Werterziehung im Geographieunterricht - Schulbuchzentrum

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B e w e rt u n g s ko mp e t e n z
P h i lo s o p h i e | g r u n d l a g e n V o l k e r Ladenthin*
Werterziehung im
Geographieunterricht
* unter Mitarbeit von Annette Coen und Karl W. Hoffmann
E
nde des19. Jahrhunderts entdeckt die Moral­
philosophie das Wort Wert bzw. Werten (Hügli
2004a, Sp. 556–558). Es entsteht eine sogenannte
­„Wertphilosophie“, die den Formalismus der Kan­
tischen Ethik überwinden will: Die Forderung,
so zu ­handeln, „dass die Maxime deines Willens jederzeit zu­
gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könnte“, hat ja erst dann Bedeutung, wenn man entscheidet,
was für die Menschheit „allgemein“ sinnvoll sein kann, was
die menschlichen Lebensbedingungen (Conditio Humana) in­
haltlich sind.
Normen und Werte
Wie kann man den Bau des Drei-Schluchten-Staudammes am Jangtsekiang bewerten? Die Bewohner des Dorfes Lianfeng mussten ihre Häuser verlassen und wohnen
jetzt in neuen Wohnblöcken. Mit dem Wasser des Flusses Jangtsekiang erzeugt China
dringend benötigten Strom.
Foto: picture alliance/dpa/Shaver
Ein Thema wie der „Drei-Schluchten-Staudamm“ macht evident, dass Geographieunterricht immer Wertvorstellungen thematisiert, selbst transportiert und bei den
Schülern evoziert – denn es geht bei einem
Staudamm um Energie- und Wassergewinnung, aber auch um Landschaftsschutz und
den Erhalt traditioneller Lebenssituationen.
Normen sind generelle Handlungsanweisungen für alle Be­
fugten oder verantwortlichen Personen in einer vergleich­
baren Situation: „Mach das Licht aus, wenn du den Raum
verlässt!“, „Schalte das Standby ab!“ Werte hingegen sind mög­
liche Bezugspunkte für Normen: Sparsamkeit, Energie.
In der Alltagswelt fällt auf: Über Werte sind sich unter­
schiedliche Interessengruppen sehr schnell einig: Wer ist
schon gegen Sparsamkeit? Aber über die Handlungsnormen
besteht selten Einigkeit: Welche Maßnahme (Norm) dient bes­
ser dem Wert Umweltschutz: Vorschriften des Staates („Sonn­
tagsfahrverbot“) oder indirekte Steuerung über ehrliche Kos­
tenrechnungen (z. B. beim Benzin)?
Es ist zudem zu erkennen, dass Normen nicht aus Wer­
ten abzuleiten sind. Es gibt unterschiedliche Handlungsvor­
schriften („Normen“), die sich völlig zu Recht auf den gleichen
Wert beziehen: Dem Wert „Energieversorgung“ wird sowohl
durch die Norm „Baut mehr Staudämme!“ als auch durch die
Norm „Baut mehr Kohlekraftwerke!“ entsprochen. Es gibt also
kein stringentes Ableitungsverhältnis, wonach aus einem
(durchaus akzeptierten) Wert auch zwingend eine einzige
Handlungsvorschrift folgen würde.
Werte muss man erkennen
Werte drängen sich nicht einfach auf; man kann sie weder
anfassen noch sehen. Werte kann man nur „erkennen“ oder
man kann etwas mit einem Wert „belegen“. Was ist aber ein
Wert? Ein Wert ist eine Sache oder eine Handlung, die erst
angesichts eines gesetzten Kriteriums als bedeutsam beur­
teilt wird. ­Diese Werte haften den Dingen oder Handlungen
nicht an; vielmehr werden Dinge oder Handlungen angesichts
von Bewertungsmaßstäben erst zu einem Wert. Wasser kann
einen Wert bekommen – wenn es der Bewässerung oder der
Stromgewinnung dient. Es ist wertlos oder es zerstört Werte,
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wenn es zu Überschwemmungen führt. Erst das Urteil ange­
sichts eines Kriteriums („Nutzen für den Menschen“) verleiht
dem Wasser einen Wert. Dieser Grundsatz gilt auch für Hand­
lungen: Solidarität etwa kann beim Fußballspiel oder der
Durchsetzung von Interessen einen Wert haben, aber wenn
eine politische Führungsgruppe untereinander so „solida­
risch“ ist, dass Kritik verhindert wird, ist diese Solidarität we­
nig „wert“; ja, man bekämpft sie als Cliquenherrschaft.
