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Pathologische Religiosität
Genese, Beispiele, Behandlungsansätze
Bearbeitet von
Dr. Michael Utsch
1. Auflage 2011. Taschenbuch. 148 S. Paperback
ISBN 978 3 17 022077 5
Format (B x L): 13,5 x 21 cm
Gewicht: 183 g
Weitere Fachgebiete > Psychologie > Sozialpsychologie > Religionspsychologie
Zu Inhaltsverzeichnis
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1
Wenn Religiosität krank macht:
Fakten und Folgen
Michael Utsch
Religiosität zwischen Gottesvergiftung und
Glaubensmedizin
Die Wirkungen religiöser Überzeugungen werden aus psychologischer Sicht bis heute kontrovers eingeschätzt. Weil Psychiater und
Psychotherapeuten tendenziell stärker a-religiös eingestellt sind als
Angehörige anderer Professionen, haben sie diesen Bereich bisher
eher vermieden (Kaiser, 2007). So gehen viele dieser Berufsgruppe
nach wie vor von einer „Gottesvergiftung“ aus, wie sie der bekannte
Psychoanalytiker und Körpertherapeut Tilmann Moser (1976) eindrücklich beschrieben hat. Ihm zufolge ziehen religiöse Überzeugungen häufig lebensfeindliche Einstellungen und neurotische Störungen
nach sich. Bestärkt wird diese Haltung von Veröffentlichungen der
letzten Jahre, die, aus der Perspektive eines kämpferischen Atheismus, jeglichen religiösen Glauben als Wahnerkrankung einstufen
(Dawkins, 2007; Hitchens, 2007). Zahlreiche Erfahrungen belegen,
dass der Umgang mit fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen – wozu man auch den kämpferischen Atheismus zählen kann
– therapeutisch schwer behandelbar sind (Aten, Mangis & Campell,
2010). Religiosität aber generell krankmachende Wirkungen zu unterstellen, führt ebenso in die Irre wie die Behauptung, der Glaube
mache in jedem Fall gesund.
In den letzten Jahren ist eine veränderte Haltung der Psychologie
und Psychotherapie zur Religion zu beobachten, die sich auch im
dem Gesinnungswechsel Mosers widerspiegelt. In seinem Bestseller
„Gottesvergiftung“ hatte er mit dem strafenden Richtergott seiner
Kindheit abgerechnet. Sein Gottesbild zeigte einen gewalttätigen
und unbarmherzigen Patriarchen, der über den absoluten Gehorsam
seiner Untergebenen wacht. Durch Kenntnisnahme von empirischen
Befunden, die unmissverständlich einen positiven Einfluss des Glaubens auf die Gesundheit belegen, sowie erstaunliche eigene Erfahrungen bei Patienten mit positiven Gottesbildern änderte sich seine
Einstellung. Heute kann Moser bestimmte religiöse Glaubenshaltun11
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1.1
Michael Utsch
gen als eine Quelle von Kraft und seelischem Reichtum würdigen
(Moser, 2011).
Mittlerweile liegen neben den USA, einem religionspsychologisch
gut erforschten Kontinent, auch für Deutschland erstaunlich differenzierte Befunde vor, die unter bestimmten Bedingungen die Bewältigungskraft positiver Spiritualität und Religiosität in Krisen und
Krankheiten eindeutig belegen (Bucher, 2007; Klein, Berth & Balck
2011; Unterrainer, 2010; Utsch, 2008, 2011). Keinesfalls kann man
aber kausale Aussagen im Sinne „je frömmer desto gesünder“ treffen, auch wenn manche amerikanischen Studien diesen Nachweis
erbringen wollen. Bei genauerer Prüfung hängt es offensichtlich von
der Art und Weise der individuell gelebten Religiosität ab, ob sie sich
als Belastung oder Bewältigungshilfe erweist.
