SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

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SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
Bürgernähe oder Demagogie - Was ist populistisch?
Autor: Stefan Fuchs
Regie: Michael Utz
Redaktion: Jürgen von Esenwein
Sendung: Freitag, 18. April 2008, 8.30 Uhr, SWR2
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch
bestimmt.
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Besetzung:
Sprecherin
Sprecher
Sprecher 2
Ansager
Collage Roland Koch:
„Ob wir in der Schule dazu kommen, dass alle an einem Schulausflug teilnehmen, ob
wir noch einen gemeinsam Sportunterricht in diesem Land haben können, ob wir
Sportvereine bekommen, wo man schon am Namen sehen kann, aus welcher Nation
die Eltern kamen, oder ob wir gemeinsame Sportvereine haben, in denen wir
Gemeinschaft lernen, das alles ist die Aufgabe in der nächsten Zeit.“
Ansager:
„Bürgernähe oder Demagogie - Was ist populistisch?“, eine Sendung von Stefan
Fuchs.
Collage Roland Koch:
„Soll man für Jugendliche den geschlossenen Vollzug, also eine Gefängnisstrafe mit
pädagogischer Begleitung einführen, oder wie die SPD uns geraten hat, regelmäßig
das im offenen Vollzug, nicht unter den Bedingungen einer solchen harten Strafe
machen. Wir haben uns in Hessen dafür entschieden, die klare Linie zu fahren.
Offener Vollzug heißt: Jeder kommt und geht morgens, das ist nicht Gefängnis!“
Sprecherin:
Im hessischen Wahlkampf 2008 setzt der CDU-Politiker Roland Koch auf „Law and
Order“. Einen Überfall Jugendlicher auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn
nimmt er zum Anlass, das Jugendstrafrecht in Frage zu stellen. Wenn es sein muss,
sollen auch Sechzehnjährige hinter Schloss und Riegel.
Sprecher:
Mit Stammtischparolen zu dem, was dort gerne deutsche Leitkultur genannt wird und
zu einer angeblich drohenden Ghettoisierung Deutschlands, versucht Koch, die
Verunsicherung der Menschen, die in den sozialen Brennpunkten der Großstädte
leben, für sich zu nutzen.
Sprecherin:
Doch das Wahlvolk ist unberechenbar. Das sonst so erprobte Mittel, mit inszenierten
Debatten die eigentlichen Ursachen der Probleme zu verschleiern, mit angeblich
einfachen Lösungen aus dem Zylinderhut der politischen Zauberkunst den eklatanten
Mangel an nachhaltigen Strategien zu vertuschen, dieses eine Mal versagt es seinen
Dienst.
Sprecher:
Am Ende steht der Politiker, immerhin Mitglied einer der beiden Volksparteien, in den
Medien und einer breiten Öffentlichkeit als hässlicher Populist da, der zum Erhalt der
eigenen Macht ein eiskaltes Spiel mit den Ängsten und Hoffnungen der Wähler
betrieben hat.
Hugo Chávez, spanisch, dann Übersetzer:
“Compañeros und Compañeras! Unsere Berufung ist es, zu Geburtshelfern der
neuen Zeit zu werden, zu Geburtshelfern einer neuen Epoche. Einer neuen Form der
Zusammenarbeit zwischen den lateinamerikanischen Völkern müssen wir zum Leben
verhelfen, einer Solidarität, die uns Freiheit bringt, Gleichheit, Gerechtigkeit und
Frieden. Und wir allein können das erreichen und viel mehr noch: Wir können den
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Kapitalismus zu Grabe tragen, damit der Sozialismus des 21. Jahrhunderts das Licht
der Welt erblicken kann. Ein neues historisches sozialistisches Projekt, das ist
unsere Berufung.“
Sprecher:
Wenn der venezolanische Präsident Hugo Chávez zu seinen Anhängern spricht,
bemüht er Bilder, die ihnen aus dem Herzen sprechen, die sie kennen und
verstehen: starke, für europäische Ohren kitschig klingende Metaphern von Leben
und Sterben, von Liebe und Kampf fürs Vaterland. Mit Simón Bolívar und San Martin
lässt er die Heldengallerie des lateinamerikanischen Freiheitskampfes Revue
passieren und vergisst niemals die Anspielung auf den großen Widersacher im
Norden, die USA, die diese Freiheit immer wieder bedrohten und deren
gegenwärtigen Präsidenten er mehr als einmal mit dem Satan verglichen hat.
