Kopf ab

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Kopf ab!
Eine Kulturgeschichte der Enthauptung
Von Hans-Volkmar Findeisen
Sendung: Freitag, 20.11.2015, 8.30 – 8.58 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Sprecher:
Das Projekt der Moderne ist einst mit dem Vorsatz in die Welt gekommen,
aufzuräumen mit den Grausamkeiten vergangener Epochen. Aber die Moderne ist
janusköpfig: auf der einen Seite steht die Idee von Fortschritt und Zivilisation,
verbunden mit dem Glauben an die scheinbar ungebrochen friedliche Mission der
abendländischen Kultur. Auf der anderen Seite steht der Rückfall in einen
mittelalterlich anmutenden Fundamentalismus, der sich zugleich modernster
westlicher Waffen und Kommunikationssysteme bedient. Beide Seiten gehören
zusammen. Das zeigen die jüngsten Terrorakte in Paris ebenso wie grausame
Hinrichtungsvideos des sogenannten Islamischen Staates.
Ansage:
Kopf ab! Eine Kulturgeschichte der Enthauptung. Eine Sendung von Hans-Volkmar
Findeisen.
Sprecher:
Die Opfer werden gezwungen, sich nieder zu knien. Sie tragen orangerote Overalls
wie die Häftlinge in Guantanamo. Schnitt. Dann liegen ihre Köpfe am Boden. Seit der
Ermordung des US-Journalisten James Foley im August 2014 stellt die
Terrororganisation Islamischer Staat regelmäßig Enthauptungsvideos ins Netz. Sie
werden millionenfach angeklickt. Auch wer "alles", also auch den Vorgang der
Enthauptung selbst sehen will, wird problemlos im Netz fündig. Das Angebot ist
abendfüllend. Die Oxforder Anthropologin Frances Larsen hat ein Buch über die
Geschichte der Enthauptung geschrieben und darüber, wie eng Entsetzen und
Faszination, Geschichte und Gegenwart zusammen liegen.
OT 01 Frances Larsen:
I think it does tap into something in our own past ... the power of a beheading which
remains whatever the time and date.
Übersetzerin:
Ich denke, diese Enthauptungsvideos werfen auch ein Licht auf unsere eigene
Vergangenheit. Deren Bildprogramm ist uns offenkundig aus unserer eigenen
Geschichte geläufig und was uns so schockiert ist der Umstand, dass heute etwas
geschieht, das wir gerne als überwunden ansehen: "Was die tun ist mittelalterlich
und primitiv, aber wir sind zivilisiert und modern und so was machen wir nicht." Und
doch sind wir als Gaffer mit dabei. Diese Clips spielen ein böses Spiel mit unserem
Gefühl zivilisierte Menschen zu sein. Es geht nicht um die Alternative mittelalterlich
oder modern. Solche eine Enthauptung wirkt als machtvolle Inszenierung über die
Zeiten hinweg.
Das Köpfen, so scheint es, ist Mode geworden. Den Weg ins Theater der
Grausamkeiten findet man einfach. Manche Medien im Westen zeigen die Clips nicht
direkt, aber sie setzen auf ihre Homepages den entsprechenden Link dazu,
angeblich, um ihrer journalistischen Dokumentations- und Sorgfaltspflicht zu
genügen. Michael Kreutz, Islamwissenschaftler an der Universität Münster, will
dieses Spiel nicht mitspielen.
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OT 02 Michael Kreutz:
Ich selber sehe mir die Videos, die diese extreme Gewalt zeigen, nicht an. Und ich
würde auch niemandem empfehlen, das zu tun. Es ist eben so, man darf dieser
Propaganda des so genannten Islamischen Staats auch nicht auf den Leim gehen.
Das ist ja genau das, was sie wollen, diese mediale Inszenierung. Das ist das
eigentlich Neue, weniger die Praxis, als vor allem die Art, wie das dargeboten wird.
Sprecher:
Von den Kopfjägern wie den Kelten oder den Maoris auf Neuseeland bis in die
Gegenwart. Das Enthaupten ist immer Teil der menschlichen Kulturgeschichte
gewesen. Enthauptungen mit dem Fallbeil wurden in der Bundesrepublik erst 1949
abgeschafft, in der DDR sogar erst 1968. Nach Auffassung der Experten gilt das
Enthaupten als vergleichsweise schöner Tod.
