Klöcker / Tworuschka Handbuch der Religionen Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland/im deutschsprachigen Raum 50. Ergänzungslieferung 2016 (Dezember) Informationen zur 50. Ergänzungslieferung Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, Wir freuen uns sehr, die 50. Ergänzungslieferung erreicht zu haben, die wiederum einen aufschlussreichen Querschnitt durch Vielfalt und Dynamik der religiösen Prozesse, Strukturen, Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum bietet und bedeutende Persönlichkeiten vorstellt: ein Jubiläum als Ansporn für andauernde Aufklärungsqualität. Ausführlich eröffnet der Direktor des Frankfurter Bibelhauses Dr. Jürgen Schefzyk die Bibelmuseen: entfaltet ihre Geschichte, gegenwärtigen Funktionen/Formen, bietet eine umfassende Bestandsaufnahme der Museen zur Bibel im deutschsprachigen Raum. „Wer andere zu Jüngern machen will, muss auf die anderen hören können“: Diese Maxime erhob der reformorientierte katholische Religions- und Missionswissenschaftler Thomas Ohm (1892–1962), den der Benediktinerpater Dr. Cosmas Hoffmann (Subprior der Abtei Königsmünster) würdigt. Einen differenzierten historischen Überblick über das in Anatolien entstandene Alevitentum bietet der Islamwissenschaftler Dr. Andreas Gorzewski, der durch eine entsprechende Dissertation ausgewiesen ist. Nach begriflichen Grundüberlegungen, historischen und theologischen Belegen mit einer Vielfalt von Toleranzbegründungen kommt der Islamwissenschaftler Dr. Stephan Kokew (Wiss. Mitarbeiter, Universität Erlangen) zum Fazit unterschiedlicher Ausgangspunkte für eine Ethik der Toleranz im Islam. Nicht nur jahreszeitlich verdient die auf seiner Dissertation basierende Studie des evangelischen Theologen und Publizisten Dr. Edgar S. Hasse besondere Aufmerksamkeit. Mit wertvollen qualitativen und neuartigen statistischen (Grundlage: Auswertung von Tageszeitungen und Zeitschriften 1955–2005) Textanalysen untersucht er Weihnachten in der Presse; Ergebnisse in Hinsicht auf die jüngste Makroperiode Postmoderne u. a.: der mediale Bedeutungsverlust des Weihnachtsfestes, die „Assemblage“ von Genuss und Geschenken, das Verschwinden des Inkarnationsparadigmas, ein neues Interesse an Religion, der Wandel von der negativen zur positiven Korrelation familialer und kirchlicher Themen. ISBN: 978-3-946321-05-7 Der evangelische Religionspädagoge Professor Dr. Michael Domsgen (Universität Halle) und Dr. Emilia Handke (Wiss. Mitarbeiterin im Fachbereich 05 Evangelische Theologie, Universität Marburg) legen einen Grundlagebeitrag über „Religiöse Jugendfeiern“ vor: einen von beiden Großkirchen (mit)verantwortetes Übergangsritual für konfessionslose Jugendliche. Unser HdR-Autor PD Dr. Matthias Egeler analysiert das Verhältnis von „Landschaft und Religion“ – eine Thematik, um die sich vor allem die Professoren Manfred Büttner und Karl Hoheisel in den 1970er-Jahren verdient gemacht haben. Das HdR hat neue kompetente Fachgebietsleiterinnen gewinnen können – für die Gebiete „Altkatholizismus“: Prof. Dr. Angela Berlis (Universität Bern); „Migration und Religion/en“: Prof. Mag. Phil. Mag. theol. Dr. theol. Regina Polak (Universität Wien); Judentum: Prof. Dr. Ursula Rudnick (Universität Hannover); Ethik: Dr. Christine Schliesser (Universität Zürich). Wir sagen an dieser Stelle dem bisherigen Fachgebietsleiter Judentum, Heinz-Peter Katlewski, ganz herzlichen Dank für seine jahrelange verdienstvolle Mitarbeit. Herr Katlewski wird durch zukünftige Beiträge dem HdR verbunden bleiben. Die Herausgeber Michael Klöcker & Udo Tworuschka Toleranz im Islam IV- 1.5.1 IV - 1.5.1 Toleranz im Islam Von Stephan Kokew Der Islam repräsentiert derzeit die zweitgrößte monotheistische Weltreligion. Die Vielfalt seiner unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen reicht vom Pluralismus theologischer und rechtlicher Schulen über den weiten Raum der islamischen Mystik bis hin zur Ideologie des politischen