Ausschreibung des Orgelneubaus in der Jesuitenkirche Heidelberg

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Prof. Dr. Michael G. Kaufmann
Frischer Wind für alte Pfeifen
Was uns historische Orgeln noch heute alles mitteilen können
Sehr geehrte Damen und Herren,
Es ist mir eine große Freude und Ehre gleichermaßen nach diesem festlichen Gottesdienst zur
Eröffnung des „Jahres der Kirchenmusik 2013“ in Ihrer Pfarrgemeinde St. Mauritius in HattingenNiederwenigern den Jubiläumsvortrag zum 100. Weihetag der Stahlhut-Orgel in Ihrer Pfarrkirche halten
zu dürfen und ich danke für die Einladung (Folie 1). Sie haben hier im „Dom“ ein bedeutendes
Instrument, eines das sich lohnt, daß man es hört und spielt. Seine Geschichte des Baus, der
Veränderung und der Wiedergewinnung möchte ich einbetten in die Gesamtheit der politischen,
sozialen, technischen, kulturellen und musikalischen Geschichte. Ich will mich dabei nicht in Details
verlieren, sondern die großen Züge darstellen, so daß hoffentlich für jeden möglichst viel verständlich
bleibt, auch wenn er als Freund der Kirchenmusik und der Orgel in dieser Thematik bisher nur
eingeschränkt bewandert sein mag. Trotzdem oder gerade deshalb will ich Sie zur Zeitreise einladen,
die uns durch einhundert Jahre Geschichte führen wird.
Als diese, Ihre Orgel von der Firma Gebrüder Stahlhut, Aachen, erbaut wurde, sah die Welt noch ganz
anders aus (Folie 2): Das Deutsche Reich war seit seiner Gründung 1871 zur politischen Großmacht mit
Kolonien und zur mächtigsten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen. Das ursprünglich vom
englischen Konkurrenten pejorativ gedachte „Made in Germany.“ hatte sich zum Gütesigel gewandelt,
das international den Absatz von Produkten aus Deutschland ankurbelte. Entscheidenden Anteil daran
hatten die größten Eisen- und Stahl-Schmieden Europas im Ruhrgebiet bzw. die Menschen, die in
diesen arbeiteten und in der Region lebten. Und zu diesem Leben und Arbeiten gehörte neben Essen
und Wohnen selbstverständlich der berechtigte Anspruch auf Bildung und Kultur. Beides vermittelten
neben staatlichen Institutionen und politischen Parteien in sehr hohem Maße die Kirchen der großen
christlichen Konfessionen, nämlich Wissen auch für einfache Leute und die Integration der
Arbeiterschaft ins bürgerliche Milieu. Mit dem Wachstum der Bevölkerung wurden neue Kirchbauten
errichtet, in diese wurden Orgeln mit modernster Technik und zeitgemäßen Klängen gestellt. So 1878
auch die erste große Orgel für Ihre 1861 erbaute St. Mauritius-Kirche durch den Orgelbauer Wilhelm
(Heinrich?) Küper (Lebensdaten unbekannt) aus Linden an der Ruhr (bei Bochum), von der das
Gehäuse und einige Register noch vorhanden sind.
