Die Paradoxie des Lebens in der Natur - TIERethik

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Kommentar
Norbert Walz
Die Paradoxie des Lebens in der Natur
Replik auf Beat Sitter-Liver und Erich Gräßer in ALTEX 4/2008
Beat Sitter-Liver und Erich Gräßer haben in ihren Beiträgen zum 90. Geburtstag von Gotthard M. Teutsch in ALTEX
4/2008 vielfach an Gedanken von Albert Schweitzer (18751965) erinnert und Schweitzer als Pionier einer biozentrischen
Ethik gewürdigt. Bei der Lektüre des Aufsatzes von SitterLiver „Gerechtigkeit für alle Lebewesen“ und des Aufsatzes
von Gräßer „Albert Schweitzers Ethik – ein ungenutztes Erbe“
sind mir jedoch einige problematische Stellen aufgefallen, die
ich hier kurz diskutieren möchte:
Zentraler Ausgangspunkt soll der einfache wie geniale Satz
von Schweitzer sein, der vollständig zitiert lautet: „Ich bin
Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
(Kultur und Ethik 1923, München 1990, 330) Er beschreibt im
Anklang an die Philosophie Schopenhauers den Antagonismus
des Lebenswillen in der belebten Natur. Denn man muss zunächst wissen, dass Schweitzer ein Schüler von Arthur Schopenhauer (1788-1860) ist, den er einerseits verehrt und den er
andererseits überwinden will. Schopenhauer hatte gelehrt, dass
die belebte Natur ein Kampfgetümmel der einzelnen Naturindividuen darstellt, die sich im Streit um Nahrung, Territorium
und Fortpflanzung gegenseitig bekämpfen. Sie seien Manifestationen des einen Willens, der als niemals zu befriedigender
Urgrund allen Seins, auch des unorganischen, die Welt durchzieht. Einen Ausweg aus der permanenten Gemengelage „aller gegen alle“ gibt es für Schopenhauer nicht innerweltlich,
sondern nur in der „östlichen“ Abkehr vom irdischen Leben
selbst, was ihn offen macht für die hinduistisch-buddhistische
Weltverneinung, für die „Auslöschung“ des Willens und des
Ichs im Brahman bzw. Nirwana. Schweitzer kritisiert an Schopenhauer genau diese „östliche“ Weltverneinung, denn er führt
deren fatale Konsequenzen vor Augen: Wer einzig und allein
im Ausstieg aus der irdischen Welt sein Ziel markiert, der lässt
alles wie es ist, der gibt z.B. eine Veränderung der politischgesellschaftlichen Institutionen zu mehr Gerechtigkeit hin vorschnell auf und leistet so auch einen stummen Beitrag zu dem
irdischen Jammertal, das uns umgibt. Schweitzer kritisiert daher an Schopenhauer dessen Konsequenzen, hält jedoch an der
Beschreibung des Antagonismus der Lebenswillen fest: „Wenn
ich auf einsamen Pfade wandle, bringt mein Fuß Vernichtung
und Weh über die kleinen Lebewesen, die ihn bevölkern. (...)
Ich werde zum Verfolger des Mäuschens, das in meinem Hau-
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se wohnt, zum Mörder des Insekts, das darin nisten will, zum
Massenmörder der Bakterien, die mein Leben gefährden können. Meine Nahrung gewinne ich durch die Vernichtung von
Pflanzen und Tieren.“ (Schweitzer zit. nach Karen Gloy: Das
Verständnis der Natur. Band II. Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, München 1996, 181f.)
Schweitzer beschreibt hier sehr anschaulich (ähnlich wie
übrigens auch Sophie Scholl in mehreren Briefen und Tagebucheintragungen) die Paradoxie, die das Leben selbst bestimmt: Leben ist grundsätzlich paradox aufgebaut, da es auf
der Vernichtung von (anderem) Leben fußt – Leben setzt seine
Negation, den Tod, voraus. Schweitzers eigener „Ausweg“
aus dieser Paradoxie des Lebens ist jedoch die christliche Erlösungslehre, die er gegen Schopenhauer und die „östliche“
Weltverneinung ins argumentative Feld führt. Seine viel zitierte biozentrische Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“
muss insbesondere von der Faktizität des Antagonismus der
so vielen verschiedenen Lebenswillen her verstanden werden:
Dadurch, dass der Mensch, um leben zu wollen, permanent
fremdes Leben töten muss, macht er sich schuldig und muss
nun diese Schuld in Form eines moralischen Wirkens in der
Welt sühnen. Die schicksalhafte und unwillentliche auferlegte
Schuld des Menschen, fremdes Leben für sein eigenes töten
zu müssen, kann der Mensch nur durch Hingabe an die fremden Lebenswillen abtragen. Das christliche Liebesgebot passt
sich als Erlösungsweg quasi in das grundsätzliche Lebensparadoxon ein. Nur in der selbstlosen Hingabe an die fremden
Lebenswillen und an ihr Wohl und Wehe z.B. in Form des
Tierschutzes, des Eintretens der Belange für Tier und Mensch,
kann die existentielle Schuld des Menschen gesühnt und eine
„Vereinigung mit dem Unendlichen“ realisiert werden.
