Riga im Prozeß der Modernisierung

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Sonderdruck aus
Tagungen zur
Ostmitteleuropa-Forschung
21
Riga im Prozeß der
Modernisierung
Studien zum Wandel einer Ostseemetropole
im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Herausgegeben von
Eduard Mühle und Norbert Angermann
Verlag Herder-Institut
Marburg 2004
Architektur als Symbol. Nation building in Nordosteuropa.
Estland und Lettland im 20. Jahrhundert
von
Jörg H a c k man n
Der 11. September 2001, an dem die Konferenz anläßlich des Rigaer Stadtjubiläums
begann, hat die Rolle der Architektur für den symbolischen Entwurf kollektiver Identitäten in einer kaum zu steigernden Weise vor Augen geführt. Das hier zu behandelnde Thema bedarf daher weniger einer ausführlichen theoretischen Erörterung als
des Hinweises, daß hier versucht werden soll, das Baugeschehen und die Architekturdiskussion in Estland 1 und Lettland zu betrachten und in einen nordosteuropäischen
Zusammenhang einzubetten.
*
1938 publizierte das estnische Verkehrsministerium einen Band mit dem Titel
"Zwanzig Jahre Bauen in Estland", der 271 Photos von Gebäuden enthielt, die in der
Zeit der unabhängigen Republik Estland errichtet oder umgebaut worden waren' Der
einleitende Text stammte von dem bekanntesten estländischen Kunstkritiker der Zwischenkriegszeit, Hanno Kompus (1890-1974)3, der auch die Auswahl der Photos getroffen hatte. Ganz offensichtlich sollte diese Veröffentlichung einen allgemeinen
Überblick über die Leistungen der estnischen Architektur seit 1918 geben. Der Bildband zeigt nur realisierte Gebäude, keine Projekte oder Zeichnungen; er richtet sich
also nicht in erster Linie an Architekten oder Kunstwissenschaftler, sondern an die
allgemeine Öffentlichkeit. Wenn man nun fragt, ob gewisse Architekturtendenzen in
der Publikation besonders herausgestellt werden, dann fallt eine klare Antwort
2
Der estnischen Diskussion ist auch der Titel entnommen, siehe EDGAR KUUSIK: Arkitektuur kui sümbol [Architektur als Symbol], in: Eesti arkitektide almanak 1934, S. v-x.
20 aastat Ehitamist Eestis 1918-1938. Teedeministeeriumi Ehitusosakonna Väljaanne [20
Jahre Bauen in Estland 1918-1938, hrsg. von der Bauabteilung des Verkehrsministeriums],
Tallinn 1938.
HANNO KOMPUS, in: 20 aastat (wie Anm. 2), S. 7-31; Auszüge auf deutsch: DERS.: Bauen
in Estland, in: Revue Baltique 1 (1940), 1, S. 114-125; Kompus hatte sich auch bereits zuvor mit diesem Thema befaßt: DERS.: Eesti ehituskunsti teed [Wege der estnischen Baukunst], in: Eesti kunsti aastaraamat 2 (1926), S. 47-58; siehe auch allgemein zu diesem
Thema die Nachweise in: Schrifttum zur Deutschen Kunst. Sonderheft: Bibliographie zur
baltischen Bau- und Kunstgeschichte. 1939-1981, bearb. von ERICH BÖCKLER u.a., Berlin
1984.
149
schwer. Was dem heutigen Betrachter auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen
mag, ist, daß eine große Zahl von privaten Wohnhäusern vorgestellt wird, aber nur
wenige dörfliche oder bäuerliche Gebäude. 4 Die Abbildungen beginnen und enden
mit Gebäuden von unverkennbarer politischer Relevanz: mit zwei Gemälden der umgebauten Residenzen des Staatsältesten bzw. Staatspräsidenten in Oru/Orro und
Kadriorg/Katharinental zu Beginn und dem Denkmal für die Toten des Befreiungskriegs auf dem Militärfriedhof in Tallinn (von Edgar Kuusik von 1928) am Ende.
Architektur, so zeigt diese Publikation, wurde nicht nur als eine Repräsentation
des, estländischen Staates interpretiert und präsentiert, sondern als Ausdruck der gesamten Nation, die danach strebte oder streben sollte, in modemen und gesunden
Verhältnissen zu wohnen. So finden sich unter den Abbildungen Bankgebäude, Krankenhäuser, Schulen, Versammlungshäuser, Stadien und Schwimmbäder, Wohnblöcke
und Einfamilienhäuser, letztere vor allem aus Nörnme/Nömme und PärnulPernau.
Die Hypothese, daß die Entwicklung der modemen Architektur - hier im zeitlichen Sinne, nicht als Stilepoche verstanden - nicht nur die gesellschaftliche Emanzipation der Esten von einer nicht-dominanten Ethnie zu einer Staatsnation begleitet,
sondern eben diesen Prozeß reflektiert, diese Annahme drängt sich auch bei der Betrachtung von Untersuchungen und Diskussionen estnischer Wissenschaftler - vor allem von Kunsthistorikern - des letzten Jahrzehnts auf. Ihre Darstellungen zu den Traditionen der estnischen Modernität in der Architektur waren ein nicht unwichtiger
Teil in der Bewegung für die Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion und für
die so oft beschworene "Rückkehr nach Europa". Ähnlich verhält es sich in Lettland.
Hier ist vor allem der Rigaer Jugendstil, der als Ausweis des europäischen bzw. im
Weltrnaßstab einmaligen Charakters der lettischen Hauptstadt gelesen wird. 5
Dieser Zusammenhang von Architektur und nation building soll im folgenden näher beleuchtet werden. Neben der Frage nach seiner materiellen Basis in der Architektur selbst, die hier im Vordergrund steht, stellt sich als zweite Frage die nach der
Rezeption dieses Zusammenhangs als Teil des Unabhängigkeitsdiskurses. Ausgehend
von einem ähnlichen Befund in Diskussionen über kulturellen Nationalismus und Architekturgeschichte in Finnland", läßt sich schließlich als dritte Frage formulieren, ob
es sich hierbei um ein Phänomen handelt, das über Estland bzw. die baltischen Staaten hinausreicht.
Zweifellos ist gerade Architektur für die symbolische Repräsentation des Selbstverständnisses von Institutionen wie von Gruppen und Einzelpersonen von großer
4
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Vgl. dagegen etwa die Rolle ländlicher Architektur in der Darstellung der "kapitalistischen
Periode" in: Eesti Arhitektuuri ajalugu [Estnische Architekturgeschichte), hrsg. von Eesti
NSV Teaduste Akadeemia, Tallinn 1965, S. 423-433.
Deutlich in: JÄNIS KRAST~S: Riga - Jugendstilmetropole, RIga 1996, ähnlich auch schon
in dem zuerst 1988 auf russisch erschienenen Buch: DERS.: Jugendstil in der Rigaer Baukunst, Michelstadt 1992, S. 274.
LOTHAR MACHTAN: Kultureller Nationalismus? Die Inszenierung und Präsentation nationaler Identitätsmuster in Finnland um die Jahrhundertwende, in: Am Rande der Ostsee. Aufsätze vom IV. Symposium deutscher und finnischer Historiker in Turku, 4.-7. September
1996, hrsg. von EERO KUPARINEN, Turku 1998, S. 128-153.