Es war eine Zeit des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs, so rasant wie man sie sich kaum
vorstellen kann. Allerdings geschah das mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur und Umwelt,
so daß das viele Positive durch ebensoviel Negatives entwertet wurde. Die Arbeitsbedingungen für die
Menschen waren zum Teil unerträglich, die Gesundheit der Familien am unteren Ende der sozialen
Leiter zählte nicht viel. Und als 1913 die heute noch vorhandene bzw. seit der Restaurierung 1989
wieder entstandene Orgel der Firma Gebrüder Stahlhut aus Aachen hinter dem neugotischen KüperProspekt aufgestellt wurde, regierte ein Kaiser, Wilhelm II., der sein Land in chauvinistischer
Überheblichkeit und nationaler Verblendung wenig später in einen sinnlosen und selbstzerstörerischen
Krieg führte, dessen Folgen über Jahrzehnte immer neue verheerende Auswirkungen zeigten
(Revolutionskämpfe, nationalsozialistische Diktatur, Zweiter Weltkrieg, vollständige Zerstörung und
schließlich Teilung Deutschlands etc.). Wahrscheinlich alle, die wir an diesem Tag hier sitzen, zahlten
bis zum 3. Oktober 2010 mit an den Reparationen an die Siegermächte für dieses Schlachten der
Völker von 1914 bis 1918: insgesamt 67,7 Milliarden Goldmark! Was hätte man mit solch einer Menge
Geld alles Gutes tun können – und sei es auch bloß die sogenannten Rettungsschirme für die in
unseren Tagen in die Bredouille geratenen europäischen Staaten bzw. deren marode Banken
aufzuspannen…
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Doch ich hole womöglich zu weit aus. Wenden wir uns daher wieder der Orgel zu, wobei ich mich auf
die Ausführungen Ihres Kirchenmusikers Gereon Georg, des Orgelsachverständigen-Kollegen Gabriel
Isenberg und der Dokumentation von Prof. Dr. Christian Ahrens, Sven Dierke und Stefan Gruschka auf
CD-Rom sowie auf die Unterlagen im Essener Generalvikariat stütze:
Die Küper-Orgel von 1878 hatte ca. 12.000 Mark gekostet und soll laut Pfarrchronik „ein ziemlich
monumentales Werk“ gewesen sein; mehr ist dazu nicht bekannt. 1913 wurde das Werk von Küper
durch einen Neubau der Gebrüder Georg (1830-1913), Ludwig (@@@@@@@) und Eduard
(@@@@@@) Stahlhut ersetzt, einer damals in Nordwestdeutschland und darüber hinaus sehr
geschätzten Firma (Folie 3). Dabei blieben das Gehäuse und fünf Register der alten Orgel erhalten. In
den Jahren 1958 und 1974 wurde das Instrument in der Disposition verändert, als der Orgelbauer Alfred
Raupach (Lebensdaten unbekannt) aus Hattingen im Sinne des damaligen Zeitgeschmacks eine
klangliche Neobarockisierung vornahm und fünf grundtönige Register gegen obertönige bzw. Mixturen
austauschte. Diese Änderungen wurden 1999/2000 von der Orgelbauwerkstatt Gebrüder Stockmann,
Inhaber @@@@@@@@@@@@, in Werl rückgängig gemacht, als nämlich die ganze Orgel gemäß
der Bestandsaufnahme von 1993 und dem minimal modifizierten Kostenangebot vom 30. Juni 1998
aufwendig instand gesetzt worden ist. Die Restaurierungsarbeiten standen unter Sachberatung von
Reiner Schuhenn, Bischöflicher Beauftragter für Kirchenmusik im Bistum Essen, und Prof. Dr. Winfried
Schlepphorst, Leiter der Organologischen Forschungsstelle an der Universität Münster. Die Intonation,
also die Klanggebung im Sinne des Originals, führte Rainer Ebben durch.
Betrachtet man also die Geschichte dieser Stahlhut-Orgel, so ist sie typisch dafür, wie man mit
Instrumenten der Spätromantik, der Zeit zwischen etwa 1880 und 1920 umging: In den Jahrzenten nach
dem Zweiten Weltkrieg, den durch den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder bestimmten etwa drei
Dezennien, wurden solche Werke, zumal wenn sie wie diese Orgel pneumatische Trakturen und aus
Registerkanzellen gebaute Windladen besaßen, in der Regel abgerissen und durch einen neobarocken
Neubau nach den Vorgaben der sogenannten Orgelbewegung ersetzt oder zumindest in deren Sinne
umgebaut. Dies geschah aus modischen Gründen, die durch den geänderten musikalischen
Geschmack und das sich wandelnde Liturgieverständnis bestimmt waren.
Man wollte seit den 1920/30er Jahren keine Musik mehr von Josef Gabriel Rheinberger oder Max Reger
oder anderen Komponisten der Romantik mehr hören, die in ihrer oftmaligen homophon geführten
Chromatik als verweichlicht galt, sondern wollte die Musik von Dietrich Buxtehude und Johann
Sebastian Bach oder zeitgenössische Adaptionen derselben von Hugo Distler oder Herrmann
Schroeder spielen, die in einer polyphonen Linearität der Einzelstimmen mit Dissonanzen und Härten
daherkam. Gedanklich nahm man hier vorweg, was Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels
als „stählerne Romantik“ bezeichnet hat (Folie 4).
