ausführliche Programmnotizen

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Programm Notizen
“Da lag es verzaubert, das Land des Traums, jenseits der Zeit, jenseits des Raums
Edgar Allan Poe: Traumland
Wir brauchen Räume für Träume, Polaroids unserer Sehnsüchte und Wünsche. Bei
Claude Debussy tauchen wir ein in eine mythologisch-unwirkliche Szenerie: Der
sinnengereizte Faun gibt sich tagträumerischen Fantasien hin und dient als
schlafwandlerische Folie für unsere eigenen hitzigen Begehrlichkeiten. Darius Milhaud
entführt uns in eine real existierende exotische Ferne. In seinem brasilianischen
Reisegepäck finden sich exaltierte Rhythmen und polytonale Üppigkeit, musikalische
amuse-bouches, die er als “Cinéma-Fantaisie” betitelt ursprünglich für das
Stummfilmkino von Charlie Chaplin vorsah - das ultimative Sehnsuchtsmedium.
Tschaikowskys letzte Sinfonie schliesslich, neun Tage vor dem Tod des Komponisten
uraufgeführt, hat mit dem vom Komponisten selbst gewählten Beinamen „Pathétique"
zu viel Spekulation geführt. Das Programm sollte gemäss Tschaikowski “für alle ein
Rätsel bleiben”. Doch bleiben die wirklich wahren Traumlandschaften nicht alle geheim?
Claude Debussy: Prélude à l'après-midi d'un faune, L. 86 (1893/94)
“Es ist die einzige Partitur, die absolut perfekt ist.” Für Maurice Ravel hatte Debussy in
den flüchtig-flirrenden Wetterlagen des schlummernden Fauns eine bislang unerreichte
Höhe kompositorischer Feinarbeit zwischen absoluter und poetischer Musik
erklommen. Debussy selber betonte das Abstrakte des Orchesterbildes, das nicht
illustrieren, sondern assoziativ berühren will: “Die Musik dieses Préludes verbildlicht
auf sehr freie Weise Mallarmés schönes Gedicht; sie will es eigentlich gar nicht
nacherzählen, sondern die verschiedenen Stimmungen erwecken, in deren Mitte die
Begierden und Träume des Fauns sich entwickeln. Ermüdet davon, die furchtsamen
Nymphen und scheuen Naiaden zu verfolgen, gibt er sich einem Höhepunkt der Lust hin,
zu dem der Traum eines endlich erfüllten Wunsches führt: des vollkommenen Besitzes
der ganzen Natur.“ Nicht zufällig wurde das als Orchesterstück konzipierte Prélude
einige Jahre nach seiner Entstehung auch als Ballett choreografiert und vom berühmten
“Ballets russes” getanzt. Die Musik ist erlebte Kontur, klangscharfes Profil von
wandernden vagen Befindlichkeiten und kaum fassbare Momentaufnahme. Im
berühmten Ausspruch von Pierre Boulez - “seit der Flöte des Faun atmet die Musik
anders“ - drückt sich aus, was Debussys Meisterwerk letztlich für die Musikgeschichte
bedeutet. Es ist ein Schlüsselwerk der Moderne, das die Türen weit vor der Zeit für eine
neue Wahrnehmung von Form und Empfindung aufgestossen hat. Mit der kleinen
Orchesterbesetzung entwirft Debussy eine Inneneinrichtung voll raffinierter, bislang
ungekannter Klangdekors. Sie widerspiegeln eine Ästhetik der unbestimmten Klarheit,
die wir heute als Debussys charakteristische Kompositions-Unterschrift wahrnehmen.
Der Faun wird in schlichter Weise von den Holzbläsern inszeniert. Das erinnert in den
primitiven Tonfolgen an sizilianische Hirten- und Bauernmelodik. Das müde Verharren
in der bequemen Mittellage des Holzes verweist auf die delirierende Trägheit des
launigen Fauns: Die Hitze des Nachmittags legt sich lähmend auf die Szenerie. Debussys
Faun ist ein Schritt aus der Tradition der deutschen Sinfonik, wo steigernde Entwicklung
und äusserliche Bravour stilbildend waren. Der Faun hingegen blüht auf, ermattet und
versinkt in Stille - ein Zustand, der in Nuancen und Schattierungen schillert und sich
nach zehn Minuten vollendet erschöpft: Es ist alles gesagt. Empfunden. Erträumt.