Kriterium für Wertentscheidungen
Ohne eine Antwort auf die Frage zu haben, was denn gute
menschliche Lebensbedingungen sind, kann man auch Fra­
gen wie die nach dem Bau eines Staudamms nicht beantwor­
ten. Für den Unterricht heißt dies: Wenn man nicht darüber
spricht, was denn gute menschliche Lebensbedingungen sind,
kann man auch nicht einen geographisch zu beschreibenden
Sachverhalt bewerten. Die Thematisierung von Werten im­
pliziert also immer die grundsätzliche Frage danach, wie die
Menschen leben sollten, damit sie menschlich leben können.
Hilfreich ist hier eine zentrale Unterscheidung, die man
bei William Frankena (1975) ausgeführt findet. Er unterschei­
det „moralische“ von „außermoralischen“ Werten. Die mora­
lischen Werte beziehen sich auf den sittlichen Gesichtspunkt.
All die Dinge, Einstellungen oder Handlungen sind moralisch
relevant, die die Würde des Menschen beachten. Außermora­
lische Werte hingegen werden am Kriterium des guten Lebens
gemessen, also eines Lebens, das dem Menschen zukommen
soll. Sie beziehen sich auf die „Conditio Humana“. Die Geogra­
phie ist die Wissenschaft von den räumlichen und sozialen
Bedingungen der Conditio Humana. Bildung im Geographie­
unterricht kann also nicht einfach „Werte vermitteln“, son­
dern nur im Hinblick auf die Diskussion um die besten Lebens­
bedingungen für Menschen zum Werten auffordern.
Dass sich Werte in der Schule nicht normativ vermit­
teln lassen, hängt auch mit der physisch-psychischen Ent­
wicklung von Jugendlichen zusammen. Würde man „Werte“
so vermitteln, wie man mathematische Gesetze vermittelt,
dann würden jene Werturteile lebenslang verbindlich blei­
ben, die man in einer bestimmten Lebensphase erwirbt. Bei
mathematischen Gesetzen geht dies, nicht aber bei Wertent­
scheidungen. Ihre Komplexität wächst mit dem Wissen. Un­
terricht kann also keine endgültigen Werte „vermitteln“, son­
dern muss immer wieder in jeder Altersstufe altersgerecht
zum Werten auffordern.
Wenn man all diese Teilaspekte zusammenführt, kann
man die Struktur eines Werturteils beschreiben (vgl. Kasten
Struktur eines Werturteils). Diese Strukturbeschreibung ist
logischer und nicht psychologischer Art. Lebensweltlich mö­
gen wir also anders vorgehen, gleichwohl liegt jedem lebens­
weltlichem Werturteil diese logische Struktur zu Grunde.
Bei der Frage, ob ein Staudamm gebaut wird (gebaut wer­
den durfte) – oder eben nicht, werden Werturteile zu Norm­
entscheidungen transformiert. Und an dieser Stelle entsteht
erst der gesellschaftliche Dissens. Auch Befürworter eines
Staudammbaus werden nicht leugnen, dass er negative Fol­
gen hat, aber sie bewerten die Vorteile (z. B. für die Allgemein­
heit) höher als die Nachteile (für wenige). Es kommt also zu ei­
ner weiteren „Wert-Entscheidung“. Diese fragt nach dem „Wert
der betroffenen Werte“ – nach dem „Sinn“ (vgl. grundsätzlich:
Ladenthin 2009). Während die erste Wertentscheidung prin­
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Schritt 1: Feststellung eines Sachverhalts
Verantwortliche Werturteile können nur dann gefällt werden, wenn die
Sache, deren Wert bestimmt werden soll, so präzise wie möglich „er­
kannt“ wird. Werturteile ersetzen keine Sachurteile, sondern setzen sie
voraus.
Konsequenzen für den Unterricht: Wertbezogener Unterricht ist nur
dann bildend, wenn er auf einem soliden Sachverstand fußt. Ohne Sach­
verstand wird wertorientierter Unterricht zum Gesinnungsunterricht, zur
Manipulation.