Weil über die positiven Zusammenhänge von Glaube und Gesundheit in den letzten Jahren schon viel publiziert wurde (Möller,
2007; Klein & Albani, 2007; Baumann, 2008; Ehm & Utsch, 2008;
Frick, 2009; Maurer, 2009), stehen in diesem Buch die pathologischen Aspekte im Mittelpunkt. Im folgenden Abschnitt werden sieben verschiedene Aspekte krankmachender Religiosität untersucht:
Vier Ursachen für pathologische Religiosität
Religiosität aus entwicklungspsychologischer Sicht
Religionsmissbrauch in Sekten und „Psychogruppen“
Glaubensweitergabe in geschlossenen religiösen Gemeinschaften
Ambivalente Wirkungen von Religiosität – empirische Befunde
Zur Therapie krankmachender Gottesbilder
Folgen für die psychotherapeutische Praxis
1.2
Vier Ursachen für pathologische Religiosität
1. Sozialisation
Jedes Kind sucht nach Erklärungen, um sich mit den Geheimnissen
der Welt vertraut zu machen. Die primären Bezugspersonen und das
vertraute Lebensumfeld der ersten Lebensjahre liefern im Regelfall
einen Deutungsrahmen und beantworten die existenziellen Fragen
des Kindes. Auch hinsichtlich der ethisch-moralischen Orientierung
erweist sich das Umfeld der ersten Lebensjahre als maßgeblich. Es
kann deshalb einen großen Unterschied machen, ob das Kind einer
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binationalen Partnerschaft oder in einer Familie der Zeugen Jehovas
aufwächst. Mit der Erfahrung von Fremdheit muss ein Kind, dessen Eltern aus unterschiedlichen Kulturen stammen, viel intensiver
umgehen lernen als ein Zeuge Jehovas in einem relativ geschlossenen Familiensystem. Manchmal wehren sich Jugendliche aus einer
Familie, deren Mitglieder Teil einer strengen Glaubens- oder Religionsgemeinschaft sind, mit dem stärker werdenden Streben nach
Autonomie dieses Lebensalters, gegen dogmatische Normen, was
innerfamiliäre Konflikten zur Folge hat. Eindrückliche Fallbeispiele
von Aussteigern belegen, wie entwicklungshemmend und lebensverneinend einzelne Menschen die Gewohnheiten und Strukturen einer
(neu-)religiösen Gemeinschaft erlebt haben (Kohout, 2010). Wer
die strengen Regeln und Strukturen einer religiösen Gemeinschaft
als bedrückend, einengend, ja als „sektenhaft“ empfindet, steht in
der Gefahr, pathologische Symptome zu entwickeln. Bei den Zeugen
Jehovas gibt es beispielsweise empirische Hinweise dafür, dass dies
nicht für alle Mitglieder gilt, sondern nur bei bestimmten Persönlichkeitsmustern der Fall ist (Deckert, 2007; Pohl, 2010).
Neben der Sozialisation können auch die Enttäuschungen infolge
überhöhter Erwartungen an eine religiöse oder spirituelle Gruppe
Krankheiten verursachen. Vor allem in Zeiten persönlicher Instabilität, beruflicher Wechsel oder Lebenskrisen darf der Nutzwert eindeutiger Antworten und klarer Strukturen nicht übersehen werden,
den eine straff organisierte Gruppe bieten kann. Auf dem heutigen
esoterischen Lebenshilfemarkt werden viele Menschen von Meistern und spirituellen Lehrern angezogen, die mit ihren einfachen
Lösungsvorschlägen die Sehnsucht nach Sicherheit und Führung
perfekt bedienen. In den letzten Jahren ist deshalb deutliche Kritik
am Machtmissbrauch in psycho-spirituellen Gruppen geübt worden
(Caplan, 2011; Doerne, 2009; Scharfetter, 1999). Spiritualität, so
wurde nachgewiesen, dient so manchem Gruppenleiter zum Ausleben seiner egoistischen Motive. Als nützliche Ideale geschickt verschleiert, sind gerade Jugendliche und junge Erwachsene, die zu Idealisierung neigen, anfällig für derartige Versprechungen.
Während die früher sog. Jugendsekten heute nicht mehr attraktiv sind und zahlenmäßig kaum noch auffallen, gibt es mittlerweile
auf dem alternativen Gesundheitsmarkt Dutzende von Anbietern,
die die Heilungssehnsucht ihrer Klienten ausnutzen und übergriffige
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2. Idealisierung
Michael Utsch
Meister-Schüler-Bindungen herstellen. Besonders wenn körperliche
Heilung mit spirituellem Heilen in Verbindung gebracht wird, ist die
Gefahr der Vereinnahmung groß (Utsch, 2009).
Aus psychoanalytischer Sicht kann der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte bestätigt werden. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt vorwiegend
emotional vertreten und nicht mehr rational geprüft würden, kann
nach Erkenntnissen des Psychoanalytikers Winfried Ruff (2005) ein
fanatischer Glaube mit dem Ziel entstehen, „alles Böse in der Welt
zu bannen, damit es sich nicht mehr in inneren oder äußeren Katastrophen auswirken kann“ (S. 51). Im Rückgriff auf psychoanalytische Entwicklungsmodelle zeigt Ruff überzeugend auf, wie blindes
Vertrauen in abhängigen Beziehungen mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann.
Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung
zu: „Indem der Mensch seinen (...) Glauben aufgrund seiner immer
wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, entwickelt er eine Haltung von gläubiger Hoffnung“ (ebd., S.
50). In sektiererischen Gruppen würden jedoch der religiöse Führer
idealisiert und seine Lehre ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können.
Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichne sich dadurch aus, dass
sie Zweifel zulasse und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger
Zuversicht motiviere. Selbst freudianische Psychoanalytiker, früher
in der Regel Verfechter radikaler Religionskritik, gehen also heute
unbefangener und konstruktiver mit religiösen Glaubensüberzeugungen ihrer Klienten um.
Machthungrige Gruppenleiter erfüllen nicht nur eine Sehnsucht einzelner Mitglieder nach Unterwerfung, sondern ziehen für sich selber daraus einen narzisstischen Profit (Walach, 2000). Gerade unter
dem Deckmantel der Religion lässt sich der Machtmissbrauch in
Organisationen gut verschleiern. Nicht erst die skandalösen Fälle
sexuellen Missbrauchs besonders in der katholischen Kirche weisen
darauf hin (Funke, 2010). Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass der
Vatikan seit Kurzem zur Eignungsprüfung ihrer Priesteramtskandidaten Psychologen einsetzt. Interne Supervision, demokratische
Strukturen und zeitliche Begrenzungen der Posten könnten helfen,
die Gefahren pathologischer Religiosität einzudämmen. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung an 150 Ordensschwestern ergab
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3. Machtmissbrauch
1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen
den überraschenden Befund, dass in dieser Gruppe ein aufwändig
überprüftes Maß an „seelischer Reife“ sehr ungewöhnlich verteilt
war: Ordensschwestern im Mittelbereich gab es wenige, dagegen
war die Gruppe mit sehr hohen und sehr niedrigen Reifewerten
überproportional stark vertreten (Kluitmann, 2007, bes. S. 132 ff.).
Gerade die zahlenmäßig am stärksten ausgeprägte Gruppe mit sehr
geringen Reifewerten macht deutlich, dass hier ein hoher Handlungsbedarf besteht. Die Einbeziehung psychologischer Kompetenzen zur Eignungsprüfung und Berufsbegleitung für hauptamtlich
Geistliche ist deshalb sehr zu begrüßen.
An letzter Stelle soll hier der „religiöse Wahn“ genannt werden.
Glücklicherweise ist die Häufigkeit schwerer psychiatrischer Krankheitsbilder dieser Ausprägung gering. Dennoch sind 20 bis 30 Prozent der Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis von religiösen Wahnvorstellungen wie etwa die Fremdbeeinflussung durch
böse Mächte betroffen. Auch bei der Untersuchung psychiatrischer
Patienten wird die überaus ambivalente Wirkung der Religion deutlich. Manche erleben ihren Glauben als hilfreich, andere aber als
belastend. Je nach den persönlichkeitsspezifischen Voraussetzungen, der emotionalen Tötung des Gottesbildes und der Qualität
der Gottesbeziehung kann ein negatives Gottesbild auch zu psychischen Problemen führen. Bei 115 ambulanten Schweizer PsychosePatienten schöpften zwei Drittel aus ihrer Religiosität Hoffnung
und Zuversicht und konnten durch eine religiöse Deutung in ihrer
schweren psychiatrischen Erkrankung einen Sinn sehen. Bei 14 Prozent jedoch fanden die Forscher negative Effekte, die das Krankheitsbild in Richtung „spirituelle Verzweiflung“ verstärkte. Auch
andere Untersuchungsbereiche unterstrichen die ambivalenten
Wirkungen: Während bei der Hälfte der Erkrankten psychotische
Symptome durch Religiosität abgemildert wurden, verstärkten sie
sich bei 10 Prozent. Bei einem Drittel verringerte die Religiosität
das Suizidrisiko, bei 10 Prozent wurde es dadurch noch verstärkt
(Mohr; 2006).
Die Entwicklung pathologischer Religiosität hängt also wesentlich vom Lebensverlauf und der persönlichen Stellungnahme dazu
ab.
