Alltagsdeutsch (46/04) 16.11.2004 "Sprachvariationen" Bunt wie das

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Alltagsdeutsch (46/04) 16.11.2004 "Sprachvariationen"
Bunt wie das Alltagsleben ist auch das gesprochene Deutsch
Sprachvariationen und Sprachstile
Sprecher 1: (entrüstet)
Moment mal, einen Moment bitte! So geht es aber nicht! Das ist schließlich eine
Sendung über die deutsche Sprache, und ich verstehe absolut nichts!
Sprecherin:
Immer die Ruhe bewahren, schön cool bleiben. Stimmt schon, die "Bläck Föös"
singen zwar in rheinischer Mundart, die geht aber immer noch als Deutsch durch.
Sprecher 1:
Und? Wer sitzt da beim Schwätzchen zusammen?
Sprecherin:
Die Fraulückcher, Hochdeutsch: die Frauen. Da hättest du auch selbst drauf
kommen können, das Wort Frau steckt doch drin. Die sitzen beim Schwätzchen
zusammen, das heißt sie unterhalten sich.
Sprecher 1:
Aber dieses andere Lied: Der Sänger wechselt ja ständig zwischen Englisch und
Deutsch. "Wir sind die Coolsten, wenn wir cruisen", was soll das denn heißen?
Sprecherin:
"Wenn wir durch die City düsen". Rap. So nennt man den Sprechgesang im Hip
Hop. Das ist eine Musikrichtung aus den USA, New York, um genau zu sein. Ist
inzwischen aber auch in Deutschland sehr populär. Es gibt viele deutsche Rapper,
die echt kreativ sind. So rhythmisch zu reimen, ist nämlich eine Kunst. Cruisen
ist ein eingedeutschtes Wort aus dem Englischen und bedeutet ursprünglich
"fahren", "herumfahren". Man cruist, wenn man mit dem Auto ohne Ziel
herumfährt. Sehen und gesehen werden, darum geht‘s.
Sprecher 2:
Switchen nennt man in der Sprachwissenschaft den Wechsel von einer Sprache in
die andere. Vom Deutschen ins Englische, wie es Jugendliche häufig tun, so wie in
dem Song die jungen Rapper. Türkische Mitbürger wechseln innerhalb eines Satzes
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schon mal vom Deutschen ins Türkische. Aber auch die Bayern, Rheinländer oder
Sachsen zum Beispiel von der Hochsprache in den Dialekt.
Sprecher 1:
Ich bin der Ansicht: Dies ist nicht als korrektes Deutsch zu bezeichnen.
Sprecher 2:
Auch wenn wir nur eine Sprache sprechen, so können wir doch zwischen
verschiedenen Stilen oder "Sprachen" wechseln. Das nennt man Sprachvariation.
Man passt seine Sprache den Erfordernissen der jeweiligen Situation an. Meist ist
uns das gar nicht bewusst.
Doch haben wir alle im Leben verschiedene "Sprachen" erlernt. So genannter
Fachsprachen bedienen wir uns im Beruf oder im Hobby.
Sprecher 1:
Korrekt. Ich bin Jäger, ich kann das bestätigen. Wissen Sie, was ich meine, wenn
ich von der Blume des Hasen spreche? Höchstwahrscheinlich nicht: Wir Jäger
nennen den Schwanz des Hasen Blume.
Sprecherin:
Wahres Expertentum, und welche Metaphorik!
Sprecher 2:
Im Alltag spielen wir verschiedene Rollen und passen uns unterschiedlichen
Situationen an. Vergegenwärtigen wir uns nur einmal den Tagesablauf eines
Verwaltungsangestellten. Wenn er morgens aufwacht, redet er ganz informell mit
seiner Frau und den Kindern. Er nuschelt "Gun morgn, Mausilein" und flucht
"Verdammt noch mal, kannst du denn nicht aufpassen!", wenn der Jüngste den
Kakaobecher umwirft.
Sprecher 1:
Ich beginne zu verstehen. Wenn er ins Amt kommt, nennt er seine Kollegin
natürlich nicht Mausilein, sondern beim Namen. Er wird sich auch bemühen,
"Einen wunderschönen guten Morgen allerseits" höflich und gut gelaunt durch den
Flur schallen zu lassen. Wenn der Chef ihn bittet, die Verwaltungsvorlage doch bis
zum Mittag fertig zu stellen, ...