Darius Milhaud: Le bœuf sur le toit op. 58 (1919)
10. Januar 1922, 28, rue Boissy d’Anglas, 8. Arrondissement, Gala-Eröffnungsnacht im
“Le Bœuf sur le toit”, der legendären Cabaret-Bar der Pariser Künstler-Avantgarde.
Unter den illustren Gästen sind Pablo Picasso, Sergei Diaghilev, Jean Cocteau, Maurice
Chevalier und Darius Milhaud. Benannt nach Milhauds hypnotischem Balletsoundtrack
von 1919 wurde die Cabaret-Bar zum Epizentrum der Pariser Roaring Twenties und
zum Traumland einer ganzen Generation. Nicht genug der Ehre: “Faire un bœuf” wurde
zum geflügelten Begriff, der in der französischen Jazzszene eine Jamsession beschrieb.
Von 1917 bis 1919 verbrachte Darius Milhaud zwei Jahre als französischer
Botschaftssekretär in Brasilien. Noch während seines Aufenthaltes in Rio de Janeiro
beschäftigte sich Milhaud intensiv mit der Technik der Polytonalität, die für seine Musik
stilbestimmend werden sollte. Die gleichzeitige Ballung verschiedener Tonarten wurde
für den Komponisten zum ästhetischen Credo: “Ein polytonaler Akkord ist subtiler in
seiner Süsse und gewalttätiger in seiner Kraft.” Nach seiner Rückkehr verarbeitete
Milhaud einen Strauss populärer südamerikanischer Melodien, Fados, Tangos und
Sambas unter dem Titel des damals äusserst populären Tangos “O boi no telhado”
(wörtlich “The Ox on the Roof”) zu einem schmissigen Rondo-Divertissement.
Konzipiert als Begleitung für einen Chaplin-Stummfilm, wurde das Werk dank emsiger
Initiative von Jean Cocteau zur Ballettmusik umfunktioniert, die eine haarsträubende
dadaeske Pantomime von Cocteau selbst kongenial beleuchten sollte: Ein Polizist stürmt
während der Zeiten der Alkoholprohibition in Amerika eine Bar. Sofort mutiert diese zu
einer Milchbar. Der Barkeeper köpft den Polizisten mittels eines gigantischen
Ventilators und lässt eine rothaarige Frau mit dem abgetrennten Kopf des Polizisten
tanzen, während die übrigen Gäste langsam die Bar verlassen. Schliesslich reanimiert
der Barkeeper den Polizisten und lässt ihn die Rechnung des Abends bezahlen. Die
Musik aber hat sich längstens von ihrem theatralischen Erbe gelöst und besticht neben
ihrem unverschämten Witz durch dramatischen Dampf und brillante Technik: Bachsche
Fugen und dreiste Tonartencluster? Der Ochse tanzt sich locker durch.
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“ in h-Moll, op. 74, (1893)
In einem Rausch entsteht sie, die 6. Sinfonie. Vieles anderes hat Tschaikowski sich unter
Mühsal und Selbstzweifeln abgerungen. Hier aber werden innerhalb von lediglich sechs
Wochen vier gewaltige Sätze geboren, die programmatisch die Grundbedingungen
unserer Existenz bespielen: Zuversicht, Liebe, Enttäuschung und Tod. Tschaikowski
wollte seine neuste Sinfonie ausdrücklich als Programmsinfonie verstanden wissen.
Gleichzeitig sollte ebendieses Programm verschlüsselt und “für alle ein Rätsel bleiben«.
