Deutschland Beerdigung inklusive Eine Patientin, durch Blutpräparate mit Hepatitis C infiziert, verklagt die Firma Hoechst. Die Branche fürchtet eine Prozesslawine. F ür gewöhnlich reagieren Unternehmen unnachgiebig, wenn sie durch ein mangelhaftes Produkt ihres Hauses öffentlich ins Gerede kommen – besonders dann, wenn Leib und Leben der Konsumenten bedroht sind. So war es auch bei Hoechst: Der Frankfurter Pharma-Riese antwortete zunächst reflexartig, als ihm eine junge Frau vor zwei Jahren vorwarf, verseuchtes Blut verkauft zu haben; weil sie an Hepatitis C erkrankt ist, forderte die Patientin 200 000 Mark Schmerzensgeld. Umgehend konterte der Chemiemulti, jeder Anspruch entfalle, weil das Risiko einer Infizierung nicht vermeidbar gewesen sei. Inzwischen liegt eine Klage der Frau bei Gericht, und die Rechtsvertreter von Hoechst sind unerwartet zurückhaltend geworden. Ein ums andere Mal halten sie vom Richter gesetzte Fristen nicht ein und riskieren somit, dass ihre Argumente vom Gericht wegen Verspätung nicht berücksichtigt werden. Für diese Nachlässigkeit könne es eine Erklärung geben, meint Christoph Kremer, der Frankfurter Anwalt der infizierten Frau: „Die fürchten ein Urteil, das meiner Mandantin in der Sache Recht gibt.“ Tausende von Patienten haben sich in den achtziger Jahren durch Spenderblut oder Blutkonserven verschiedener Hersteller mit den todbringenden Hepatitis-C-Viren angesteckt. Die meisten ergaben sich still ihrem Schicksal. Doch seit bekannt geworden ist, dass die Industrie möglicherweise fahrlässig verseuchte Blutprodukte in Verkehr gebracht hat (SPIEGEL 33/1999), begehren viele Opfer auf. Immer mehr Infizierte wollen gegen die Firmen klagen. Die Blutbranche fürchtet deshalb eine Prozessflut. Am Ende könnte sie mit Forderungen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in dreistelliger Millionenhöhe konfrontiert werden. Der Prozess, der zur Zeit vor der 22. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt läuft, Gefrorene Blutkonserve, Hoechst-Zentrale in Frankfurt: hat Pilotfunktion. Die heute 30-jährige Hessin leidet an dem so geDie Haftpflichtversicherung der Behnannten Willebrand-Jürgens-Syndrom: Bei ringwerke zahlte der jungen Frau in einem akuten Verletzungen treten als Folge dieser außergerichtlichen Vergleich 75 000 Mark, Gerinnungsstörung unstillbare Blutungen Beerdingungskosten inklusive. Dieser Deal auf, sie braucht dann Gerinnungspräparate. folgte zentral geführten Verhandlungen der Im Sommer 1984 stürzte das damals 15- Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG): jährige Mädchen im Schwimmbad. Es erlitt Alle HIV-infizierten Bluter in Deutschland einen Bluterguss am Hintern. Bei der Be- wurden Ende der achtziger Jahre auf diehandlung in der Universitätsklinik erhielt se Weise abgefunden. die Verletzte in den folgenden Tagen PlasDoch die Heranwachsende litt zusemakonzentrate der Behringwerke, einer hends darunter, dass sie sich bei der Blutdamaligen Hoechst-Tochter. transfusion nicht nur mit HIV, sondern Schon einige Tage danach stiegen die auch noch mit Hepatitis C infiziert hatte. Leberwerte des Teenagers dramatisch an, Wegen ihrer angegriffenen Leber konnte das Mädchen musste wieder ins Kranken- sie einige Medikamente, die der Aids-Prohaus. Die Ärzte stellten fest, dass sie sich phylaxe dienen, nicht einnehmen. Die Abmit HIV und Hepatitis C infiziert hatte. iturientin schloss zwar die Schule mit dem SIPA PRESS GESUNDHEIT DPA Bummelei mit System? besten Noten-Durchschnitt ihres Jahrgangs ab, aber auf die Uni wollte sie nicht mehr – zu kurz erschien ihre Lebenserwartung. Irgendwann aber fasste die junge Frau wieder Lebensmut – und verklagte im September 1998 Hoechst auf Schadenersatz und Schmerzensgeld. Der Richter gab