Außerdem traten die Gregorianik des Cäcilianismus und die dreiklangbestimmten Melodien der
Kirchenlieder des 18. und 19. Jahrhunderts gegenüber den wiederbelebten Chorälen der Renaissance
und des Barock (Stichwort: Gegenreformation) und den aus diesem Geist neugeschaffenen Liedern der
sogenannten liturgischen Bewegung (Stichwort: Vaticanum secundum) in den Hintergrund. Beispiele für
den verfehlten Umgang mit der Orgelmusik des 19. Jahrhunderts sind die Editionen der Kompositionen
Rheinbergers und Regers aus den 1970er Jahren, in denen die Musik dem neobarocken Instrument
angepaßt wird. Beispiele für den herben Duktus von Liedern (Text und Melodie) und die Selektion des
18. und 19. Jahrhunderts finden Sie zuhauf im Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ von 1975, das in
diesem Jahr durch ein hoffentlich nicht so ideologisch verengtes Gesangbuch ersetzt werden wird.
Wieder zu Ihrer Stahlhut-Orgel: Man darf es folglich als ein Glück bezeichnen, daß das Instrument nicht
abgebrochen oder bis zur Entstellung umgebastelt worden ist, wie das zahlreichen seiner Geschwister
erging. Die Eingriffe waren vergleichsweise gering, die meiste Originalsubstanz blieb erhalten und
konnte sachgerecht überarbeitet werden. Die abgegangenen Teile wurden nach Vorbildern, die man an
anderen Stahlhut-Orgeln fand, ergänzt. Damit ist die Orgel nun ein Beispiel, wie man unter
denkmalpflegerischen Aspekten verantwortungsbewußt mit einem wertvollen Kulturgut umgeht. Für
diese Weitsicht kann man den Verantwortlichen und der Gemeinde vorbehaltlos gratulieren.
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Weil die Orgeldenkmalpflege ein einigermaßen schwieriges und kompliziertes Feld ist, möchte ich
darauf nun eingehen (Folien 5-19):
Der heute in Deutschland gepflegte Umgang mit historischen Orgeln ist das Resultat eines Prozesses,
wie er sich aus der seit dem beginnenden 19. Jahrhundert entwickelten Denkmalpflege herleitet: Das
infolge der Befreiungskriege erwachte Interesse an der deutschen Geschichte brachte außer staatlichen
Verordnungen zum Umgang mit Baudenkmälern vor allem bei den Architekten ein neues Bewußtsein
für den Erhalt und das schöpferische Nachahmen von Bauwerken vergangener Epochen. Der
Historismus war geboren, und neben der Errichtung neuer Gebäude in den Neo-Stilen stand die
Restaurierung und Rekonstruktion von Ruinen vor allem aus dem Mittelalter. Dabei bediente man sich
von Anfang an wissenschaftlicher Methoden, indem man die vorhandenen Quellen recherchierte und
die Befunde interpretierte. Wo Wissenslücken sich trotz aller Forschung nicht zu schließen waren,
verließ man sich auf die eigene Phantasie und idealisierte die Objekte so, wie man sich vorstellte, daß
sie im „Goldenen Zeitalter“ gewesen sein könnten. Realität und Fiktion verschmolzen zu etwas Neuem,
das seine Kraft aus der Vergangenheit bezog, um aus der Gegenwart in die Zukunft zu wirken. Dieser
Ansatz wurde aus den mannigfachen Erfahrungen von zwei Jahrhunderten mit Wegen und Irrwegen
und auf den Erkenntnissen einer in vielerlei Disziplinen geordneten und in jeder einzelnen davon
vertieften Wissenschaft wesentlich differenzierter betrachtet und mehr und mehr in Frage gestellt. Für
die Praxis der Denkmalpflege heute ist die Herausarbeitung der „Geschichtlichkeit“ zentral, was
durchaus wörtlich gemeint ist: Die verschiedenen Schichtungen, wie sie sich an einem Bauwerk über
die Zeitspanne seit Errichtung bis in die Gegenwart ablesen lassen, sollen offen sichtbar gemacht
werden, so daß der Zustand des allmählich Gewachsenen und vielfach Überformten sich dem
Betrachter mitteilt.
Die allgemein beschriebenen denkmalpflegerischen Entwicklungen wurden mit etwa einhundert Jahren
zeitlicher Verzögerung bei der Orgel angesetzt: Auf dem Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft
in Wien 1909 (sogenannter Haydn-Kongreß) erfolgte durch die Sektion Orgelbau nach demokratischer
Meinungsbildung die Abfassung eines Internationalen Regulativs für Orgelbau, gedacht als Empfehlung
und Hilfestellung zu konkreten orgelbautechnischen Fragen. Dieses lieferte, obwohl es sich vor allem
mit der Thematik des Orgelneubaus beschäftigte, einen ersten Impuls auch für die Orgeldenkmalpflege.