150
Bedeutung. Aber wenn in dem hier interessierenden Fall die Verbindung zwischen
nation building als sozialem Prozeß und der Entwicklung einer nationalen Architektur
offensichtlich zu sein scheint, so entzieht sich dieser Zusammenhang doch einer eindeutigen Festlegung. Oft wird die Entwicklung einer nationalen Architektur als genauso "natürlich" wie die Entwicklung einer Nationalliteratur oder Nationalkultur betrachtet. Und so erörtern Kunsthistoriker normalerweise diese Architekturthemen als
eine Frage eines "Nationalstils". Folglich befassen sich estnische Architekturhistoriker mit der "Suche nach einem Nationalstil" in Estland nicht nur als einem Epochenphänomen, sondern als einem Grundproblem estnischer Architektur.' Ähnliches ließe
sich auch über die lettische Diskussion sagen." Eine solche Perspektive speist sich aus
drei ~uellen: Zum einen sucht sie Bezüge in der bäuerlichen Volkskunst und -architektur , zum anderen greift sie historisierend auf Stilelemente zurück, die dem Kanon
des nationalen Erbes zugerechnet werden. Krista Kodres erwähnt schließlich in diesem Zusammenhang noch einen dritten Punkt: die ethnische bzw. nationale Zugehörigkeit des Architekten, und hält fest, "throughout the [20 th] centu?t;, the architect's
ethnicity has also been a basis for defining ,Estonian' architecture". 0 Und ein weiterer Punkt ist hier zu nennen: die Nationalität des Bauherm, sei es als Institution, Verband oder Einzelperson. Folgt man diesen Überlegungen, dann wäre zu schließen, daß
der nationale Charakter der Architektur im Nationalstil und in der Nationalität des
Architekten oder Bauherm gelesen werden kann.
Ein solcher Zugang wirft freilich auch Zweifel auf: Die Behauptung von NationaI
lität als Kriterium, unabhängig von der Ausführung der Architektur, wird sich mit
dem Vorwurf nationalistischer Einseitigkeit auseinanderzusetzen haben, und die Frage nach dem Nationalstil führt zu empirischen Problemen, die vor allem an der Architekturgeschichte im Bereich der Habsburgermonarchie zutage treten. So zeigt Michaela Marek am tschechischen Beispiel, daß öffentliche Gebäude, die die tschechische Nation repräsentieren sollen, wie etwa das Nationaltheater oder das Nationalmuseum am Wenzelsplatz, geradezu anational im Stil sind, obwohl sie zweifellos von
11
zentraler nationaler Bedeutung waren. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammen7
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11
Siehe etwa KA1uN HALLAS: Suche nach einem nationalen Stil. Architektur in Estland um
die Jahrhundertwende, in: Bauwelt 1994, S. 2384-2389.
Vgl. KRASTIJ':IS: Jugendstil (wie Anm. 5), S. 121; als frühere Stellungnahme siehe P[ETERIs] BERZKALNS: Näcionälais stils celtniecibä [Der nationale Stil im Bauwesen], in: Daugava 1938, S. 845-860.
JOHN CZAPLICKA, dem ich für wichtige Hinweise zu diesem Thema danke, spricht in diesem Zusammenhang von .vemacular architecture"; so in einem unveröffentlichten Manuskript: The Vernacular in Place and Time: Relocating History in Post-Soviet Cities [2003].
KRISTA KODRES: Sada aastat ehitamist Eestis. Ideid, probleeme ja lahendusi [Hundert Jahre
Bauen in Estland. Ideen, Probleme, Lösungen], in: Ehituskunst 24-26 (1999), S. 7-85, hier
S. 33; zur modernen Architektur in Estland vgl. hier sowie für die folgenden Ausführungen
stets auch: MART KALM: Eesti 20. sajandi arhitektuur. Estonian 20th century architecture,
Tallinn 2002.
MICHAELA MAREK: Bauen für die Nation (I), in: Nordost-Archiv N.F. 6 (1997), S. 388393; grundlegend zum gesamten Thema: AKOS MORAVANSZKY: Competing Visions. Aes-
151
hang ist die Architektur von Joze Pleönik für die Prager Burg und in Ljubljana in der
Zwischenkriegszeit, die sich trotz ihres nationalen Bedeutungsgehalts auf keine spezifisch nationalen Stilformen festlegen läßt. 12 Akos Moravanszky spricht in seiner Studie über die Architektur in der Habsburgermonarchie von "competing visions", deren
zentrale Differenz das Streben nach nationalen Ausdrucksformen der nichtdeutschen
Nationen waL l 3
Das Konzept des Nationalstils in der Architektur kann hier nicht aus einer kunsthistorischen Perspektive kritisch beleuchtet werden. 14 Daher soll an dieser Stelle nur
angemerkt werden, daß die Einbindung von Architekturgeschichte in eine kulturgeschichtliche Betrachtung von nation building-Prozessen einer vorsichtigen, kritischen
Untersuchung bedarf. Dabei geht es weniger um die Klassifizierung nach Stilen generell als vielmehr um die Tatsache, daß die Feststellung von Nationalstilen - sofern sie
auf die Zeit vor 1800 bezogen sind - problematischer ist als die von Zeit-, Regionaloder Individual-Stilen. Eine eindeutige Beziehung zwischen Ethnizität und Architektur wird höchstens für bäuerliche Architektur als eine produktive Hypothese dienen
können. Für die städtische Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts steht man jedoch
vor dem Problem, daß die Zuordnung ganz offensichtlich arbiträr ist. Mit anderen
Worten: Die Nationalstile selbst sind supranationale Phänomene, die es nicht erlauben, auf der materialen Ebene von einer eindeutigen Beziehung zwischen Nationalität
und Formensprache zu sprechen.
Das Problem hat aber auch eine heuristische Seite und bezieht sich auf den Aspekt
des Nationalen selbst. Die Beschränkung auf nationale Identität darf nicht apriori geschehen, sondern sie muß in Beziehung gesetzt werden zu anderen Identitätsmustern,
seien sie lokal, sozial oder institutionell geprägt. Anderenfalls läuft man Gefahr, aus
der Ähnlichkeit von Stilformen auf nationale Bedeutungsinhalte zu schließen, wo es
doch auch um soziale und regionale Repräsentationen ging. Um konkreter zu sein:
Zwar mag in der - noch zu erörternden - Nationalromantik in Finnland, Estland oder
Lettland zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bezug zwischen Nation und Architektur
12
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14
thetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture, 1867-1918,
Cambridge/MA 1998, vor allem S. 216-283.
Vgl. FRIEDRICH ACHLEITNER: Pluralismus der Modeme: Zum architektonischen "Sprachenproblem" in Zentraleuropa, in: Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in
Zentraleuropa 1890-1937, hrsg. von EVE BLAU u.a., München u.a. 1999, S. 94-106, hier S.
103; sowie die Abbildungen zu Ljubljana ebenda, S. 201-204; ausführlich zu Pleönik auch:
MORAVANSZKY (wie Anm. 11), S. 51, 277, 389-407.
MORAVANSZKY (wie Anm. 11), S. 10; er weist vor allem am Beispiel Pleöniks aber auch
darauf hin, daß neben dieser nationalen Differenz weitere ästhetisch-konzeptionelle Unterschiede, etwa zwischen der orientalistischen Konzeption Ödön Lechners und der Orientierung an volkstümlichen Bauformen anderer ungarischer Architekten wie Karoly Kös, eine
wichtige Rolle spielten, ebenda, S. 264.
Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von LARS OLOF LARSSON: Nationalstil und Nationalismus in der Kunstgeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre, in: Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900-1930, hrsg. von LORENZ DITIMANN, Stuttgart
1985, S. 169-184.
152
eindeutig und dominant erscheinen, blickt man jedoch auf den .Heimatschutz" in
Deutschland, so geht es dort bei ähnlichen Architekturformen in erster Linie um Regionalität und erst danach um Nationalität. 15
*
Diese Befunde erfordern einige kurze theoretische Überlegungen zu Architektur und
Sprache. Die Versuche, Architektur als Zeichensystem zu betrachten, das mit Hilfe
des Instrumentariums der modemen Sprachwissenschaft analysiert werden kann, sind
so zahlreich", daß sie hier nicht vorgeführt werden können. Es muß an dieser Stelle
auch nicht erörtert werden, ob Architektur mit dem berühmten dreiseitigen Zeichenmodell (mit Zeichenträger, Bedeutung, Referenzobjekt) beschrieben werden kann oder nicht. 17 Statt dessen seien die semiotischen Instrumente benannt, die für die folgende Betrachtung von Bedeutung sind: erstens der Kode als ein System von bedeutungstragenden Differenzen; zweitens die Differenzierung von Denotation und Konnotation eines Zeichens'"; drittens die Unterscheidung von Signifikant und Signifikat l 9 . In diesem Zusammenhang muß auch die kunsthistorische Unterscheidung von
Stil und Modus beachtet werden, letzterer setzt die Formensprache in Beziehung zur
Funktion des jeweiligen Gebäudes, also etwa eines Bahnhofs, Postgebäudes oder Museums.
