Pathologische Religiosität Genese, Beispiele, Behandlungsansätze Bearbeitet von Dr. Michael Utsch 1. Auflage 2011. Taschenbuch. 148 S. Paperback ISBN 978 3 17 022077 5 Format (B x L): 13,5 x 21 cm Gewicht: 183 g Weitere Fachgebiete > Psychologie > Sozialpsychologie > Religionspsychologie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. 1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen Michael Utsch Religiosität zwischen Gottesvergiftung und Glaubensmedizin Die Wirkungen religiöser Überzeugungen werden aus psychologischer Sicht bis heute kontrovers eingeschätzt. Weil Psychiater und Psychotherapeuten tendenziell stärker a-religiös eingestellt sind als Angehörige anderer Professionen, haben sie diesen Bereich bisher eher vermieden (Kaiser, 2007). So gehen viele dieser Berufsgruppe nach wie vor von einer „Gottesvergiftung“ aus, wie sie der bekannte Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser (1976) eindrücklich beschrieben hat. Ihm zufolge ziehen religiöse Überzeugungen häufig lebensfeindliche Einstellungen und neurotische Störungen nach sich. Bestärkt wird diese Haltung von Veröffentlichungen der letzten Jahre, die, aus der Perspektive eines kämpferischen Atheismus, jeglichen religiösen Glauben als Wahnerkrankung einstufen (Dawkins, 2007; Hitchens, 2007). Zahlreiche Erfahrungen belegen, dass der Umgang mit fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen – wozu man auch den kämpferischen Atheismus zählen kann – therapeutisch schwer behandelbar sind (Aten, Mangis & Campell, 2010). Religiosität aber generell krankmachende Wirkungen zu unterstellen, führt ebenso in die Irre wie die Behauptung, der Glaube mache in jedem Fall gesund. In den letzten Jahren ist eine veränderte Haltung der Psychologie und Psychotherapie zur Religion zu beobachten, die sich auch im dem Gesinnungswechsel Mosers widerspiegelt. In seinem Bestseller „Gottesvergiftung“ hatte er mit dem strafenden Richtergott seiner Kindheit abgerechnet. Sein Gottesbild zeigte einen gewalttätigen und unbarmherzigen Patriarchen, der über den absoluten Gehorsam seiner Untergebenen wacht. Durch Kenntnisnahme von empirischen Befunden, die unmissverständlich einen positiven Einfluss des Glaubens auf die Gesundheit belegen, sowie erstaunliche eigene Erfahrungen bei Patienten mit positiven Gottesbildern änderte sich seine Einstellung. Heute kann Moser bestimmte religiöse Glaubenshaltun11 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.1 Michael Utsch gen als eine Quelle von Kraft und seelischem Reichtum würdigen (Moser, 2011). Mittlerweile liegen neben den USA, einem religionspsychologisch gut erforschten Kontinent, auch für Deutschland erstaunlich differenzierte Befunde vor, die unter bestimmten Bedingungen die Bewältigungskraft positiver Spiritualität und Religiosität in Krisen und Krankheiten eindeutig belegen (Bucher, 2007; Klein, Berth & Balck 2011; Unterrainer, 2010; Utsch, 2008, 2011). Keinesfalls kann man aber kausale Aussagen im Sinne „je frömmer desto gesünder“ treffen, auch wenn manche amerikanischen Studien diesen Nachweis erbringen wollen. Bei genauerer Prüfung hängt es offensichtlich von der Art und Weise der individuell gelebten Religiosität ab, ob sie sich als Belastung oder Bewältigungshilfe erweist. Weil über die positiven Zusammenhänge von Glaube und Gesundheit in den letzten Jahren schon viel publiziert wurde (Möller, 2007; Klein & Albani, 2007; Baumann, 2008; Ehm & Utsch, 2008; Frick, 2009; Maurer, 2009), stehen in diesem Buch die pathologischen Aspekte im Mittelpunkt. Im folgenden Abschnitt werden sieben verschiedene Aspekte krankmachender Religiosität untersucht: Vier Ursachen für pathologische Religiosität Religiosität aus entwicklungspsychologischer Sicht Religionsmissbrauch in Sekten und „Psychogruppen“ Glaubensweitergabe in geschlossenen religiösen Gemeinschaften Ambivalente Wirkungen von Religiosität – empirische Befunde Zur Therapie krankmachender Gottesbilder