Sprecherin:
Chávez ist der erste Mestize im Präsidentenamt Venezuelas. Mit seinen spanischen,
indianischen und afrikanischen Vorfahren kann mit Fug und Recht seinen
Landsleuten zurufen: „Ich habe etwas von allen von euch“. So wird er zum
charismatischen Führer und zur idealen Projektionsfläche der Hoffnungen einer
breiten Mehrheit.
Sprecher:
Man mag den Erfolg der „Bolivarischen Revolution“ in Venezuela beurteilen, wie man
will, ein demokratisches Defizit kann man ihr nicht vorwerfen. Wie Evo Morales in
Bolivien ist es Chávez gelungen, soziale Schichten ins politische System seines
Landes zu integrieren, die Jahrhunderte lang davon ausgeschlossen waren.
Sprecherin:
Der linke Populismus in Lateinamerika versucht eine Demokratisierung verhärteter
oligarchischer Strukturen aus der Tiefe der Gesellschaft heraus. Er hat die Indios, die
Bauern und Bewohner der Barrios, der Elendsquartiere der großen Städte, ermutigt,
ihre passive Rolle aufzugeben und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Sprecher:
Man kann Chávez und Morales die unzulässige Vereinfachung komplexer
Zusammenhänge, die leichtfertige Emotionalisierung von Interessenkonflikten oder
das Wecken von Hoffnungen auf einfache Lösungen anlasten, doch ohne Strategien
der Ermutigung, ohne das Angebot einer Gegenidentität für die Ausgeschlossenen
ist der in Jahrhunderten der Unterdrückung gewachsene Fatalismus nicht zu
überwinden. Das Beispiel der neuen Linken in Lateinamerika zeigt: Es gibt auch
ernst gemeinte demokratische Erneuerungsbewegungen, die sich eines
populistischen Politikstils bedienen, bedienen müssen.
Sprecherin:
Existiert also so etwas wie ein guter, ein ehrlich demokratischer Populismus, der die
Distanz zwischen Politik und Polis zu reduzieren sucht? Und wenn ja, wie kann er
zuverlässig unterschieden werden vom Falsett, das sich machiavellistisch als
Volkesstimme ausstaffiert?
Sprecher:
Die Verwirrung ist groß, und sie wächst weiter angesichts des inflationären
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Gebrauchs, den das Etikett „populistisch“ gegenwärtig erfährt. Der Politologe
Albrecht von Lucke spricht von einem geradezu populistischen Umgang mit dem
Begriff des Populismus.
Albrecht von Lucke:
„Der Populismusbegriff taugt bestens als Kampfbegriff, die Inflation des Begriffs geht
sicherlich damit einher, dass wir es seit den 90iger Jahren mit einer ganz neuen
Positionierung des althergebrachten Systems von links und rechts zu tun haben,
gewissermaßen die harten alten Feindbegriffe Faschismus, Stalinismus, Sozialismus,
Kommunismus haben sich erledigt und da taugt der Populismusbegriff perfekt als
neuer Kampfbegriff. In der Auseinandersetzung der verschiedenen Strömungen ist
der Populist immer der andere, es ist also immer derjenige, dem gewissermaßen
demokratische Legitimation abgesprochen wird und dem unterstellt wird, er
argumentiert mit populistischen Kategorien gleichsam auch gegen die Demokratie
und gegen das Volk. Das ist die ganze Dialektik, die in diesem Begriff steckt, dass er
einerseits auf das Volk rekurriert, gewissermaßen auch der Bastard der Demokratie
ist, aber auch auf der anderen Seite gleichsam ihm von seinen Gegnern unterstellt
wird, er operiere gegen das Volk und gegen die Demokratie, gegen den
Rechtsstaat.“
Sprecher:
Gerade das Fehlen einer ausgefeilten Ideologie wird dem Populismus regelmäßig
von seinen Kritikern angekreidet. Ein Vorwurf, der hellhörig machen muss in Zeiten,
da die etablierten Parteien auf allen Seiten des politischen Spektrums unablässig
ihren angeblich unvoreingenommenen Pragmatismus in den Vordergrund stellen.