Zwischen den Weltkriegen wurde dieser Begriff durch die sich konstituierende sogenannte
„Orgelbewegung“ genauer definiert, indem auf den Kongressen in Hamburg (1925), Freiburg im
Breisgau (1926) und Freiberg in Sachsen (1927) der Denkmalcharakter für Instrumente aus der Zeit
vornehmlich des norddeutschen Barock definiert wurde, weil man solche als besonders geeignet für die
Darstellung der Musik von Johann Sebastian Bach und von wenigen anderen barocken Meistern hielt.
Daneben konnten nur noch einige andere Orgelbauer bestehen, wie Esaias Compenius () oder die
Familie Silbermann () und manchmal ihre Schüler, deren Werke ebenfalls als idealtypisch postuliert
wurden. Allerdings umfaßte auch der gewährte Denkmalwert meist nicht die Orgel als Ganzes, sondern
nur bestimmte Teile davon, nämlich vor allem den Prospekt als kunstgeschichtlichen bedeutsamen
Ausdruck der Entstehungszeit. Die technische und klangliche Anlage wurden zwar bei Instrumenten der
genannten Orgelbauer geschätzt, jedoch verhinderte dies nicht Veränderungen aus ästhetischen oder
modernistischen Gründen. Ein angeblich größerer Gebrauchswert als Musikinstrument führte weiterhin
zu Anpassungen an den Zeitgeschmack, denen die historisch überlieferte Substanz geopfert wurde.
Eine erste Tendenz gegen diese oft willkürlichen und wenig reflektierten Eingriffe kam nach der
Gründung der „Gesellschaft der Orgelfreunde“ (GdO) 1951 zum Tragen, als aus deren Kreisen das
erste offizielle Dokument mit „Richtlinien zum Schutz alter wertvoller Orgeln“ formuliert wurde, das
Weilheimer Regulativ von 1957, überarbeitet 1970. Dieses Papier muß als ein Meilenstein in der
Orgeldenkmalpflege angesehen werden, denn erstmals wurden hierin Begriffe für Maßnahmen an
Orgeln exakt formuliert und in Rückbezug auf das aus der Geschichte überlieferte Instrument gesetzt.
Jedoch brachte die nahezu ausschließliche Fixierung der Orgelbewegung auf die Formel „Barock und
Bach“ es mit sich, daß dieser Denkmalschutz nicht jeder Orgel zugesprochen wurde und nun das große
Schlachten der Instrumente des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als der angeblichen Phase der
Dekadenz entstammend erst begann: Was nicht in den Bombardements des Zweiten Weltkrieges
untergegangen war, wurde durch die Ideologen der Orgelbewegung gnadenlos vernichtet und entweder
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barockisierend umgebaut oder durch zeitgemäße neobarocke Instrumente ersetzt. Zudem wurde dem
Orgelbau in den süddeutschen Ländern als einem eigenständigen Strang der Orgelgeschichte jegliches
Daseinsrecht abgesprochen, weil auch diese Instrumente, obwohl barocken Ursprungs, das zweite
Kriterium, die Bach-Fähigkeit, nicht besaßen, weshalb sie ebenfalls bis in die 1970/80er Jahre hinein
„aufgenordet“, respektive zerstört wurden – Ausnahmen bestätigten die Regel.
In den vergangenen etwa zwanzig bis dreißig Jahren entwickelte sich allmählich ein Bewußtsein dafür,
daß prinzipiell für jede aus der Geschichte überlieferte Orgel, ungeachtet aus welcher Epoche sie
stammt, zu prüfen ist, ob es sich dabei um ein Denkmal handelt, das einen besonderen Schutz als
Kulturgut verdient. Zu dieser Einsicht haben verschiedene Faktoren geführt; hier einige sehr wichtige:
a) die konsequente Anwendung der für den Kulturgüterschutz entwickelten und dort verbindlich
stehenden Vorgaben auf die Orgel als ein architektonisches und musikalisches, technisches und
klangliches Denkmal (Venice Charter, 1964);
b) die Toleranz gegenüber den Ausdrucksformen aller Epochen als Zeichen eines bestimmten
Lebensgefühles (Declaration of Organ-Rights, 2003);
c) die Erweiterung und Vertiefung der durch die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften
erreichten Sichtweise auf die Art und Weise der musikalischen Interpretation (Historisch Informierte
Aufführungspraxis);
d) die konsequente Ablehnung jedweder Art von Ideologie und Dogmatik bezüglich der künstlerischen
Fragestellungen und deren Ausdrucksbedürfnissen (Authentizität).