Wenn Architektur und städtische Topographien als Ausdruck von nation building
gelesen werden sollen, dann verlangt das also einen komplexeren Zugang als die Suche nach nationalen Motiven an den Fassaden. Eine solche semiotische Analyse gewinnt darüber hinaus an Tiefe, wenn sie von einer Analyse der zeitgenössischen Architekturrezeption begleitet wird. Unabhängig davon ist für die Frage des nation building die kulturgeschichtliche Seite interethnischer Beziehungen in der Betrachtung von
Kulturtransfer und -rezeption von großem Interesse. Dieser Punkt muß hier freilich
am Rande bleiben.
*
Der Schwerpunkt der folgenden Betrachtung liegt auf Estland. Die an diesem Fall
festgestellten Befunde wären durch Beobachtungen aus anderen Nationen zu ergän15
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Vgl. WOLFGANG HARDTWIG: Nationale und kulturelle Identität im Kaiserreich und der umkämpfte Weg in die Modeme. Der deutsche Werkbund, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, hrsg. von HELMUT BERDING, FrankfurtlMain 1994, S. 507-540, und MoRAVANSZKY (wie Anm. 11), S. 242, der allerdings den nationalen Charakter hervorhebt.
Siehe WINFRIED NÖTH: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2000, S. 444448, und die dort angegebenen Querverweise.
Ebenda, S. 140; ablehnend dagegen UMBERTO Eco: Einführung in die Semiotik, München
1972, S. 301.
Eco (wie Anm. 17), S. 306-311.
Ebenda, S. 304, nach Ferdinand de Saussure; Eco identifiziert das Signifikat allerdings mit
der architektonischen Funktion.
153
zen oder zu modifizieren; auf den lettischen Fall wird aber zumindest stellenweise
Bezug genommen.
In gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive entstand die Frage einer "estnischen"
wie einer "lettischen" Architektur mit dem Prozeß der Urbanisierung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, als viele Esten bzw. Letten Hausbesitzer wurden und
schließlich die zahlenstärkste Bevölkerungsgruppe in den Städten stellten. Im Falle
Tallinns/Revals kam 1904 auch die politische Mehrheit hinzu/" Man könnte nun untersuchen, wie ländliche Architekturformen in den Holzwohnhäusem der Vorstädte,
wie etwa in der Revaler Vorstadt Kalamaja/Fischermai, mit urbanen Funktionen und
Formen verschmolzen. Obwohl solche Interferenzen offensichtlich sind'", haben weder der bereits erwähnte Hanno Kompus noch der deutschbaltische Architekt Erich
Kühnert (1885-1961) in seiner Beschreibung Revals von 1909 diese Vorstädte in architektonischer Perspektive als ein nationales Problem betrachtet. Im Gegenteil ,
Kompus wandte sich 1938 ausdrücklich gegen die seiner Ansicht nach russisch beeinflußten Holzbauten. Der Beginn des architektonischen nation building muß also an
anderer Stelle gesucht werden .
In diesem Zusammenhang ist es nützlich, noch einen genaueren Blick auf Kühnerts Beschreibung von Reval zu werfen": Für ihn war Reval eine "nordische" Stadt
mit vielen Beziehungen zu Norddeutschland. Estland und die Esten wurden gar nicht
erwähnt und waren für ihn im architektonischen Kontext ganz offensichtlich bedeutungslos. Den Gipfel zeitgenössischer Architektur sah Kühnert in den neogotischen
Bauten des Rigaer Architekten August Reinberg und in dem zaristischen Empire-Stil,
der vor allem von den akademischen Einflüssen aus St. Petersburg geprägt wurde . Es
mag heute erstaunen , aber Kühnert betrachtete auch die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale auf dem Domberg als eine Bereicherung der Stadt. Nationale Oppositionen - als
deutsch-estnische oder deutsch-russische - waren für Kühnert nicht existent; dagegen
stellte er bei Kirchengebäuden eine konfessionelle Differenz zwischen Protestanten
und Katholiken fest. Freilich blieb Kühnert das neue Element im aufkommenden sogenannten "finnischen" Stil des Arbeiterklubs in den Luther-Werken (von Gesellius,
Lindgren, Saarinen 1904/05) nicht verborgen. Für ihn waren diese Architekturformen
jedoch primitiv. Dabei war Kühnert keineswegs ein Traditionalist, aber sein Interesse
galt eher dem Denkmal- und Heimatschutz. Wenn man Kühnerts Perspektive analysiert, lassen sich die Gründe für den Erfolg des noch näher zu betrachtenden finnischen Stils Anfang des 20. Jahrhunderts bereits destillieren : Seine vermeintliche Primitivität und die Wände von unbehauenem Naturstein kontrastierten sowohl mit der
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Istorija Tallina s na öala 60-ch godov XIX stoletija do 1970 goda [Geschichte Revals von
Anfang der 1860er Jahre bis 1970], hrsg. von RAJMO PULLAT, Tallinn 1972, S. 41,45, 75.
Eesti Puitarhitcktuur [Estnische Holzarchitektur] , hrsg. von Eesti Arhitektuurimuuseum
u.a., Tallinn 1999; jetzt auch Pi;TERIS BLÜMS: The Wooden Heritage of Riga , Riga 2001;
Beispiele von Eizens Laube auch in: DERS.: Koka Riga! Ne jau koka metelitis [Hölzernes
Riga! Kein hölzernes Mäntelchen], in: Latvijas Architektüra Nr. 6, September 1996, S. 413, hier S. 7.
ERICHKüHNERT: Künstlerstreifzüge durch Reval , Reval 1909.
154
Neogotik, die als Rezeption deutscher Hansearchitektur gedeutet wurde, als auch mit
der russischen Rezeption antiker Bauformen.
Wenn wir noch einmal auf Hanno Kompus zurückkommen, dann war der Ausgangspunkt der "estnischen" Architektur das Haus des Vereins Studierender Esten
(Eesti Üliöpilaste Selts) in TartulDorpat, das von Georg/Jüri Hellat (1870-1943) 1902
errichtet wurde (Abb. 1). Ein weiteres Vereinshaus ließe sich hinzufügen: das des
Sportvereins .Kalev" in PiritalBrigitten von Kar! Burman (1882-1965) von 1912
(Abb. 2). Was ist nun das spezifisch national Estnische an diesen Gebäuden? Einerseits ist es im ersten Fall die nationale Funktion entsprechend der Rolle des Bauherrn
im Prozeß der Nationsbildung, und andererseits ist es die Nationalität der Architekten,
denn Hellat und Burman werden als die ersten estnischen Architekten betrachtet. Beide Punkte können jedoch kaum auf die architektonische Formensprache der Bauten
selbst bezogen werden. Ohne hier eine genaue Baubeschreibung geben zu können, sei
darauf hingewiesen, daß ihr Stil und Modus äußeren Einflüssen folgten: Hellats Gebäude ist vor allem geprägt von dem Kontrast zwischen rotem Backstein und weißen
Putzflächen, einem Ausdrucksmittel, das ganz offensichtlich vom neo-hansischen Stil
beeinflußt ist. Burmans Haus folgte Vorbildern des Jugendstils in Holzbauten, der in
den Ferienorten um St. Petersburg an der Küste des finnischen Meerbusens verbreitet
war. Tatsächlich waren nationale Merkmale in beiden Beispielen vor allem auf die
dekorativen Elemente im Äußeren und Inneren beschränkt: auf Zickzack-Ornamente
an der Fassade von Hellats Haus oder Wandfriese in Burmans Haus. Folglich wird
man, abgesehen von der Dekoration, kaum von einer eindeutigen Beziehung zwischen
"estnischen" Signifikaten und architektonischen Signifikanten zu Beginn des Zusammenhangs von Architektur und nation building sprechen können.
