RE: MUSIKJOURNALISMUS … ZU STEFAN DREES’ VORSTELLUNG EINER STREITKULTUR | HEFT # 6_2013 von Hannes Seidl In unserer November-Ausgabe 2013 veröffentlichten wir im Rahmen unseres Thementeils zu ästhetischen Debatten einen Text von Stefan Drees, der sich unter dem Titel «Musikjournalismus als Propagandamaschine» mit Tendenzen gegenwärtiger Musikkritik auseinandersetzt. Wir drucken eine Replik des Komponisten Hannes Seidl, Mitglied der Künstlervereinigung stock11, dessen Schaffen regelmäßig im Kontext einer «Diesseitigkeits»-Strömung rezipiert wird. Sein neues Werk «Mehr als die Hälfte» für Orchester und Elektronik hat am 8. Februar im Rahmen von Eclat in Stuttgart Premiere. ■ Man weiß freilich nicht, wo ansetzen mit einer Kritik – so wirr und krude, nach allen möglichen Seiten austeilend und voller Verschwörungstheorien ist der Text «Musikjournalismus als Propagandamaschine», den Stefan Drees in der jüngsten Ausgabe dieser Zeitschrift veröffentlichen durfte.1 Man könnte ihn also im Grunde auch als Entgleisung beruhigt unbeachtet lassen, schriebe Stefan Drees nicht bereits zum wiederholten Mal derart diskreditierend, dass man zumindest fragen könnte, was die Gründe hierfür sind.2 Anlass für Drees’ Artikel ist ein Vortrag des Musikwissenschaftlers Michael Rebhahn, in dem dieser u. a. eine Aufspaltung der bisherigen Szene der Neuen Musik in «Zeitgenössische Klassik» und «Neue Musik» vorschlägt.3 Kernpunkt von Drees’ Kritik an diesem Text ist der Vorwurf der Propaganda – später zieht er den Begriff der Werbung vor. Der Grund, warum genau Drees diesen Text als propagandistisch empfindet, wird von ihm nicht erklärt, vielmehr scheint der bloße Vorschlag Rebhahns, das (ökonomische) Subsystem Neue Musik in einen konservatorischen und einen innovativen Bereich zu unterteilen, bereits Grund genug zu sein, den Text zu disqualifizieren. Anstelle von Belegen für seine Behauptung allerdings unterstellt Drees schlicht, Michael Rebhahn würde «mit einer Reihe von Scheinargumenten»4 einen Großteil der zeitgenössischen Komponistenszene aus dem Diskurs ausschließen wollen. Dies tue er, um «die Zugehörigkeit zum überschaubaren Kreis der Personen, welche die Deu- 72 tungshoheit über die Komponistenschar übernommen haben»,5 zu erhalten. Einige jener Komponisten, die Rebhahn Drees’ Meinung nach «ausschließen» möchte, werden gleich zu Beginn des Texts von Drees genannt und umarmt: «Liebe Leserinnen und Leser: Schätzen Sie Musik von Komponistinnen und Komponisten wie Jörg Birkenkötter, Sven-Ingo Koch, Isabel Mundry, Rebecca Saunders, Johannes Schöllhorn oder Daniel Smutny? Dann gehören Sie leider zu jenem Teil der Hörerschaft, der sich um das Neue herumdrückt».6 Dass bzw. ob diese Musik zu schätzen sei, wird von Rebhahn weder bestritten noch überhaupt angesprochen, vielmehr wird anhand von Collagen versucht, eine Art typischen Sound zeitgenössischer Musik vorzustellen, dem die Stücke jener Komponistinnen und Komponisten durchaus entsprechen, was natürlich wenig schmeichelhaft für die Stücke ist, aber dennoch eher auf ein in der Szene allgemein verbreitetes Problem hinweist denn auf die Qualität einzelner Arbeiten. Die dualistische Wenn-Dann-Logik des ersten Satzes von Drees’ Text, der scheinbar auf Rebhahns