Konkret bedeutet dies für den Orgelbau in den deutschsprachigen und in einigen anderen
westeuropäischen, ansatzweise auch osteuropäischen Ländern: Qualitätvolle Orgeln aller Epochen
werden mittlerweile als Denkmäler akzeptiert und entsprechend ihrer Individualität konserviert und
restauriert. Dies betrifft Instrumente des Barock ebenso wie der Romantik in den verschiedenen
Orgellandschaften; ja sogar herausragende Werke aus der Zeit nach 1945 bis in die jüngste Gegenwart
stehen mittlerweile unter Denkmalschutz. Ob damit aber jedesmal der Rückbau in den manchmal
detailliert, manchmal nur fiktiv zu erfassenden Urzustand gemeint ist oder ob es um die Erhaltung eines
sogenannten „gewachsenen Zustandes“ geht, ist zwischen den an einem Orgelrestaurierungsprojekt
beteiligten Experten zu diskutieren und jedesmal neu zu begründen. Bei jedem Fall muß die Objektivität
der Beteiligten bei der Beurteilung vor jeglicher Art von Selbstverwirklichung stehen.
Nur auf diese Weise wird man der Forderung Johann Wolfgang von Goethes gerecht werden können,
wie sie der Dichter sie in seinem Drama Faust so trefflich formuliert hat: „Was du ererbt von deinen
Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, / Nur was der
Augenblick erschafft, das kann er nützen.“ Dieses Ererbte ist oft wenig genug und verlangt daher die
kreative Auseinandersetzung, bei der die Aneignung stattfindet: Nicht die bereits zementierten
Vorurteile, sondern die allmähliche Meinungsbildung müssen den Umgang mit dem Kulturgut Orgel
bestimmen, nicht die Vorliebe für eine bestimmte Art von Musik und die Verbindung zu einem
bestimmten Klang dürfen Entscheidungen leiten. Ähnlich wie bei einem Kriminalfall gilt es die Indizien
zu sammeln, auszuwerten und damit den Prozeß vorzubereiten, der in ein Urteil mündet.
Es müssen gerade beim Umgang mit historischen Instrumenten alle Beteiligten auf dem neuesten
Stand der Entwicklungen stehen, d. h. der Organist muß die Literatur der spezifischen Epoche kennen
und spielen können, der Orgelsachverständige die methodischen Vorgehensweisen beherrschen und
der Orgelbauer auch ein ausgebildeter Restaurator sein. Die verschiedenen Ebenen müssen im Sinne
eines gegenseitigen Verstehens ineinander greifen. Zudem dürfen die Beteiligten nicht resistent sein
gegen die Beratungen der Denkmalbehörden. Auch wenn in diesen in den seltensten Fällen
Spezialisten für die Orgel arbeiten, besitzen die dort tätigen Menschen aufgrund der ständigen
Konfrontation mit solchen Themen der Denkmalpflege eine große Erfahrung, die dazu führt, daß bspw.
die Übertragung restaurativer Techniken aus anderen Bereichen auf die Orgel deren gefährdete
Materialen schützen und erhalten hilft.
Aber auch hier lauern Gefahren eines Fundamentalismus: Einerseits wünschen aktuelle und noch
zunehmende Tendenzen eines aus der Baudenkmalpflege übernommenen Substanzfetischismus, der
um der Erhaltung möglichst aller irgendwann einmal vorgenommener Veränderungen willen technisch
und klanglich fremde Überformungen beläßt und damit die künstlerische Aussagekraft des Instrumentes
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verdeckt und sogar verhindert, gepaart mit einem Unwillen vor Entscheidungen mit eindeutigen
Konsequenzen eine Konservierung jedes Instrumentes in seinem gewachsenen Zustand. Sie stoßen oft
rasch an die Grenzen dessen, was von den Baustoffen und vom Handwerklichen möglich ist sowie
unter der Kondition für eine im Künstlerischen fundierten musikalische Ausdrucksfähigkeit sich als
unabdingbar zeigt. Andererseits verlangt die Klangdenkmalpflege einen respektvollen Umgang mit
Phänomenen der Tonbildung innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhanges. Dieser kann und
muß manchmal Veränderungen einschließen, beginnend mit dem Austausch von später eingefügten,
mittlerweile aber durchaus auch schon als historisch einzustufenden Pfeifen oder Register und notfalls
endend in einer Neuintonation des Instrumentes als die letztlich künstlerisch in sich stimmigere Lösung.