Sprecherin:
Vorsicht ist sicher geboten, wenn man sich dem Phänomen Populismus kritisch
nähern will. Der Weg führt durch vermintes Gelände; ideologische Nebel wabern
allenthalben.
Sprecher:
Wie so oft in der Politik ist nichts wirklich so, wie es auf den ersten Blick scheint. Der
Populismus der einen ist die Demokratie der anderen und umgekehrt. Genauer
betrachtet erweist er sich als eine Art Vexierbild, dessen Linien hin und her pendeln,
je nach dem, aus welcher gesellschaftlichen, historischen und wohl auch
geographischen Position man ihn betrachtet.
Atmo: „Globalization“.
Sprecher 2:
Erster Wechsel der Perspektive: das postpolitische Szenario.
Frank Böckelmann:
„Der politische Spielraum des Wahlbürgers schrumpft ein auf eine einzige
Alternative. Er hat immer nur jeweils, - das ist in allen westlichen Ländern so -, die
Wahl zwischen zwei Parteiblöcken, und dieser Duopol, diese populistische
Alternative hat natürlich eine entscheidende strukturelle Bedeutung. Während die
eine Gruppe sich verschleißt an der Regierung, wird die andere dadurch automatisch
wieder aufgefrischt, auch wenn sie nicht viel zu bieten hat, auch wenn ihre
Programmatik nur in unwesentlichen Dingen differiert, durch dieses Spiel, die eine
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Seite wird belastet, dann kommt die andere wieder dran. Diese Schaukämpfe mögen
heftig durchgeführt werden, aber je heftiger diese Schaukämpfe sind, desto mehr
gerät aus dem Blick, dass alle Vorwürfe, mit denen sich die beiden Seite beharken,
dass sie die gleiche gemeinsame Voraussetzung haben, nämlich diesen großen
Konsens, dass wir also die Wettbewerbsfähigkeit steigern müssen, all diese Logik.
Die Leute werden mitgerissen, werden eingebunden in diese heftigen
Auseinandersetzungen und in dieser Heftigkeit wird vermittelt, das was alternativlos
zu sein scheint.“
Sprecherin:
Der Medienwissenschaftler Frank Böckelmann beschreibt das postpolitische
Szenario, das die repräsentativen westlichen Demokratien zu Beginn des 21.
Jahrhunderts auszuhöhlen droht. In der politischen Mitte ist ein Gedränge
entstanden, wie zu Zeiten der Rushhour in der U-Bahn. Alle wollen „Mitte“ sein
beziehungsweise dort stehen. Es scheint sich so etwas zu entwickeln wie ein
virtuelles Einparteiensystem nach US-amerikanischem Vorbild.
Sprecher:
Auch das kann man sicher als Erscheinungsform von Populismus bezeichnen.
Einem Populismus allerdings, der sich deutlich vom Beifall der internationalen
Finanz- und Aktienmärkte abhängig macht.
Sprecherin:
Die postpolitisch gewandelten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien
Europas jedenfalls haben sich allesamt auf den sogenannten „Dritten Weg“ begeben
und der wird beherrscht durch die neoliberale Einheitslogik. Wie in der
Produktwerbung sonst auch müssen nun ausgefeilte PR-Strategien versuchen, die
grundlegende Uniformität der konkurrierenden Polit-Produkte zu verschleiern.