Folgen für die psychotherapeutische Praxis 1.2 Vier Ursachen für pathologische Religiosität 1. Sozialisation Jedes Kind sucht nach Erklärungen, um sich mit den Geheimnissen der Welt vertraut zu machen. Die primären Bezugspersonen und das vertraute Lebensumfeld der ersten Lebensjahre liefern im Regelfall einen Deutungsrahmen und beantworten die existenziellen Fragen des Kindes. Auch hinsichtlich der ethisch-moralischen Orientierung erweist sich das Umfeld der ersten Lebensjahre als maßgeblich. Es kann deshalb einen großen Unterschied machen, ob das Kind einer 12 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen binationalen Partnerschaft oder in einer Familie der Zeugen Jehovas aufwächst. Mit der Erfahrung von Fremdheit muss ein Kind, dessen Eltern aus unterschiedlichen Kulturen stammen, viel intensiver umgehen lernen als ein Zeuge Jehovas in einem relativ geschlossenen Familiensystem. Manchmal wehren sich Jugendliche aus einer Familie, deren Mitglieder Teil einer strengen Glaubens- oder Religionsgemeinschaft sind, mit dem stärker werdenden Streben nach Autonomie dieses Lebensalters, gegen dogmatische Normen, was innerfamiliäre Konflikten zur Folge hat. Eindrückliche Fallbeispiele von Aussteigern belegen, wie entwicklungshemmend und lebensverneinend einzelne Menschen die Gewohnheiten und Strukturen einer (neu-)religiösen Gemeinschaft erlebt haben (Kohout, 2010). Wer die strengen Regeln und Strukturen einer religiösen Gemeinschaft als bedrückend, einengend, ja als „sektenhaft“ empfindet, steht in der Gefahr, pathologische Symptome zu entwickeln. Bei den Zeugen Jehovas gibt es beispielsweise empirische Hinweise dafür, dass dies nicht für alle Mitglieder gilt, sondern nur bei bestimmten Persönlichkeitsmustern der Fall ist (Deckert, 2007; Pohl, 2010). Neben der Sozialisation können auch die Enttäuschungen infolge überhöhter Erwartungen an eine religiöse oder spirituelle Gruppe Krankheiten verursachen. Vor allem in Zeiten persönlicher Instabilität, beruflicher Wechsel oder Lebenskrisen darf der Nutzwert eindeutiger Antworten und klarer Strukturen nicht übersehen werden, den eine straff organisierte Gruppe bieten kann. Auf dem heutigen esoterischen Lebenshilfemarkt werden viele Menschen von Meistern und spirituellen Lehrern angezogen, die mit ihren einfachen Lösungsvorschlägen die Sehnsucht nach Sicherheit und Führung perfekt bedienen. In den letzten Jahren ist deshalb deutliche Kritik am Machtmissbrauch in psycho-spirituellen Gruppen geübt worden (Caplan, 2011; Doerne, 2009; Scharfetter, 1999). Spiritualität, so wurde nachgewiesen, dient so manchem Gruppenleiter zum Ausleben seiner egoistischen Motive. Als nützliche Ideale geschickt verschleiert, sind gerade Jugendliche und junge Erwachsene, die zu Idealisierung neigen, anfällig für derartige Versprechungen. Während die früher sog. Jugendsekten heute nicht mehr attraktiv sind und zahlenmäßig kaum noch auffallen, gibt es mittlerweile auf dem alternativen Gesundheitsmarkt Dutzende von Anbietern, die die Heilungssehnsucht ihrer Klienten ausnutzen und übergriffige 13 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 2. Idealisierung Michael Utsch Meister-Schüler-Bindungen herstellen. Besonders wenn körperliche Heilung mit spirituellem Heilen in Verbindung gebracht wird, ist die Gefahr der Vereinnahmung groß (Utsch, 2009). Aus psychoanalytischer Sicht kann der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte bestätigt werden. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt vorwiegend emotional vertreten und nicht mehr rational geprüft würden, kann nach Erkenntnissen des Psychoanalytikers Winfried Ruff (2005) ein fanatischer Glaube mit dem Ziel entstehen, „alles Böse in der Welt zu bannen, damit es sich nicht mehr in inneren oder äußeren Katastrophen auswirken kann“ (S. 51). Im Rückgriff auf psychoanalytische Entwicklungsmodelle zeigt Ruff überzeugend auf, wie blindes Vertrauen in abhängigen Beziehungen mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann. Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu: „Indem der Mensch seinen (...) Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, entwickelt er eine Haltung von gläubiger Hoffnung“ (ebd., S. 50). In sektiererischen Gruppen würden jedoch der religiöse Führer idealisiert und seine Lehre ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichne sich dadurch aus, dass sie Zweifel zulasse und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger Zuversicht motiviere. Selbst freudianische Psychoanalytiker, früher in der Regel Verfechter radikaler Religionskritik, gehen also heute unbefangener und konstruktiver mit religiösen Glaubensüberzeugungen ihrer Klienten um. Machthungrige Gruppenleiter erfüllen nicht nur eine Sehnsucht einzelner Mitglieder nach Unterwerfung, sondern ziehen für sich selber daraus einen narzisstischen Profit (Walach, 2000). Gerade unter dem Deckmantel der Religion lässt sich der Machtmissbrauch in Organisationen gut verschleiern. Nicht erst die skandalösen Fälle sexuellen Missbrauchs besonders in der katholischen Kirche weisen darauf hin (Funke, 2010). Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass der Vatikan seit Kurzem zur Eignungsprüfung ihrer Priesteramtskandidaten Psychologen einsetzt. Interne Supervision, demokratische Strukturen und zeitliche Begrenzungen der Posten könnten helfen, die Gefahren pathologischer Religiosität einzudämmen. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung an 150 Ordensschwestern ergab 14 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 3. Machtmissbrauch 1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen den überraschenden Befund, dass in dieser Gruppe ein aufwändig überprüftes Maß an „seelischer Reife“ sehr ungewöhnlich verteilt war: Ordensschwestern im Mittelbereich gab es wenige, dagegen war die Gruppe mit sehr hohen und sehr niedrigen Reifewerten überproportional stark vertreten (Kluitmann, 2007, bes. S. 132 ff.). Gerade die zahlenmäßig am stärksten ausgeprägte Gruppe mit sehr geringen Reifewerten macht deutlich, dass hier ein hoher Handlungsbedarf besteht. Die Einbeziehung psychologischer Kompetenzen zur Eignungsprüfung und Berufsbegleitung für hauptamtlich Geistliche ist deshalb sehr zu begrüßen. An letzter Stelle soll hier der „religiöse Wahn“ genannt werden. Glücklicherweise ist die Häufigkeit schwerer psychiatrischer Krankheitsbilder dieser Ausprägung gering. Dennoch sind 20 bis 30 Prozent der Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis von religiösen Wahnvorstellungen wie etwa die Fremdbeeinflussung durch böse Mächte betroffen. Auch bei der Untersuchung psychiatrischer Patienten wird die überaus ambivalente Wirkung der Religion deutlich. Manche erleben ihren Glauben als hilfreich, andere aber als belastend. Je nach den persönlichkeitsspezifischen Voraussetzungen, der emotionalen Tötung des Gottesbildes und der Qualität der Gottesbeziehung kann ein negatives Gottesbild auch zu psychischen Problemen führen. Bei 115 ambulanten Schweizer PsychosePatienten schöpften zwei Drittel aus ihrer Religiosität Hoffnung und Zuversicht und konnten durch eine religiöse Deutung in ihrer schweren psychiatrischen Erkrankung einen Sinn sehen. Bei 14 Prozent jedoch fanden die Forscher negative Effekte, die das Krankheitsbild in Richtung „spirituelle Verzweiflung“ verstärkte. Auch andere Untersuchungsbereiche unterstrichen die ambivalenten Wirkungen: Während bei der Hälfte der Erkrankten psychotische Symptome durch Religiosität abgemildert wurden, verstärkten sie sich bei 10 Prozent. Bei einem Drittel verringerte die Religiosität das Suizidrisiko, bei 10 Prozent wurde es dadurch noch verstärkt (Mohr; 2006). Die Entwicklung pathologischer Religiosität hängt also wesentlich vom Lebensverlauf und der persönlichen Stellungnahme dazu ab. 15 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 4. Religiöser Wahn Michael Utsch