7. Zusammenfassung

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7.
Zusammenfassung
Mit der Entdeckung der Bedeutung unbewußter Konflikte und Abwehrmechanismen
für die Entwicklung „hysterischer Symptome“ durch Freud fanden die frühen
klinischen
Beschreibungen
für
die
Entwicklung
diagnostischer
Instrumente
dissoziativer Bewegungs- bzw. Konversionsstörungen über einen langen Zeitraum
kaum mehr Beachtung. Zu dieser Entwicklung kam es, obwohl sich bereits zu Zeiten
Freuds abzeichnete, daß einerseits klinische Charakteristika der Bewegungsstörung
abgrenzbar sind und andererseits gerade die visuelle und taktile Erfahrung des
Körpers für die Entwicklung der Art der Symptome, wie sie für psychogene
Bewegungsstörungen typisch sind, von besonderer Bedeutung sein könnte. Heute
spielt entsprechend dieser frühen Entwicklung die tiefenpsychologisch orientierte
Anamnese neben der Ausschlußdiagnostik bei der Stellung der Diagnose
psychogener Bewegungsstörungen die größte Rolle. Auch die gerade erst (wieder)
aktuell gewordene Bezeichnung der Störung als psychogene Bewegungsstörung
weist auf den großen Einfluß hin, den das psychoanalytische Konzept der Störung
selbst auf die klinische Neurologie bis heute hat.
Systematische Forschung im Bereich der motorischen Erscheinungsbilder ist seither
jedoch erst in den letzten Jahren, zurückgreifend auf Texte der medizinischen
Erstbeschreiber, wieder sporadisch betrieben worden.
Dabei fällt auf, daß es heute wie damals an einer Sprache und Systematik mangelt,
die die Phänomene erfaßt. Verschiedene Interpretationsniveaus bleiben dabei
regelmäßig undifferenziert. Regelmäßig wird auf Begrifflichkeiten aus dem Kontext
anderer Krankheitsbilder und auf metaphorische Beschreibungen ausgewichen.
Dabei fällt auf, daß sich eine Theatermetaphorik sowohl in den medizinischen, als
auch den psychoanalytischen Texten besonderer Beliebtheit erfreut.
Gleichzeitig scheinen psychogene Bewegungsstörungen nicht seltener geworden zu
sein und nach wie vor in der Klinik zuerst von nicht tiefenpsychologisch
ausgebildeten Ärzten gesehen zu werden. Es wäre daher wünschenswert, wenn eine
an die Voraussetzungen eben dieser Ärzte anknüpfende klinische Diagnostik zur
Verfügung stünde. Auf diese Weise könnten die Patienten in dreierlei Weise
profitieren. Die Diagnose könnte früher sicher gestellt werden, sie wäre keine
Restkategorie mehr. Die Anwendung invasiver diagnostischer Mittel, neben der
Chronizität der Störung ebenfalls als die Prognose verschlechternder Faktor bekannt,
könnte durch die positive klinische Kriterien überflüssig werden, und die
vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient könnte erhalten bleiben und so
die Complience der Patienten verbessert werden. Untersuchungstechniken, die der
„Überführung“ des Patienten als „psychosomatischer Fall“ dienen, bräuchten nicht
mehr angewendet zu werden.
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, Vorarbeiten für die Entwicklung einer
Beschreibungssystematik,
die
unterschiedliche
Interpretationsniveaus
von
psychogenen Bewegungsstörungen unterscheidet, zu leisten und darüber zur
Entwicklung
positiv
diagnostischer
klinischer
Kriterien
für
psychogene
Bewegungsstörungen beizutragen.
Zu diesem Zweck wurde zum einen eine Methode ihrer systematischen,
verschiedene Interpretationsniveaus unterscheidenden Beschreibung entwickelt und
zum anderen wurden Hypothesen für positiv diagnostische Kriterien generiert. Dabei
ergab sich aus dem Material, daß z.T. bereits bestehendes theoretisches Wissen
über die Störung in ihren klinischen Erscheinungsformen empirisch fundiert werden
konnte und z.T. bereits gemachte klinische Beobachtungen theoretisch expliziert
werden konnten.
Die Beschreibungssystematik entstand vornehmlich in Auseinandersetzung mit den
dokumentarischen Methoden der Interpretation von Bildern und Texten nach Ralf
Bohnsack.
