SWR2 Cluster 06.11.2013, Musikmarkt extra: CD-Tipp „Musikalischer Querschnitt“ „La vallée des cloches“ Werke von Ravel, Messiaen, Takemitsu Momo Kodama, Klavier ECM 2961533 Hans von Bülow, Klavierwerke Vol. 2 Mark Anderson, Klavier Nimbus 3062996 Ludwig van Beethoven Sämtliche Klaviersonaten Abdel Rahman El Bacha, Klavier Mirare 2868039 Autor: Christoph Vratz Maurice Ravel: „Noctuelles“ aus „Miroirs“ (Ausschnitt) 0’17 Die in den Jahren 1904/05 entstandenen „Miroirs“ von Maurice Ravel verlangen jedem Pianisten ein Höchstmaß an musikalischem und technischem Können ab. Der aus fünf Stücken bestehende Zyklus erfordert Klarheit, aber auch in gewisser Weise Nervosität, braucht Transparenz und eine irrlichternde Unruhe. Momo Kodama, Schwester der Pianistin Mari Kodama und Schwägerin des Dirigenten Kent Nagano, hat für ihre neue CD neben den „Miroirs“ auch Werke von Takemitsu und Messiaen aufgenommen. Es ist Kodamas Debüt für das Label ECM. Ihr Ravel-Spiel hinterlässt allerdings einen zweideutigen Eindruck: einerseits klingt es wunderbar direkt und kristiallin, andererseits ein wenig zu sachlich, scheu und diskret. Maurice Ravel: „Alborada del gracioso“ aus „Miroirs“ (Ausschnitt) 0’20 Kodama ist eine herrlich poetische Tongebung zu attestieren, die vor allem in Olivier Messiaens „La fauvette des jardins“, einem halbstündigen fantasieähnlichen Klanggedicht, voll zur Geltung kommt. Olivier Messiaen: „La fauvette des jardins“ (Ausschnitt) 0’20 Momo Kodamas Messaien erscheint modern und voller Rätsel, naturhaft und nachdenklich. Hervorzuheben ist auch die famose Aufnahmetechnik. Der Flügel klingt herrlich natürlich, direkt und räumlich. Insgesamt hat Kodama ein klangfarbenreiches, nobel gespieltes und in dieser Kombination selten zu hörendes Album vorgelegt, wenngleich Brillanz und virtuoses Glitzern bei ihr sozusagen nur hinter vorgehaltener Hand stattfinden. Der Verzicht auf Effekte ist zwar wohltuend, doch ein Mehr an innerer Spannung hätte dem Album gut getan. Das gilt auch für die Einspielung von Mark Andersen, der nun den zweiten Teil mit Klavierwerken von Hans von Bülow aufgenommen hat. Bülow hat – wie auch Wilhelm Furtwängler oder Bruno Walter – neben seiner Tätigkeit als ausübender Musiker, als Pianist und Dirigent, auch komponiert – Werke, die heute kaum im Programm verankert sind, etwa die Mazurka-Fantaisie op. 13 aus dem Jahr 1860. Hans von Bülow: „Mazurka-Fantaisie“ op. 13 (Ausschnitt) 0’20 Der Amerikaner Anderson meidet die große Geste, er stellt von Bülows Romantik nicht im Schaufenster aus. Titel bzw. Untertitel wie „Mazurka-Fantaisie“, Chant Polonais und Impromptu lassen eine gewisse Nähe zur Musik von Frédéric Chopin erahnen. Das gilt auch für die drei „Valses caractéristiques“, deren letzter mit „Valse du glorieux“ überschrieben ist. Hans von Bülow: „Valse du glorieux“ op. 18 Nr. 3 (Ausschnitt) 0’15 Andersons Klavierspiel fängt den galanten Stil von von Bülows „Valse du glorieux“ unauffällig ein, er bewegt sich elegant im Dreivierteltakt, jedoch ohne zu glänzen. Sein Vortrag bleibt jederzeit plastisch, doch ohne Zauber. Er präsentiert diese Musik, ihrem Charakter gemäß, als gehobene Unterhaltungsmusik – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Hans von Bülow: „Valse du glorieux“ op. 18 Nr. 3 (Ausschnitt) 0’40 Insgesamt ist diese beim Label Nimbus erschienene Aufnahme vor allem eine historische Nachhilfestunde: Sie zeigt, wie Hans von Bülow, einer der berühmtesten Dirigenten und Pianisten des 19. Jahrhunderts, fürs Klavier komponiert hat. Von seiner Verehrung für die Musik Richard Wagners ist hier kaum etwas zu spüren. Die einzige Ausnahme bildet der Königsmarsch von 1880, der ein wenig an den Pomp im „Meistersinger“-Vorspiel erinnert. Hans von Bülow: Königsmarsch op. 28 (Ausschnitt) 0’21 Hans von Bülow war es, der Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ einmal als das Alte Testament der Klaviermusik bezeichnet hat, und Beethovens 32 Klaviersonaten als das Neue Testament. Dieses Neue Testament hat nun Abdel Rahman El Bacha auf 10 CDs beim französischen Label Mirare veröffentlicht. Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 1 f-Moll op. 2 Nr. 1 (Ausschnitt) 0’15 El Bacha, Sohn eines libanesischen Komponisten, heute in der Schweiz lebend, spielt auf einem Bechstein-Flügel. Der klingt weniger hart und stählern als die heutigen Steinways, was Beethovens Sonaten einen lyrischeren Duktus verleiht. Das passt auch zu El Bachas Ansatz. Das Revolutionäre, das Aufrührerischere Beethovens nimmt er verhalten. So läuft beispielsweise sein Motor im „brio“ des Kopfsatzes der Es-Dur-Sonate op. 7 eher untertourig. Der pochende Rhythmus der linken Hand ist dezent gehalten, der Gegensatz zum anschließend gesungenen Thema der rechten Hand bleibt blass. Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 4 Es-Dur op. 7 (Ausschnitt) 0’22 Auch in den Sonaten der mittleren Schaffensperiode kann Abdel Rahman El Bacha nicht wirklich überzeugen. Das Scherzo der Sonate op. 31 Nr. 3 phrasiert er eigenwillig. Beethovens sforzato-Vorgaben deutet er milde, wodurch der Kontrast zur Vorgabe „piano“ umso schwächer ausfällt. Und die spätere Anweisung des Komponisten, leicht zu verzögern, wendet El Bacha an der Stelle an, wo Beethoven längst wieder ein „a tempo“ fordert. Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 18 Es-Dur op. 31 Nr. 3 (Ausschnitt) 0’37 El Bacha meidet die Extreme, sucht immer wieder einen Mittelweg. Doch Beethoven war kein Komponist der Mitte, er war ein Erneuerer, ein Experimentierer. Bis zuletzt, wenn er im zweiten Satz seiner c-moll-Sonate das schlichte Arietta-Thema in den folgenden Variationen dramatisch auflädt und die Figuren in kühne Höhen treibt. Hier, endlich!, verdichtet El Bacha sein Spiel, verbindet er den großen Bogen mit forschem Zugriff. Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (Ausschnitt) 0’30 Dennoch: Gemessen an den guten bzw. hochrangigen Beethoven-Zyklen der letzten Jahre, mit András Schiff, Michael Korstick oder Rudolf Buchbinder, bleibt Abdel Rahman El Bacha ein gutes Stück weit dahinter zurück. Ob für Einsteiger oder erfahrene Hörer – es gibt pianistisch zwingendere, im Ausdruck mutigere und in der dramaturgischen Gesamtkonzeption erhellendere Einspielungen. Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 15 D-Dur op. 28 2‘25