Text rekurriert (auch hier wieder ohne Beleg), erweist sich als eines von vielen rhetorischen Mitteln, die in Drees’ Text zur Anwendung kommen – und jener Trickkiste der Propaganda entstammen, der angeblich Rebhahn sich bereits bediente. Bereits wenige Zeilen später werden jene Komponistinnen und Komponisten, deren Musik Rebhahn für seinem Vortrag collagiert hat, von Drees kurzerhand zu «Andersdenkende[n]»7 stilisiert, vor die er sich schützend stellt – ja stellen muss.8 Reb- hahns Vorschlag der Ausdifferenzierung einer Szene, die bloß noch aus ökonomischen Gründen eine solche ist, wird von Drees kurzerhand sinnentstellt und zu einem Angriff gegen Minderheiten umgedeutet, denen jeglicher Diskurs verweigert wird. Im weiteren Verlauf des Texts baut Drees nach und nach ein Bedrohungsszenario auf, in dem Rebhahn nicht nur etwas «zur Geschmacksbildung» beitragen möchte, sondern auch «uns» sagt, «was ästhetisch relevant ist und was nicht».9 Nach und nach werden auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Zeitschrift Positionen zu Mittätern einer Verschwörung, deren Angriff nur ein Ziel hat: Werbung. Rebhahns Text, geschrieben mit der «fragwürdigen Strategie [... der] Vorspiegelung eines faktenbasierten Wissens»,10 sei lediglich dazu da, Propaganda respektive Werbung für ein «Produkt» zu machen. Offenbar handelt es sich dabei um ein «Produkt», dessen Labels bei Stefan Drees heftiges Unwohlsein auslösen: Neuer Konzeptualismus, Diesseitigkeit oder Welthaltigkeit lauten die Schlagworte, von denen zumindest schon jene Diesseitigkeit von ihm angegriffen wurde.11 Aber ganz unabhängig davon, dass diese Termini nur schwer unter einen Hut zu bringen sind, bleibt die Frage offen, ob sie tatsächlich nur dem reinen Marketing geschuldet oder künstlerische Strömungen zu benennen in der Lage sind. Drees stellt sich diese Frage nicht – ihm geht es von vornherein um das Aufdecken einer Ungeheuerlichkeit: der Installation einer «Weltbildkontrolle»,12 die von einer Verschwörung aus Entscheidungsträgern des öffent- FEEDBACK lich-rechtlichen Rundfunks, der Zeitschrift Positionen, Gisela Nauck, Michael Rebhahn und weiteren ebenso willigen wie «uninformierten»13 Mittätern eingefädelt wird. Spätestens hier wird deutlich, dass Stefan Drees nicht nur das Verhältnis Rebhahngegen-die-Etablierten in Rebhahn-gegendie-Andersdenkenden umkehren will, sondern vielmehr auch seine eigene Position preisgibt, indem er, propagandistisch schreibend, seinen Gegnern Propaganda vorwirft. Die Methoden, die er Michael Rebhahn und anderen vorwirft, wendet er nicht nur selbst an, sie werden auch noch gesteigert durch die bei Verschwörungstheoretikern bewährte Methode der Angstmache vor dem Anderen – in diesem Fall vor einem «elitären» Kreis Einzelner, die nichts weniger als die «Deutungshoheit»14 zeitgenössischer Musik bzw. eben jene «Weltbildkontrolle» anstreben. Den Text «Musikjournalismus als Propagandamaschine» in seiner ganzen Länge detailliert zu kritisieren, wäre mühsam und wenig ergiebig. Der Autor mäandert noch eine Weile in der beschriebenen Art weiter und schlägt dabei wild um sich. Immerhin gibt es den vollkommen richtigen Hinweis, sich bei der Analyse zeitgenössischer Stücke nicht ausschließlich auf die