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4. Religiöser Wahn
Michael Utsch
Religiosität aus entwicklungspsychologischer Sicht
Auch entwicklungspsychologische Studien haben sowohl lebensdienliche als auch belastende Wirkungen der Religiosität identifiziert. Jugendliche, die Religion und Spiritualität als lebensrelevant
einschätzten, griffen seltener zu Drogen und Alkohol, wurden seltener delinquent und nahmen die Entwicklungsaufgabe der sexuellen Intimität später in Angriff. Sie waren stärker an Tugenden der
Selbstkontrolle und Leistungsorientiertheit gebunden, weniger aggressiv und stärker prosozial eingestellt (Bucher & Oser, 2008, S.
617). Der Handbuchartikel von Bucher und Oser (2008) weist allerdings auch auf problematische religiöse Entwicklungsverläufe hin.
Häufig führe der Beitritt zu neureligiösen Gruppierungen zu Ambivalenz. Durch die Gruppenzugehörigkeit und ein religiös-spirituell
verändertes Selbstbild konnten manche neue Mitglieder positive
psychische Effekte erzielen (Murken & Namini, 2004). Das intensive Zugehörigkeitsgefühl, klare Wert- und Handlungsorientierungen
sowie das in der Gruppe vermittelte Sinndeutungsmodell dienten
manchen labilen Menschen als Bewältigungshilfe. Allerdings können Entwicklungsverläufe auch gestört und blockiert werden, wenn
Personen „mit einer Gruppe symbiotisch verschmelzen, sich blind
einem Meister unterordnen, ihre Individualität aufgeben und ein
dualistisches Weltbild entwickeln, gemäß dem alle Außenstehenden
moralisch verwerflich sind und in der baldigen Apokalypse zugrunde
gehen“ (Bucher & Oser, 2008, S. 155).
Durch die Arbeiten der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten
und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat sich das Erklärungsmodell der Kult-Bedürfnis-Passung durchgesetzt. Demnach
können die Angebote religiöser Gemeinschaften Antworten auf individuelle und soziale Lebensprobleme und Sinnfragen bieten. Ob
sich diese positiven Wirkungen allerdings wirklich einstellen, hängt
ab vom „Ausmaß der Passung zwischen dem jeweiligen Gruppenangebot mit seinen spezifischen Lehrinhalten, Strukturen und vermittelten Erfahrungen und der individuellen Persönlichkeitsstruktur, geprägt durch Prädispositionen, biografische Erfahrung und aktuellen
Lebenssituation“ (Murken & Namini, 2004, S. 155). Die Mitgliedschaft in einer neureligiösen Gruppe kann also zeitweise positive Effekte haben, wenn spezifische persönliche Bedürfnislagen vorhanden
sind.
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1.3
Andererseits belegen viele Erfahrungsberichte ehemaliger Sektenmitglieder, dass sich das Verhältnis von Bewältigungsnutzen und
Unterdrückungserleben im Lauf der Gruppenzugehörigkeit massiv
zum Negativen hin verändert hat. Diente die Gruppenidentität zunächst der Bewältigung einer bestimmten Lebenskrise, wuchs im
Lauf der Zeit das erlebte Ausmaß von Unterdrückung so extrem,
dass der Ausstieg unvermeidlich wurde (Hemminger, 2003). Bis
heute werden dabei zu wenig die gravierenden Unterschiede zwischen einem in einer religiösen Gruppe aufgewachsenen Mitglied
und einem Neukonvertiten berücksichtigt. Der zum Ausstieg führende Veränderungsprozess eines in eine neureligiöse Gemeinschaft
hineingeborenen Mitglieds scheint um ein Vielfaches schwieriger
zu sein als der Glaubenswechsel des „religiösen Wanderers“, einer
offensichtlich verbreiteten Lebensform spätmoderner Religiosität
(Gebhardt, 2005).
Im Extremfall können eine radikale Ideologisierung, das ausschließliche Schwarz-Weiß-Denken und andere gruppendynamische
Mechanismen bis hin zu religiös motivierter Gewalt führen. Aus
psychiatrischer Sicht hat kürzlich Kapfhammer (2008) die wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen am Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt beschrieben. Dabei führt er die
Merkmale des charismatischen Führers mit seinen Methoden der
Suggestion, Indoktrination und Kontrolle an, der mit Hilfe einer
apokalyptischen Weltdeutung die Gruppenmitglieder bis zum äußersten motivieren könne. Während die Entwicklungspsychologie
eine weitgehende Autonomie und Ausprägung der eigenen Individualität als zentrale Entwicklungsziele und Säulen psychischen Wohlbefindens benennt, werden diese in manipulativen Gruppen zugunsten von Unterordnung und Gehorsam eingeschränkt.