Sie
unterscheidet
vier
Interpretationsniveaus:
(1)
eine
Beschreibung
der
Bewegungen auf einer Ebene unterhalb von Handlungen, die räumliche und zeitliche
Aspekte der Bewegungen beschreibt, sowie den Spannungszustand, in dem die
Bewegungen durchgeführt werden („Bewegungsanalyse“); (2) eine Beschreibung der
Bewegungen als Handlung, d.h. die alltägliche Motivation von Bewegungen
einschließend (Handlungsverlauf); (3) eine die beiden ersten Ebenen sowie (auf
beiden
Ebenen)
den
inter-
und
intraindividuellen
Bewegungsvergleich
berücksichtigende „reflektierende Interpretation“. (4)
Zuletzt wurde in Falldarstellungen unter Berücksichtigung der medizinischen
Fachliteratur und Ausschluß der Handlungsebene die Form der Bewegung der
Patienten sinngenetisch rekonstruiert.
Der Schwerpunkt der Bewegungsanalyse lag auf den großen Körperbewegungen.
Die Analyse der Gestik, klassifiziert nach Ekman und Friesen, wurde gestreift, die der
Mimik bis auf die Blickrichtung nicht berücksichtigt.
Eingang in die Auswertung der Untersuchung fanden zehn Patienten mit
psychogenen Bewegungsstörungen aus verschiedenen Kliniken Berlins. Die
Patienten wurden im Kontext einer Visite des Klinkalltages mittels eines Camcorders
aus der Hand von der Autorin auf Video aufgenommen. Grundlage der
Bewegungsanalyse bildeten allein diese Filme. Drei von ihnen wurden im Sinne der
dokumentarischen Methode systematisch ausgewertet.
Anhand dieser drei Fälle wurde zunächst das methodische Vorgehen erläutert. Es
wurden dann die Ergebnisse der Bewegungsanalyse auf unterschiedlichen
Abstraktionsniveaus der Interpretation bis hin zur sinngenetischen Rekonstruktion
dargestellt. Auf allen Ebenen der Interpretation wurde nach übergreifenden
Bewegungsprinzipien gesucht. Zuletzt wurden mögliche Bezüge zwischen den
Ergebnissen dieser Arbeit und der in der Fachliteratur weit verbreiteten Verwendung
der Theatermetapher zur Beschreibung der Störung hergestellt.
Mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit konnten die Ergebnisse der
Beobachtungen
der jeweiligen
medizinischen
Kollegen
in
den
drei näher
untersuchten Fällen reproduziert werden. Ihre Beobachtungen konnten darüber
hinaus
teils
ergänzt,
teils
präzisiert
werden.
Auch
medizinische
Forschungsergebnisse zu allgemeinen klinisch-phänomenologischen Charakteristika
psychogener
Bewegungsstörungen
konnten
reproduziert
werden.
Außerdem
ergaben sich auf unterschiedlichen Interpretationsniveaus der vorliegenden Analyse
Hinweise auf mögliche Wurzeln heute gültiger theoretischer Konzepte der Störung.
Zum Teil konnten den klinisch-phänomenologischen Charakteristika der Störung aus
der medizinischen Forschungsliteratur die in der vorliegenden Arbeit rekonstruierten
störungsspezifisch-übergreifenden Bewegungsprinzipien zugeordnet werden.
Aus den gesammelten empirischen Daten ergaben sich damit zahlreiche Hinweise
auf
mögliche
Wurzeln
Beschreibungsformeln,
der
in
der
einschließlich
Klinik
üblichen,
insbesondere
z.T.
des
metaphorischen
Bereichs
der
Theatermetapher. Es ergaben sich Hinweise auf mögliche empirische Grundlagen
der Verwendung der Theatermetapher in Fachtexten, in den Bewegungsabläufen der
Patienten auf Handlungsebene, sowie auf einer Beschreibungsebene unterhalb von
Handlungen.
Beschrieben
werden
Bewegungsfragmentierung,
konnten
hier
Techniken
der
Aktions-Reaktions-Paradoxien,
Bewegungstäuschung
und
Sichtbarmachung von Bewegungen, letzteres durch Bewegungsvergrößerung und betonung auch durch Blickwechsel, eine dramatisch verlaufende Spannungskurve
der Rahmenhandlung, eine gesteigerte Reaktivität, und die Tendenz, von den Ärzten
gestellte Bewegungsaufgaben im Schwierigkeitsgrad zu steigern sowie eine
Situationsabhängigkeit
der
Störung
und
Bezogenheit
der
Symptome
auf
Interaktionspartner.
Darüber hinaus wurde die Hypothese einer Tendenz zu einem störungsspezifischen
Umgang mit der Zeichenhaftigkeit von Bewegungen, ob primär im Dienste der
Kommunikation oder nicht - entsprechend der ersten Ergebnishypothese der
sinngenetischen Rekonstruktion beschrieben als Gestifizierung, Entgestung und
Störungsdiffusion - generiert.
Dies wurde als erster Hinweis auf die interaktionale Dimension der Störung gewertet,
da zu einer Geste konstitutiv nicht nur der Gestikulierende, sondern auch der
Wahrnehmende gehört.
