Jantschnig_Verfahrensgerechtigkeit

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Jantschnig, Albert
Verfahrensgerechtigkeit
SPRECHERIN
Die heutige Rechtsphilosophie denkt weniger über inhaltliche Aspekte der Gerechtigkeit
nach, sondern mehr über Wege zu ihrer tatsächlichen Verwirklichung. Deshalb versucht
sie, ausgeklügelte Verfahrensregeln zu entwickeln, die allein schon, sozusagen
automatisch, ein gerechtes Ergebnis versprechen.
SPRECHER
Ein einfaches Beispiel für eine solche Verfahrensgerechtigkeit können wir bei jedem
Kindergeburtstag praktizieren.
SPRECHERIN
Wenn zwei Kinder ein Stück Kuchen gerecht untereinander aufteilen sollen, empfiehlt
sich folgende Verfahrensregel: Das eine Kind schneidet auf, und das zweite darf sich
zuerst ein Stück aussuchen. – Man kann davon ausgehen, dass das erste Kind sich unter
diesen Voraussetzungen alle Mühe geben wird, zwei gleich große Stücke zu schneiden.
Denn es muss ja befürchten, dass andernfalls das andere Kind sich das größere Stück
nimmt, es selber also nur noch das kleinere bekommt. Das Kind wird also gerecht
handeln, ohne dass es dazu moralischer Vorhaltungen bedarf.
SPRECHER
Ähnlich, wenn es um einen ganzen Kuchen und mehrere Stücke geht. Hier darf sich
derjenige, der aufschneidet, erst das letzte Stück nehmen. Auch dieses Verfahren
gewährleistet in der Regel, dass der Kuchen in gleich große Stücke geschnitten und
dadurch Gerechtigkeit hergestellt wird.
SPRECHERIN
Dies ist der Grundgedanke einer Verfahrensgerechtigkeit. Sie versucht, ohne moralische
Appelle, etwa an Genügsamkeit, Selbstlosigkeit oder Nächstenliebe, auszukommen und
den Menschen gewissermaßen so zu nehmen, wie er ist, mit all seinen Eigeninteressen.
Dennoch soll, allein durch die Anwendung der richtigen Verfahrensregeln, am Ende
Gerechtigkeit herrschen.
SPRECHER
Zwei Modelle haben diesbezüglich in den letzten Jahren von sich reden gemacht. Das
eine ist die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness, die von dem Amerikaner John Rawls
entwickelt wurde; das andere die Diskursethik des deutschen Philosophen Jürgen
Habermas.
SPRECHERIN
Der Schlüsselgedanke bei John Rawls ist der so genannte “Schleier des Nichtwissens“. In
seinem philosophischen Bestseller Eine Theorie der Gerechtigkeit konstruiert Rawls eine
Situation, in der die Menschen die Grundgesetze ihrer Gesellschaft festlegen, ohne zu
wissen, in welcher Weise sie selber künftig von diesen Regeln betroffen sein werden: ob
als Reiche, Arme, Gesunde, Kranke, Ausländer, Topmanager oder Arbeitslose. Durch
dieses Verfahren werden alle in die gleiche Lage versetzt, und niemand gerät in
Versuchung, sich Gesetze auszudenken, die ihn besonders bevorzugen. Deshalb kann
man davon ausgehen, dass die Vorschriften, die auf diese Weise zustande kommen, fair
und gerecht sind.
SPRECHER
Diese ursprüngliche Situation ist nur ein Gedankenexperiment, mit dem sich aber die
Gerechtigkeit jedes Gesetzes testen lässt.
SPRECHERIN
Man kann sich zum Beispiel fragen, wie Politiker unter dem Schleier des Nichtwissens
über Mindestlöhne, Arbeitslosengeld, Gesundheitskosten oder Zuwanderung entscheiden
würden. - So wie bisher? Oder anders? Rawls zufolge, auf jeden Fall fair. Es könnte
schließlich sein, dass sich der eine oder andere anschließend als Asylbewerber
wiederfindet.
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Jantschnig, Albert
SPRECHER
Noch ein gutes Stück konkreter ist das Verfahren, das Jürgen Habermas in seiner
Diskursethik vorschlägt.
SPRECHERIN
Habermas denkt nicht an eine fiktive ursprüngliche Situation, sondern an real
stattfindende Diskussionen, in denen die jeweils Betroffenen über Regeln ihres
Zusammenlebens selber entscheiden. Dies soll für alle Ebenen in Staat und Gesellschaft
gelten, von der UNO bis zur eigenen Familie und entsprechend auch für alle Themen, von
den Menschenrechten bis zur Frage, wer wann den Abwasch übernimmt.
SPRECHER
Wann immer also etwas zu regeln ist, sollen die Betroffenen oder deren Vertreter sich
zum Diskurs zusammensetzen. Dafür gibt Habermas Verfahrensregeln vor, die
sicherstellen sollen, dass die Diskurse konstruktiv und fair verlaufen.
SPRECHERIN
Etwa, dass alle Betroffenen persönlich anwesend oder vertreten sein müssen. Weiterhin,
dass jeder frei sprechen darf, aber auch die Argumente des anderen ernst nehmen muss;
dass jeder nur das behaupten darf, was er tatsächlich glaubt, und dass kein Sprecher
sich selber widersprechen darf. Nur der “zwanglose Zwang des besseren Arguments“, so
Habermas, soll im Diskurs gelten.
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Habermas weiß, dass er hier eine ideale Diskurssituation beschreibt, die in der Realität
zumeist nicht vollkommen verwirklicht werden kann. Wenn dies so ist, soll der fehlende
Bestandteil in Gedanken ergänzt werden, um der idealen Situation so nahe wie möglich
zu kommen.
SPRECHERIN
Am Ende soll jedenfalls eine Lösung stehen, der alle Teilnehmer aus freien Stücken
zustimmen können. Ein solcher einstimmiger Konsens macht die betreffende Regel
gerecht.
Also nicht höhere allgemeine Prinzipien entscheiden bei Habermas über Gerechtigkeit
oder Ungerechtigkeit, sondern der konkrete Konsens der jeweils Betroffenen. Gerecht ist
das, worauf sich die Beteiligten einigen.
SPRECHER
Die Verfahrensgerechtigkeit kommt möglicherweise zur rechten Zeit. Sie scheint
besonders gut geeignet, die aktuellen globalen Herausforderungen an Recht und
Gerechtigkeit zu bewältigen, weil sie auf moralische Ansprüche verzichtet, die meist
kulturspezifisch sind und in anderen Regionen der Welt nicht anerkannt werden. Der
Schleier des Nichtwissens hingegen kann überall wehen, und der Gerechtigkeitsdiskurs
lässt sich auch auf Arabisch führen.
SPRECHERIN
Gerade die Herausforderungen der Globalisierung, aber auch neue Stichworte wie
Generationengerechtigkeit oder Nachhaltigkeit sorgen dafür, dass das Nachdenken über
Gerechtigkeit nicht aufhört. Die Voraussetzungen für ein solches Nachdenken sind
übrigens gut. Denn zumindest eins ist auf der Welt offenbar absolut gerecht verteilt.
Das ist der Verstand, wie der französische Philosoph René Descartes feststellte.
Denn noch nie hat sich jemand beschwert, er hätte zu wenig davon abbekommen.
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