Dieser Befund läßt sich auch mit Jakob Hurts Kommentar untermauern, der über
Hellats Haus schrieb: "ein hübsches Haus ist fertig geworden'r", was kaum als Verständnis einer grundlegend neuen, nationalen Architektursprache zu werten ist. Tatsächlich blieb diese Formensprache auch ein Einzelfall, der in semiotischer Perspektive aus der mangelnden Differenz dieser "estnischen" Architektur zur "deutschen" zu
deuten ist. Das benachbarte Haus der Studentenverbindung "Sakala" wurde 1911 von
den finnischen Architekten Armas Lindgren (1874-1929) und Wivi Lönn (1872-1966)
errichtet und zeichnete sich insbesondere durch seine Dimension wie auch durch die
Jugendstilrezeption aus, die freilich nach der Restaurierung in den 1990er Jahren
nicht mehr so deutlich zu erkennen ist. Die Entstehung einer estnischen Architektur
ging von Assoziationen aus, die sich über die Nationalität definierten, aber ihr Produkt war mitnichten ein autochthon estnisches. Die Frage nach den Prägungen und
äußeren Einflüssen soll hier auf die Frage nach der Rolle finnischer Architektur, oder
exakter: finnischer Architekten und als finnisch gedeuteter Architekturformen zugespitzt werden.
23 KODRES: Sada (wie Anm. 10), S. 7.
155
Abb. 1: Jüri Hellat, Haus des Vereins Studierender Esten (Eesti Üliöpilaste Selts). Dorpat/Tartu, 1902. Estnisches Nationalmuseum
Abb.2: Kar! Burman, Haus des Sportvereins .Kalev". Reval/Pirita, 1912. Estnisches Architekturmuseum
156
Der Erfolg der finnischen Architektur vor 1914 in Estland war vor allem mit dem
Büro von Herman Gesellius (1874-1916 ), Armas Lindgren and Eliel Saarinen (18731950) verbunden, die den finnischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1900
gebaut und den Wettbewerb für das Finnische Nationalmuseum 1902 gewonnen hatten.24 Wichtige Kennzeichen des nationalromantischen Stils waren die Verwendung
von rustizierten Steinquadern (aus Granit oder Sandstein), die zusammen mit Elementen wie Spitz- oder Rundbögen und gedrungenen höhlenartigen Eingängen den Betrachter an archaische, massive Zufluchtsorte erinnern sollten. Nicht selten sind außerdem Türme oder Erker, die an eine Burgarchitektur anspielten (Abb. 3). Zusätzliche symbolische Bedeutung erhielten die Gebäude durch dekorative Elemente aus
der Folklore, die eine mythische Vergangenheit anklingen ließen. Dieser Stil war allerdings keineswegs ein Phänomen, das allein in Finnland entstand , denn ähnliche
Tendenzen lassen sich in der schottisch en and amerikanischen Architektur - bei
Charles Rennie Mackintosh und, eine Generation früher, bei Henry Hobson Richardson - erkennen. Diese archaisch-mythischen Konnotationen können als Ausdruck der
Geschichtlichkeit von nationalen Gemeinschaften gelesen werden; in den mythischen
Bezügen spiegelt sich dabei eine Überhöhung oder auch eine gewisse Abkehr von der
schriftlich verbürgten Geschichte. Ein solches Modell konnte gerade für .junge" Völker oder Nationen ohne Reichstraditionen von besonderem Interesse sein. Abgesehen
von dieser geschichtsphilosophischen Überlegung war freilich ein konkreter, politisch-sozialer Kontext für die Wahl der Formensprache im finnischen Fall entscheidend, denn die Nationalromantik produzierte die ästhetischen Mittel, die geeignet waren, politische und soziale Opposition auszudrücken. Der finnische Kampf gegen die
Russifizierung um die lahrhundertwende verstärkte die Ansätze , die eigene finnische
kulturelle Identität (auch in Abgrenzung von der schwedischen Kultur) zu stärken.f
Die Nationalromantik grenzte sich also vom schwedischen wie zaristischen Klassizismus ab. Da die kulturelle Emanzipation kleiner Nationen ebenfalls ein wichtiges
Motiv in anderen Regionen Ostmitteleuropas war, ließen sich die Grundlagen der finnischen Nationalromantik auch auf Riga oder Budapest übertragen. In ästhetischer
Hinsicht war es die Opposition zum imperialen Klassizismus oder zur "deutschen"
neo-gotischen Architektur, die den finnisch en Stil für Estland wie für Lettland attraktiv erscheinen ließ. In Lettland wurde die finnische Nationalromantik aufmerksam rezipiert und von dem Künstler Jänis Rozentals für die lettischen Verhältnisse adaptiert.26 Architekten wie Aleksandrs Vanags (1873-1919) und Eizens Laube (188027
1967) unternahmen 1904 eine Reise nach Finnland.
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MARIKA HAUSEN u.a.: Eliel Saarinen. Projects 1896-1923, Helsinki 1990. Eine zentrale
Rolle bei der Entstehung der finnischen Nationalromantik Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts spielte außerdem Lars Sonck (1870-1956); vgl. MALCOLM QUANTRILL: Finnish Architecture and the Modemist Tradition, London u.a. 1995.
MACHTAN (wie Anm. 6), S. 136.
KRASTI~S : Jugendstil (wie Anm. 5), S. 122-124 .
Ebend a, S. 137; Biographien lettischer Architekten in: O. BUKA u.a.: Latvijas arhitektüras
meistari [Meister der lettischen Architektur] , Riga 1995.
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Abb. 3: Eliel Saarinen, Gebäude der Pohjola-Feuerversicherungsgesellschaft. Helsinki, 18991901, in: HAUSEN u.a. (wie Anm. 24), S. 89
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In Reval lassen sich die architektonischen Oppositionen und ihre nationalen Konnotationen an der Gegenüberstellung zweier Bankgebäude beobachten. Das Gebäude
des Estländischen Adligen Güter-Kredit-Vereins von August Reinberg von 1904
(Abb. 4) war ganz neo-hansisch gestaltet, während das Gebäude des (Estnischen) Revaler Gegenseitigen Kredit-Vereins (Tallinna Wastastikune Kredit-Ühisus) 1912 von
Eliel Saarinen in Formen des späten Jugendstils errichtet wurde (Abb. 5), die damals
ebenfalls als finnischer Stil gelesen wurden, gewissermaßen als seine urban domesti28
zierte Form.
In Riga waren es vor allem die Wohn- und Geschäftshäuser jenseits des alten Festungsrings, die sich solcher nationalromantischen Formen bedienten, die dann auf die
lettische Folklore bezogen wurden, etwa bei dem Mietshaus Gertrüdes iela 26 von
Aleksandrs Vanags 1908.29 Besonders deutlich wird der Zusammenhang von Mythisierung und nation building an der Gewerbe-Schule von Atis ~eniJ;ls (Terbatas iela
15/17) (Abb. 6), die 1905 von Konstantins Peksens (1859-1928) und Eizens Laube errichtet wurde: Der Tuffstein in der Fassade entstammte dem Staburags, einem my3o
thisch verehrten Felsen der Letten an der Düna.
Wenn diese "finnischen" Einflüsse in der estnischen und lettischen Architektur
vor dem Ersten Weltkrieg deutlich dominierten, so gibt es jedoch auch für die Erörterung dieses Themas signifikante Abweichungen. In Estland zeigen die Theaterbauten
jener Jahre als Bauwerke mit explizit nationaler Funktion, daß man zwischen "finnischem" Stil und finnischen Architekten unterscheiden muß. Zu nennen sind hier die
estnischen Theater .Wanemuine" in Dorpat", .Endla" in Pemau'f und schließlich
.Estonia" in Revae 3 sowie andererseits das Deutsche Theater in Revae 4 und in Dor-
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KARIN HALLAS: Das Tallinner Mietshaus: Vom Historismus bis zum Jugendstil, in: Architektur und bildende Kunst im Baltikum um 1900, hrsg. von ELITA GROSMANE u.a., Frankfurt/Main u.a. 1999, S. 173-192.
