___________________________ Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Heike Ließmann Wissenswert Brasilien – die Kultur des „Kannibalismus“ von Ruthard Stäblein Sendung: 01.10.2013, 08.40 Uhr, hr2-kultur Regie: Marlene Breuer Sprecher: Zitator: Voice-over: 13-117 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Sprecher: Kurz nachdem Brasilien im Jahr 1500 „entdeckt“ worden war, hauptsächlich von Portugiesen, gesellte sich 50 Jahre später ein gewisser Hans von Staden, seines Zeichens Landknecht aus Hessen zu den Brasilienfahrern. Der Hesse machte eine besondere Erfahrung mit den Ureinwohnern: Zitator: „Sie führten mich in die Hütten. Da kamen die Weiber und schlugen und raufften mich und drohten mir, wie sie mich essen wollten.“ Hans von Staden entging dem Kochtopf, aber seine Sage von den Indianern als Kannibalen blieb (in den Köpfen der Europäer) hängen. Zwei Jahre nach seiner Gefangenschaft bei den Tupinambá- Indianern kehrte von Staden nach Marburg zurück. Sein Reisebericht mit dem bezeichnenden Titel „Wahrhafte Historia“ wurde zum Longseller. Seine Sage vom brasilianischen Kannibalen zur Wandersage. Bis die Brasilianer zurückschlugen. Die Tupi-Indianer waren längst von den weißen Eroberern dezimiert und auf dem Arbeitsmarkt durch schwarze Sklaven ersetzt. Aber beide, Schwarze und Indianer vermischten sich Von einem solchen Mestizen, genauer „Caboclo“ erzählt João Ubaldo Ribeiro in seinem Roman „Brasilien, Brasilien“. Dort flieht der Sohn einer Indiofrau und eines Schwarzen vor einem portugiesischen Missionspater. Ribeiro datiert diese besondere Begegnung der inter-ethnischen Art auf den 20. Dezember 1647, also in die Weihnachtszeit: Seite 2 Zitator: „Der Capoblo Capiroba packte einen Knüppel, näherte sich dem Pater von hinten und schlug ihm den Kopf mit einem sicheren Treffer platt, worauf er sogleich ein Stückchen Fleisch erster Qualität zum Braten in der Holzglut abschnitt. Den Rest dörrte er in schönen rosafarbenen Scheiben, die er auf einer Stange in die Sonne hängte. aus den Innereien bereitete er Paterklein, Hirnsuppe, … Kaldaunen mit Kürbisgemüse, Herzspießchen mit Maniokbrei, Milz in Debde-Öl….“ Wir ersparen uns die weiteren Besonderheiten der brasilianischen Küche. João Ubaldo Ribeiro publizierte seinen Roman „Brasilien, Brasilien“ 1984. Darin verwoben ist die viel ältere Frage: „Was ist das eigentlich: das Brasilianische“? Das fragten sich auch Künstler im Brasilien der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich abgrenzen wollten vom europäischen Einfluss , aber auch von der hausgemachten Folklore. Trotz der gemeinsamen Sprache wollte man sich nicht nur als Nachahmer des Portugiesischen sehen. 1889 wurden die letzten portugiesischen Regenten vertrieben, wurde die Republik ausgerufen, ein Jahr zuvor erst die Befreiung der Sklaven proklamiert. Auf die ehemaligen Sklaven, beschädigte Opfer, und ihre afrikanischen Wurzeln wollte man sich nicht allein berufen. Und vom Kult um den guten naiven Indianer, der in der Literatur bis in die 20er Jahre hinein seine Blüten trieb, wollten sich die Jungen, die „Modernisten“, unbedingt lossagen. Was blieb übrig? – Eine Umwertung der Werte. Die „Modernisten“ kreierten das Bild vom barbarischen Indianer. Sie nahmen das alte Vorurteil der portugiesischen Eroberer auf, die Projektionen der Missionare: Ja, die Indianer waren Kannibalen. Und die Modernisten trieben diese Affirmation auf die Spitze: Ja, wir selbst sind Kannibalen. Wir fressen die Fremden, alles Fremde, das uns begegnet. Seite 3 Zitator: „Der Brasilianer ist ein kultureller Kannibale, der gierig fremdes Kulturgut verschlingt, es mit eigenen Elementen vermengt und als Verändertes wiedergibt.“ Oswald de Andrade 1924 in seinem Brasilholz-Manifest. Was ist also der Brasilianer? Andrade liefert auch gleich das Rezept dazu: Zitator: „Ob Goethe oder Rousseau, Montaigne oder Shakespeare: je nach Geschmack kann man sich alles einverleiben und zubereiten.