OT 03 Frances Larsen:
Scientists still don’t really know … to kill someone when it’s properly conducted.
Übersetzerin:
Was bei einer Enthauptung genau passiert, ist unter Wissenschaftlern umstritten.
Aber die verbreitetste Anschauung ist, dass man schlagartig, im Bruchteil einer
Sekunde oder in einer Sekunde das Bewusstsein verliert aufgrund des hohen
Blutverlusts im Kopf. Das Enthaupten ist einer der schnellsten und effektivsten Wege
jemanden zu töten, vorausgesetzt, es wird richtig ausgeführt.
Sprecher:
Für das moderne Empfinden klingt derlei ungewöhnlich. Aber unter dem Blickwinkel
der Geschichte besehen eher nicht. Die Liste sogenannter "peinlicher Körperstrafen",
etwa in der von Karl V. 1532 eingeführten Constitutio Carolina, ist ebenso lang wie
entsetzlich. Verglichen damit galt das Köpfen auch in den Jahrhunderten davor als
Privileg. Kniend mit dem Schwert enthauptet zu werden, war ein privilegierter
Gnadenakt für diejenigen, die selbst ein Schwert trugen: die Adligen.
OT 04 Frances Larsen:
It was seen as a less … It was quicker.
Übersetzerin:
Das Enthaupten galt als weniger demütigend als an einem Strick zu hängen, war
humaner, schneller.
Sprecher:
Erst nach drei Hieben löste sich Maria Stuarts Kopf vom Körper. Die Guillotine, eine
Erfindung der Französischen Revolution und des anbrechenden Maschinenzeitalters,
arbeitete präziser und schneller. Sie erlaubte es, die von Gott eingesetzten
königlichen Häupter, ihre Lehnsleute und Entourage und damit die gesamte alte
Feudalordnung sozusagen über Nacht zu beseitigen. Ähnlich blutigen Eifer im
Enthaupten zeigte später nur noch Nazideutschland mit rund 10.000 Guillotinierten.
Viele Angehörige des Widerstands, unter anderem etwa Sophie Scholl, wurden kurz
vor Kriegsende in spektakulären Schauprozessen zum Tod durch das Fallbeil
verurteilt. Das Enthaupten ist stets dort angesagt, wo es um die Sicherung von Macht
und Herrschaft geht. Der islamische Orient macht insofern keine Ausnahme.
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Sozusagen von Anfang an. Als sich im Streit um die Nachfolge Mohammeds
Damaskus mit der Dynastie der Omajjaden als stärkste Kraft durchsetzte,
verschanzte sich die Gegenseite unter Mohammeds Enkel Hussein in Kerbela im
heutigen Irak.
OT 05 Michael Kreutz:
Also, was der so genannte islamische Staat macht, das ist, man muss es leider
sagen, nichts Neues. Da gibt es genügend Beispiele in der islamischen Geschichte
für Köpfungen. Das fängt schon in der frühislamischen Geschichte an. Wir haben den
Kampf um die Nachfolge des Propheten. Damals, man sprach noch nicht von Schia,
man sprach von den Anhängern Alis. Nach dessen Tod wurde sein Sohn Hussein
von seinen Anhängern dazu gedrängt, das Kalifat für sich zu beanspruchen, und er
hatte aber einen Widersacher, nämlich Jazid, der schon längst das Kalifat inne hatte.
Jazid verlangte von Hussein die Kapitulation. Er kapitulierte nicht. Kerbela wurde
eingenommen, und Hussein wurde getötet und enthauptet. Sein Kopf wurde dann
nach Damaskus, der Hauptstadt der Omajjaden-Herrscher, gebracht und dort auf
einer Platte oder Schale vorgeführt.
Sprecher:
Ähnlich soll der Kopf Johannes des Täufers Herodes dargebracht worden sein. Die
Geschichte von Salome, die ihre sexuelle Macht über den römischen Statthalter in
Jerusalem ausspielt, ist die eine der beiden klassischen Enthauptungs-Erzählungen
der Bibel. Die andere dreht sich um Judith, die dem assyrischen Feldherrn
Holophernes eigenhändig den Kopf abtrennt. Die Muslime machten da keine
Ausnahme. Wobei man wissen muss, dass die Stämme der arabischen Halbinsel
ihre neue Religion nicht nur mit dem Schwert in der Hand verbreiteten, eine
Vorstellung die modernen Fundamentalisten gefällt. Doch Gewalt war nur dort
gefragt, wo unterschiedliche machtpolitische Interessen mit benachbarten Stämmen
oder Gruppen aufeinander prallten.