KRAST~S: Riga (wie Anm. 5), S. 238 f.; weitere Beispiele in: DERS.: Jugendstil (wie Anm.
5), S. 137-146; vgl. auch EDUARDS I4AV~S: Die Kunst in Riga um 1900. Ein Überblick,
in: Architektur und bildende Kunst im Baltikum (wie Anm. 28), S. 5-20. Zur Architektur
Rigas allgemein siehe auch die Nachweise in der zweibändigen Bibliographie: Rigas celtniecibas un tölniecibas pieminekli no gotikas lidz jügenstilam (13. gs.lIdz 1914 g.). Bibliogräfiskais rädltäjs, Denkmäler der Bau- und Bildhauerkunst der Stadt Riga von [sie] Gotik
bis Jugendstil (13. Jh. - 1914). Bibliographisches Verzeichnis, hrsg. von CrLDA CAUNE,
Riga 1997; Rlgas celtniecfba un telnieciba. 1918.-1940. Bibliogräfiskais rädltäjs, Rigasche
Bau- und Bildhauerkunst 1918-1940. Bibliographisches Verzeichnis, hrsg. von CILDA
CAUNE u.a., RIga 2001.
KRAST~S: Riga (wie Anm. 5), S. 90 f.; DERS.: Jugendstil (wie Anm. 5), S. 126 f.
1905-06 von Armas Lindgren.
1908-10 von Alfred Jung und Georg Hellat.
1909-13 von Armas Lindgren und Wivi Lönn; siehe H. PEETS: .Estonia" teatri- ja kontserthoone ajalugu [Geschichte des Theater- und Konzertgebäudes .Estonia''], Tallinn
1938; LEOGENS: .Estonia" teater, Tallinn 1974.
1906-1910 von Nikolaj V. Vasil'ev und Aleksej F. Bubyr'.
159
Abb.4: August Reinberg, Gebäude des Estländischen Adligen Güter-Kredit-Vereins. Reval/Tallinn, 1904. Estnisches Architekturmuseum
Abb.5 : Eliel Saarinen, Gebäude des Revaler Gegenseitigen Kredit-Vereins. RevallTallinn, 1912. Estnisches Architekturmuseum
160
Abb. 6: KonstantIns Peksäns , Eizens Laube , Schule von Atis l}.eniJ,ls. Riga, 1905, in: KRASTINS: Rlga (wie Anrn. 5), S. 252
161
pae 5 • Mit Blick auf die bisherigen Ausfiihrungen ist es kaum überraschend, daß die
Theater .Wanemuine" und .Endla" in "finnischen" Formen errichtet wurden. Die Situation änderte sich jedoch, als diese Formensprache auch von den Deutschbalten in
dem Wettbewerb für das Deutsche Theater in Reval 1906 aufgegriffen wurde. Gewonnen wurde der Wettbewerb von Aleksej F. Bubyr' (1876-1919) und Nikolaj V.
Vasil'ev (1875-?), Architekten aus St. Petersburg, die einen "finnischen" Entwurf mit
rustizierten Kalksteinfassaden und archaischen, unregelmäßigen Formen eingereicht
Abb.7: Aleksej F. Bubyr', Nikolaj V. Vasil'ev, Deutsches Theater in Revalffallinn. 1910.
Estnisches Architekturmuseum
hatten.i" Obwohl der Entwurf bis zur Realisierung deutlich überarbeitet wurde (Abb.
7), nicht zuletzt nach den Vorbildern des Berliner Hebbel-Theaters (1908, von Otto
Kaufmann) und des Lübecker Stadttheaters (1906, von Martin Dülfer), läßt sich im
Ein Wettbewerb wurde 1909 durchgeführt, der 2. Preis ging an Vasil'ev und Bubyr'; errichtet wurde das Theater 1918 von Arved Eichhorn nach Plänen der I. Preisträger Hoffman und Schulze aus Berlin.
36 LEO GENS: Tallinna Saksa teatri konkursist ja arhitektuurivöistlusest sajandivahetusel [Das
Preisausschreiben für das Revaler Deutsche Theater und Architekturwettbewerbe um die
Jahrhundertwende], in: Kunstiteadus, Kunstikriitika 4 (1981), S. 69-94; die wichtigsten
Entwürfe bei: KARIN HALLAS: Eesti Draamateater. Ehituslugu ja arhitektuur [Das estnische
Dramentheater. Baugeschichte und Architektur], Tallinn 1991, o.S.; zu den Architekten
siehe Architektory-stroiteii Sankt-Peterburga serediny XIX - naöala xx veka [St. Petersburger Architekten und Baumeister, Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert], hrsg. von BoRlS M. KnuKov, Sankt-Peterburg 1996, S. 62, 68.
35
162
Falle Revals argumentieren, daß der Deutsche Theaterverein ebenfalls daran interessiert war, Nationalität mit dem Gebäude zu signalisieren. Daß man sich eines ähnlichen Signifikanten bediente wie etwa im Fall des "Wanemuine", war offensichtlich
weniger ausschlaggebend als die zentrale Differenz zu klassizistischen oder historistischen Formen; entscheidend war also die Opposition national-anational und nicht etwa deutsch-estnisch.
In dem Wettbewerb für das Theater .Estonia" erhielt das Projekt von Bubyr' and Vasil'ev dagegen nur den zweiten Preis; der erste ging an die finnischen Architekten
Armas Lindgren und Wivi Lönn, obwohl der erste Entwurf "finnischer" war als jener
der finnländischen Architekten (Abb. 8-9). Erklären läßt sich dieser Befund zum einen mit dem Hinweis auf den Gebäudemodus: Bei 'dem estnischen Theater ging es um
ein monumentales Doppelgebäude mit Theater und Konzertsaal, für das der Rückgriff
auf klassische Formen eher geeignet schien. Zum anderen führt eine Analyse der städtebaulichen Strukturen zu weiteren Aufschlüssen. So verlieh die Tatsache, daß das
.Estonia" genau neben dem Deutschen Theater errichtet wurde, einer neo-klassizistischen Formensprache als Differenz Bedeutung. Unterstützt wurde der Gegensatz
zwischen beiden Gebäuden aber auch dadurch, daß das Deutsche Theater zur Altstadt
hin orientiert war, während die Hauptfassade des .Estonia" auf die östlichen Vorstädte gerichtet war, die als zentrales Areal für die Ausdehnung Groß-Revals galten.
Eine ähnlich explizite Abkehr von nationalromantischen Formen begegnet in Riga
am Gebäude des Lettischen Vereins (Latviesu Biedriba). Hier hatte der Architekt
Eizens Laube seine ursprünglich nationalromantischen Pläne von 1908 rut den Neubau des Vereinshauses neoklassizistisch modifiziert", und die explizit nationalen
Elemente an der Fassade reduzierten sich nun auf die Dekorationen des Malers Jänis
Rozentäls. Eine detaillierte Deutung muß hier unterbleiben, statt dessen sei darauf
hingewiesen, daß Nationalität mit verschiedenen Mitteln repräsentiert werden konnte
und daß die Abkehr von einer nationalromantischen Formensprache dem Modus des
Gebäudes entsprach. Diese Feststellung läßt sich noch schärfer fassen durch eine Beobachtung von Jänis Lejnieks zu dem mißlungenen Einbau eines "lettischen Zimmers" im Gutshaus der Familie Benjamin durch Laube."
37
38
KRAST~S: Jugendstil (wie Anm. 5), S. 241 f.; DERS. u.a.: Latvijas Architektüra no senatnes
lidz müsdienäm [Die Architektur Lettlands vom Altertum bis zur Gegenwart], Riga 1998,
S. 150 f.
JÄNIS LEJNIEKS: Lettische Architektur von 1934 bis 1940, in: Architektur und bildende
Kunst von 1933 bis 1945, hrsg. von BRIGITTE HARTEL u.a., FrankfurtlMain u.a. 1997, S.
189-197, hier S. 197.