Damit sind wir beim eigentlichen Thema angelangt, dem Klang der Orgel, wie es durch den Titel meines
Vortrags impliziert ist: „Frischer Wind für alte Pfeifen – Was uns historische Orgeln noch heute alles
mitteilen können“: Dazu schlaglichtartig ein Blick in die weit mehr als 2.000jährige Geschichte des
Instruments: Erfunden im hellenistisch geprägten Ägypten, wird die Orgel in den Zeremonien der AmunTempel beim Öffnen der heiligen Tore als Klangmaschine eingesetzt, die das Erstaunen verstärkt. In
der oströmischen Kapitale Byzanz ist sie in das Hofzeremoniell des Kaisers unverzichtbar integriert und
hilft damit, die Ordnung der irdischen Welt als Abbild der himmlischen Herrschaft zu begreifen. Im
Frankenreich nimmt sie den Weg von der Aachener Schloßkapelle hinaus in die Bischofs- und
Klosterkirchen, wobei sie als Attribut der Macht des Kaisers, der von Gottes Gnaden herrscht, nun diese
überall im Land akustisch vernehmbar macht. Bei dem Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680) steht
die Orgel sogar für die Universalität schlechthin, denn in seiner Musurgia universalis aus dem Jahr 1650
hält sie den Kosmos in Bewegung und setzt die Harmonie der Sphären in Gang, wobei der Schöpfer
das ganze Werk wie ein Organist spielt. Als Symbol der Entgrenzung von Zeit und Raum gilt sie den
Romantikern, gemäß der Definition der Tonkunst: „...nur das Unendliche ist ihr Vorwurf.“. Auch die
durch die Orgelbewegung postulierte Objektivität und Statik als „Gesetz der Orgel“ versucht sich diesem
Phänomen zu nähern. Und die Rückbesinnung auf das Authentische des Klangs und die Suche danach
bei möglichst unverfälschten historischen Orgeln kann man durchaus als ein Zeichen zur Überwindung
entmenschlichter Sterilität deuten, wobei die Konsequenz in der Anwendung auf den zeitgenössischen
Orgelbau vielfach leider noch auf sich warten läßt.
Das Fazit aus dieser Betrachtung könnte also lauten: Die Orgel wird als Medium des Klangs in
besonderer Weise mit Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit in Verbindung gebracht. Dabei darf allerdings
durchaus offen bleiben, was dies sei; denn wahr ist relativ, wie wir, um ein Beispiel aus der Bibel zu
zitieren, der Szene des Verhörs Christi entnehmen können, in der es heißt: „Spricht Pilatus zu ihm:
‚Was ist Wahrheit?’“ (Joh. 18,38).
Versuchen wir dem Nachzuspüren: Unser Leben lang sind wir umgeben von Geräuschen (Wind,
Blätterrascheln, Vogelrufen etc.) und Klängen (Stimmen, Glockengeläut, Radio etc.), so sehr, daß wir
sie oft gar nicht mehr bewußt wahrnehmen. Im Gegenteil, wir empfinden es eher als merkwürdig, wenn
es einmal ruhig um uns wird. Dann tritt ein Zustand ein, den wir Stille nennen, der manchmal
angenehm, manchmal aber auch bedrohlich, jedenfalls fremd wirkt und abweicht von der lauten
Normalität um uns her.
Wenn in dieser Ruhe ein Ton erklingt, auch nur ein leiser, hören wir genau hin und merken gut auf,
denn er könnte ja etwas bedeuten. Darüber hinaus löst er in uns eine Empfindung aus, häßlich oder
schön, furchterregend oder liebreizend. In solch einem Moment sind wir hochsensibel für uns und
unsere Umgebung. Später können wir uns in dem Klang vielleicht auch verlieren…
Genau dazu lädt uns die Orgel ein, die in einer Kirche steht, an einem Ort der Andacht. Sie mahnt uns
auf das Unsagbare zu achten, einzutauchen in das Unendliche, wenn auf ihr Musik gespielt wird. Doch
nicht jede Orgel schafft es, die Menschen in ihren Bann zu ziehen. Manche Orgeln drängen sich auf mit
ihren näselnden Trompeten und schrillen Mixturen; andere verstecken sich mit ihren mageren Registern
in der Weite des Raumes; wieder andere wollen mit ihren Stimmen universell sein, es jedem recht
machen – und sind daher charakterlos.
