Erhebliche Selbstgefährdung aus ärztlicher Sicht

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Erhebliche Selbstgefährdung
aus ärztlicher Sicht
Eberhard Höfer
24.02.2012
Begriff der Selbstgefährdung:
•
•
•
a)
b)
c)
Selbstgefährdung ist kein medizinisch
definiertes Symptom
Selbstgefährdung ist ein Begriff der
juristischen Literatur
Selbstgefährdung wird festgestellt durch:
Allgemeine Lebenserfahrung
Fachkundige Beurteilung (Sachverständigengutachten)
Werteabwägung – der zuständigen Behörden und der
zuständigen Gerichte
Selbst-oder Eigengefährdung:
• Eine Person bringt sich selbst durch ihr
Verhalten oder Handeln in Gefahr
• Gefahr ist die hohe (hinreichende)
Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts
Selbstgefährdungen:
• Eigenverantwortliche (bewußte) Selbstgefährdung durch
selbstbestimmtes Risikoverhalten (z.B. allgem.
Lebensrisiken, Risikosportarten etc.)
• Nicht bewußte Selbstgefährdung (Gefahr ist nicht
bekannt oder wird nicht erkannt, man will sich nicht
absichtlich in Gefahr bringen)
• Selbstgefährdung durch störungs- oder
krankheitsbedingte Einsichts- und/oder
Steuerungsunfähigkeit (Willen nicht frei bestimmbar)
• Zivilrechtlich: nur Selbst-und
Eigengefährdung
• Öffentlichrechtlich: Selbst- und
Fremdgefährdung
• Der Gefahrenbegriff wird in den einzelnen
Bundesländern in den Sicherheits-und
Ordnungsgesetzen (SOG) oder den
Polizeigesetzen definiert
§ 2 Nds SOG (öffentliches Recht!)
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Gesetzes ist
1.
a)Gefahr:
eine konkrete Gefahr, das heißt eine Sachlage,
bei der im einzelnen Fall die hinreichende
Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer
Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit
oder Ordnung eintreten wird;
b)gegenwärtige Gefahr:
eine Gefahr, bei der die Einwirkung des
schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat
oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder
in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht;
§ 2 Nds SOG
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Gesetzes ist
c) erhebliche Gefahr:
eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut
wie Bestand des Staates, Leben, Gesundheit,
Freiheit, nicht unwesentliche Vermögenswerte
sowie andere strafrechtlich geschützte Güter;
d)Gefahr für Leib oder Leben:
eine Gefahr, bei der eine nicht nur leichte
Körperverletzung oder der Tod einzutreten droht;
§ 2 Nds SOG
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Gesetzes ist
2. abstrakte Gefahr: eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den
Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Fall
ihres Eintritts eine Gefahr (Nummer 1) darstellt;
3. Maßnahme: Verordnungen, Verwaltungsakte und andere Eingriffe;
4.Gefahr im Verzuge: eine Sachlage, bei der ein Schaden eintreten
würde, wenn nicht an Stelle der zuständigen Behörde oder Person
eine andere Behörde oder Person tätig wird;
5.Polizei: die Polizeibehörden (§ 87 Abs. 1) sowie für sie die Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten (Nummer 6) und die Hilfspolizeibeamtinnen und Hilfspolizeibeamte
(§ 95);
6.Polizeibeamtin oder Polizeibeamter: …
7.Verwaltungsbehörde: …
8.Verwaltungsvollzugsbeamtinnen oder Verwaltungsvollzugsbeamte:
…
Weitere Aspekte der Gefahrenbegriffe
(z.T. leicht abgewandelte Begrifflichkeiten in den verschiedenen
Ländergesetzen)
• Als konkrete Gefahr wird eine Sachlage bezeichnet,
welche bei ungehindertem Geschehensablauf und in
überschaubarer Zukunft mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden führen wird.
Entsprechendes gilt für ein von Personen ausgehendes
Verhalten.
• Die erhebliche Gefahr stellt hinsichtlich der Art der
gefährdeten Güter eine Steigerungsform der konkreten
Gefahr dar. Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut wie
z.B. der Bestand des Staates, das Leben, die
Gesundheit, die Freiheit, nicht unwesentliche
Vermögenswerte sowie andere strafrechtlich geschützte
Güter. (Schadensabwägung!)
• Die Begriffe "erhebliche Gefahr" und „dringende Gefahr"
haben eine identische Bedeutung.