“ Der Schriftsteller Jose Luis Passos beschäftigt sich als Professor für lusobrasilianische, also die portugiesisch-brasilianische Literatur an der Universität von Los Angeles mit dem Bekenntnis zum Kannibalismus. Ist also Anthropophagie, ist der Menschenfresser das Kennzeichen des modernen Brasilianischen? Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia idee 1) „Die zentrale Idee der Anthropophagie besteht darin, dass es um eine Mischung geht. Die Einverleibung von Differenzen definiert die brasilianische Identität. Das ist aber kein Substantiv, das für immer fest steht. Die zentrale Idee besteht darin, dass sich die brasilianische Kultur Teilaspekte und Praktiken anderer Kulturen einverleibt. “ Seite 4 Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia idee 2 plural) „Die brasilianische Kultur äußert sich in seinen künstlerischen Schöpfungen und Phantasien nicht als eine reine Substanz, von innen her, als brasilianisches Sein oder Bewusstsein, als die eine Identität. Die brasilianische Identität ist keine Einheit, sondern eine Vielheit.“ Einfacher drückt es der Politologe Renato Lessa aus. Er ist der Koordinator für den Auftritt von Brasilien als Gastland der Frankfurter Buchmesse: Voice-over: (brasil wiwe renato lessa 1) Diese Anthropophagie ist weiterhin in allen künstlerischen Manifestationen in Brasilien gegenwärtig. Es ist die Idee des Verschlingens all dessen, was aus dem Ausland kommt, aber es ist nicht nur das Verschlingen, sondern auch das Verdauen, das Wiedergeben, das anders Wiedergeben der Dinge, die von außen kommen. Eine Idee, die sich auf die Indianer bezieht, die die portugiesischen Ankömmlinge wortwörtlich aufgegessen haben sollen.“ Ein gutes Beispiel dafür ist der Film „Orfeo negro“ von 1959. (Filmmusik Bossa nova Manhã de Carnaval) einblenden Euridice kommt, wie so viele Migranten bis heute, vom Land in die Großstadt Rio de Janeiro. Sie trifft den Straßenbahnschaffner Orfeu. Mitten in den Karnevalsvorbereitungen von Rio flirtet Orfeu Gitarre spielend mit Euridice, ist aber verlobt mit Mira. Euridice verkleidet sich, ein Mann mit Totenmaske stellt ihr nach. Euridice kann fliehen, auf ein das Dach des Straßenbahn-Depots. Sie hält sich an einer Oberleitung fest, in dem Moment schaltet der Schaffner Orfeu den Stromkreis ein. Euridice stirbt. Der verzweifelte Orfeu tanzt sich in Trance, trägt seine tote Geliebte hoch in seine Favela. Stürzt mit ihr vom Steilhang. Ein anderer erbt Orfeus Gitarre, lässt über den Leichen seine Freundin tanzen. Die Geschichte beginnt von vorne. Seite 5 Der Film „Orfeo negro“ verkörpert den brasilianischen Kulturkannibalismus par excellence. Der Mythos kommt aus Europa. Samt der Idee der ewigen Wiederkehr. In der Filmmusik klingt der nordamerikanische Jazz nach. Der Tanz kommt aus Afrika. Der Regisseur Marcel Camus aus Frankreich. Und die Sprache aus Portugal. Aber alles wird verwandelt in etwas vollkommen Neues: ins Brasilianische. Musik weg Da war zum einen das Manifest des Kannibalismus von 1924 und die Künstler, die sich unter dem Label Modernismo damals in Sao Paulo trafen, sie nannten sich auch Tapir-Schule. Tapire sind die Tiere, die die Brasilianer auf Anhieb mit ihrem Land verbinden: Tapire sind Schweine-ähnliche Tiere, die in den Regenwäldern Süd- und Mittelamerikas leben und Pflanzen fressen. Der Tapir ist zugleich ein Leittier der Tupi-Indianer. Den Tupis war es bestimmt, von den Weißen dezimiert und aufgesogen zu werden, heißt es. Ihre untoten Geister indessen hätten sich in die Körper der Weißen geschlichen und lebten bis heute fort in der neuen Mischkultur. So die Modernisten. Zitator: „Der Tupi besiegte den Portugiesen in der Seele.“ heißt es im Manifest und wie die Modernisten den Kulturkannibalismus als Verfahren anwenden, dazu der Literaturwissenschaftler Jose Luis Passos: Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia 3 tupi or not tupi) „Die Anthropophagie beinhaltet alle Formen von Anleihen, Übernahmen ästhetischer, kultureller, literarischer Art, die das Brasilianische ausmachen, ja erst konstruieren. Von daher kann man Sätze aus dem Manifest verstehen wie Seite 6 „tupi or not tupi, that´s the question. Das ist eine Anspielung auf den Monolog von Hamlet to be or not to be. Das englische Verb to be wird ersetzt durch das brasilianische Wort für einen Indianerstamm. Bei diesem Prozess der Verschiebung eines englischen Wortes wird eine brasilianische Originalität behauptet, die aber genau eine Vermischung bedeutet.“ Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia 5 def nationalcharakter) „Dieses Beispiel charakterisiert die brasilianische Avantgarde der 20er Jahre. Es ist klar, dass diese Haltung in der brasilianischen Kultur fortbesteht. Die brasilianischen Künstler und Intellektuellen benutzen diese Formel bis heute um das Nationale zu definieren.“ Einer der Klassiker für diese Formel des Brasilianischen, die durch eine Einverleibung bewerkstelligt wird, ist der Roman „Macunaima“ von Mario de Andrade aus dem Jahr 1928. Für die Missionare war Macunaima der Teufel und der Gott der Indianer. Andrade macht aus Macunaima einen pechschwarzen Helden, der im Urwald geboren ist und sich verhält wie ein spanischer Picaro, wie ein Lausbub und Gauner, der alle möglichen, vielmehr unmöglichen Wunder und Abenteuer, auch erotischer Art, besteht und schließlich als Faulenzer in der Millionenstadt Sao Paulo endet. Andrade kreiert diesen Un-Helden Macunaima fünf Jahre vor Robert Musil als „Mann ohne Eigenschaften“. Wie ein leeres Blatt, das sich von anderen beschreiben lässt. Begegnungen in Bordellen und mit Hexen, mit Polizisten und Militärs und mit einem Industriellen, der auf seine Art die Menschen frisst. Jose Luis Passos: Seite 7 Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia 6 aktuell metamorphise) “In verschiedenen Formen der zeitgenössischen Kunstproduktion findet die Einverleibung des Fremden statt. Das Ausländische in das nationale Repertoire aufzunehmen war und ist eine übliche Praxis in Brasilien. Man sollte genau nicht die Bewegung der Anthropophagie, der Avantgarde, die in den 20er Jahren historisch verankert ist, gleich setzen mit ihren verschiedenen Verzweigungen und Nachfolgern. Und dennoch: Wie sich zum Beispiel die modernistische Architektur brasilianische Eigenheiten angeeignet hat. Oder wie brasilianische Autoren über Ereignisse schreiben, die im Ausland passieren. Dass brasilianische Romanhelden Ausländer sind. Oder wie diese Helden in unserem Staatsgebiet aufgehen. Es gibt eine lange Tradition der Metamorphose, der Umwandlung des Ausländischen in das nationale Element. Es ist ein Prozess der Akkulturation, der Aneignung, den die Brasilianer in den verschiedenen Kunstwerken vollziehen.“ (ev. Musik von Gilberto Gil o.ä.) So geschehen in der Protestbewegung des „Tropicalismo“, wenn Musiker und Sänger wie Caetano Veloso und Gilberto Gil ländliche und urbane, nordamerikanische und afrobrasilianische Rhythmen und Musikarten aufeinander beziehen und vermischen. Wie sie Bossa Nova und Samba modifizieren. Und so gegen die Einheitskultur aufbegehren, wie sie die Militärdiktatur ab 1964 den Brasilianern aufdrängen wollte. Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia 9 beba coka babi cola) “Zum Beispiel die Konkrete Poesie, die Symbole von Coca Cola benutzt und daraus dichterische Variationen bildet. Coca cola, beba coca, babi cola, dieses Wortspiel, bei dem ein ausländisches Bildsymbol verzerrt und dann einverleibt wird als nationales ästhetisches Werk.“ Seite 8 Voice-over: (brasil wiwe passos anthropophagia 7 incorporacion) “Das ist ein Prozess einer Einverleibung des nordamerikanischen Zeichens in eine ironische Kultur, die den Sinn des nordamerikanischen slogans verändert.“ Sagt der Literaturwissenschaftler Jose Luis Passos, der in Los Angeles lebt. Trink coca, sabbere Leim, Uhu. Ein antiimperialistisches, ironisches Wortspiel, das aus der Werkstatt der Künstlergruppe „Noigrandes“ kommt. Sie hat sich mit Augusto und Haroldo do Campos in den 50er Jahren in Sao Paulo gebildet. Sie beriefen sich auf die europäische Avantgarde, insbesondere auf die deutsche konkrete Poesie eines Eugen Gomringer. So verwandelt sich Kannibalismus in Kultur. So wurde und wird Brasilien zu einem Land mit einer universellen Geschichte und Ausstrahlung. Seite 9