Die Münchner Heilpraktikerin und Yogalehrerin Angelika Doerne (2009) hat anhand verschiedener entwicklungspsychologischer
Theorien Kriterien zur Einschätzung und Auseinandersetzung mit
psychospirituellen Gruppen zusammengestellt. Sie unterscheidet
sechs Gefahren:
1. Regressive Tendenzen: Dazu zählen Abwertung und Ausschluss
des Verstandes, Idealisierung des frühkindlichen Verschmelzungszustandes als erstrebenswertem Spiritualitätszustand, eine
magische und mythische Weltsicht sowie die Fehleinschätzung,
Regression als Transformation zu deuten.
2. Sabotage von Entwicklungsprozessen: Unangenehmes und Verdrängtes werden tabuisiert, derartige Erlebnisse und Erinnerun17
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Michael Utsch
4.
5.
6.
Diese Kriterien machen deutlich, dass ein spiritueller Führer die
Gruppe seiner Anhänger relativ leicht manipulieren kann. Die
Kontrollmechanismen demokratischer Strukturen sind hier ein
wirksamer Schutz vor einem Machtmissbrauch. Gemeinschaftlich
akzeptierte Grundwerte bilden die Basis für das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe und die notwendige gegenseitige Korrektur.
Die entwicklungspsychologische Bindungsforschung weist darauf hin, dass die Übergänge zwischen fundamentalistischer Rechthaberei und erwartungsvollem Hoffen fließend sind. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich besonders der destruktive Einfluss
fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte nachweisen. Dabei kommt der
Vermittlung von Idealen und Leitbildern eine Schlüsselstellung zu.
Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen
Welt emotional forciert werden und keine rationale Prüfung mehr
durchlaufen, führt das leicht zu Fanatismus. Als Ziel lockt das Versprechen, alles Böse in der Welt zu bannen, um den belastenden inneren Spannungen und Ambivalenzen endgültig zu entfliehen. Eine
religionspsychologische Untersuchung von Entwicklungsverläufen
bekannter religiöser Persönlichkeiten zeigte, wie blindes Vertrauen in einer frühen Lebensphase, die von abhängigen Beziehungen
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3.
gen werden bagatellisiert, ein absolutes Harmoniestreben steht
im Vordergrund; durch Extremerfahrungen werden die psychischen und physischen Schmerzgrenzen überschritten; die persönliche Entwicklung wird auf den transpersonalen Fortschritt
beschränkt.
Stärkung des Narzissmus: Spirituelle Erfahrungen werden als
persönliche „Leistung“ beurteilt.
Gemeinschaft über alles: Individualität und Würde des Einzelnen werden den Gruppeninteressen unterstellt, Rückzug vor der
Außenwelt und Förderung von Exklusivitätsdenken.
Ungleichgewicht zwischen transzendenter und weltlicher Orientierung: Alles Transzendente wird überbetont; die Lebenshaltung ist weltabgewandt, eigene Gefühle und Bedürfnisse werden
verdrängt, die Eigenverantwortung wird vernachlässigt.
Verflachte Interpretationen spiritueller Inhalte und Erfahrungen:
Einzelne Aspekte eines Lehrsystems werden zum Dogma bzw.
zur sicheren Wahrheit erhoben, ein persönlicher Handlungsspielraum wird geleugnet, auf kollektive Verantwortung Wert
gelegt; bedingungslose Hingabe an den Meister ist Pflicht.
1 Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgen
bestimmt war, mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann (Bucher, 2004). Hier
fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu.
Indem der Mensch seinen Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt,
kann sich eine Haltung von gläubiger Hoffnung entwickeln. In sektiererischen Gruppen werden hingegen religiöse Führer idealisiert
und ihre Lehren ideologisiert, um den Glauben an eine absolute
Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die
reife gläubige Hoffnung hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass
sie Zweifel zulässt und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger
Zuversicht motiviert. Die psychoanalytische Bindungstheorie ist ein
vielversprechendes Erklärungsmodell zur Unterscheidung zwischen
lebensdienlichen und krankmachenden Aspekten der Religiosität
und sollte deshalb von der Pastoral- und Religionspsychologie weiter aufgegriffen werden (Heine, 2007; Noth, 2010).