Unterbringungsvoraussetzungen:
Zivilrechtliche Unterbringungsvoraussetzung (Selbstgefährdung):
§ 1906 BGB
Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der
Unterbringung
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die
mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig,
solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil
1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder
seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht,
dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen
Schaden zufügt, oder
2. eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine
Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne
die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden
kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit
oder geistigen oder seelischen Behinderung die
Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder
nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
Unterbringungsvoraussetzungen:
Öffentlich rechtliche Unterbringungsvoraussetzung in
einem geeigneten Fachkrankenhaus (Selbst- und
Fremdgefährdung):
§ 16 NPsychKG
Die Unterbringung einer Person ist nach diesem Gesetz
nur zulässig, wenn von ihr infolge ihrer Krankheit oder
Behinderung im Sinne des §1 Nr. 1 eine gegenwärtige
erhebliche Gefahr (§ 2 Nr. 1 Buchst. b und c Nds.SOG)
für sich oder andere ausgeht und diese Gefahr auf
andere Weise nicht abgewendet werden kann.
(höhere Schwelle als bei zivilrechtlicher Unterbringung!)
Überlegungen zur Feststellung der
Selbstgefährdung und Schadensabwägung
• Welcher Schaden von welchem Ausmaß in welcher
Aktualität (Dringlichkeit) droht bei unbeeinflusstem
Verhalten, Handeln?
• Ist für die Betroffene/den Betroffenen der drohende
Schaden absehbar?
(eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder störungsbedingte
Selbstgefährdung? Problem der sog. ich-syntonen Störungen wie z.B.
Persönlichkeitsstörungen, Suchten, Anorexien, Psychosen… „wollen sie
das, oder wollen sie das, weil sie krank sind?“…)
• Die Art des Schadens bestimmt die Mittel:
- Gesundheitsschaden (Suizidalität, Sturzgefahr, Verschlimmerung
-
etc.)
Vermögensschaden (Erheblichkeit des Verlustes)
Sozialer Schaden (Verlust des sozialen Status z.B. durch
Vertrauensverlust, Verlust des Ansehens, Verlust der Würde)
Selbstgefährdung - Beurteilungsbeeinflussung
• Beurteilungsbeeinflussung
durch sog. Ankereffekte
(Primingeffekte,
Bahnungseffekte)
• Ankereffekte: z.B.
Ereignisse und
Informationen, die mit der
aktuellen Situation nur
zeitlich aber nicht
inhaltlich in
Zusammenhang stehen
Betreuungsvoraussetzung:
§ 1896 BGB
Voraussetzungen
(1) Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen
Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder
seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz
oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das
Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts
wegen für ihn einen Betreuer. …
a Erforderlichkeitsprinzip!
(Unterstützung für den Betreuten in den Bereichen, die
er selbst nicht mehr aufgrund seiner Krankheit oder
Behinderung vernünftig, differenziert abwägen oder
steuern kann.)
Ärztliche Aufgabe bei der Feststellung von
Selbstgefährdung als Hilfe für die
Eingriffsverwaltung, Polizei und Gericht:
Über die allgemeine Lebenserfahrung
hinausgehende fachliche Beurteilung und
Stellungnahme zur Selbstgefährdung unter
Berücksichtigung typischer, pathologischer
Störungsverläufe und unter Einbeziehung der
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.
Vorschläge zur Abhilfe.
Allgemeine (fach-)ärztliche Perspektive:
Selbstgefährdung:
Grundsätzlich gefährdet sich jeder selbst, der sich einer
notwendigen Behandlungsindikation verweigert
Erhebliche Selbstgefährdung:
der zu erwartende Gesundheitsschaden
(Vermögensschaden, sozialer Schaden) ist er durch die
Verweigerung von Hilfemaßnahmen und Behandlungen
nicht nur unerheblich (kontrovers: Chronifizierung)
Konflikte:
Autonomierechte versus Schutz und Behandlung
Selbstbestimmung versus unterlassene Hilfeleistung
Nichteinwilligung versus Körperverletzung/
Freiheitsberaubung
Selbstgefährdung - Selbstschädigung
Entscheidungskonflikte bei Menschen ohne
Diagnose einer psychischen Störung:
- „Stammheim-Urteil“
- Bilanzsuizide im Alter oder bei schweren
unheilbaren Erkrankungen
- Mutmaßlicher Wille zur objektiven
Selbstschädigung aus religiösen Gründen (z.B.
Verweigerung von Bluttransfusionen etc.)