Frank Böckelmann:
„Hintergrund dieser Entwicklung ist es, dass die großen Parteien es immer mehr
vermeiden, sich zu polarisieren und über sogenannte Schicksalsfragen einen
heftigen Streit zu beginnen, vor dem Hintergrund der Globalisierung müssen dem
Wahlvolk Einschnitte zugemutet werden, das ist jedenfalls die gemeinsame
Überzeugung der Parteien, die zur Wahl stehen, und natürlich - das ist verständlich –
scheut es jeder Parteiblock vorzupreschen mit solchen unpopulären Forderungen,
weil er dann möglicherweise allein dasteht und die Gegenseite sich als Volksanwalt
aufspielen könnte. Insofern haben die Parteien ein gemeinsames Interesse daran,
sich zunächst einmal vorabzustimmen, einen Konsens zu finden, so entstehen
Elitenetzwerke, Elitenetzwerke aus den Spitzen der Parteien, der Konzerne und
ausgewiesener berufsmäßiger Politikberater.“
Sprecherin:
Was den einen als Schreckensbild einer entkernten Demokratie erscheinen muss,
gilt vielen inzwischen geradezu als Gütesiegel der „good governance“.
Sprecher:
Sozialwissenschaftler wie Anthony Giddens übernehmen die Thesen ihres Kollegen
Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“, vom angeblich definitiven Exitus der
Ideologien. Danach seien die archaischen Zeiten vorbei, in denen in der Politik noch
Interessenkonflikte unterschiedlicher sozialer Gruppen ausgetragen wurden. Die
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Epoche der „befriedeten Demokratie“ sei angebrochen. Politik sei ein Relikt von
gestern, der „good governance“, der effizienten Verwaltung gehöre die Zukunft.
Sprecherin:
Aus der Nähe betrachtet ist das allerdings wenig mehr als die technokratische
Neuauflage des Traums von der klassenlosen Gesellschaft, ironischerweise dieses
Mal aus der rechten Ecke der Gesellschaft, ein neoliberaler Selbstbetrug, der davon
ausgeht, dass Marktwirtschaft, Bürger- und Menschenrechte völlig ausreichen für die
Verwirklichung von Demokratie und dass es einer ökonomischen Vertiefung, wie sie
der Sozialstaat versucht, gar nicht bedarf.
Albert Scharenberg:
„Ich würde denken, dass dieses Ende des wohlfahrtsstaatlichen Ausgleichs, der
Abbau von sozialstaatlicher Regulation, die ja nichts weiter ist, als die notwendigen
Folgekosten der kapitalistischen Vergesellschaftung abzufedern, dass die
Aufkündigung dieses so genannten fordistischen Modells eine sehr große Bedeutung
besitzt für das Aufkommen populistischer Politikmuster.“
Sprecher:
Der Historiker und Politologe Albert Scharenberg beschreibt die fatale
Zangenbewegung, der die Menschen in den westlichen Demokratien durch das
postpolitische Szenario ausgesetzt sind. Während ihnen materiell und psychisch alle
Lasten und Nebenwirkungen des globalen Effizienzwettbewerbs zugemutet werden,
schrumpfen ihre demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten schneller als die
Gletscher unter dem Einfluss der Klimakatastrophe.