Schritt 2: Frage nach Funktionen und Folgen des Sachverhalts
Der Gegenstand wird in potenzielle Handlungen hineingezogen: Was
ist die (geographische) Bedeutung des Gegenstands? Wozu könnte
der Gegenstand geeignet sein? Was kann man mit ihm (oder mit dem
Wissen um ihn) machen? Welche Folgen hat seine Anwendung? Welche
(neuen) Möglichkeiten des Umgangs ergeben sich? Was ist zu bedenken,
wenn man den Gegenstand „nutzt“? Der Wert des Lerngegenstands für
menschliches Handeln wird bestimmt.
Konsequenzen für den Unterricht: Die Sachlichkeit des Gegenstandes wird
auf mögliche Handlungsfelder angewandt; die prinzipielle Funktionswei­
se z. B. eines Staudamms wird übertragen in mögliche Handlungen und
Folgen. Unterrichtsgegenstände bekommen erst anlässlich der Themati­
sierung des Umgangs mit dem Gegenstand („Erfahrung“) einen Wert.
Schritt 3: Bestimmung der Werte, die in den angesprochenen
Funktionen umgesetzt oder verletzt werden
Die Beschreibung der Funktionen eines Gegenstandes impliziert Wert­
entscheidungen, die aber nicht unmittelbar sichtbar sind, sondern explizit
gemacht werden müssen. Ein Staudamm dient der Flussregulierung
– welchen Wert hat denn diese Flussregulierung? Es ist der Wert sicheren
Wohnens, der Planbarkeit, der Beherrschung von Natur. Ein Staudamm
verändert aber auch die Landschaft. Der Erhalt von Landschaft ist aber
auch ein Wert – gerade für die Bewohner dieser Landschaft (Heimat,
soziale Beziehungen). Menschen brauchen verlässliche soziale und viel­
leicht sogar regionale Bezüge. Menschen sind nicht nur Objekte der (öko­
nomischen, politischen, ökologischen) Planung, sondern auch Subjekte
eigener Lebensplanung. Unterschiedliche Werte stehen in Konkurrenz
zueinander! Wie ist zu entscheiden?
Konsequenzen für den Unterricht: Die Schüler lernen, nach der Bedeut­
samkeit von Sachen und Handlungen zu fragen: Sie lernen explizit, dass
hinter allen Handlungen Wertentscheidungen stehen, also Entschei­
dungen, die Werten entsprechen oder sie verletzen. Das betrifft auch das
eigene Handeln. („Inwiefern nutze ich den Staudamm?“)
Schritt 4: Wertentscheidung
Nach diesen Analysen sind die Menschen zum Handeln und damit Ent­
scheiden herausgefordert (Auch Nicht-Handeln ist eine Entscheidung).
Wie sollen die Handlungsträger in einer konkreten Situation entscheiden?
Dabei erfolgt eine Gewichtung der möglichen Werte, um herauszufinden,
welchen Wert man tatsächlich realisieren will.
Konsequenzen für den Unterricht: Die (Fach-)Diskussion führt zu den
Fragen, wie die Menschen leben wollen, was menschliche Lebensbedin­
gungen sind, wie man sie erhalten oder schaffen kann.
Strukturbeschreibung eines Werturteils in seiner Konsequenz für den Unterricht
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P h i lo s o p h i e | g r u n d l a g e n zipiell mögliche Werte (in außermoralischer und moralischer
Hinsicht) bestimmt hat, kommt nun, im Übergang zur tatsäch­
lichen Normenscheidung die Frage nach dem Sinn mensch­
lichen Handelns hinzu: Welchem der vielen möglichen Werte
geben wir in einer tatsächlichen Entscheidung den Vorzug?
Dabei erfordert jede Situation ihre spezifische Bearbei­
tung. Was am Möhnesee richtig war, war vielleicht in Assuan
falsch und ist am Drei-Schluchten-Staudamm ambivalent. Was
sich verändert, sind aber nicht die Werte. Sie bleiben gleich:
Ein Staudamm dient der Energiegewinnung, und Energie ist
immer ein Wert für die Conditio Humana. Was aber anders ist,
sind die Normen: Welchen Wert bevorzugt man in einer spezi­
fischen Situation?