Man hat insbesondere Schweitzers Sichtweise des „östlichen“ Denkens (von seinem christlichen Standpunkt aus)
kritisiert, das nach Meinung der Kritiker zu stark von einer
Weltverneinung und Weltflucht gekennzeichnet ist und Formen der irdischen Hingabe z.B. in Form von Bhakti-Yoga
nicht berücksichtigt. Eugen Drewermann hält Schweitzer für
weniger originell im Vergleich zu Schopenhauer, von dem
er zehrt (vgl. Drewermann: Was ich denke, München 1994,
78ff.). Es bleibt jedoch Schweitzers Verdienst, die Paradoxie
des Lebens unmissverständlich immer wieder betont zu haben.
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Kommentar
Er hebt sich daher wohltuend von einem gerade in der Ökologie- und Naturschutzbewegung vertretenen Naturharmonismus ab, nach dem die Natur gut sei, weil in ihr angeblich alles
miteinander verbunden und aufeinander abgestimmt ist. Etwas
anderes ist es jedoch, Schweitzers „Lösung“ zu beurteilen, die
ganz klar an Glaubensinhalte gekoppelt ist, zu denen wir keine
allgemeine Zustimmung mehr voraussetzen dürfen. Auch im
sog. „postsäkularen Zeitalter“ ist eine kritische Infragestellung
der Religion nicht obsolet geworden. Wenn wir Schweitzers
„Lösung“ daher bezweifeln, so steht uns wiederum sein Ausgangssatz, dass ich Leben bin, das leben will, inmitten von
Leben, das ebenso leben will, vor Augen. Er ist nur der sprachliche Ausdruck einer mehr oder weniger interpretationsfreien
Sicht auf die belebte Natur, die sich aller Illusionen entkleidet
hat. Religiöse, weltanschauliche oder wissenschaftliche Deutungen des Ausgangssatzes stellen demgegenüber Interpretationen dar, die die Radikalität der Lebensparadoxie nicht als
solche stehen lassen (können), sondern sie mit Sinn be-deuten
und daher abfedern oder entschärfen.
Auch Sitter-Liver hebt in seinem Beitrag „Gerechtigkeit für
alle Lebewesen“ das Dilemma der Lebenswillen in der belebten Natur hervor (354). Er weist darauf hin, dass wegen
der Praktikabilität nicht der Verzicht auf Nahrung „bis zum
Verhungern“ (ebd.) die adäquate Antwort darauf ist, sondern
das „vertretbare Masshalten“ (ebd.). Nach ihm geht es nicht
darum, die Ziele der Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung der Naturindividuen zu verleugnen: „Was wir zur Fristung unseres Daseins nötig haben, steht uns zu.“ (ebd.) Abzulehnen sei allerdings die auf ungezügeltes Gewinnstreben
gegründete Vernutzung der Natur (Natur als Ressource), die
das natürliche Vorherrschaftsverhältnis des Menschen über
das Maß hinaus ausdehnt. Damit aber harmonisiert er die
Radikalität der Lebensparadoxie, eine Tendenz, die schon
Schweitzer selbst eigen war, wie der Tierrechtsphilosoph Tom
Regan betont, indem er bemerkt, dass Schweitzer selbst Tiere
ass, mit ihnen experimentierte und sie als Kleidung trug („Tiere gehören nicht zwischen zwei Scheiben Brot. Interview mit
Tom Regan“, in Information Philosophie 4/2001, 79). SitterLiver und Schweitzer fallen damit hinter Schopenhauer zurück, da sie das natürliche Vorherrschaftsverhältnis zumindest
grundsätzlich legitimieren und es bloß in seine Schranken
weisen wollen. Anstatt aus der Beschreibung der Lebensparadoxie „echte“ moralische Konsequenzen zu ziehen, begnügen
sie sich mit dem aristotelisch gefärbten Konzept des Maßhaltens. Doch das Konzept des Maßhaltens führt die Problematik
durch die Hintertür wieder ein, die von der Beschreibung der
Lebensparadoxie aus grundsätzlich in Frage gestellt werden