Albert Scharenberg:
„Ich will nur ein Beispiel nennen: die schwindende Rolle der nationalstaatlichen
Parlamente. Einerseits im Rahmen der Europäischen Union, wo auf
zwischenstaatlicher Ebene Vereinbarungen getroffen werden im Sinne der
Expertokratie, wo also von oben in Absprache der nationalstaatlichen Regierungen
Politik beschlossen wird, die dann in den nationalstaatlichen Parlamenten oft gar
nicht mehr im eigentlichen Sinne diskutiert oder verhandelt werden, sondern die - ich
benutze mal dieses Wort: „durchzustimmen“ - sind. Das gilt auch im Hinblick auf die
internationalen Regime in ökonomischer Hinsicht, also wenn beispielsweise die
Welthandelskommission zu Übereinkünften kommt, dann ist es für einen
Nationalstaat oder sein Parlament kaum noch möglich, da im Nachhinein
Verbesserungen anzumahnen oder gar durchzusetzen, so dass die sehr wichtige
zentrale Rolle der Parlamente durch den Prozess der Globalisierung auf diese Weise
untergraben wird.“
Sprecherin:
Was unter dem enormen Druck dieses politischen Konformismus an Widerstand
dann doch noch irgendwie aus den Tiefen der Gesellschaft zum Vorschein kommt,
trägt in den meisten Fällen die zerquetschten, verdrehten und nicht selten
aggressiven Züge der Paranoia. Da fällt es den Akteuren des politischen
Mainstreams leicht, diese Auffassungen und gesellschaftlichen Theorien als bloße
Protestbewegung abzutun, der man jede Politikfähigkeit absprechen kann.
Sprecher:
Und doch ist auch der garstige Schmuddel-Populismus von rechts, der auf Migranten
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einprügelt, weil er die repressiven Strukturen der globalisierten Welt nicht verstehen
kann, ein Symptom für die postpolitische Kastration der westlichen Demokratien.
Sprecherin:
Wilde Verschwörungstheorien, an den Haaren herbeigezogene Sündenböcke,
pseudopopulistische Hysteriewellen, sie alle bilden den dialektischen Rückschlag der
postmodern stillgestellten Demokratien. Die Psychoanalyse lehrt, dass das
Verdrängte meist als Fratze zurückkehrt.
Atmo: „Globalization“.
Sprecher 2: Zweiter Wechsel der Perspektive: der lange Traum von der
Unmittelbarkeit des Politischen.
Albrecht Scharenberg:
„Der Begriff des Populismus geht zurück auf eine Bewegung amerikanischer Farmer
aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die dann auch eine eigene Partei
gründete, die „People’s“ oder „Populist Party“. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war
es so, dass die amerikanische Regierung, um den Bürgerkrieg zu finanzieren, die
Notenpresse ankurbelte und fast eine halbe Milliarde US-Dollar als Papiergeld in die
Zirkulation brachte. Dadurch stieg die Inflation. Auf der einen Seite war es so, dass
die meist sehr hoch verschuldeten Farmer dieses Papiergeld verteidigten, da sie mit
einer Inflation ihre Schuldenprobleme lösen konnten, auf der anderen Seite forderten
die Banken eine Rückkehr zum Goldstandard. Dieser Ursprung im späten 19.
Jahrhundert zeigt, dass der Populismus eine Bewegung von unten gewesen ist, die
auf das „empowerment“ der einfachen Bürgerinnen und Bürger setzte, dass diese
Bürgerinnen und Bürger selbst Architekten ihres Lebens sein wollten und auch ihre
lokalen Gemeinschaften selbst gestalten wollten. Fast die einzige gesellschaftliche
Organisation im übrigen auch, in der weiße und schwarze Farmer zusammenarbeiteten, so dass man hieran auch erkennen kann, dass es nicht notwendig so ist, dass
eine populistische Bewegung rassistische Ausgrenzungsmechanismen auflegen
würde, sondern ganz im Gegenteil, wenn man sie versteht als eine Bewegung von
unten gegen die Folgekosten in diesem Falle der Industrialisierung der
Landwirtschaft, dann kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis.“
Sprecherin:
Albert Scharenberg betont die für den amerikanischen Puritanismus typische
Sehnsucht nach der Selbstbestimmung im politischen Nahraum der ländlichen
Community als Kennzeichen dieser Urform des US-Populismus im 19. Jahrhundert.
Ein Motiv das sich auch bei den russischen „Narodniki“ findet, die zwischen 1850 und
1880 gegen den zaristischen Absolutismus kämpften und einen großen Einfluss auf
die Entwicklung des russischen Anarchismus hatten.