Im Übrigen aber baute der frühe Islam ein politisch ausgeklügeltes System von
Bündnissen mit Nicht-Muslimen auf. Mohammeds Clan, der den uralten
Fernhandelsweg von Aden nach Gaza kontrollierte, war mit dem christlichen Byzanz
verbündet, die "Eroberung" der damals ganz überwiegend von Christen bewohnten
Städte in Palästina kurz nach dem Tod des Propheten erfolgte ebenfalls per Vertrag.
Aber Übereinkünfte schließen wie gesagt Gewalt in anderen Fällen nicht aus.
OT 06 Michael Kreutz:
Es gibt im Wesentlichen zwei Verse, die davon sprechen, dass den Gegnern der
Kopf abgetrennt werden soll. Da gibt es Vers 12 der 8. Sure: "Ich werde denjenigen,
die ungläubig sind, Schrecken einjagen, haut ihnen auf den Nacken und schlagt zu
auf jeden Finger von ihnen." Und das wird gemeinhin so verstanden, 'haut ihnen auf
den Nacken‘, dass das mit dem Schwert zu erfolgen habe. Wir haben noch eine
zweite Sure, einen zweiten Vers, nämlich den Vers 4 der 47. Sure: "Wenn Ihr mit den
Ungläubigen zusammentrefft, dann haut ihnen auf den Nacken. Wenn Ihr sie
schließlich vollständig niedergekämpft habt, dann legt sie in Fesseln, um sie
entweder auf dem Gnadenweg oder gegen Lösegeld freizugeben." Das wird auch
gemeinhin so verstanden, dieses 'schlagt ihnen auf den Nacken', dass das eine
militärische Maßnahme ist, die mit dem Schwert erfolgt. Das heißt, man kann
ziemlich deutlich sagen, dass diese beiden Verse davon sprechen, dass der Gegner
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enthauptet werden soll. Es gibt natürlich immer einen gewissen
Interpretationsspielraum. Aber gemeinhin wurde das in der arabisch-islamischen
Geschichte so verstanden.
Sprecher:
Und die Scharia? Wie denken die muslimischen Strafrechtsgelehrten in den
islamischen Rechtsschulen über das Kopfabschlagen? Islamwissenschaftlern sollte
man solche Fragen nicht stellen. "Den" Islam gibt es nicht. Bis in die Gegenwart wird
die islamische Welt von der Macht regionaler Stämme beherrscht. Ein zentralisiertes
Rechtssystem fehlt. Die Zahl der verschiedenen, sich wechselseitig anerkennenden
Rechtsschulen hat sich im Laufe der Geschichte nicht verkleinert, sondern
vergrößert. Und noch immer gilt der Grundsatz, dass im Falle eines
Kapitalverbrechens wie Mord die Schuld durch ein Blutgeld beglichen und das Urteil
annulliert werden kann. Sofern die geschädigte Familie es wünscht.
Der Islamwissenschaftler Michael Kreutz findet, dass die Frage nach "der" Scharia
und "der" islamischen Strafrechtspraxis von falschen, nämlich europäischen
Voraussetzungen ausgeht. Eine einheitliche Antwort gibt es nicht.
OT 07 Michael Kreutz:
Da gibt es unterschiedliche, teilweise einander widersprechende Meinungen. In der
Sunna ist eine gewisse Tendenz da, den Koran, oder eine starke Tendenz sogar,
den Koran eher überzeitlich zu interpretieren. Das heißt, unter sunnitischen
Gelehrten wird man sicherlich viele finden, die diese Koranverse auch in diesem
Sinne verstehen, dass das Köpfen von Widersachern im Krieg erlaubt ist. Aber da
gibt es eben auch andere Ansichten, also innerhalb der Rechtsschulen der Sunna.
Bei den Hanbaliten wird man eher eine Tendenz finden, dass das erlaubt ist, bei
andern eher nicht. In der Schia ist es noch mal ganz anders. Die Schia hat eher die
Neigung dazu zu historisieren. Aber auch das ist wieder ein weites Terrain, weil es ja
keine Zentralinstanz gibt, die das alles festlegen könnte.