163
Abb. 8: Aleksej F. Bubyr' , Nikolaj V. Vasil'ev, Überarbeiteter Entwurf für das Theater .Estonia" in Revalffallinn. 1909, in: Jahrbuch für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen
3 (1909), S. 101
Abb.9: Arrnas Lindgren, Wivi Lönn, Theater "Estonia" in RevallTallinn. 1913. Estnisches
Architekturrnuseum
Tatsächlich muß noch eine andere Denkfigur als Interpretationsrahmen in diesem
Zusammenhang berücksichtigt werden. Mit Bezug auf den nationalen Wandel in Reval vor 1914 läßt sich argumentieren, daß auch der Rathauswettbewerb von 1912 und
der Groß-Reval-Wettbewerb 1913 als Beiträge zur Repräsentation regionaler und nationaler Identität zu sehen sind, obwohl hier nicht mehr finnische national romantische
Einflüsse dominant waren, sondern es sich um Aneignungen bzw. Parallelen des
164
Großstadt-Konzepts von Otto Wagner handelte." Das wird mit Blick auf die Funktion
der Projekte verständlich. Tatsächlich hatten Bubyr' and Vasil'ev noch einmal einen
"finnischen" Vorschlag für das Rathaus in Tallinn vorgelegt, der nun aber als Wiederholung des Deutschen Theaters verstanden werden mußte und damit dysfunktional
war. Nach dem Rathaus-Wettbewerb war der Wettbewerb für den Generalplan für
Reval von Anfang an in enger Zusammenarbeit mit Elie! Saarinen entworfen worden,
der dann auch den Wettbewerb gewann. Er sah das neue Zentrum an der Stelle des
heutigen Kesklinn vor und rückte damit die Altstadt an den Rand. 40 In diesen beiden
Projekten bildete offensichtlich nicht die Entwicklung nationaler Formen den interpretatorischen Bezugsrahmen, sondern die Europäisierung der Peripherie durch die
Rezeption neuester Strömungen in Architektur und Städtebau. Diese Tendenz ließe
sich in den Kontext einer Charakteristik kleiner Völker in Europa stellen, die sich
nicht über politische Macht, sondern über kulturelle Leistungen definieren", und entsprach der Formulierung: "Laßt uns Esten und zugleich Europäer sein", die der Wortführer der Jungesten (Noor Eesti), Gustav Suits, geprägt hatte.
*
Nach 1918, als Estland und Lettland selbständige Staaten wurden, wandelte sich die
Situation jedoch fundamental. Zum einen, da nun der staatliche Rahmen in der Ausbildung wie in den Berufsorganisationen der Architekten wichtiger wurde, zum anderen weil auch die Architektur-Wettbewerbe in Estland vor allem von einheimischen
Architekten bestritten wurden. Schließlich änderten sich auch die Bauaufgaben, in
denen nun staatliche Institutionen einen größeren Platz einnahmen. Wenn man die
Frage nach dem Verhältnis von Architektur und nation building nach 1918 betrachtet,
dann muß allerdings auch die Knappheit staatlicher Mittel berücksichtigt werden, die
wichtige Projekte unrealisiert ließ. Das prägnanteste Beispiel, um diesen Zusammenhang zu analysieren, ist jedoch der Umbau des Schlosses auf dem Toompea/Domberg
in Reval zum Sitz des estländischen Parlaments, der 1920 bis 1922 zu einer unikaien
expressionistischen Lösung durch Eugen Habermann und Herbert Johanson führte.
Die Wahl einer expressionistischen Formensprache kann aus der Tatsache erklärt
werden, daß es keine unmittelbaren historischen Bezüge gab, an die das Parlament
angebunden werden konnte. Die Ausführung ist jedoch nicht nur als explizit modeme
Lösung, sondern auch als Entscheidung für einen denkmalpflegerischen Umgang mit
dem Bauwerk zu sehen, denn die Fenster im Parlamentssaal wie auch die Treppe vom
39
40
41
OITO WAGNER: Die Groszstadt. Eine Studie über diese, Wien 1911; vg1. Mythos Großstadt
(wie Anm. 12), S. 79.
IGOR DJOMKIN: Eliel Saarinen ja "Suur-Tallinn" [Elie1 Saarinen und Groß-Reval], Tallinn
1977.
GüNTHER STÖKL: Die kleinen Völker und die Geschichte, in: Historische Zeitschrift 212
(1971), S. 19-40; siehe dazu JÖRG HACKMANN: From Object to Subject. The Contribution
of Small Nations to Region-building in North Eastem Europe, in: Journal of Baltic Studies
33 (2002),4, S. 412-430.
165
Hof in die Eingangshalle wurden nach ikonographischen Befunden rekonstruiert.f
(Abb. 10) Die Tatsache, daß das estländische Parlament in der Tat im Vergleich zu
anderen Parlamentsgebäuden eine Sonderstellung einnimmt, wirft die Frage auf, ob es
als explizites Zeichen für die moderne estländische Nation intendiert war oder ob die
Architektur eher vor dem professionellen Hintergrund der Architekten gesehen werden muß. Johanson hatte in Riga und Darmstadt studiert und bis 1920 in Lettland gearbeitet, während Habermann ebenfalls das Polytechnikum in Riga absolviert hatte
und dann einige Jahre bei Fritz Schumacher in Dresden tätig gewesen war. Daher ist
es vermutlich nicht möglich, das Gebäude als eine originär estnische Lösung zu interpretieren, sondern eher ist es als Rezeption mittelalterlicher Architektur zu lesen, die
nicht so weit entfernt war von einem deutsch geprägten Expressionismus einerseits
und der finnischen Nationalromantik andererseits. Die Geschichte der Restauration
des Gebäudes in den 1990er Jahren eröffnet eine weitere Interpretation, auf die unten
noch einzugehen ist.
Das zentrale Thema in dem Zusammenhang von Architektur und nation building
in der Zwischenkriegszeit in Estland ist jedoch der Funktionalismus und der "international style", der freilich nicht nur international, sondern auch von nationalen Diskur43
sen geprägt war. Die methodologisch wichtigste Frage ist hier, ob der "weiße Funktionalismus" mit Flachdächern auch dort, wo er nicht an öffentlichen Gebäuden, sondern an Privathäusern als Architektursprache eingesetzt wurde, als ein öffentliches
Phänomen im Zusammenhang von nation building gesehen werden kann. Tatsächlich
scheint es am estländischen Fall inadäquat, würde man sich nur auf die Betrachtung
staatlicher oder öffentlicher Gebäude oder allein auf die Architekturentwicklung der
Hauptstadt beschränken. Wenn man diesen Punkt berücksichtigt, lohnt es sich, noch
einmal auf den eingangs erwähnten Text von Hanno Kompus von 1938 zurückzukommen. Dort argumentiert er, daß der estländische Staat nur über minimale finanzielle Mittel verfüge; die Architekturentwicklung geschehe daher weniger in repräsentativen Gebäuden als vielmehr in Schulen, Bankgebäuden und Krankenhäusern.
44
Und wenn man auf die Ikonen der internationalen Moderne blickt, dann müssen
auch die Strandgebäude, vor allem in Pernau von Anton Soans and Olav Siinmaa
(Abb. 11), mit einbezogen werden. Eine Beschränkung auf staatliche Gebäude allein
42
43
44
ERICH KÜHNERT: Der Neubau für die estländische Staatsversammlung im Schloß zu Reval,
in: Deutsche Bauzeitung 60 (1926), 51 (26.6.1926), S. 417-424; auch auf Estnisch erschienen unter dem Titel: Riigikogu hoone uusehis Tallinna Toompää lossis, in: Eesti kunsti aastaraamat 2 (1926), S. 93-105.
HANS LANGE: Bauen für die Nation. Strategien in der Selbstdarstellung junger/kleiner Völker in der urbanen Architektur zwischen Identität und sozialer Ambition, in: Bohemia 38
(1997), S. 181-188, hier S. 186.
ANDRZEJ TuROWSKI: Architektur im Umkreis des Modernismus und Universalismus, in:
Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa, Bonn 1994,
Bd. 2, S. 9-15.