Islam. Der Islam entstand nicht in einem luftleeren Raum, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Glaubensvorstellungen und hat Einflüsse verschiedener Religionen und Kulturen in sich aufgenommen. Für eine derartige Entwicklung waren religiös, philosophisch und kulturell begründete Konzeptionen von Toleranz grundlegend. Die folgenden Ausführungen nähern sich dem Begriff der Toleranz aus einer islamwissenschaftlichen Perspektive begriffs- und religionsgeschichtlich an. „Toleranz“: Terminologien im Kontext Den Begriff der „Toleranz“ im islamischen Kontext zu ermitteln, bedeutet, diesen in einer außerhalb der europäischen Ideengeschichte entstandenen Geistestradition näher zu bestimmen. Eine solche Vorgehensweise setzt eine wichtige Grundbedingung voraus: anzuerkennen, dass das Nachdenken über Toleranz weder im europäisch-christlichen noch im nahöstlich-muslimischen Kontext in einem luftleeren Raum entstand, sondern sich innerhalb eines spezifischen religiösen und historischen Kontexts vollzog. Dieser ist mit Blick auf die historischen und sozialen Entwicklungen im christlich geprägten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa ein völlig anderer gewesen als zur gleichen Zeit in der „islamischen Welt“. So gilt die Forderung nach Toleranz im europäischen Kontext als eine Errungenschaft der Frühen Neuzeit.1 Hier wird der Toleranzbegriff am deutlichsten als ein „Konfliktbegriff“ sichtbar: Als eine Haltung und Praxis, die immer auf einen Konflikt bezogen ist.2 Angesichts der Religionskriege (Hugenottenkriege 1562–1598, Dreißigjähriger Krieg 1618–1648) sollte religiöse Toleranz dazu dienen, den Ausbruch religiös-motivierter Gewalt zu verhüten. Mit Blick auf die europäische Geistesgeschichte gingen Toleranzregelungen aus Religionskonflikten hervor.3 Dazu hat der moderne Toleranzbegriff eine lange Genese erfahren. Beinhaltete die ursprüngliche Bedeutung des antiken tolerare noch ein inneres Ertragen von Schmerzen oder eine Standfestigkeit gegenüber allem nur möglichen Übel, wandelte sich der Begriff mit dem Einsetzen der Vorherrschaft des Christentums zu einem geduldigen „Tolerieren“ des Fehlverhaltens der eigenen Mitmenschen. Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 1 IV- 1.5.1 Toleranz im Islam Erst seit der Neuzeit entwickelte sich der Toleranzgedanke in Europa zu einem eigenständigen Gegenstand des philosophischen und politischen Denkens.4 Wegweisend hierfür war nicht zuletzt der „Toleranzbrief“ (A Letter Concerning Toleration) des englischen Aufklärers John Locke (1632–1704), der als Schlüsselwerk des liberalen Toleranzbegriffs der Moderne gilt.5 Im Zuge der europäischen Aufklärung kam es schließlich zu einer „säkularen Generalisierung“ des zuvor überwiegend im religiösen Sinne gebrauchten Begriffs tolerantia, der von nun an im Sinne eines Geltenlassens aller moralischen, philosophischen und politischen Auffassungen verwendet wurde.6 Mit Blick auf die muslimische Ideengeschichte sieht die Entwicklung anders aus. Es besteht in der wissenschaftlichen Forschung ein Konsens darüber, dass hier zunächst keine dem europäischen Denken vergleichbare Toleranztheorien entwickelt worden sind.7 Dies erschien auch gar nicht notwendig, da hier völlig andere Grundbedingungen als in der europäischen Geistesgeschichte vorherrschten, wie das Fehlen einer festen religiösen Instanz, die Deutungshoheit über theologische, rechtliche, philosophische, mystische und nicht zuletzt literarische Diskurse besaß. Rechtsgelehrte erstellten Gutachten (ḫatāwā, Sg. ḫatwa), die entweder auf Zustimmung trafen oder von Gegengutachten anderer Gelehrter infrage gestellt wurden. Es blieb der weltlichen Herrschaft überlassen, ob sie beispielweise einen des Abfalls vom Islam verurteilten Gelehrten oder Dichter wirklich den Prozess machte, oder man es dem Urteil Gottes im Jenseits überließ, ob es sich bei der betreffenden Person tatsächlich um einen Ungläubigen (kāḫir) handelte oder