Sprecher:
Dieser Traum von der Unmittelbarkeit der Beziehungen in der Gemeinschaft
einfacher und ehrlicher Menschen erscheint im historischen Populismus immer von
anonymen Mächten bedroht.
Albrecht Scharenberg:
„Das Grundanliegen der Populisten ist, dass die Spaltung der Gesellschaft verläuft
zwischen dem Volk auf der einen Seite, also all denjenigen, die für ihren Unterhalt
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hart arbeiten, ob sie Bauern sind, Arbeiter, kleine Kaufleute, und den Interessen
einer kleinen, aber sehr mächtigen Klasse von Privilegierten, die durch Spekulation
und Kapitalkonzentration zu schnellem Reichtum gekommen sind. Dieses Motiv, auf
der einen Seite der neue Geldadel und auf der anderen Seite das einfache Volk, ist
wahrscheinlich die zentrale Achse aller populistischen Ideologien.“
Atmo: Soundbite „Globalization“.
Sprecher 2: Dritter Wechsel der Perspektive - die schreckliche Vereinfachung.
Frank Böckelmann:
„Unter der Dominanz der neoliberalen Doktrin werden immer mehr Bevölkerungsgruppen überflüssig. Strenggenommen sind wir natürlich alle überflüssig. Wir sind
überflüssig, insofern wir unverwechselbare Bindungen haben, unverwechselbare
Wünsche haben. Gefragt sind heute vor allem die verwechselbaren Eigenschaften:
die Rollenflexibilität, die unbegrenzte Konsumptionsfähigkeit, die Mobilität. Alle
Rollen, die auf Beschränkungen und Festlegungen beruhen, also der Herkunft, des
Territoriums, des Geschlechts, der psychischen Disposition werden potentiell zu
Hemmnissen. Wir werden atomisiert, aber sind gar nicht in der Lage, isoliert zu
leben. Wir werden also immer irgendwelche Sinnbezüge herbeiholen, und so ist auch
das Problem der politischen Radikalisierung zu betrachten, man sollte die Tendenz,
Protest zu wählen, wie man so schön sagt, nach rechts oder nach links, nicht von
vornherein diskriminieren. Die tägliche Erfahrung des Überflüssigseins nötigt zum
sofortigen Zugriff auf Sinnangebote.“
Sprecherin:
Frank Böckelmann macht die permanente Überforderung der Menschen durch den
westlichen Individualismus auch für die unübersehbare Wiederbelebung der
Religionen in Europa verantwortlich. Richtet man den Blick auf die globale Ebene, so
stehen sich weltweit gegenwärtig zwei Typen populistischer Vereinfachungen
diametral gegenüber. Beide stellen grob verzerrte Reaktionen auf die
Folgeerscheinungen der ökonomisch verkürzten Globalisierung dar. Der zum „Krieg
der Kulturen“ stilisierte Konflikt in den Beziehungen zwischen Nord und Süd trägt in
beiden Lagern unübersehbar die Züge populistischer Identitätsstiftungen, im Sinne
eines „Wir gegen die Anderen“.
Sprecher:
Der solipsistisch zugespitzten Individualisierung der Globalisierungsgewinner, die
von der Fiktion eines aus all seinen Bindungen herausgelösten radikal vereinsamten
Individuums ausgeht, stehen jene Redkonstruktionsversuche gegenüber, mit denen
die Verlierer lange aufgelöste gesellschaftliche und geschichtliche Einbettungen
notdürftig zu reparieren suchen. Beide Sichtweisen bleiben völlig abstrakt, aber
zwischen beiden entwickelt sich eine fatale Dialektik. Der Soziologe Detlev Claussen
erkennt darin die Symptome einer gescheiterten westlichen Moderne.