Religiosität aus entwicklungspsychologischer Sicht Auch entwicklungspsychologische Studien haben sowohl lebensdienliche als auch belastende Wirkungen der Religiosität identifiziert. Jugendliche, die Religion und Spiritualität als lebensrelevant einschätzten, griffen seltener zu Drogen und Alkohol, wurden seltener delinquent und nahmen die Entwicklungsaufgabe der sexuellen Intimität später in Angriff. Sie waren stärker an Tugenden der Selbstkontrolle und Leistungsorientiertheit gebunden, weniger aggressiv und stärker prosozial eingestellt (Bucher & Oser, 2008, S. 617). Der Handbuchartikel von Bucher und Oser (2008) weist allerdings auch auf problematische religiöse Entwicklungsverläufe hin. Häufig führe der Beitritt zu neureligiösen Gruppierungen zu Ambivalenz. Durch die Gruppenzugehörigkeit und ein religiös-spirituell verändertes Selbstbild konnten manche neue Mitglieder positive psychische Effekte erzielen (Murken & Namini, 2004). Das intensive Zugehörigkeitsgefühl, klare Wert- und Handlungsorientierungen sowie das in der Gruppe vermittelte Sinndeutungsmodell dienten manchen labilen Menschen als Bewältigungshilfe. Allerdings können Entwicklungsverläufe auch gestört und blockiert werden, wenn Personen „mit einer Gruppe symbiotisch verschmelzen, sich blind einem Meister unterordnen, ihre Individualität aufgeben und ein dualistisches Weltbild entwickeln, gemäß dem alle Außenstehenden moralisch verwerflich sind und in der baldigen Apokalypse zugrunde gehen“ (Bucher & Oser, 2008, S. 155). Durch die Arbeiten der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat sich das Erklärungsmodell der Kult-Bedürfnis-Passung durchgesetzt. Demnach können die Angebote religiöser Gemeinschaften Antworten auf individuelle und soziale Lebensprobleme und Sinnfragen bieten. Ob sich diese positiven Wirkungen allerdings wirklich einstellen, hängt ab vom „Ausmaß der Passung zwischen dem jeweiligen Gruppenangebot mit seinen spezifischen Lehrinhalten, Strukturen und vermittelten Erfahrungen und der individuellen Persönlichkeitsstruktur, geprägt durch Prädispositionen, biografische Erfahrung und aktuellen Lebenssituation“ (Murken & Namini, 2004, S. 155). Die Mitgliedschaft in einer neureligiösen Gruppe kann also zeitweise positive Effekte haben, wenn spezifische persönliche Bedürfnislagen vorhanden sind. 16 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.3 Andererseits belegen viele Erfahrungsberichte ehemaliger Sektenmitglieder, dass sich das Verhältnis von Bewältigungsnutzen und Unterdrückungserleben im Lauf der Gruppenzugehörigkeit massiv zum Negativen hin verändert hat. Diente die Gruppenidentität zunächst der Bewältigung einer bestimmten Lebenskrise, wuchs im Lauf der Zeit das erlebte Ausmaß von Unterdrückung so extrem, dass der Ausstieg unvermeidlich wurde (Hemminger, 2003). Bis heute werden dabei zu wenig die gravierenden Unterschiede zwischen einem in einer religiösen Gruppe aufgewachsenen Mitglied und einem Neukonvertiten berücksichtigt. Der zum Ausstieg führende Veränderungsprozess eines in eine neureligiöse Gemeinschaft hineingeborenen Mitglieds scheint um ein Vielfaches schwieriger zu sein als der Glaubenswechsel des „religiösen Wanderers“, einer offensichtlich verbreiteten Lebensform spätmoderner Religiosität (Gebhardt, 2005). Im Extremfall können eine radikale Ideologisierung, das ausschließliche Schwarz-Weiß-Denken und andere gruppendynamische Mechanismen bis hin zu religiös motivierter Gewalt führen. Aus psychiatrischer Sicht hat kürzlich Kapfhammer (2008) die wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen am Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt beschrieben. Dabei führt er die Merkmale des charismatischen Führers mit seinen Methoden der Suggestion, Indoktrination und Kontrolle an, der mit Hilfe einer apokalyptischen Weltdeutung die Gruppenmitglieder bis zum äußersten motivieren könne. Während die Entwicklungspsychologie eine weitgehende Autonomie