Sprecher:
Die Geschichten von Herodes und Salome oder von Judith und Holophernes sind in
der europäischen Kunstgeschichte unzählige Male aufgegriffen und bildlich
dargestellt worden. Die kunstvoll abgetrennten Köpfe der Opfer sahen furchterregend
aus. Doch wie war die Realität? Wurden die Enthauptungen tatsächlich so perfekt
ausgeführt, wie es die Bilder suggerieren?
OT 08 Frances Larsen:
No!! (lacht) They weren’t unfortunately … four even more wielding of the blade to be
killed.
Übersetzerin:
Leider nicht! Besonders in Ländern, wo Enthauptungen nicht so gebräuchlich waren.
Üblich waren Exekutionen, bei denen der Delinquent erst erhängt und dann dem
Toten der Kopf abgeschlagen wurde. Denn jemanden zu enthaupten ist sehr
schwierig. Man braucht dazu Kraft, Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Präzision. Selbst
wenn jemand gefesselt und wehrlos ist, kann das fürchterlich schief gehen, und es
gibt leider jede Menge Berichte von missglückten Enthauptungen, wo es zwei, drei,
vier und noch mehr Streiche bedurfte, um zu töten.
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Sprecher:
Enthauptungen sind großes Theater. In Saudi-Arabien, wo Dutzende Verurteilte
öffentlich hingerichtet werden, kommen Tausende, um dabei zuzusehen. Seit ein
paar Jahren ist dort die Zahl der Enthauptungen merklich gestiegen, so dass die
Regierung sogar schon über das Internet nach jungen Berufsanfängern gesucht hat,
um die blutige Mehrarbeit bewältigen zu können. In Mitteleuropa fand das letzte
öffentliche Hinrichtungsspektakel 1939 in Frankreich statt, schon unter dem Einfluss
der wachsenden politischen Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland. In
Versailles wurde damals ein Deutscher hingerichtet, der Mehrfachmörder Eugen
Weidmann. Ohne Mörder und die Hinrichtungen gäbe es keine Gesellschaft, schrieb
nur wenige Jahrzehnte zuvor der französische Soziologe Emile Durkheim. Der
Glaube, in einer "guten" Gesellschaft, also inmitten der Gemeinschaft der
Anständigen zu leben, schreit danach, das Böse zu markieren und in einem groß
inszenierten Ritual aus der Welt zu schaffen. Die Anthropologin Frances Larsen:
OT 09 Frances Larsen:
Basically executions were meant … of public behavior and law and order.
Übersetzerin:
Ursprünglich waren öffentliche Exekutionen als Abschreckungsmittel für Kriminelle
gedacht. In Wirklichkeit waren sie für viele Leute eine willkommene Abwechslung,
eine Form der Unterhaltung. Die Leute liefen zusammen, um zuzusehen und sich
einen schönen Tag zu machen. Mit der Zeit jedoch realisierten die staatlichen
Autoritäten, dass öffentliche Hinrichtungen den Vorstellungen von öffentlichem
Verhalten und Recht und Ordnung nicht mehr angemessen erschienen.
Sprecher:
Zu oft waren die Tötungsspektakel aus dem Ruder gelaufen und die Zuschauer
unruhig geworden, wenn ausblieb, was sie nach herrschender Lesart erwarten
konnten.
OT 10 Frances Larsen:
And the crowd could be … they thought he wasn’t up to the job.
Übersetzerin:
Und die Leute konnten dabei sehr unnachsichtig sein. Sie erwarteten vom
Scharfrichter eine ordentliche Vorstellung. Das musste klappen. Und wenn er sein
Handwerk nicht verstand, bewarfen sie ihn mit allerhand Gegenständen oder griffen
ihn auch körperlich an.
Sprecher:
Das Plündern des Leichnams gehörte dazu, egal welcher sozialen Schicht man
angehörte. Kaum war der Kopf des Hingerichteten herabgefallen, begann der
Wettlauf auf Blut und Leichenteile. Das ist alte magische Praxis. Zum Sieg über das
Böse gehört auch, sich dessen Macht förmlich einzuverleiben und nutzbar zu
machen. Frances Larsen scheut sich nicht, eine direkte Linie zu ziehen von den
klassischen Kopfjäger-Ethnien in Übersee über die Enthauptungen in Mitteleuropa
bis hin zu den amerikanischen Soldaten in Vietnam, die im Camp die Schädel ihrer
Kriegsgegner als Trophäen ausstellten.