Sprecherin:
... denkt er "Mist, alter Sklaventreiber, das wird knapp", sagt aber, "Natürlich, Herr
Vollmer. Ich hätte da lediglich zur Auslegung von Paragraph 7a, Absatz 2 noch eine
Frage zu klären. Es könnte also vielleicht auch Nachmittag werden." Zauberhafter
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Konjunktiv, wenn wir den nicht hätten! Nach der Arbeit geht er noch kurz in die
Kneipe, ein Bierchen trinken, "Hallo Jung, wie is et?" fragt er seinen Kumpel und
diskutiert leidenschaftlich mit ihm über die Bundesliga.
Sprecher 2:
Halten wir fest: Je nach Kommunikations-Situation und Aufgabe steht uns
ein großes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Das zeigt
sich nicht nur in unserer Aussprache, ob wir zum Beispiel Endungen verschlucken
oder salopp, je nach Region, "nee" oder "nö" statt "nein" sagen. Vor allem hat es
Folgen für unseren Wortschatz. Unsere Wortwahl wiederum beeinflusst ganz
verschiedene Sprachstile. Sitzen wir in einer lockeren Runde mit Freunden
zusammen, bestimmen flotte Sprüche, originelle Vergleiche, Ironie und spontane
Wortneuschöpfungen unsere Unterhaltung. Ein Pedant dagegen moralisiert, spricht
im übertragenen Sinne ständig mit dem erhobenen Zeigefinger und stellt eine
hierarchische Beziehung zu seinem Gegenüber her.
Sprecherin:
Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Regel ohne Ausnahme zu befolgen
ist!
Sprecher 2:
Behörden- und Rechtssprache bemüht sich um Sachlichkeit. Viele Hauptwörter,
mitunter wahre Wortungetüme, der häufige Gebrauch des Passivs und Infinitivs,
die Aussagen in verschachtelte Sätze verpackt, stolpert diese Sprache dann
allerdings hölzern daher.
Sprecherin:
Kann auch Heiterkeit auslösen: "Abweichend von Paragraph 2 werden bei
Schafböcken, die in einem Kreuzungszuchtprogramm als Väter von Endprodukten
verwendet werden sollen, die Zuchtwertteile Fleischleistung und Zuchtleistung
einheitlich für alle Kreuzungszuchtböcke des Kreuzungszuchtprogramms
festgestellt." Das stammt aus einer Verordnung der Europäischen
Unionsbürokratie. Furchtbar so ein Nominalstil, der taucht oft da auf, wo es
offiziell wird. Zum Glück spricht kaum jemand so, außer Politiker und Juristen
vielleicht.
Sprecher 1:
Ohne Präzision geht es eben nicht!
Sprecher 2:
Die Sprache der Literatur und Dichtung ist, im Gegensatz zur starren,
unbeholfenen "Amtssprache", bildhaft und voller gedanklicher Assoziationen.
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Sprecherin:
Farben, Metaphern, Rhythmus. Lebendig halt! Und trotzdem präzise!
Sprecher 2:
Wie sehr unsere Wortwahl unseren Stil beeinflusst, verdeutlichen auch Synonyme.
Zum Beispiel sagen wir in der Alltagssprache schnörkellos, "Frau Maier ist dick".
Die Verkäuferin drückt sich da schon gepflegter aus und empfiehlt das passende
Kostüm für die "füllige" oder "starke" Dame. In der Gassensprache ist Frau Maier
grob gesagt einfach nur "fett".
Sprecher 1:
Ich bitte hier von Beleidigungen abzusehen! Das ist nicht mein Niveau!
Sprecher 2:
Natürlich gehen nicht alle Menschen gleich sorgfältig und gewandt mit der Sprache
um. Unser Wortschatz und unsere Sprachfähigkeit hängen eng mit sozialer
Herkunft, Erziehung und gesellschaftlicher Stellung zusammen. Der
Sprachforscher Basil Bernstein hat Sprache und Lebensweise der Unterschicht und
der Mittel- beziehungsweise Oberschicht untersucht und festgestellt, wie sie sich
unterscheiden. In Familien der oberen Schichten diskutieren Eltern und Kinder,
erklären, rechtfertigen sich und sprechen über ihre Gedanken und Gefühle. Hier
lernen die Kinder den so genannten "elaborierten Code", ein facettenreiches
Spektrum sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. In der Unterschicht machen die
Familienmitglieder kaum große Worte, lange Diskussionen sind eher unüblich.