166
Abb. 10: Herbert Johanson, Eugen Habermann, Sitzungssaal des Estnischen Riigikogu . Revalffallinn, 1922. Tallinner Stadtmuseum
hätte ein deutlich anderes Resultat zur Folge und würde ein wesentlich stärkeres Gewicht von neoklassizistischen und monumentalen Projekten an den Tag bringen, insbesondere wenn man die nicht realisierten Entwürfe für den Freiheitsplatz und das
Kunstmuseum in Tallinn berücksichtigt."
Wenn man diese Tendenzen der klassischen Modeme und des Neoklassizismus
abwägt, dann ist in Estland wie in Lettland und Finnland jeweils beides zu sehen :
Tendenzen zu neoklassizistischen und eklektischen wie monumentalen Gebäuden neben einer Fortentwicklung der Modeme. So ließen sich für Estland der Umbau des
Schlosses Kadriorg in die Residenz des Staatsältesten (von August Vladovski) mit
dem Neubau des Präsidentenamtes von Alar Kotli 1937/38 nach Einflüs sen von
46
Speers Reichskanzlei und der .Kalksteinfunktionalisrnus" von Herbert Johanson,
45
46
Siehe dazu DMITRI BRUNS: Tallinn . Linnaehitus Eesti Vabariigi aastai11918-1940 [Tallinn.
Städtebau in den Jahren der Estnischen Republik 1918-1940], Tallinn 1998, S. 134-141,
151-154.
MART KALM: Arhitekt Alar Kotli. Monograafia [Der Architekt Alar Kotli. Eine Monographie], Tallinn 1994.
167
Abb. 11: 01ev Siinmaa, Anton Soans, Strandhotel. Pemau/Pämu, 1937, in: KALM: Eesti 20.
sajandi arhitektuur (wie Anm. 10), Abb. 324
etwa in der Tallinner Feuerwache 1936-1939 (Abb. 12), gegenüberstellen. Das letztere Gebäude betrachtete bereits Kompus als Gipfel moderner estnischer Architektur,
denn dort sei eine Verbindung von moderner Architektur mit einem für Estland typischen Material gelungen. Dennoch war der Trend weg vom Funktionalismus Ende der
dreißiger Jahre unübersehbar, sowohl im Wettbewerb für das Kunstmuseum in Tallinn, in dem Edgar Kuusik und Erich Jacoby mit einem eklektischen Entwurf den ersten Preis erzielten'", wie im zweiten Wettbewerb für das Tallinner Rathaus, in dem
Edgar Kuusiks Projekt, das sich eng an Ragnar Östbergs Stockholmer Stadthaus
(1911-1923) orientierte, von der Öffentlichkeit gegen eine andere Jury-Entscheidung
präferiert wurde. 48 Dieser Wandel spiegelt sich übrigens auch in Kompus' Haltung,
der in dieser Frage eine stark traditionalistische Ansicht an den Tag legte."
47
48
49
BRUNS (wie Anm. 45), S. 152-154; siehe auch KARIN HALLAS: Alvar Aalto ja Eesti [Alvar
Aalto und Estland], in: Ehituskunst 20/21 (1998), S. 14-25, hier S. 18-20.
MART KALM: Palee vöi büroo. 1930-ndate aastate Tallinna raekoja projektidest [Palast oder
Büro. Projekte der 1930er Jahre für das Tallinner Rathaus], in: Kunstiteaduslikke uurimusi
7 (1994), S. 294-312, hier S. 328-305.
Ebenda, S. 304 f.
168
Die Diskussion um das Rigaer Rathaus verlief in ähnlichen Bahnen: Auch hier
war ein Wettbewerb vor dem Ersten Weltkrieg ohne Ergebnis geblieb en. Östbergs
Stadthaus diente auch als Vorbild im Rigaer Rathauswettbewerb von 1935, bevor sich
dann allerdings ein monumentaler Entwurf von Sergejs Antono vs und Nikolajs Voits
für das Gelände zwischen Dünaufer und Rathausplatz durchsetzte, der allerdings
ebenfalls nicht realisiert wurde.50
Abb.12:
50
Herbert Johanson, Feuerwache. Reval /Tallinn, 1939, in: KALM: Eesti 20 . sajandi
arhitektuur(wie Anm. 10), Abb. 418
Zum Wettbewerb von 1900 siehe JÄNIS LEJNIEKS: Rlga, kuras nav [Ein Riga, das es nicht
gibt], RIga 1998, S. 16-22 ; zu den folgenden siehe ebenda, S. 103-122 , 128; vgl. auch LEJNIEKS: Architektur (wie Anm. 38), S. 190.
169
Darüber hinaus gab es recht radikale Pläne für den Umbau Tallinns als Hauptstadt,
etwa für den Freiheitsplatz (Vabaduse väljak) von 1937, unter anderem mit dem
Abriß der Johanniskirche oder auch mit der Ersetzung der orthodoxen Kathedrale auf
dem Domberg durch ein .Jseseisvuse Panteon" (Unabhängigkeitspantheonj.i' Noch
deutlicher treten diese monumentalen Tendenzen in Lettland in der Ära Ulmanis hervor, der nicht nur eine explizite Geschichtspolitik, sondern auch den Umbau Rigasgegen den Widerstand von Architekten wie Laube - betrieb. 52 Die deutlichsten Ergebnisse waren der Umbau des Domplatzes mit dem Finanzministerium und der Abriß der Blöcke zwischen Rathausplatz und Dünaufer sowie der monumentale Justizpalast (von Fridrihs Skujins, 1936-1938).53 Aber auch das finnländische Parlamentsgebäude, von Johan Siren bereits 1923 in monumental-klassizistischen Formen projektiert", ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Monumentale, neoklassische Formen
wurden überall ein Thema der selbständigen .Randstaaten".
*
Wenn sich also der Zusammenhang von architektonischer Modeme und nation building gegen Ende der Zwischenkriegszeit auflöste, bleibt die Frage zu erörtern, wie er
in die Diskussion als Baustein nationaler Identität zurückgekehrt ist. Dafür sind vor
allem die nationalen Diskurse im Kontext der baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu untersuchen. Es ließe sich mit Blick auf die sowjetische Phase natürlich auch
ein anderer Pfad einschlagen und die Frage verfolgen, inwieweit sich nationale Traditionen oder Formen unter den Bedingungen stalinistischer oder sozialistischer Architektur haben erhalten können. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, die ihren Anfang in
dem stalinistischen Paradigma von "national in der Form, sozialistisch im Inhalt"
nahmen, dessen unmittelbares Ergebnis beispielsweise folkloristische Applikationen
an Fassaden waren. 55
51
So ein Projekt von Karl Burman, siehe LEO GENS: Kar! Burman. Monograafia [Kar! Burman. Eine Monographie], Tallinn 1998, S. 196 f.; vgl. BRUNS (wie Anm. 45), S. 110-112.
52 LEJNIEKS: Architektur (wie Anm. 38), S. 189, 192; zu Laube siehe auch P[AUL] KAMPE: Iss
parskats par profesora Dr. arch. h.c. Eizena Laubes büvniecibas darbibu lidz pasaules kara
säkumam [Kurzer Überblick über Professor Dr. arch. h.c. Eizen Laubes Schaffen im Bauwesen bis zum Beginn des Weltkriegs], in: Latvijas architektüra 3 (1940), S. 105-117. Zu
weiteren nicht ausgeftihrten Projekten siehe LEJNIEKS: Riga (wie Anm. 50), S. 111-127;
zum Siegesplatz vgl. Latvijas architektüra 2 (1939), 1, S. 1-8, und 2, S. 46-54.
53 JANIS KRAST~S: Rigas Rätslaukums. Pagätne, Tagatne, Näkotne [Der Rigaer Rathausplatz.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft], Riga 2000, S. 30-33; DERS.: Latvijas (wie Anm. 37),
S. 176; vgl. auch LEJNIEKS: Riga (wie Anm. 50), S. 91-103; siehe auch noch den Plan zur
Umgestaltung von Pauls Kundzins von 1936 in: Latvijas architektüra 1 (1938), o.S.