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OT 11 Frances Larsen:
There have always been … that were retrieved from the scaffold.
Übersetzerin:
Tote Körper, besonders solche von jungen, gesunden Menschen, die auf dem
Schafott hingerichtet wurden, übten immer eine spirituelle und magische
Anziehungskraft aus. Dem Blut oder einzelnen Körperteilen, die man auf dem
Richtplatz an sich zu nehmen versuchte, wurden zahlreiche rituelle Bedeutungen
zugemessen.
Sprecher:
An dieser Stelle kommt der Arzt Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus,
ins Spiel. Er war der erste, der bereits im 16. Jahrhundert die Möglichkeit,
abgeschlagene Köpfe zur Heilmittelproduktion zu benutzen, als wissenschaftliche
Frage aufgegriffen und diskutiert hat. In der Arzneimittellehre löste er einen
verborgenen Boom aus. Apotheker rissen sich um Köpfe, um über den natürlichen
Fäulnisprozess Pilzextrakte, vor allem zur Behandlung von Epilepsie, zu gewinnen.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhundert war diese Praxis in Gebrauch.
Die Magie des abgeschlagenen und erbeuteten Hauptes ist auch Thema in der
islamischen Geschichte. Noch einmal zurück zu Hussein, dem Enkel des Propheten,
der in Kerbela enthauptet wurde. Die Geschichte seines Kopfes ist interessant. Bevor
er in Damaskus den Omajjaden sozusagen auf dem Silbertablett präsentiert worden
war, hatten ihn die eigenen Gefolgsleute in Sicherheit zu bringen versucht. Es galt,
dem Gegner keine Sieges-Trophäe in die Hände zu spielen. Das misslang.
Jahrhunderte später tauchte der Kopf Husseins in Ashkalon in Palästina auf und
dann plötzlich in Kairo.
OT 12 Michael Kreutz:
Und zwar haben wir das den Fatimiden zu verdanken. Die Fatimiden waren selber
Heterodoxe, also Anhänger Alis, gehörten der Schia zu, und die wollten den Kopf in
ihren Machtbereich bringen. Und Kairo war ihr Machtzentrum. Und dort wurde der
Kopf eine Zeit lang in einem Schrein ausgestellt und wurde zu einem regelrechten
Anbetungskult. Das ging dann so weit, dass die fatimidischen Behörden sogar den
Zugang zu diesem Schrein einschränken mussten. Heute soll dieser Kopf dort in
einer Moschee sein, die heißt Moschee des Imam Hussein. Aber ob das wirklich sein
Kopf ist, das ist natürlich alles ganz ungewiss und können wir nicht mit letzter
Sicherheit sagen.
Sprecher:
Ob man einen Hingerichteten als besonders abschreckendes Beispiel vorführt oder
ihn umgekehrt als einen Märtyrer verehrt, ist letztlich eine Frage des religiösen und
politischen Standpunkts. Aus dem Kopf des Rebellen Hussein jedenfalls war eine
Reliquie geworden. Er begann, ein vom Körper getrenntes, eigenes Leben zu führen.
So wie etwa die Köpfe der Apostel Petrus und Paulus nicht in den mutmaßlichen
Apostel-Gräbern unter der Peterskirche beziehungsweise unter der Kirche Sankt
Paul vor den Mauern in Rom aufbewahrt werden, sondern im Lateran, also am
Hauptsitz der päpstlichen Macht selbst. Bis ins hohe Mittelalter war es zudem üblich,
aus den Schädeln von Aposteln und Märtyrern zu trinken oder sie zu küssen.
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Der christliche Reliquienkult hat mit dem muslimischen viel zu tun. Die Kreuzfahrer
erbeuteten im Orient – vor allem in Byzanz – Tausende von Heiligenreliquien und
lösten in Mitteleuropa einen wahren Reliquienboom aus. Dieser hat, so die
Fachleute, sowohl christliche wie auch islamische Wurzeln. Die Ankunft der Reliquien
in Europa ersparte den Gläubigen die Pilgerreise ins Heilige Land. Sie sparten sich
damit nicht nur Geld, sondern auch andere mit Reisen in den Orient verbundene
Unannehmlichkeiten.