Die Handlungsentscheidung verlangt nach einer neuen Be­
urteilung; sie setzt die möglichen Werte gegeneinander und
fragt, welche der Werte berücksichtigt werden sollen. ­Worin
die Conditio Humana besteht und was sittlich ist, muss ge­
klärt sein, bevor man darüber entscheiden kann, ob ein Stau­
damm gebaut werden soll und ob der Staudammbau einen
Wertgewinn darstellt. Erst Antworten auf diese Frage erlau­
ben es uns, menschliches Handeln sinnvoll und wert­bezogen
zu ­planen.
Keine Schule kann die Lebenssituationen ihrer Schüler
voraussehen und sie für alle Zeiten rüsten (und mit Werten
ausrüsten). Aber Schule kann die Bedingungen für wertbe­
zogene Urteile klären, eine Urteilsform für alle unvorherseh­
baren Situationen lehren – nämlich die, alle künftigen Hand­
lungen an einer Vorstellung vom menschlichen Leben und der
Frage nach der Würde des Menschen zu messen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Schule immer
hypothetisch über Werte (und auch über Normen) gespro­
chen wird. Dies gilt für alle Werturteile in allen Fächern: In
der Schule werden keine Entscheidungen getroffen. Sie wer­
den nur vorbereitet. Entscheiden kann man sich nur eigenver­
antwortlich im Leben. Was aber Schule kann, ist verbindlich
darüber zu sprechen, was denn die Kriterien für Wertent­
scheidungen sind: Wie die Menschen leben sollten und was
sittliches Handeln ist.
Fachlich und fachübersteigend
Es gibt keine Wissenschaft darüber, wie man das Leben denn
sinnvoll gestalten soll. Aber jede Wissenschaft trägt zur Be­
antwortung dieser Frage Spezifisches bei. Werterziehung ist
also immer fachbezogen und zugleich fachübersteigend. Sie
stellt Fragen aus dem Fach, die allein im Fach nicht beantwor­
tet werden können. Es sind die Fragen nach der sinnvollen
Bestimmung menschlichen Lebens und nach der Würde des
Menschen. Die Geographie kann also nur die Frage beant­
worten: ­Welche geographischen Einsichten sind bedeutsam
für die Frage nach den Bedingungen menschlichen Lebens?
Die ­anstehende Handlung im Leben muss letztlich auch das ­
Wissen der anderen Wissenschaften beachten. Die gesund­
heitlichen, die ökonomischen, die ästhetischen oder die po­
litischen Folgen etwa eines Staudammbaus können nicht mit
den Methoden der Geographie beschrieben werden, sie ha­
ben aber sehr wohl Bedeutung für die ­Ent­scheidung.
L i t e r at u r
Bauer, L.: Das Wesen der Geographie und ihr Beitrag zum Existenzund Weltverständnis. In: Bundeszentrale für politische Bildung
(Hrsg.): Die philosophischen Fragestellungen in der Gemeinschafts­
kunde auf der Oberstufe der Höheren Schule. Bonn 1967, S. 90–107
Frankena, W. K.: Analytische Ethik. Eine Einführung. München 1975
Hügli, A.: Wert. Einleitung. In: Historisches Wörterbuch der Philoso­
phie. Bd. XII. Basel 2004a, Sp. 556–558
Hügli, A.: Werterziehung; moralische Erziehung; Moralpädagogik. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. XII. Basel 2004b,
Sp. 591–609
Kant, I.: Kritik der Praktischen Vernunft. In: Weischedel, W. (Hrsg):
Kant. Werke in zehn Bänden. Bd. 6. Darmstadt 1983. S. 107–302
Ladenthin, V. und Rekus, J. (Hrsg.): Werterziehung als Qualitätsdimen­
sion von Schule und Unterricht. Münster 2008
Ladenthin, V.: Menschliche Haltungen in der heutigen Verwertungsund Spaßgesellschaft. Ursachen, Perspektiven und die Frage nach
dem Sinn. In: Schaefer, G. (Hrsg.): Nicht-gebildete Bildung? Schule
auf der Suche nach Sinn. Frankfurt a. M. 2009, S. 83–106
Trouw, J.: Chinas Drei-Schluchten-Staudamm und die Bauernumsied­
lung: Wie der Damm den Alltag der Bauern verändert. Norderstedt
2008
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Praxis Geographie 5|2010
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