Sprecherin:
Aufräumen! Aber plötzlich!
Sprecher 2:
Bernstein spricht vom "restringierten Code", man könnte auch sagen von
eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten.
"Sehn Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer so’en Charakter, so’ne Struktur. Aber
mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie; mit der Natur das ist so was, wie soll ich
doch sagen...".
In der Literatur haben Schriftsteller häufig die sozial bedingte Ausdrucksweise zur
Charakterisierung ihrer Protagonisten gewählt, wie zum Beispiel Georg Büchner in
"Woyzeck". Wir unterscheiden also nicht nur zwischen Dialekten, sondern
auch zwischen Soziolekten.
Sprecherin:
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Mein Onkel Klaus ist so’n Fliesenleger, den könnte ich mal anhauen, der lässt
bestimmt ´ne Fliese rüberwandern. Und dann gehn wir ´n Käffchen trinken.
Sprecher 1:
Ich verstehe die Wörter, aber nicht ihren Sinn.
Sprecher 2:
Genau so soll es sein. Die Abgrenzung gegenüber den Erwachsenen, das
Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe, ist vor allem Jugendlichen ganz wichtig. Doch
ob Mundart, Fach- oder Jugendsprache: Sie dient dazu, sich sozial zu positionieren
und schafft ein Identitätsgefühl. Dabei gibt auch hier die Wortwahl häufig den
Ausschlag. Zum Beispiel bekommen Worte eine neue Bedeutung.
Die Fliese, sprich die Kachel, mutiert in der Jugendsprache zum Geldschein, der
Fliesenleger zur finanzkräftigen Person, zum reichen Bonzen, aber auch zum
Betrüger in Gelddingen.
Sprecherin:
Du hast ´ne echt flinke Floppy!
Sprecher 2:
Häufig machen Jugendliche auch Anleihen aus Jargons, wie dem Computerjargon.
Floppy, das Diskettenlaufwerk, wird so zum Synonym für Kopf und Gehirn, die
flinke Floppy zum klugen Kopf. Wer dagegen nichts versteht oder kapiert, hat
einen Getriebeschaden - der Mechanikerjargon lässt grüßen.
Sprecherin:
Die Grenzen unserer Sprache sollen die Grenzen unserer Welt sein? Wie sieht dann
die Sprache einer global und medial geprägten Gesellschaft aus, in der sich Grenzen
verwischen, verblassen, sich auflösen? Und wie sieht die Sprache einer Generation
aus, die sich nicht mehr durch nationale Identität, sondern durch global
verbindliche Stile, Szenen, Moden und Marken definiert? Welche Mode jemand
trägt, welche Musik er hört oder welche Wörter er benutzt, ist weniger personenals situationsabhängig. Smart zu sein heißt, anpassungsfähig, flexibel, kreativ,
offen und schnell agieren zu können. Entsprechend reagiert die Sprache. Wer vor
dem Computer sitzt, ist ein User. Wer auf der Party ein User ist, konsumiert
Drogen.
Sprecher 2:
Das schreiben Dirk Nitschke und Peter Wippermann in ihrem Vorwort zum
"Wörterbuch der Szenesprachen".
Sprecher 1:
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Es scheint mir, als gäbe es da im sprachlichen Untergrund noch eine
Geheimsprache, die von einer eingeschworenen Gemeinschaft gesprochen wird.
Sehr kryptisch.
Sprecher 2:
Wie sehr Sprache im Fluss ist, unterschiedliche Strömungen aufnimmt, sich
Lebensstilen oder auch Moden anpasst, zeigt sich deutlich in den so genannten
Szenesprachen der 90er: Fun- und Streetsport, Musik und Mode, Internet und
Cyberspace bereichern das Deutsche um Neuschöpfungen oder verleiben sich
Wörter aus dem Englischen ein. Sie beschleunigen die Sprache und beeinflussen auf
diese Weise den Sprachwandel. Denn der hängt eng mit Sprachvariation und
gesellschaftlichen Einflüssen zusammen.