OT 13 Michael Kreutz:
Die Tradition der Leibesstrafen und dieser grausamen Exekutionsstrafen, die wird
schon früh von westlichen Beobachtern beschrieben. Es gibt einen spanischen
Gelehrten, Ramon Llull, der hat so im 13./14. Jahrhundert gewirkt, der war einer der
Ersten, die sich auch relativ unvoreingenommen mit anderen Religionen wie dem
Judentum und dem Islam befasst haben. Und der hat ein Handbuch verfasst für
christliche Kaufleute, um ihnen zu zeigen, worauf sie achten müssen, wenn sie sich
auf muslimisches Gebiet begeben. Und dazu gehört eben auch die eindringliche
Mahnung, dass jegliche Kritik am Islam zu Gefängnis, Ausweisung oder gar
Exekution führen konnte. Aber das Köpfen gehörte eigentlich nicht dazu. Das Köpfen
war Einheimischen vorbehalten genau wie das Pfählen oder das Ertränken oder das
Steinigen.
Sprecher:
Seit dem Beginn der Aufklärung im 18. Jahrhundert verschwindet aus dem Strafrecht
die Idee vom erzieherischen Nutzen der sichtbaren "peinlichen Abschreckung". Die
Eliten beginnen sich vor den volksfestartigen Aufläufen bei den Hinrichtungen zu
ekeln. Das Strafen und Hinrichten wird mehr und mehr "zivilisiert" und mechanisiert.
Eine Maschine, die Guillotine, übernimmt die schmutzige Arbeit des Tötens, am
besten diskret, kurz und schmerzlos im Morgengrauen auf dem Areal des
Gefängnisses, in dem die Todeskandidaten ihrer Strafe harren.
OT 14 Frances Larsen:
It’s a very gradual shift over … as humanely and efficiently as possible.
Übersetzerin:
Langsam, über ein-, zweihundert Jahre veränderten sich die Empfindsamkeiten der
herrschenden Eliten gegenüber dem, was als angemessenes öffentliches Verhalten
und auch als angemessene Hinrichtungsart für einen Verbrecher galt. In den
Mittelpunkt rückte mehr und mehr das Ziel, jemanden human und effizient zu töten,
während die Methode der Hinrichtung, also Folter, Verstümmelung, öffentliche
Zurschaustellung unwichtig wurde.
Sprecher:
Je mehr zivilisierte Menschen Enthauptungen im Strafrecht verurteilten, desto mehr
wuchs die Gier der gebildeten Eliten nach abgetrennten Köpfen. In Europa und in
den USA entstanden teilweise gigantische Schädelsammlungen mit "post mortem",
also nach dem Tod entfernten Häuptern. Die meist noch unverwesten Köpfe von
westlichen "Genies" wie Mozart, Haydn, Schubert oder Beethoven kamen durch
nächtliche Grabungsaktionen ihrer Bewunderer schnell wieder ans Tageslicht. Das
war strafbar. Doch da die Köpfe meistens von Menschen ohne Lobby stammten,
blühte das Geschäft. Man holte sie aus der Anatomie von Großstadtkrankenhäusern
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oder sie wurden von Händlern, "Völkerkundlern", Missionaren oder Militärs aus
Übersee in den vom Besteller gewünschten Stückzahlen beigebracht.
OT 15 Frances Larsen:
There is an enormous collections … theories behind these collections of skulls.
Übersetzerin:
Wissenschaftler trugen im 19. Jahrhundert riesige Schädelsammlungen zusammen.
Es war das goldene Zeitalter des Schädelsammelns. Der Grund dafür waren ziemlich
komplizierte Theorien, die versuchten die Entwicklung der menschlichen Spezies
oder Rasse und sogar der individuellen Persönlichkeit aus der Form des Schädels
abzuleiten.
Sprecher:
Alles das diente dem "Fortschritt" und dem Beweis, dass die weiße Rasse und
Zivilisation eine Vormachtstellung auf der Welt besitzt. Sogar die Gefühle der
Menschen glaubte man über die Form der Schädel ablesen zu können. Wer die
Daten hat und hinter die Kulissen der menschlichen Entwicklung blickt, so die
einfache Überzeugung, hat die Macht, die Welt zu steuern. Biopolitik nennt die
Wissenschaft derlei heute.
OT 16 Frances Larsen:
There was also a slight width … the data to prove it.