den Hoechst-Juristen zunächst fünf Wochen Zeit zur Erwiderung. Er verlängerte die Frist auf Wunsch des Pharmakonzerns noch zweimal, doch ließ die Frankfurter Hoechst-Kanzlei Boesebeck-Droste auch den letzten Termin ohne Angabe von Gründen verstreichen. Erst drei Tage vor dem ersten Verhandlungstag am 8. März dieses Jahres und über sechs Wochen nach der letzten Fristset- zung reichte die Firma einen Schriftsatz ein. Richter Stefan Ostermann rügte die Versäumnisse und meinte, der Prozess könne für Hoechst allein aus diesem Grunde verloren gehen. Der Anwalt der klagenden Frau vermutet Strategie hinter der Bummelei: Verliert Hoechst nun in Frankfurt, müsste der Konzern nur an die kranke Hessin zahlen.Würde das Unternehmen hingegen ein reguläres Urteil kassieren, könnten sich andere Hepatitis-Infizierte darauf berufen. Weil es sich um ein laufendes Verfahren handele, wollte Hoechst gegenüber dem SPIEGEL keine Stellung zu dem Fall abgeben. Hoechst-Sprecher Carsten Tilger: „Wir weisen jedoch die Vermutung, eine Prozessverzögerung anzustreben, entschieden von uns.“ Müsste die Firma in Frankfurt ein Präzedenzurteil hinnehmen, dürfte es für die Branche teuer werden. Zwischen 200 000 und 400 000 Träger des Hepatitis-C-Virus gibt es in Deutschland. Die genaue Zahl kennt niemand, da viele nichts von ihrer Infektion wissen. Die Krankheit bricht bisweilen erst 10 bis 20 Jahre nach der VirusInfektion aus. Viele Opfer haben sich durch Bluttransfusionen oder Blutprodukte angesteckt. Die „Arbeitsgemeinschaft Plasmaderivate herstellender Unternehmen“ rechtfertigte sich, „allen Beteiligten und Betroffenen“ sei die Gefahr verseuchter Produkte bekannt gewesen. Es habe aber letztlich keine sicheren Tests gegeben, um das Spenderblut von Viren freizuhalten. Und „der überragende Nutzen“ der Behandlung habe die „unvermeidbaren Risiken der Therapie bei weitem“ übertroffen. Erst 1990 seien sichere Untersuchungen der Blutprodukte möglich geworden. „Und nun stellt sich plötzlich heraus, dass die uns womöglich die ganze Zeit be- logen haben“, schimpft Egon Stachel aus Baunatal-Rengershausen, der sich 1980 bei einer Nierenstein-Operation infiziert hat. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Gerhard Scheu fand bei Recherchen für seine juristische Doktorarbeit heraus, dass der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bereits im November 1976 einen so genannten ALT-Test als Standard bei Gerinnungspräparaten verbindlich vorgeschrieben hatte. Mit diesem Verfahren hätte sich schon vor mehr als 20 Jahren feststellen lassen, ob ein Blutspender an den Symptomen einer leberschädigenden Krankheit leide; die Gefahr, gesammeltes Blut mit Viren zu kontaminieren, hätte auf diese Weise wesentlich vermindert werden können. Die Plasmahersteller kritisieren indes bis heute die „große Ungenauigkeit der ALT-Testung“, sie hätten damit „keinen Sicherheitsgewinn“ erreichen können. Seit Scheus Ergebnisse bekannt geworden sind, fordert die DHG von der Pharmaindustrie vehement Entschädigungen für die rund 3000 infizierten Bluter – bisher vergeblich. Der Hamburger Anwalt Jürgen Schacht bereitet deshalb Musterklagen gegen Unternehmen wie die Leverkusener Bayer AG vor. Schacht prüft zudem, ob er in geeigneten Fällen die Klage mit Hilfe von USKollegen auch in Kalifornien einreichen kann. Das könnte Erfolg haben, weil der Bundesgerichtshof in der so genannnten Apfelschorf-Entscheidung zur Produkthaftung festgestellt hat, dass Geschädigte nach dem internationalen Privatrecht auswählen können, wo sie vor Gericht ziehen wollen. Der Vorteil eines Abstechers in die Vereinigten Staaten: Amerikanische Gerichte sprechen Opfern fehlerhafter Produkte wesentlich höhere Entschädigungen zu als deutsche. Carolin Emcke, Udo Ludwig