54 QUANTRILL (wie Anm. 24), S. 18 f.
55 KODRES: Sada (wie Anm. 10), S. 23-25; vgl. auch DIES.: Formenkult und Widerstand, in:
Bauwelt 1994, S. 2396-2401. Ähnliches gilt auch für Lettland, so etwa für das Gebäude der
Akademie der Wissenschaften, vgl. LEJNIEKS: Riga (wie Anm. 50), S. 195.
170
Bedeutender für den estnischen Fall ist jedoch die Konservierung und Restaurierung der modernen Architektur der Zwischenkriegszeit und die sie begleitenden Publikationen, die die Modernität und die Westbindung der estnischen Nation demonstrieren wollten. Dieser Prozeß setzte bereits vor dem Beginn der "Perestroika" ein,
etwa als der Künstler und Architekt Leonhard Lapin 1984 öffentlich erklärte, daß die
estnische Architektur diejenige sei, die von estnischen Architekten projektiert worden
sei, und zugleich Aufsätze über die klassische Moderne in der estnischen Architektur
verfaßte. 56 Hier wird die Rolle des Dissenses deutlich, in der kulturelle Äußerungen
politische Botschaften transportierten. Insofern war das Unterstreichen der Modernität
in der Zwischenkriegszeit ein Beitrag zur Stärkung der nationalen Unabhängigkeitsbewegung. Der Zusammenhang von Architektur und nation building tritt hier also auf
der Ebene der Architektur-Rezeption entgegen. Gegen diese Entwicklungslinie ließe
sich nun kritisch einwenden, daß die nationale Konnotation der modernen Architektur
allein auf einer Zuschreibung durch Kritiker in ihrer Interpretation der Gebäude beruhe. Daraus jedoch zu schließen, daß zwischen nationaler Bedeutung und architektonischen Formen kein Zusammenhang bestehe, wäre allerdings verfehlt, da so der Zeichencharakter der Architektur negiert würde. Interessanter ist in diesem Fall, die Mechanismen der Produktion nationalen Bedeutungsgehalts noch genauer zu untersuchen und mit dem finnischen Beispiel zu vergleichen, denn auch dort scheint der
Zusammenhang der Selbstdeutung als moderne Nation durch moderne Architektur
insbesondere ein Produkt der Nachkriegszeit zu sein."
Auf der anderen Seite verweist das ethnozentrische Argument Lapins auch auf die
Prägung oder Deformation der Architekturentwicklung während der sowjetischen Periode. Insofern wäre die Frage nach den sowjetischen Einwirkungen noch einmal' kritisch zu stellen. Tatsächlich ließen sich Traditionen der Jahre vor 1940 auch in der
Sowjetunion unter klar gesetzten Grenzen bewahren, etwa in der Restaurierung des
.Estoniav-Theatera." Schließlich bedürften wohl auch die postmodernen Gebäude der
sowjetischen Spätphase und der ersten Jahre der erneuerten Unabhängigkeit wie das
"Sakala"-Zentrum der Kommunistischen Partei gegenüber dem .Estonia" oder die
Nationalbibliothek (beide von Raine Karp, ca. 1980-1992) einer genaueren Interpretation im Hinblick auf ihre (post-)kommunistische Prägung.
Ein Blick auf die Rekonstruktionsgeschichte des Rigaer Schwarzhäupterhauses
eröffnet noch ein weiteres großes Thema im Zusammenhang von Architektur und
nation building in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Rolle der Denkmal56
KODRES: Sada (wie Anm. 10), S. 10; zur Rezeption des estnischen Funktionalismus siehe
auch LEONHARD LAPIN: Kaks kunsti. Valimik ettekandeid ja artikleid kunstist ning ehituskunstist 1971-1995 [Zwei Künste. Eine Anthologie von Vorträgen und Aufsätzen zur
Kunst und Baukunst 1971-1995], Tallinn 1997, S. 118-129; siehe auch den Ausstellungskatalog: Toisin. Funktionalismi ja neofunktionalismi Viron arkkitehtuurissa [Anders. Funktionalismus und Neofunktionalismus in der estnischen Architektur], Tallinn [1993].
57
Siehe dazu QUANTRILL (wie Anm. 24), S. 105.
58
Siehe dazu MART KALM: The Developmental Aspects of Architectural Culture in Estonia
1918-40 (unveröffentlichtes Manuskript, 1998); sowie P[EETER] TARVAS: .Estonia" Taassünd [Die Wiedergeburt von .Estonia"], in: ENSV Arhitektide Almanahh 1946, S. 29-34.
171
pflege. Bereits unmittelbar nach Kriegsende hatten lettische Architekten sich für den
Wiederaufbau der schließlich 1948 gesprengten Ruine eingesetzt und entsprechende
Pläne entwickelt.Y Und auch die sozialistische Umgestaltung des Areals mit der Errichtung des Museums für die lettischen Schützen ließ die Option für den Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses offen. Die Ausführung der Rekonstruktion wurde
dann zu einem Projekt der lettischen Öffentlichkeit, wohingegen die deutsch-baltischen Bezüge und Konnotationen des Hauses keine primäre Bedeutung hatten. Dennoch steht das Haus auch für einen offenen Zugang zur lettländischen Geschichte. Die
Denkmalpflege verweist hier also auf einen neuen Selbstentwurf der Gesellschaft. Die
Wirkungsmächtigkeit läßt sich ebenso deutlich an der Rekonstruktion des estländischen Parlaments zeigen, die ganz in der bereits erwähnten Diskussion der kritischen
Intelligenz der sowjetischen Epoche stand."
Unter Berücksichtigung dieser Tendenzen ließe sich mit Blick auf den Zeichencharakter der Architektur nicht nur behaupten, daß die Nation jeweils ihre Architektur
als nationale interpretiert, sondern der Zusammenhang wäre auch so umzukehren, daß
die Architektur die Nation interpretiert. So wären die klassische Modeme und ihre
Rezeption als Ausdruck von Weltoffenheit und Modernität unter den Bedingungen
undemokratischer Herrschaft zu deuten. Diese Inte1J?retation ließe sich zu einer Kette
fügen, die neben Estland und Lettland auch Litauen 1 - wenn auch mit jeweils eigener
Spezifik - umfaßt.
*
Damit stellt sich zum Schluß die Frage, ob der hier erörterte Zusammenhang ein regionalspezifisches Phänomen ist, das über Estland und Lettland hinaus von Bedeutung ist. Das naheliegendste Beispiel ist gewiß Finnland, wo genau derselbe Zusammenhang von Architekturhistorikern und darüber hinaus postuliert wird und auch
recht breite Geltung erfahren hat. .From early on, there was an unprejudiced attitude
to the making of architecture; the ideal of a modem dynamic nation was to be expressed through the formallanguage ofnew public buildings't'r', schreibt die finnische
Architekturhistorikerin Marja-Riitta Norri und umreißt damit ein Selbstverständnis,
63
das auch in den anderen nordosteuropäischen Nationen anzutreffen ist. Die Tatsache, daß der Zusammenhang von moderner kultureller und nationaler Identität in
Finnland und Estland, anders als in Deutschland'", nicht unterbrochen wurde, hat die
Diskussion in Nordosteuropa nachhaltig geprägt.
59
60
61
62
63
64
EDGARS PUCI~S: Einer Wiedergeburt entgegen, in: Melngalvju nams Rigä, hrsg. von MARA
SIL~A, Riga 1995, S. 183-185; K.RAST~S: Rätslaukums (wie Anm. 53), S. 37-40.
MART KALM: Domestizierter Funktionalismus, in: Bauwelt 1994, S. 2390-2394.
Vgl. lOHNMACIUKA: East Bloc, West View. Architecture and Lithuanian National Identity,
in: Traditional Dwellings and Settlements Review 11 (1999), 1, S. 23-35.
MARJA-RIITTA NORRI: A Century of Finnish Architecture <http://virtual.finland.fi/finfo/
english/arkkit2.html> [4.4.2002].
Zu einer dänischen Parallele siehe HANS MAMMEN: Backstein und Beton in dänischer Architektur, in: Architektur und bildende Kunst (wie Anm. 38), S. 39-52.
HARDTWIG (wie Anm. 15), S. 540.
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