• Aus medizinischer Sicht ist Selbstgefährdung
eine prognostische Aussage
• Ein erhöhtes Risiko für selbstgefährdendes
Verhalten haben Menschen mit psychischen
Störungen, Menschen in Krisensituationen oder
nach Traumata sowie Menschen mit einer
geistigen oder seelischen Behinderung
• Gemeinsam ist eine Einschränkung der
Exekutivfunktionen
Exekutivfunktionen:
• Exekutivfunktionen sind von der
Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses
abhängig (zentrale Exekutive, zwei „Slave Systems“:
visuell-räumliche Informationsverarbeitung, verbalsprachbasierte Informationsverarbeitung)
• Exekutivfunktionen erlauben sinnvolles
Verhalten und Handeln
• Exekutivfunktionen ermöglichen Verstehen,
Schlussfolgern, Problemlösen, Planen,
zielgerichtetes und effektives Handeln,
Überwachen und Kontrolle des Verhaltens
Schlüsselsyndrome des psychiatrischen
Notfalles (nach Rupp 2010)
Schlüsselsyndrom
Psychische und soziale Funktionsstörung
benommen, verwirrt
Störung des Bewusstseins (quantitativ oder qualitativ)
Unruhig, komisch,
wahnhaft
Störung des Realitätsbezugs in
Wahrnehmung/Denken/Handeln
Verzweifelt, suizidal
Affektive Störung: depressiv, verzweifelt, suizidal,
psychisch traumatisiert
Konflikt, Gewalt
Störung des Sozialverhaltens, der Impulskontrolle,
Grenzüberschreitungen, Verstrickungen
Alkohol-, Drogenproblem
Syndrom in Zusammenhang mit
Suchtmittelmissbrauch (Bewusstseinseinschränkung,
affektive und kognitive Störung)
Angst, Panik
Phobische und andere Angststörungen bei erhaltenem
Realitätsbezug
Chronisch- akut
„Schwierige Persönlichkeit“
Wirkung von sozialen Faktoren
4
Stabilisierung
4
Eskalation
• Soziales Umfeld 4
• fehlendes soziales
Umfeld (soziale
Isolierung)
4
Eskalation (mangelnde
Korrektur)
Fragen bei Verdacht auf Suizidalität
•
•
•
•
Fragen nach Suizidgedanken
Fragen nach konkreten Plänen
Fragen nach konkreten Vorbereitungen
Fragen nach Suiziden in Familie und
Umfeld
Unbewusste Suizidziele sowie damit verbundene Gefahren
und verborgene Lebensänderungschancen (Rupp, 2010)
Selbstbestrafung
Gefahr: massive Schuldgefühle werden scheinbar abschließend gesühnt
Chance: in Selbstverantwortung Verhaltensänderungen einleiten
Schuldgefühle bei Angehörigen
Gefahr: deren Aufmerksamkeiten wird auf destruktive Weise erzwungen
Chance: Bedürfnis nach Nähe aktiv wahrnehmen, um auf andere zuzugehen
Rache
Gefahr: die Angehörigen (oder andere) sollen öffentlich beschuldigt werden
Chance: Konflikte beim Namen nennen und sich auseinandersetzen
Kompensation
Gefahr: durch dramatische Selbstopferung wird Verlust an Selbstbedeutung kompensiert
Chance: zum Bedürfnis stehen, anerkannt und respektiert zu werden
Vereinigung
Gefahr: im Tod wird eine Vereinigung mit dem geliebten und vermissten Menschen
fantasiert
Chance: trauern, so dass Platz für neue Beziehungen entstehen kann
Weitere Selbstgefährdungen bei deutlichen
Störungen der Exekutivfunktionen
Selbstgefährdung durch Nicht-ErkennenKönnen von Gefahren z.B.:
- Sturzgefahr (Demente, Verwirrte, motorische Störungen…)
- Verschuldungsgefahr (Intelligenzminderung, Manie …)
- Gefahr durch unsachgemäßen Umgang mit Gegenständen
- andere Gesundheitsgefahren (mangelnde Hygiene, Straßenverkehr …)
Selbst Gefährdung durch Sich-NichtVersorgen-Können mit materiellen
Grundlagen z.B.:
Mehrfach behinderte Menschen, geistig behinderte Menschen,
Obdachlose, erhebliche Verwahrlosung, Hilflose, Kinder…
Orientierungsfragen zur Abhilfe bei
erheblicher Selbstgefährdung
1. Auftragslage, Funktion des Helfers
2. Welches Schlüsselsyndrom liegt vor?
3. Was ist das konkrete Problem?
4. Wie erheblich ist das Problem?
5. Wie dringlich muss das Problem gelöst werden, ohne
weitere Risiken einzugehen?
6. Schaden? Liegt eine Gesundheitsgefährdung, eine
Vermögensgefährdung, eine soziale Gefährdung vor?
7. Wie kann die Selbstgefährdung abgewendet werden?
8. Wie gut ist die/der Betroffene erreichbar und wie stabil
sind Zusagen und Vereinbarungen
9. Werteabwägung: Selbstbestimmung – Schutz
10. Was ist zu veranlassen, wer muss eingeschaltet und
unterrichtet werden?
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
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