Selbstaussagen der Komponistinnen und Komponisten zu verlassen bzw. diese grundsätzlich in Frage zu stellen;15 eine Feststellung, der ich mich nur anschließen kann. Diese leider sehr gängige Praxis – nicht nur als Zugang zum zeitgenössischen Schaffen, sondern zu einem Großteil aller Musik, zu der KomponistInnen sich selbst geäußert haben – moniert Drees dann aber ausgerechnet am Beispiel des Erstlingstexts einer Studentin.16 Er verweilt noch kurz (warum?) bei der Feststellung, dass die Neue Musik ohnehin kaum jemand höre, was den Aufwand einer «Weltbildkontrolle» letztlich recht unsinnig mache.Weiterhin vermutet er bei Rebhahn, Nauck und anderen «Nicht-Andersdenkenden» eine «Pressesprecher-Mentalität»17 und landet schließlich bei der Feststellung, dass dieser neue (Schein-)Diskurs so «ergebnislos» bleiben werde «wie einst der Diskurs der Darmstädter Avantgarde».18 Dieser Gedanke lässt doch noch einmal kurz aufhorchen, denn ergebnislos sind die Darmstädter Diskurse von einst keineswegs gewesen. Womöglich sind sie bloß – der Gedanke drängt sich auf – nicht im Sinne des Autors verlaufen, haben möglicherweise die aus seiner Sicht «falschen» Personen und Ideen gefördert oder – schlimmer noch – andere schlichtweg links liegen gelassen. Vielleicht ist dies Stefan Drees’ eigentlicher Kritikpunkt an der derzeitigen Debatte: dass diese zum einen ohne ihn stattfindet, zum anderen, dass das öffentliche Interesse sich derzeit auf eine vergleichsweise kleine Gruppe von Künstlern und Publizisten zu konzentrieren scheint, während andere plötzlich kaum noch Beachtung finden. Was, um an dieser Stelle ein Gedankenspiel zuzulassen, wenn der Text genau das Gegenteil von dem beabsichtigt, was behauptet wird? Was, wenn es nicht darum geht, eine «Weltbildkontrolle» zu verhindern oder diese anzuprangern, sondern umgekehrt gerade jene «Kontrollinstanzen» zu verteidigen, die längst existieren und gegenwärtig mehr und mehr ihrer Deutungshoheit beraubt werden? Was, wenn bestimmte Rahmenbedingungen zeitgenössischer Musikproduktion, die bislang unhinterfragt gültig waren, nun auf den Prüfstand kommen und somit die Positionen derjenigen ins Wanken geraten, die ihre Macht auf eben diese Bedingungen gestützt haben? Was – so lässt sich weiter spekulieren –, wenn Drees sich auf die Seite jener schlägt, die bisher mit dem Apparat gut zu Rande kamen und keine Notwendigkeit sahen, ihre saturierten Positionen in Frage zu stellen? Der Schluss seines kurzen Texts stützt diese Überlegung. Drees wendet sich abermals direkt an die «Leserinnen und Leser» und appelliert an die «Vielfalt als grunddemokratische Eigenschaft»,19 innerhalb derer sämtliche Musikrichtungen nebeneinander bestehen sollten und deren einziger Feind, die «ästhetische Gleichschaltung», gleich mit ihrem politischen Pendant, dem «Totalitarismus» (sic!), gleichgesetzt wird.20 Auch hier wird in mittlerweile gewohntem Dualismus unlauter das eine mit dem andern kurzgeschlossen. Vor allem aber wird – neben der Pluralität – eine der wichtigsten Eigenschaften der Demokratie unterschlagen: der Streit. Pluralität ohne Streit wäre nicht nur ein utopisches Biotop; die Aberkennung der Möglichkeit des – verbalen – Dissenses bedeutete auch, die gegebenen Strukturen nicht