nicht, und in welcher Weise er von Gott hierfür zur Rechenschaft gezogen würde. Da es keine Instanz wie das Papsttum gibt, gab es folglich auch keinen unmittelbaren Grund für eine „Reformation im Islam“8 nach europäischem Vorbild. Tatsächlich hat es seit den innermuslimischen Kriegen der islamischen Frühzeit, die als „göttliche Prüfung“ (fitna) der gerade entstandenen muslimischen Gemeinschaft interpretiert wurden und so bis heute im kollektiven Gedächtnis des Islam verankert sind, keine den europäischen Glaubenskriegen der Neuzeit vergleichbaren religiös motivierten Konflikte mit ähnlich verheerenden Ausmaßen in der islamischen Geschichte gegeben. Verfolgungen von als häretisch titulierten Glaubens- und Denkschulen, wie den āriǧitḪn Mitte des 7. Jahrhunderts, avancierten nicht zu einem durchgängigen Muster muslimischer Religionspolitik. Abgeleitet wurde die Ethik eines „Gelten- und Gewähren-Lassens andersartiger Anschauungen und Handlungsweisen“ 9 aus dem religiös-normativen Schrifttum (Koran, Hadith, Prophetenvita, Jurisprudenz) sowie einer kulturspezifischen narrativen Ethik (Erzählungen, Gleichnisse, Fabeln). Spezifische Toleranzdis- 2 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 kurse werden dagegen erst Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Konfrontation und Auseinandersetzung mit europäisch sprachigen Termine und Konzepten, anhand der Etablierung der arabischen Begriffe für „Toleranz“ tasāmuḥ und tasāhul terminologisch fassbar. So hat Reinhard Schulze in seinem Aufsatz DḪr Islam und diḪ TolḪranz die Problematik der Übernahme des christlicheuropäisch konnotierten Begriffs „Toleranz“ in den Sprachraum muslimischer Mehrheitsgesellschaften wie folgt beschrieben: Für sie [d. h. die christlichen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts]10 gab es eine tolḪrantia christiana, die den Frieden im Konfessionskrieg bestimmen helfen sollte. Ein tasamuh islami, also eine „islamische Toleranz“, wurde der Sache nach erst denkbar, als europäische Autoren seit den 1840er-Jahren den Muslimen vorwarfen, keine Toleranz zu kennen, doch selbst dann wurde dieses Syntagma zunächst nur selten benutzt. Erst in den letzten 30 Jahren scheint die Notwendigkeit zu bestehen, Toleranz direkt mit dem Islam zu attribuieren und dadurch eine Art von islamischer Toleranztheologie auszuformulieren.11 Aus der Tatsache, dass sich in den Sprachen des Nahen und Mittleren Ostens erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmte Wörter für die Wiedergabe des Begriffs „Toleranz“ etabliert haben, kann nicht auf das Fehlen eines religionsimmanenten Toleranzverständnisses, geschweige denn spezifischer kulturimmanenter Toleranzethiken, schlussgefolgert werden. Man wird der Frage nach der „Toleranz im Islam“ schlichtweg nicht gerecht, wenn man versucht, Begriffe und Konzepte der europäischen Geistesgeschichte Ḫins-zu-Ḫins in der islamischen Religion und Geistestradition nachzuweisen. Anders sieht es dagegen mit der IdḪḪ der Toleranz aus, d. h. dem „Ertragen und Gelten-Lassens von Differenz“ durch das ein „Miteinander im Dissens“12 ermöglicht werden kann. Diese Idee der Toleranz lässt sich an bestimmten Begriffen festmachen, die im islamischen Kontext bis heute von Relevanz sind. So spiegelt sich etwa in dem arabischen Wort taḥammul (Ertragen, Duldung), das wörtlich eine „Bürde auf sich zu nehmen“13 meint, der Bedeutungsinhalt des antiken tolerare wieder. Der Begriff wird auch in seiner persischen Variante (taḥammol) in gegenwärtigen iranischen Toleranzdiskursen als Übersetzung für „Toleranz“ verwendet.14 Noch weiter geht der Begriff iḥtimāl, der von „ertragen, dulden“ bis hin zu „als möglich, zulässig, denkbar implizieren“ reicht.15 Iḥtimāl besitzt somit die den Toleranzbegriff ausmachende essenzielle Eigenschaft von „zulassen“, da hier der Gedanke der „Anerkennung, dass etwas anderes möglich ist“16 mit ausgedrückt wird. Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 3 Toleranz im Islam IV- 1.5.1 Der Idee einer über Duldung hinausgehenden, inhaltlichen Toleranz kommt der Begriff ḥilm sehr nahe. Dieser wird neben der allgemeinen Bedeutung von „Milde“ auch mit „Einsicht“ und „Vernunft“ wiedergegeben.17 Ein nachsichtiges Verhalten gegenüber dem anderen wird hier mit vernünftigem Handeln gleichgesetzt, was der Praxis inhaltlicher Toleranz entspricht.18 Vor allen anderen Begriffen haben sich im Arabischen seit Mitte des 19. Jahrhundert die Wörter tasāmuḥ und tasāhul für die Wiedergabe des Begriffs „Toleranz“ etabliert. Diese bedeuten ihrer Etymologie nach jedoch etwas vollkommen anderes als das lateinische tolerantia. Das Wort tasāmuḥ geht auf samuḥa zurück, was im Arabischen „großzügig“, „freigiebig“, „gütig“, „offenund weitherzig“ bedeutet.19 In seiner klassischen Konnotation gilt tasāmuḥ als gleichbedeutend mit dem Wort tasāhul.20 Tasāmuḥ besitzt zudem die Konnotation gegenseitiger „Versöhnung“ (Ḫsprit dḪ conciliation, porté aux concḪssions).21 Beide Begriffe sind damit reziprok angelegt und auf Gegenseitigkeit ausgerichtet. Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Wort tasāhul im modernen Sprachgebrauch auch die negative Bedeutung von „Sorglosigkeit“ im Sinne von „nachlässig“22 besitzt. Gleichzeitig wird tasāhul zu Beginn des 20. Jahrhunderts als politisch-philosophischer Begriff zur Wiedergabe des Konzepts der säkularen Toleranz verwendet.23 Im Persischen wird „Toleranz“ am häufigsten durch das Wort modārā wiedergegeben. Daneben finden sich auch die Wörter taḥammol (Erduldung, Ertragen) und šākibā’ī (Geduld) als Synonyme für „Toleranz“.24 Bei dem Wort modārā handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Arabischen, das im Persischen die Bedeutung von „Umgänglichkeit“, „Höflichkeit“, „Zurückhaltung“ besitzt.25 In diesem Sinne kann modārā als eine Haltung bezeichnet werden, die von „Konzilianz“ geprägt ist: Man nimmt sich selbst zurück und lässt dem anderen Raum mitsamt dessen Ansichten, die man selber jedoch ablehnt. Im Türkischen finden sich die Begriffe hoşgörü, müsamaha26 wie auch tolerans.27 Konzeptionen und Grenzen von Toleranz Neben diesen ethischen Prinzipien, die die Idee der Toleranz beinhalten, lassen sich in der muslimischen Geistesgeschichte konkrete Konzeptionen finden, die das Geltenlassen von religiöser Differenz wie auch innermuslimischen Dissens normativ legitimierten. Im Hinblick auf den Umgang mit Nichtmuslimen ist hierbei der Entstehungskontext des Islam in einem multireligiösen Umfeld bedeutsam. Denn gerade aus der Frage, in welcher Weise diesem begegnet werden 4 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 sollte, resultieren jene Aussagen des Koran, die sowohl zu Toleranz als auch zu einem militanten Vorgehen gegenüber Nichtmuslimen aufrufen. DḪr Umgang mit dḪn PolythḪistḪn Mohammed wandte sich mit seiner Botschaft in erster Linie gegen die Anhänger des altarabischen Polytheismus. Dieser wird im Koran in abwertendem Sinne als „Beigesellung“ (širk) bezeichnet. Er gilt aus muslimischer Sicht als schlimmste Form des Unglaubens (kuḫr), den Gott nicht vergibt: Siehe, Gott vergibt es nicht, dass ihm etwas beigesellt wird. Doch was geringer ist als dies, vergibt er, wem er will. Wer Gott etwas beigesellt, der ist schon sehr weit abgeirrt.28 Entgegen dieser kompromisslosen Zurückweisung des Polytheismus durch den von Mohammed gepredigten Ein-Gott-Glauben des Islam, werden die Muslime im Koran jedoch auch zu formaler Toleranz (Duldung) gegenüber den Polytheisten aufgerufen. In Sure 9,7 werden sie als Vertragspartner akzeptiert, mit ihnen geschlossene Verträge gelten für den Muslim als einzuhalten. Das berühmte Abkommen von Ḥudaibīya, in dem sich Mohammed im Jahr 628 mit den polytheistischen Mekkanern auf einen zehnjährigen Waffenstillstand geeinigt haben soll, wird gerade von heutigen Muslimen als Beleg für dessen tolerante und friedensorientierte Haltung angeführt.29 Einen Vers zuvor, in Sure 