Detlev Claussen:
„Individualisierung bedeutet eigentlich die Entsubstanzialisierung der Individuen, die
Individuen werden nur unter dem Gesichtspunkt des Selbsterhaltungsprinzips
betrachtet und dieses Selbsterhaltungsprinzip ist völlig abstrakt, ist entsolidarisierend. Überall an allen Ecken und Enden der Gesellschaft sind das Auflösungserscheinungen, im Notfalle ist doch jeder sich selbst der Nächste, und dann wird ganz
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abstrakt irgendwie eingeführt, wir brauchen wieder Patriotismus, irgendwelche
kollektiven Geschichten, denen man vorher aber im gesellschaftlichen Prozess die
Substanz entzogen hat. Und dann werden die kollektiven Geschichten um so
aggressiver, bissiger, weil sie so inhaltsleer sind.“
Sprecherin:
Ganz sicher sind es nicht allein die berühmt-berüchtigten Stammtische, an denen
populistische Vereinfachungen in die Welt gesetzt werden. Die Menschen denken
und empfinden nicht so, wie Populisten aller Lager sich das vorstellen. Mit dem, was
er Alltagsreligion nennt, versucht der Adorno-Schüler Claussen dem Lebensgefühl
der Menschen nachzuspüren, bevor es durch den Fleischwolf der professionellen
Sinnstifter in Medien, Politik und Wissenschaft gedreht wurde.
Detlev Claussen:
„Alltagsreligion antwortet auf die Fragen: Wer bin ich, wo kommen wir her und
witzigerweise: Wer ist schuld? Man muss irgendwie Schuldige benennen können
auch für die gesellschaftspolitische Misere. Wer bin ich, ist gar nicht so einfach zu
beantworten. Wo kommen wir her, ist auch ganz schwierig zu beantworten, weil man
sich über das „wir“ erst einmal klar werden muss, wer gehört denn überhaupt dazu
zu dem „Wir“? Spreche ich da von meiner Familie? Leute, die die Wir-Form nur in
ihrer Familie begreifen können, die reflektieren ja durchaus ein Stück Realität, das
heißt eben der Zersetzung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, dass eigentlich
nur noch die Familie vorstellbar bleibt. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, dass ganz
normale Menschen, sich Gedanken machen über die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Aber das, was angeboten wird und das ist auch ein Stück Medienkritik, ist eigentlich,
dass sie diese Alltagsbedürfnisse nach Erklärung, dass sie die eigentlich nur
ausbeuten.“
Sprecherin:
Die Selbststilisierung des Westens als Vorbild für die globalisierte Welt ist eines
dieser Ready-Made, dieser Sinnstiftungen aus der Retorte, mit denen die legitimen
Bedürfnisse der Menschen nach Orientierung in der postmodernen Unsicherheit
nicht befriedigt, sondern lediglich stillgestellt werden.
Sprecher:
Wer populistischen Bewegungen unzulässige Vereinfachung vorwirft und dagegen
Max Webers Diktum von der Politik als dem langsamen Bohren von harten Brettern
ins Feld führt, muss diese atemberaubende Eindimensionalität des neoliberal
geprägten Menschen- und Weltbilds, aus dem sich die allgegenwärtigen
Sachzwänge herleiten, aus den Augen verloren haben. Der angeblich so aufgeklärte
Westen hat seine Hausaufgaben nicht wirklich gemacht. Die Aufklärung ist
Stückwerk geblieben.
Detlev Claussen:
„Der Kern der Dynamik der missglückten Säkularisierung ist in der westlichen Welt zu
suchen. Und das ist ein Riesenproblem, und da fehlt die Selbstreflexion darauf,
besonders wo es jetzt zur Konfrontation der westlichen Werte mit der restlichen Welt
kommt, das Verleugnen eigentlich, dass die Säkularisierung eine Realität ist, eine
gesellschaftliche Realität und nicht irgendwie ein Programm von Atheisten. Und
darauf muss man reagieren, sich überlegen, was ist das eigentlich? Was hat sich
hier entwickelt? Was sind auch die Verluste in diesem Prozess? Und kann man
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etwas tatsächlich machen, nämlich Traditionen neu begründen? Es fehlt die
Selbstreflexion auf das Missglücken der Säkularisierung. Die politischen Parteien
sind dazu nicht mehr in der Lage, weil die politischen Parteien entweder Elitenpolitik
machen oder Populismus machen. Dazwischen schwanken sie, und die größten
Könner sind die, die das miteinander vereinen können.“
Atmo: Soundbite „Globalization“.