weiter zu hinterfragen, sondern schweigend hinzunehmen. Da, wo von Seiten des Establishments gefordert wird, die «Vielfalt» zu achten, mithin nichts auszuschließen, ist Vorsicht geboten. Gerade Stefan Drees erscheint nicht nur durch die Verbalattacken im hier besprochenen Text, sondern auch durch die ein- ■ gangs erwähnte Kolumne sowie einigermaßen bemühte Seitenhiebe in einer jüngst erschienenen CD-Besprechung21 als extrem unglaubwürdiger Vertreter jener Position, die doch vor allem sanftmütig für die Vielfalt eintritt. Er wirkt vielmehr wie ein gekränkter Liebhaber, dessen Angebetete sich langsam, ohne dass er es bemerkte, von ihm abgewandt hat und sich nun für andere interessiert. Die Position des vom Neue-Musik-Diskurs Verschmähten würde auch die unterschiedlichen Entwicklungsstadien seiner Rhetorik erklären, das geliebte Objekt – die Neue Musik – zunächst als die Schützenswerte darzustellen (und sich selbst als Retter), dann wieder als sich selbst Überschätzende (die seine Liebe gar nicht verdient hat) und schließlich heroisch als Ewige und viel zu Kluge, als dass die kurzfristigen Verlockungen der Diesseitigkeit ihr etwas anhaben könnten. Nun, in diesem Fall: I wanna be your lover, Neue Musik! ■ 1 Stefan Drees: «Musikjournalismus als Propagandamaschine. Momentaufnahmen zum gegenwärtigen Reden und Schreiben über Musik aus Sicht eines kommentierenden Beobachters», in: Neue Zeitschrift für Musik 6/2013, S. 25-27. 2 siehe Stefan Drees: «Diesseitigkeit im Abseits. Eine Kolumne», in: Seiltanz 6 (2013), S. 51-53. In diesem ebenso schlecht recherchierten wie diffamierenden Text taucht unter anderem folgende Passage auf, die viel über das Klassendenken von Stefan Drees aussagt: «[...] dass sich die Komponisten nun endlich dazu aufraffen, ihre künstlerische Arbeit in den gesellschaftlichen Alltag hineinzutragen, dass sie ihrem Schaffen Welthaltigkeit verleihen und die sumpfigen Gräben der Expertenkultur überwinden wollen, um nach entsprechenden Veranstaltungen mit Hartz-IV-Empfängern über Foucault, Barthes, Derrida und vielleicht auch Adorno zu diskutieren» (S. 51). 3 Michael Rebhahn: «No Problem! Approaches towards an artistic New Music», Lecture am Music Department der Harvard University, 13. April 2013, Transkript online unter http://hgnm.org/wordpress/wpcontent/uploads/2013/05/R ebhahn-Lecture-Harvard.pdf (letzter Zugriff 26. Nov. 2013) 4 Drees: «Musikjournalismus», a. a. O., S. 25. 5 ebd. 6 ebd. – Die Nennung jener Komponisten bezieht sich auf eine Collage aus deren Werken, die Bestandteil von Rebhahns Lecture ist. Vgl. Rebhahn: «No Problem», a. a. O. 7 ebd. 8 Angesichts der Tatsache, dass sämtliche dieser Komponisten im Betrieb zeitgenössischer Musikaufführung etabliert und präsent sind und zudem vier von ihnen eine Professur innehaben, bleibt fraglich, ob sie Drees’ schützender Hand wirklich bedürfen oder ob sie nicht vielmehr selbst diskursführend sind. 9 Drees: «Musikjournalismus», a. a. O., S. 25. 10 ebd. 11 vgl. ebd., S. 25f. 12 ebd., S. 26. 13 ebd. 14 ebd. 15 ebd. 16 vgl. Fußnote 21 in: Drees: «Musikjournalismus», a. a. O., S. 27. 17 ebd., S. 27. 18 ebd. 19 ebd. 20 vgl. ebd. 21 vgl. die Rezension von Sergej Newskis CD Alles, in: Neue Zeitschrift für Musik 6/2013, S. 87. 73