Die mit der vorliegenden Arbeit aufgestellte Hypothese einer Notwendigkeit der
Herstellung eines Betrachtungsverhältnisses, die Polarisierung der Akteure in
Betrachtende
(Ärzte)
und
Agierende
(Patienten),
spezifizierte
dann
das
interaktionelle Geschehen.
Als Voraussetzung für die situative Herstellung eines Erlebnisinhaltes, der ob seiner
Übergegensätzlichkeit im Sinne Max Imdahls allein visuell abbildbar ist, wurde die
herzustellende Interaktion klar als zumindest auch physisch, weil visuell zu
transportierend stattfindende definiert.
Weiter scheint es deutliche Hinweise darauf zu geben, daß der Störung eine
spezifische Form der Kontakt- bzw. Beziehungsstörung (ggf. mit Unterformen)
zugrunde liegt. Die Rekonstruktion der vorliegenden Arbeit läßt diese als eine
Störung des Umgangs mit Grenzen der Annäherung und Distanzierung zwischen
Menschen beschreiben, bzw. deren Mißachtung.
Die Verwendung der Theatermetapher durch die behandelnden Ärzte scheint in
diesem Kontext letztlich nicht nur Folge der Eindrücke von Künstlichkeit/Unechtheit,
Übertreibung/Dramatik und Bezogenzeit auf ein beobachtendes Publikum die sich
auch allein auf die Art und Weise wie die Patienten handeln und sich auf einer Ebene
unterhalb von Handlungen bewegen zurückführen lassen. Sie scheint darüber hinaus
auch Ausdruck der genannten Kontaktstörung zu sein.
Die Verwendung der Theatermetapher im Sinne einer „Guckkastenbühne“ bei der
Beschreibung psychogener Bewegungsstörung scheint auch Mittel zum Zweck einer
Distanzierung der Ärzte zu sein, quasi als Reaktion auf die Form der
Beziehungskonstellierung
im
Kontakt
mit
Patienten
mit
psychogenen
Bewegungsstörungen.
Eben weil im Rahmen der Hysterieforschung immer vielfältigere und weiter
entwickelte theoretische Perspektiven entstanden sind und weiterhin entstehen,
scheint es offenkundig, „daß das Rätsel Hysterie für die naturwissenschaftliche
Erklärung unlösbar bleiben wird, weil es letztlich ein hermeneutisches und daher
prinzipiell unabschließbares Interpretationsproblem darstellt“.1 Dennoch scheint nach
Abschluß dieser Arbeit und mit den Ergebnissen der vorgelegten empirischen
Analyse, aber auch nach Durchsicht der entsprechenden Fachliteratur eine
Konzeptualisierung und Beschreibung der Störung auf Grundlage der Analyse der
Interaktionskonstellation zwischen Patienten und Ärzten zur Lösung im Sinne der
Entwicklung einer effektiven Diagnostik und damit wahrscheinlicher rechtzeitigen
Therapie am vielversprechendsten.
Die Analyse der körperlichen Bewegungsphänomene ist dabei auch mit der
Verschiebung des Focus vom Patienten auf die Bewegungen zwischen Patient und
Arzt für die Diagnostik im Klinikalltag von Ärzten verschiedener Disziplinen
vielversprechend. Die Ärzte beschreiben diese Interaktion als eine „theatrale“, aber:
„Theater ist nur und nur das ist Theater, wenn in einer symbolischen
Interaktion ein rollenausdrückendes Verhalten durch ein rollenunterstützendes
Verhalten beantwortet wird, das auf der gemeinsamen Verabredung des „als
1
Gödde (1994, S. 42).
ob“ beruht. Das ergibt beileibe keine statische Situation, sondern bleibt wegen
der Künstlichkeit der Unverbindlichkeit der Verabredung stets ein gefährlicher,
dynamischer Zustand.“2
Wir Ärzte und die medizinische Forschung sollten uns zum Wohle unserer Patienten
einer Verbesserung der Diagnostik und Therapie der Störung, auf die Betrachtung
der
eigenen
Verhaltensweisen
gegenüber
Patienten
mit
psychogenen
Bewegungsstörungen, einlassen. Es geht dabei eben nicht um die Aufdeckung einer
bisher verschleierten „unbewußten Komplizenschaft“3, wie die Interaktion von Israel
auch beschrieben wird, und damit um die Entdeckung dunkler Machenschaften der
Ärzte und deren Vertuschung durch Ärzte, sondern um das Verständnis einer
Interaktionssituation als Schlüssel zum Leiden der Patienten.
2
3
Paul (1981/1971, S. 18).
Israel (1993/1976, S. 35).
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