Gerade weil dieser Inhalt »durch und durch subjektiv« war, schien ihm der von seinem
Bruder Modest vorgeschlagene Beiname “Pathétique” zwingender als die ursprünglich
verwendete, nüchtern-unverbindliche Bezeichnung “Programmsinfonie”. Boulevardesk
mutet an, was nach Tschaikowskis unerwartetem Tod nur neun Tage nach der
Uraufführung der Sechsten geschah. Plötzlich schien der Requiem-Charakter des Werkes
von bösen Todesahnungen, schlimmer noch, vom exakten Wissen um den
bevorstehenden Tod inspiriert. Wüste Verschwörungstheorien, die um Tschaikowskis
skandalisierte Homosexualität und einen damit verbundenen Ehrenmord kreisen,
standen im Wettstreit mit nüchternen offiziellen Erklärungen, wonach der Komponist an
einer durch verunreinigtes Wasser verursachten Choleraerkrankung gestorben sei. Die
zeitliche Nähe von Meisterwerk und persönlicher Tragödie war eine ur-romantische
Steilvorlage für musikalische Kriminalisten und Legendendichter. Ausser Frage steht,
dass Tschaikowski seine 6. Sinfonie trotz äusserst zurückhaltender Aufnahme bei der
Uraufführung als einsamen Höhepunkt seines Schaffens einstufte: "Ich werde nie wieder
etwas Besseres als diese Sinfonie schreiben können. In diese Sinfonie habe ich, ohne
Übertreibung gesagt, meine ganze Seele gelegt.” Ein persönliches Traumland, das sich
voreiligen Interpretationen entzieht und vielleicht zum einzig möglichen Refugium für
alles Unsagbare wird. Faszinierend bleibt, wie Tschaikowski mit subtilen technischen
Mitteln feine Hinweise auf emotionale Zustände formt. Im Kopfsatz zertrümmert er das
traditionelle Sonatenschema und isoliert die lyrischen und dramatischen Teile durch
harte Fermaten: Da gibt es keine Brücken mehr zwischen äusserer und innerer Welt. Da
ist nur noch die absolute Wahrheit des Ich und Jetzt.
Hugo Bollschweiler
Hugo Bollschweiler schloss seine Viola- und Dirigierstudien an den Hochschulen von
Fribourg, Basel, Baltimore (USA) und Zürich mit dem Solistendiplom ab. Er ist
künstlerischer Leiter des Jugend-Sinfonieorchesters Aargau, des
stadtorchesterSCHLIEREN, der Orchestergesellschaft Affoltern am Albis und des
Orchestervereins Niederamt. Er dirigierte unter anderem das Baltimore Chamber
Orchestra (USA), das Orchester des Musikkollegium Winterthur, das argovia
philharmonic, das Rousse Philharmonic Orchestra, das Akademische Kammerorchester
Sofia, das Orchester der Zürcher Hochschule der Künste und das JugendSinfonieorchester Zürich. Unter seiner Leitung standen Uraufführungen von
Orchesterwerken von Paul Hanmer, Balz Aliesch and Hans-Jürg Meier. Er war
Solobratschist beim Schweizer Kammerorchester, dem Peabody Symphony Orchestra
(USA), dem Schweizer Jugendsinfonieorchester und dem Orchestre de Chambre de
Neuchâtel. Engagements beim Tonhalle-Orchester Zürich, dem Orchester der Oper
Zürich, kammerorchesterbasel, Collegium Novum Zürich, der Camerata Bern und dem
Freiburger Barockorchester führten ihn in Konzertsäle auf fünf Kontinenten. Als
Kammer- und Orchestermusiker trat er an den Mostly Mozart New York, Tanglewood,
Lucerne, Davos, Donaueschingen, Kuhmo, Montreux und Yellow Barn Festivals und an
den Hong Kong und New Zealand Art Festivals auf. Von 2007 bis 2009 leitete er als
Artist-in-Residence und Professor für Viola und Kammermusik die Streicherabteilung
der Northern Kentucky University (USA) und als Artistic Director das Norse Chamber
Music Festival. Er ist Mitglied des Galatea Quartett, des Chamber Aartists Orchestra
CHAARTS und der camerata zürich, Guest Artist der Colorado und Coolidge String
Quartett und Mitbegründer des Barockorchesters Capriccio. Als Dozent unterrichtete er
am Cincinnati College Conservatory Accent Festival, dem Norse Chamber Music Festival,
dem Austin Chamber Music Festival and Workshop und an der Escola de Musica do
Estado de Sao Paulo.
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