Übersetzerin:
Dahinter steckte auch die Freude, Trophäen zu erbeuten, ein Spiel mit der Macht, die
Welt zu kontrollieren und die Leute zu klassifizieren, der Glaube, dass die
Wissenschaft den Schlüssel zur Erklärung kultureller und physischer Unterschiede
gefunden und mit Daten belegt hätte und dass diese Wissenschaftler entsprechend
in der Lage wären, die Probleme der Welt in den Griff zu bekommen.
Sprecher:
Die Videos des sogenannten Islamischen Staates sind wirkungsvolle Videos. Aber
das filmische Spiel mit der Grausamkeit funktioniert nur, weil es vor dem Hintergrund
von etwas vorgeführt wird, was den Betrachtern aus der eigenen Kultur vertraut ist.
Der Islamwissenschaftler Michael Kreutz:
OT 17 Michael Kreutz:
Der Islamische Staat will natürlich damit wirklich Leute abschrecken. Aber
perverserweise muss man sagen, gibt es eben auch genügend Leute, die sich von
sowas angezogen fühlen. Wir wissen auch von Salafisten in Deutschland, die zum
Teil durch Videos, in denen extreme Gewalt gezeigt wird, regelrecht Blut geleckt
haben. Das heißt, ich gehe davon aus, dass solche Videos, wie sie der Islamische
Staat produziert, eben auch dazu dienen, wirklich Leute auch zu verführen, die einen
abzuschrecken, die andern zu verführen.
Sprecher:
Der Zuschauer ist also selbst ist Mitspieler eines grausamen Spiels. Lange bevor er
das Start-Symbol anklickt und eines der Enthauptungsvideos vor seinem Auge
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abläuft, ist er in die Falle der eigenen Geschichte getappt. Das macht den Umgang
mit den Terrorclips der islamischen Fundamentalisten so schwierig.
OT 19 Frances Larsen:
The reasons why it’s so popular … very terrible new development.
Übersetzerin:
Warum das so populär ist, dafür gibt es viele Gründe. Es ist interessant, wie das
Internet unser Verhältnis zu solchen Ereignissen verändert. Wir können das ganz
privat anschauen, ohne dass je jemand davon wüsste. Und dabei sitzen wir in der
ersten Reihe. Es mutet fast so an, als stünde nichts zwischen uns und dem
Geschehen. Aber dem ist nicht so. Es geschieht in einer anderen Zeit und an einem
anderen Ort. So empfinden wir gleichzeitig Distanz, als hätte das Ereignis nichts mit
uns zu tun. "Kein Problem, wenn ich mir das angucke. Es ist ja bereits passiert, hat ja
gar nichts mit uns zu tun." Und dennoch ist das Zusehen Teil des Ereignisses.
Genau das wollen die Akteure, dass wir zusehen und als Zuschauer mitspielen. Das
macht es so schwierig, damit umzugehen, denn die Leute hier wollen das leider
sehen, selbst dann, wenn es sie bestürzt. Das ist eine neue, fürchterliche
Entwicklung.
Sprecher:
Immer wieder kursieren in den Medien Berichte, wonach ein Teil dieser Terrorclips
wohl Fälschungen sind, Zeugen berichten von "Hingerichteten", die vor der
Aufnahme bereits tot gewesen waren. Aber als Mediennutzer vergisst man eben zu
leicht, dass Dokumentationen nie die Realität eins zu eins abbilden. Immer sind sie
fake, Fälschung, Horror-Hollywood und gesteuert von Interessen. Immer sind sie
verdächtig, besonders dann, wenn nicht nachvollzogen werden kann, wer sie wo und
auf welche Weise produziert und ins Internet geladen hat.
OT 20 Frances Larsen:
It’s almost inevitable ... probably won’t never know.
Übersetzerin:
Werden solche Videos online gestellt, sind Debatten über ihre Authentizität geradezu
unvermeidbar. Denn sie zeigen ja eine extra für die Kamera gestellte und nach einem
Drehbuch aufbereitete Wirklichkeit. Es ist ein choreographiertes Theaterstück, das
uns damit gezeigt wird. Fragen, was in Wirklichkeit passierte, gibt es immer. Was
sich tatsächlich ereignete, wissen wir nicht. Möglich, dass wir es nie erfahren.
Sprecher:
Wir werden es nie wissen. Im Theater der Grausamkeit seinen Platz zu finden, ist gar
nicht so einfach.
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