Sprecher 2: Vierter Wechsel der Perspektive: das Laboratorium der Demokratie.
Ekkehard Krippendorff:
„In den 80er Jahren wie zum Beispiel die Grünen geworden sind, was sie sind. So
haben sie angefangen als eine im positiven Sinne populistische Partei, die gesagt
haben, es passiert doch hier etwas mit dieser Umwelt, das können wir doch nicht
einfach laufen lassen, wir müssen das thematisieren. Und die Geschichte der
Grünen ist dann eine paradigmatische Geschichte, diese Forderungen, wenn sie
dann ernsthaft werden, merkt man, dass das politische Geschäft kolossal schwierig
ist, dann knicken sie oftmals wieder ein und lassen ihre Forderungen von gestern
hinter sich und machen eine andere, eine realistischere Politik und öffnen dann
wieder Tor und Tür für neue Formen von populistischen Strategien.“
Sprecherin:
Für den Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff sind populistische Bewegungen
- soweit sie spontan entstehen und nicht aus den Retorten der Kulturindustrie
stammen - untrennbar mit dem inneren Erneuerungsprozess der Demokratie
verbunden. Nur so kann das bis in die Tiefenstruktur der gesellschaftlichen Realität
reichende „Lernsystem Demokratie“ seismographisch die permanenten Erschütterungen abbilden.
Sprecher:
Tatsächlich haben alle etablierten Parteien einen populistischen Ursprung. Der
bürgerliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts gebärdete sich einst volkstümelnd
nationalistisch. Im katholischen Zentrum wetterten Volksredner gegen das
protestantische Establishment. Die Selbstermächtigungsrhetorik der frühen
Sozialdemokraten und ihre heute religiös wirkenden Erlösungsversprechen standen
dem Populismus der zeitgenössischen lateinamerikanischen Linken in nichts nach. In
ihrer Entstehungszeit vor gut 20 Jahren waren auch die heute so umworbenen
Grünen selbstredend populistisch.
Sprecherin:
Was heute Zivilgesellschaft genannt wird, das Netzwerk aus Bürgerinitiativen und
Nicht-Regierungsorganisationen, wäre ohne populistische Inszenierungen und
Identifikationsangebote kaum lebensfähig. Es ist eine unverzichtbare Funktion der
politischen Newcomer, die etablierte Ordnung immer wieder durch radikale, bisweilen
auch utopische Forderungen in Frage zu stellen. Nur dadurch kann der notwendige
Ausgleich zwischen Entscheidungsfähigkeit des politischen Systems und
permanenter Revolution lebendig mit Leben erfüllt werden. Die zum Autismus, zur
Abschottung neigenden Machteliten tendieren allerdings dazu, gerade das immer
wieder zu vergessen.
Ekkehard Krippendorf:
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„Ich würde das, was man der Linkspartei vorwirft als Populismus, gar nicht
bezeichnen in diesem negativen Sinne, sondern in der Tat als ein Versuch, das zu
artikulieren, was nötig ist, artikuliert zu werden: gesellschaftliche Ungleichheiten,
Ungerechtigkeiten in dieser Gesellschaft. Eine andere Frage ist natürlich dann die
der Umsetzung und wie das gemacht wird, was daraus politisch konkret folgt. Und da
in der Tat ist dann die Frage, wer zahlt dann die Rechnung am Ende, eine legitime
Frage. Nur die andere Seite, die die Populisten diskreditieren wollen, beantwortet
diese Frage selber nicht, wie die Forderungen, die als gerecht akzeptiert werden im
Prinzip, wie die politisch und ökonomisch einzulösen sind.“
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