kann. Nicht das Maßhalten der Vernutzung der Natur ist die
Lösung: Durch das Maßhalten werden die konfligierenden
Kräfte nur im Zaum gehalten und daher ontologisiert, verewigt, still vorausgesetzt. Dies wird auch durch den Beitrag
„Albert Schweitzers Ethik – ein ungenutztes Erbe“ von Erich
Gräßer deutlich. Gräßers These ist, dass die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Umwelt- und Naturethik
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bereits von Albert Schweitzers biozentrischem Ethikentwurf
vorweggenommen wurde. Dass bei ethischen Reflexionen,
die die Biosphäre als beschützenswertes Gut zum Gegenstand
haben und auf die Eigenwerte der Naturindividuen Bezug genommen wird, „Schweitzer unerwähnt bleibt, ist dann doch
sehr verwunderlich! (...) Mit seinem an Kants kategorischen
Imperativ orientierten und auf Jesus Bergpredigt inhaltlich
Bezug nehmenden ethischen Entwurf war Albert Schweitzer
seiner Zeit weit voraus.“ (348f.) Das mag zunächst stimmen,
aber einerseits beruht dessen ethischer Entwurf nicht nur auf
Kant und der Bergpredigt von Jesus, sondern auch wie aufgezeigt auf dem Schuld-Sühne-Denken (das an die Erbsündelehre erinnert), was u.a. zur Folge hat, dass Schweitzer die
Paradoxie der Natur, die er so trefflich beschreibt, mit einem
„Sprung in den Glauben“ neutralisiert. Andererseits beruht
die von Schweitzer betonte Notwendigkeit einer „ethischen
Kultur“ bzw. die Kritik einer rein „technischen Kultur“, die
Gräßer herausarbeitet (349f.), auf falschen Abstraktionen, die
das grundsätzliche Dilemma der bloß rhetorischen Ermahnung mit dem moralischen Zeigefinger offenbaren und die
auch von der modernen Kulturkritik (Jonas, Jungk, Küng u.a.)
fortgeschrieben werden. Keinesfalls ist es doch „der“ Mensch,
„die“ moderne Großtechnologie oder „die“ westliche Wissenschaftskultur, die hinter dem apokalyptischen Treiben der Klimaveränderung, der Atomrüstung, des beschleunigten Artensterbens, der industriellen Vernutzung der Tiere (und Pflanzen)
zu Nahrungszwecken u.a. steht, sondern es ist die Herrschaft
einer verselbstständigten Ware-Geld-Ökonomie über die Menschen, die diese Effekte an der gesellschaftlichen Oberfläche
sichtbar erzeugt. Solange das Ansinnen einer „ethischen Kultur“ auf dem Grund und in Voraussetzung vollends durchkapitalisierter Ware-Geld-Beziehungen gedacht wird, bleibt eine
solche Ethik, so gut sie auch gemeint ist, den Kernstrukturen
des gegenwärtigen Weltkapitalismus gegenüber hilflos. Nicht
nur, dass damit die Widersprüche auf der gesellschaftlichen
Ebene unangetastet bleiben, auch die Paradoxie des Lebens
innerhalb der Natur bleibt damit außen vor. Die m.E. „echte“
moralische Konsequenz aus der Lebensparadoxie ist, die biozyklischen Strukturen der natürlichen Reproduktion selbst in
Frage zu stellen und nach Alternativen eines gewissermaßen
postbiologischen „Lebens“ zu suchen. Nur so kann das Dilemma des Lebens in der Natur − dass mein Leben, nur weil ich
leben will, auf der Vernichtung von anderem Leben beruhen
muss – umschifft werden, da ein „Leben“ z.B. in einer digitalen Matrix nicht mehr auf der Tötung anderen Lebens notwendig beruhen muss. Dort erst wäre dann die von Schweitzer
geforderte „ethische Kultur“ auf ihren Begriff gebracht.
Dr. phil. Norbert Walz
Helingstr. 6
90443 Nürnberg
Deutschland
E-Mail: [email protected]
Altexethik 2009
13.12.2009 15:46:15 Uhr
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