sich negative
Kompensationshandlungen entsprechend verfestigen. Wichtig ist jedoch, dass sich Jugendsozialarbeit erst aus dem erhöhten
Förderbedarf, der sich aus einem Entwicklungsprozess ergibt, ableitet.
5. Eignung des Angebotes für die betroffene Person
Wenn nun die Ausgangssituation deutlich ist;
die negativen Kompensationshandlungen geklärt sind;
die Symptome festgestellt und das Ausmaß des Förderbedarfs benannt ist;
dann bleibt noch eine letzte Frage zu klären um zu dem klaren und eindeutigen Ergebnis „Zielgruppe Jugendsozialarbeit“ zu
kommen:
Sind die sozialpädagogischen Hilfen, welche sich aus der Ausgangssituation und dem Entwicklungsprozess der Zielgruppe ableiten
ausreichend und geeignet? Ist die Prognose bzgl. des Einsatzes der Methoden und Angebote der Jugendsozialarbeit positiv?
Diese Fragen sollten sinnigerweise mit einem klaren „ja“ beantwortet werden können.
Im Blick auf Zielgruppe möchte ich hier zusätzlich zwei häufig stammtischartig benutzten Argumenten eine deutliche Position
entgegensetzen:
„Ein bisschen zu viel Unterstützung kann auf keinen Fall schaden“ und
„lieber wenigstens ein bisschen was und weg von der Straße als gar nichts“.
Die pädagogische Erfahrung lautet:
Unter- wie Überforderung führen beide in die Regression, also zu einer Verschlechterung des Ausgangszustandes.
Insoweit ist die Frage nach der Paßgenauigkeit und Eignung des Angebotes auch keine Marginalie sondern eine Pflicht
verantwortungsvollen Handelns.
Sozialpädagogische Hilfen sind hier schlicht wie eine wohl dosierte Medizin für ein ganz bestimmtes Krankheitsbild zu sehen.
Um die Wirksamkeit des Angebotes prüfen zu können ist es sinnvoll die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit in ihrer ganz speziellen
Lebenssituation wahrzunehmen.
Eine Lebenssituation in der die eigenständige Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bezüglich beruflicher und sozialer Integration
auf Grund der aufgezeigten Ausgangslagen, Entwicklungsprozesse und feststellbaren Symptome deutlich behindert ist.
Eine Lebenssituation in der das bestehende Beziehungsgeflecht und festgefahrene Haltungen positive Entwicklungen eher
behindert denn fördert.
UND FAZIT: Wenn man sich der Zielgruppe nähern will, reicht es nicht aus, einfach einen Einzelbegriff wie „benachteiligt“ in den
Raum zu werfen oder ein Einzelsymptom wie „arbeitslos“ herauszugreifen. Man wird sich wohl die Mühe machen müssen einen
etwas umfangreicheren Blick auf die einzelne Person zu werfen.
München, Oktober 2005
Klaus Schenk
Landesreferent
Evangelische Jugendsozialarbeit Bayern e.V.
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