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Diese Erfahrungen verlangen nach dem Besonderen, nach einem Instrument, das anders ist als das
Gros landauf und landab, eines das wirklich aufhorchen läßt, nicht zuvorderst durch brutale Kraft,
sondern vor allem durch die Poesie seiner Stimmen.
Kaum eine Epoche war für das Poetische so prädestiniert wie das Zeitalter der Romantik im ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Erzählungen Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns (1776-1822) oder die
Gedichte Eduard Mörikes (1804-1875), die Impressionen Caspar David Friedrichs (1774-1840) oder die
Porträts Franz Xaver Winterhalters (1805-1873) und die Kompositionen Friedrich Silchers (1789-1860)
oder Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) lassen noch heute etwas von diesem Geist lebendig
werden. Bezogen auf die Orgel schrieb der Dichter Ludwig Tieck (1773-1853) in seinen
Dramaturgischen Blättern (1827) von einem „Springquell von Tönen“ und berichtete von seinem
Durchschreiten eines fein gearbeiteten Instruments: „Es war mir fast wie ein Feenmärchen, wo aus
silbernen Lilien Stimmen hervordringen, und Felsen und Lüfte von geheimnisvollen Klängen erfüllt sind.“
Solche und ähnliche Vorstellungen inspirierten einst den Orgelbauer Eberhard Friedrich Walcker (17941872), der sich 1821 mit seiner Werkstatt in Ludwigsburg niedergelassen hatte. Er entwickelte auf der
Grundlage der barocken Tradition des süddeutschen Orgelbaus einen Orgeltypus, der das romantische
Ideal der Entgrenzung in Klänge umsetzte sowie mit Innovation und Perfektion auf dem höchsten
technischen Niveau vereinte. Mit der reichen Palette an unterschiedlichen Klangfarben der Register und
der dadurch möglichen dynamischen Bandbreite vom leisesten Piano bis zum stärksten Forte prägte er
maßgeblich die Epoche. Doch modische Wechsel im musikalischen Geschmack und die Zerstörungen
der Kriege ließen von seinem umfangreichen Schaffen nicht viel übrig. Neben den schemenhaft
erhaltenen und aufwendig rekonstruierten größeren Instrumenten in bspw. Schramberg (op. 46, 1844,
verändert wieder hergestellt 1995) oder Neuhausen/Fildern (op. 126, 1854, original wieder hergestellt
2005) blieb mit hohem Anteil an authentischer Substanz einzig die Orgel in Hoffenheim (op. 62, 1845,
original wieder hergestellt 2012) erhalten.
Charakteristisch für die Disposition solcher Orgeln, wie sie Walcker und dann Generationen seiner
geistigen Schüler erst deutschland-, dann weltweit bauten, ist deren grundtöniger Aufbau, wie ihn Ihre
Orgel besitzt (Folie 20): Zwei Drittel der Register des Werkes liegen im 16‘- und 8‘-Bereich und bilden
die Basis für den Klang. Die vielen 8‘-Register werden als Unterscheidliche bezeichnet, denn ihre
Pfeifen haben aufgrund der Bauweise einen jeweils individuellen Klang: Je nach Mensurierung
(Bemaßung) und Bauart (zylindrisch, konisch, weit, eng, labial oder lingual) sind sie bestimmten
Familien zuzuordnen, nämlich den Prinzipalen, Flöten, Streichern und Trompeten. Darüber liegen im
Oktav-, Quint- und Terzintervall zumeist weitere Register, die jeweils einen der Stammbäume
fortsetzen. Wenn nun vom leisesten Klang, der Aeoline 8‘, ausgehend nach und nach weitere Stimmen
bis zu den lautesten, der Trompete 8‘ und Posaune 16‘, hinzugezogen werden, wächst nicht nur die
Dynamik, sondern es ändert sich auch das Obertonspektrum, weil der Klang symphonisch wird. Dabei
bindet sich jeder Ton in das Gefüge ein und behält seinen eigenen Charakter, keiner sticht aus dem
Ganzen heraus. Dieser feine Sinn für eine vom vokalen Klang der menschlichen Stimme geprägte
Intonation läßt einerseits die Individualität jeder Einzelstimme und andererseits die Verschmelzung der
Stimmen im Plenum hörbar werden. Das Prinzip der Klangrede spiegelt sich spielerisch in dem
organischen und zugleich artikulierenden Klangbild, das dadurch wie eine transparente Flächigkeit
wirkt. Jede der Pfeifen hat ihre Persönlichkeit, die sie im Solo zeigen darf, wie bspw. die Oboe, und in
das Plenum einbinden muß, wie bspw. die Mixtur.