Die moderne psychoanalytische Bindungsforschung bezieht nämlich im Selbstwerdungsprozess der Seele auch Beziehungen zu einem
transzendenten Gegenüber ein. Weil der christliche Glaube im Kern
ein Beziehungsgeschehen darstellt, ergeben sich hier fruchtbare
Dialoge. So kann überprüft werden, ob der Kommunikationstyp
zum Glaubensstil passt. So wie sich unsere Persönlichkeit lebenslang weiterentwickelt, verändert sich auch der Glaube mit seinen
Gottesbildern und Frömmigkeitspraktiken. Wenn das Persönlichkeitswachstum und die Glaubensentwicklung gemeinsam betrachtet
werden, können reife und unreife Formen von Glaubensvollzügen
plausibel unterschieden werden.
Religionsmissbrauch in Sekten und
„Psychogruppen“
Konfliktträchtige religiöse Gruppierungen konstituieren sich regelmäßig über eine charismatische Führerpersönlichkeit. Durch diese
erfährt die Gruppe ihre entscheidende ideologische Ausrichtung. Die
damit verbundenen Phänomene einer autoritären Persönlichkeitsstruktur, faschistoider Dynamiken und fundamentalistischer Weltdeutungen sind in der letzten Zeit präzise beschrieben worden (Conzen, 2006; Deikman, 2003; Grom, 2007). Dafür gibt es ein ziemlich
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1.4
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1. Interne Kontrolle: Wie viel Macht übt der Gruppenleiter auf die
Mitglieder aus?
2. Wahrheitsanspruch: Sind Lehre und heilige Schriften unanfechtbar?
3. Zugeschriebene Weisheit: Wie viel Vertrauen setzen die Mitglieder in ihren Leiter?
4. Dogma: Starrheit der Realitätskonzepte, Fundamentalismus
5. Rekrutierung: Wie wichtig ist die Anwerbung neuer Mitglieder?
6. „Front“-Gruppen: Anzahl versteckter Ableger, die andere Namen als den der Hauptgruppe benutzen
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klares Erkennungsmerkmal: die Autoritätshörigkeit einer Gruppe,
deren Ausmaß daran abgelesen werden kann, wie mit sachlich vorgetragener Kritik umgegangen wird.
Die Gruppendynamik einer Gemeinschaft ist durch das Herbeiführen intensiver Gemeinschaftserlebnisse leicht steuerbar. Durch
laute Musik und andere Setting-Merkmale (abgelegner Ort, Verbot
von Uhren und Handys, etc.) kann das Erleben der Gruppe so überwältigend wirken, dass Teilnehmer mit ihr symbiotisch verschmelzen
und ihre Individualität zumindest zeitweise aufgeben. Pathologisierend wirkt Gruppenspiritualität auch dann, wenn strikt zwischen
Insidern und Outsidern, zwischen Erleuchteten und Verlorenen
unterschieden wird. Aus der Gruppe verstoßen zu werden, wird
schlimmstenfalls mit dem Sterben gleichgesetzt (Wilber, 1995).
Besonders gefährlich ist eine apokalyptisch-endzeitliche Ausrichtung der Gruppe. Immer noch erschütternd ist der Massensuizid, bei
dem Jim Jones, der Gründer des „Peoples Temple“, im Jahr 1978
über 900 seiner Anhänger im Urwald von Guyana in den Tod führte
(die schrecklichen Ereignisse wurden auch literarisch verarbeitet, vgl.
Jones & Jones, 2008; Layton, 2008). Die Angehörigen des Sonnentempelordens rechneten mit dem baldigen Weltuntergang, bevor es
1994/1995 zu 53 simultanen Suiziden in Kanada und in der Schweiz
kam (Kapfhammer, 2008). Im Jahr 1997 begingen 39 Mitglieder des
UFO-Kults Heaven’s Gate durch Autoabgase Suizid. In der Regel
findet bei solchen Gruppen ein totaler Rückzug aus der sozialen Umwelt statt. Man sieht sich einem universellen Bösen gegenüber, das in
der sozialen Außenwelt platziert wird.
Der amerikanische Mathematiker E. Benjamin hat unter Anwendung einer Kult-Checkliste versucht, das Gefährdungspotenzial
verschiedener „Psychogruppen“ zu gewichten (Benjamin, 2005). Er
unterscheidet die folgenden 15 Faktoren, die jeweils zwischen „sehr
niedrig“ (1) und „sehr hoch“ (10) zu gewichten sind.
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