und Ausprägung der eigenen Individualität als zentrale Entwicklungsziele und Säulen psychischen Wohlbefindens benennt, werden diese in manipulativen Gruppen zugunsten von Unterordnung und Gehorsam eingeschränkt. Die Münchner Heilpraktikerin und Yogalehrerin Angelika Doerne (2009) hat anhand verschiedener entwicklungspsychologischer Theorien Kriterien zur Einschätzung und Auseinandersetzung mit psychospirituellen Gruppen zusammengestellt. Sie unterscheidet sechs Gefahren: 1. Regressive Tendenzen: Dazu zählen Abwertung und Ausschluss des Verstandes, Idealisierung des frühkindlichen Verschmelzungszustandes als erstrebenswertem Spiritualitätszustand, eine magische und mythische Weltsicht sowie die Fehleinschätzung, Regression als Transformation zu deuten. 2. Sabotage von Entwicklungsprozessen: Unangenehmes und Verdrängtes werden tabuisiert, derartige Erlebnisse und Erinnerun17 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen Michael Utsch 4. 5. 6. Diese Kriterien machen deutlich, dass ein spiritueller Führer die Gruppe seiner Anhänger relativ leicht manipulieren kann. Die Kontrollmechanismen demokratischer Strukturen sind hier ein wirksamer Schutz vor einem Machtmissbrauch. Gemeinschaftlich akzeptierte Grundwerte bilden die Basis für das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe und die notwendige gegenseitige Korrektur. Die entwicklungspsychologische Bindungsforschung weist darauf hin, dass die Übergänge zwischen fundamentalistischer Rechthaberei und erwartungsvollem Hoffen fließend sind. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich besonders der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte nachweisen. Dabei kommt der Vermittlung von Idealen und Leitbildern eine Schlüsselstellung zu. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt emotional forciert werden und keine rationale Prüfung mehr durchlaufen, führt das leicht zu Fanatismus. Als Ziel lockt das Versprechen, alles Böse in der Welt zu bannen, um den belastenden inneren Spannungen und Ambivalenzen endgültig zu entfliehen. Eine religionspsychologische Untersuchung von Entwicklungsverläufen bekannter religiöser Persönlichkeiten zeigte, wie blindes Vertrauen in einer frühen Lebensphase, die von abhängigen Beziehungen 18 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 3. gen werden bagatellisiert, ein absolutes Harmoniestreben steht im Vordergrund; durch Extremerfahrungen werden die psychischen und physischen Schmerzgrenzen überschritten; die persönliche Entwicklung wird auf den transpersonalen Fortschritt beschränkt. Stärkung des Narzissmus: Spirituelle Erfahrungen werden als persönliche „Leistung“ beurteilt. Gemeinschaft über alles: Individualität und Würde des Einzelnen werden den Gruppeninteressen unterstellt, Rückzug vor der Außenwelt und Förderung von Exklusivitätsdenken. Ungleichgewicht zwischen transzendenter und weltlicher Orientierung: Alles Transzendente wird überbetont; die Lebenshaltung ist weltabgewandt, eigene Gefühle und Bedürfnisse werden verdrängt, die Eigenverantwortung wird vernachlässigt. Verflachte Interpretationen spiritueller Inhalte und Erfahrungen: Einzelne Aspekte eines Lehrsystems werden zum Dogma bzw. zur sicheren Wahrheit erhoben, ein persönlicher Handlungsspielraum wird geleugnet, auf kollektive Verantwortung Wert gelegt; bedingungslose Hingabe an den Meister ist Pflicht. 1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen bestimmt war, mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann (Bucher, 2004). Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu. Indem der Mensch seinen Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, kann sich eine Haltung von gläubiger Hoffnung entwickeln. In sektiererischen Gruppen werden hingegen religiöse Führer idealisiert und ihre Lehren ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zweifel zulässt und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger Zuversicht motiviert. Die psychoanalytische Bindungstheorie ist ein vielversprechendes Erklärungsmodell zur Unterscheidung zwischen lebensdienlichen und krankmachenden Aspekten der Religiosität und sollte deshalb von der Pastoral- und Religionspsychologie weiter aufgegriffen werden (Heine, 2007; Noth, 2010). Die moderne psychoanalytische Bindungsforschung bezieht nämlich im Selbstwerdungsprozess der Seele auch Beziehungen zu einem transzendenten Gegenüber ein. Weil der christliche Glaube im Kern ein Beziehungsgeschehen darstellt, ergeben sich hier fruchtbare Dialoge. So kann überprüft werden, ob der Kommunikationstyp zum Glaubensstil passt. So wie sich unsere Persönlichkeit lebenslang weiterentwickelt, verändert sich auch der Glaube mit seinen Gottesbildern und Frömmigkeitspraktiken. Wenn das Persönlichkeitswachstum und die Glaubensentwicklung gemeinsam betrachtet werden, können reife und unreife Formen von Glaubensvollzügen plausibel unterschieden werden. Religionsmissbrauch in Sekten und „Psychogruppen“ Konfliktträchtige religiöse Gruppierungen konstituieren sich regelmäßig über eine charismatische Führerpersönlichkeit. Durch diese erfährt die Gruppe ihre entscheidende ideologische Ausrichtung. Die damit verbundenen Phänomene einer autoritären Persönlichkeitsstruktur, faschistoider Dynamiken und fundamentalistischer Weltdeutungen sind in der letzten Zeit präzise beschrieben worden (Conzen, 2006; Deikman, 2003; Grom, 2007). Dafür gibt es ein ziemlich 19 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.4 Michael Utsch 1. Interne Kontrolle: Wie viel Macht übt der Gruppenleiter auf die Mitglieder aus? 2. Wahrheitsanspruch: Sind Lehre und heilige Schriften unanfechtbar? 3. Zugeschriebene Weisheit: Wie viel Vertrauen setzen die Mitglieder in ihren Leiter? 4. Dogma: Starrheit der Realitätskonzepte, Fundamentalismus 5. Rekrutierung: Wie wichtig ist die Anwerbung neuer Mitglieder? 6. „Front“-Gruppen: Anzahl versteckter Ableger, die andere Namen als den der Hauptgruppe benutzen 20 © 2011 W. Kohlhammer, Stuttgart klares Erkennungsmerkmal: die Autoritätshörigkeit einer Gruppe, deren Ausmaß daran abgelesen werden kann, wie mit sachlich vorgetragener Kritik umgegangen wird. Die Gruppendynamik einer Gemeinschaft ist durch das Herbeiführen intensiver Gemeinschaftserlebnisse leicht steuerbar. Durch laute Musik und andere Setting-Merkmale (abgelegner Ort, Verbot von Uhren und Handys, etc.) kann das Erleben der Gruppe so überwältigend wirken, dass Teilnehmer mit ihr symbiotisch verschmelzen und ihre Individualität zumindest zeitweise aufgeben. Pathologisierend wirkt Gruppenspiritualität auch dann, wenn strikt zwischen Insidern und Outsidern, zwischen Erleuchteten und Verlorenen unterschieden wird. Aus der Gruppe verstoßen zu werden, wird schlimmstenfalls mit dem Sterben gleichgesetzt (Wilber, 1995). Besonders gefährlich ist eine apokalyptisch-endzeitliche Ausrichtung der Gruppe. Immer noch erschütternd ist der Massensuizid, bei dem Jim Jones, der Gründer des „Peoples Temple“, im Jahr 1978 über 900 seiner Anhänger im Urwald von Guyana in den Tod führte (die schrecklichen Ereignisse wurden auch literarisch verarbeitet, vgl. Jones & Jones, 2008; Layton, 2008). Die Angehörigen des Sonnentempelordens rechneten mit dem baldigen Weltuntergang, bevor es 1994/1995 zu 53 simultanen Suiziden in Kanada und in der Schweiz kam (Kapfhammer, 2008). Im Jahr 1997 begingen 39 Mitglieder des UFO-Kults Heaven’s Gate durch Autoabgase Suizid. In der Regel findet bei solchen Gruppen ein totaler Rückzug aus der sozialen Umwelt statt. Man sieht sich einem universellen Bösen gegenüber, das in der sozialen Außenwelt platziert wird. Der amerikanische Mathematiker E. Benjamin hat unter Anwendung einer Kult-Checkliste versucht, das Gefährdungspotenzial verschiedener „Psychogruppen“ zu gewichten (Benjamin, 2005). Er unterscheidet die folgenden 15 Faktoren, die jeweils zwischen „sehr niedrig“ (1) und „sehr hoch“ (10) zu gewichten sind.