Unterstützt wird diese Art der Intonation durch die freie Windversorgung, bei der aus einem oder
mehreren Bälgen heraus die Ansteuerung der Trakturen und die einzelnen Teilwerke so mit Luft
versorgt werden, daß die Pfeifen beim Spielen der Tasten klingen können. Auch wenn keine
Windladenbälge als Stoßfänger angebracht sind, bleibt der Wind stabil, aber nie starr, sondern
gleichsam lebendig atmend. Hier ist ebenfalls ein romantischer Gedanke bestimmend, den E. T. A.
Hoffmann in seinen Nachtstücken (1815) poetisch beschrieben hat als „die Stille der Nacht, in der das
dumpfe Brausen des Meeres, das seltsame Pfeifen des Windes wie die Töne eines mächtigen, von
Geisterhand gerührten Orgelwerks erklangen […], daß ein fremdes Reich nun sichtbarlich und
vernehmbar aufgehen könne.“ Und dieses ist, um nochmals biblisch zu argumentieren, „nicht von dieser
Welt“ (Joh 18, 36).
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So führen uns alte Orgeln, sobald sie gespielt werden, nicht nur eine vergangene Epoche vor Augen,
wie das in einem Museum geschieht, in dem man Dinge betrachten darf, sondern sie aktualisieren
gleichsam diese Zeit für uns Heutige, indem sie uns in der Musik die höhere Wahrheit der Kunst als ein
nur dem Menschen eigenes Erkennen ermöglichen (Folie 21). Wir dürfen das philosophisch mit den
Begriffen Aisthesis oder Akroasis, also Anschauung oder Anhörung fassen; wir können aber auch auf
diese komplizierte Benennung verzichten und ganz schlicht von der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung
reden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Michael Gerhard Kaufmann, geboren 1966 in Landau/Pfalz, Studium der Schul- und Kirchenmusik, Germanistik und
Musikwissenschaft an der Musikhochschule und Universität in Karlsruhe, Promotion zum Dr. phil., ist Professor an der
Hochschule für Musik Trossingen. Er unterrichtet zudem im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Orgelsachverständigen
Deutschlands an der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg und von Restauratoren im Orgelbauhandwerk an der
Oscar-Walcker-Schule – Bundesfachschule für Orgelbau in Ludwigsburg. Für das Erzbistum Freiburg ist er als
Erzbischöflicher Orgelinspektor tätig. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu musikhistorischen und -ästhetischen Themen
(vgl. Autorenhandbuch Musik), Schriften zur Orgel und ihrer Musik sowie Editionen süddeutscher Orgel- und Klostermusik
(u. a. Ochsenhauser Orgelbuch ausgezeichnet mit dem Deutschen Musikeditionspreis 2005) sowie Aufnahmen auf
CompactDisk, für Rundfunk und Fernsehen (vornehmlich mit dem Südwestrundfunk) vorzuweisen und ist neben seiner
Konzerttätigkeit als Organist Mitglied von Kommissionen zur Restaurierung und Rekonstruktion bedeutender historischer
Orgeln. Er gehört den Präsidien der Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands (VOD) und der Gesellschaft der
Orgelfreunde (GdO) an, für die er regelmäßig Symposien und Tagungen ausrichtet. Die Schwerpunkte seiner
wissenschaftlichen Forschungen liegen beim Instrument Orgel, in der Musik Johann Sebastian Bachs und Max Regers
sowie allgemein in der Kirchenmusik, die seiner künstlerischen Tätigkeiten im Bereich der sogenannten Alten Musik und
Historisch informierten Aufführungspraxis (16. bis beginnendes 20. Jahrhundert).
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