Im Lauf der Jahre verändert sich natürlich nicht nur unser Wortschatz, wenn wir
zum Beispiel Begriffe aus der informellen Sprache in die Standardsprache
aufnehmen. Auch der Satzbau kann sich ändern.
Sprecherin:
Ich fahre erst morgen nach Hamburg, weil ich bekomme heute Abend noch Besuch
von Ingrid.
Sprecher 1:
Eine grauenvolle grammatikalische Unkorrektheit!
Sprecher 2:
Die Konjunktion "weil" gibt den Grund für ein Geschehen an und leitet einen
Nebensatz ein. In der gesprochenen Sprache, der Umgangssprache, hat sich nun
aber eingebürgert, die so genannte Verbklammer zu missachten, sprich, das Verb
wandert in diesem Fall nicht mehr ans Satzende.
Sprecher 1:
Das hören Sie doch sogar bei Nachrichtensprechern im Fernsehen!
Sprecher 2: (leicht ungeduldig)
Halten wir fest: Sprache wandelt sich.
Sprecherin:
Frodo, du bist sooooooooooooooooooo lieb! knuddelumarmküsschengeb. ich kann
mich nicht einloggen, da kommt immer eine meldung mit server error. grrrrrrrr! ich
find das soooooo gemein!
Sprecher 1:
Wer ist Frodo?
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Sprecher 2:
Ob sich hinter dem Pseudonym ein junger Mann oder ein 12-jähriges Mädchen
verbirgt, mag die Online-Gemeinschaft wissen, die regelmäßig mit "Frodo" chattet,
sprich im Internet kommuniziert. Der Chat, zu Deutsch, die Unterhaltung, sowie
der Austausch in so genannten Newsgroups oder den Gästebüchern von OnlineForen haben einen Sprachgebrauch irgendwo zwischen Schriftlichkeit und
Mündlichkeit entstehen lassen. "Du bist sooooooooooo lieb" schreibt man wie man es
spricht, mit beliebig lang gedehntem Vokal. Man gibt sich ein Pseudonym,
knuddelt sich virtuell – "umarm" – und tauscht sich über bestimmte
Interessensgebiete aus. Das Geflecht persönlicher Beziehungen im Internet
hat eine eigenständige Form der Sprachvariation hervorgebracht, deren
Entstehungsprozess noch längst nicht abgeschlossen ist. Spontane lautmalerische
Äußerungen von Emotionen wie zum Beispiel "grrrrrrrrr!", aus Comics bestens
bekannt, gehören genau so dazu wie Emoticons: Zeichen aus Strich- und
Punktkombinationen. Sie drücken Emotionen aus oder ersetzen die Mimik im
Gespräch. Man freut sich zum Beispiel oder zeigt seine Zuneigung mit dem Zeichen
für "lächeln". Mit einem "Augenzwinkern" wird klar: Achtung, die Aussage ist
ironisch gemeint, nicht so ernst nehmen!
Akronyme, Abkürzungen von Wörtern, die zu einem neuen Wort verschmelzen,
tauchen ebenso häufig auf. BRB heißt es dann zum Beispiel, be right back.
Sprecher 1:
Bin gleich wieder da, das haben wir auch früher schon gesagt. Auf Deutsch
allerdings, aber das scheint ja aus der Mode gekommen zu sein. Ansonsten kann ich
nur sagen: "grrrrrrrrr!"? Wer will denn auf diese Weise kommunizieren? So würde
ich ja noch nicht einmal mit meinem Hund sprechen. Nennen Sie es
Sprachvariation, ich nenne es Verfall der Sprachkultur. Am Ende erfindet jeder
noch seine eigene Version des Deutschen. Und diese ständigen Eindeutschungen
aus dem Englischen erst! Usen, voten, cruisen. Wenn es nach mir gegangen wäre,
hätte ich hier viel lieber etwas über guten Stil erfahren. Auf wiederhören!
Sprecher 2:
Nun, auch wenn ‚der gute Stil‘ heute nicht unser Schwerpunkt ist, zum Abschluss
noch ein passendes Zitat von Schopenhauer dazu:
"Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge".
Sprecherin:
Kann man es besser auf den Punkt bringen?
Sprecher 1:
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Ich brauche Bedenkzeit. Gewöhnliche Worte? Ungewöhnliche Dinge???
Gisela Schinawa
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