9,6, ruft der Koran dazu auf, einem Polytheisten die befristete Schutzgewährung des eigenen Stammes zu erteilen. Diese pragmatisch angelegte Koexistenztoleranz hat dem Koran nach jedoch fest definierte Grenzen. Sie endet stets mit dem Auslaufen oder der Aufkündigung des jeweiligen Vertrages oder Bündnisses, wobei ein Bruch des Vertrages vonseiten der Muslimen in Sure 9,12–15 in erster Linie als gebotene Reaktion gegenüber einem Vertragsbruch der gegnerischen Seite gerechtfertigt wird: Wollt ihr nicht gegen Leute kämpfen, die ihre Eide gebrochen haben und den Gesandten zu vertreiben suchten? Sie haben doch gegen euch ein erstes Mal begonnen. Fürchtet ihr euch vielleicht vor ihnen? Gott verdient es eher, dass ihr ihn fürchtet, wenn ihr gläubig seid. In diesem Kontext eines reziprok angelegten Vertragsverhältnisses, das noch ganz dem Regelwerk der kriegsrechtlichen Bestimmungen des altarabischen Stammesrechts unterliegt – in der gesamten Sure 9 sind es die Polytheisten, die vertragsbrüchig geworden sind und die Muslime angegriffen haben – lässt sich auch Sure 9 Ver 5 lesen, der aufgrund seines militanten Aussagegehalts von muslimischen Koranexegeten auch als „Schwertvers“ bezeichnet worden ist Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 5 Toleranz im Islam IV- 1.5.1 und bis in die Gegenwart hinein als Legitimation für einen militanten „Kampf auf dem Wege Gottes“ (al-ǧihād ḫī sabīl allāh) dient:30 Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus dem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann lasst sie laufen! Siehe, Gott ist bereit zu vergeben, barmherzig. Schließlich ermahnt der Koran in Sure 9,11 die Muslime schließlich dazu, Polytheisten nach ihrer Konversion als vollwertige „Brüder in der Religion“ anzusehen: Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann sind sie eure Brüder in der Religion. Wir legen die Zeichen für Menschen aus, die Wissen haben. NichtmuslimḪ als SchutzbḪḫohlḪnḪ In der islamwissenschaftlichen Forschung ist das Thema „Toleranz im Islam“ überwiegend mit Bezug auf den Schutzbefohlenen-Status (ḏimma) abgehandelt worden.31 Dies verwundert kaum, denn es handelt sich hierbei um ein nach außen hin greifbares Rechtskonzept, durch das muslimische Mehrheitsgesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens jahrhundertelang ein konfliktverhütendes Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unter islamischer Herrschaft zu bewerkstelligen wussten. Zunächst sei erwähnt, dass der Begriff ḏimma nicht „Toleranz“ bedeutet, sondern „Schutz“, „Sicherheit“, „Garantie“. Er entstammt, wie viele andere Konzepte auch, der vorislamischen arabischen Ideenwelt, wo er den „Schutz Gottes gegenüber den Menschen“ ausdrückte.32 Im Koran taucht ḏimma schließlich in seiner Bedeutung als ein reziprok einzuhaltendes Schutzverhältnis zwischen zwei Parteien auf.33 Die muslimischen Rechtsgelehrten wandten das ḏimmaKonzept schließlich auf bestimmte Gruppen von Nichtmuslimen an, denen der Status von Schutzbefohlenen (ahl aḏ-ḏimma) zuerkannt wurde. Diesen besaßen die als „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitāb) kategorisierten Juden, Christen und Sabier sowie die im Koran erwähnten Zarathustrier. Dabei spricht der Koran mal im Sinne bloßer Duldung, mal in anerkennender Weise über die „Schriftbesitzer“. Einerseits wird ihnen gegenüber ein wohlwollendes Verhalten geboten, da sie gemeinsam mit den Muslimen an denselben Gott glauben würden: 6 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 Streitet mit den Buchbesitzern nur auf schöne Art, doch nicht mit denen von ihnen, die freveln. Sprecht: „Wir glauben an das, was auf uns herab gesandt und was auf euch herab gesandt wurde. Unser Gott und euer Gott sind einer. Ihm sind wir ergeben.34 Andererseits werden in Sure 5,51 die Muslime dazu ermahnt, Juden und Christen nicht als Vertraute zu nehmen. In Sure 9,29 wird gar die Bekämpfung der Schriftbesitzer gefordert, bis sich diese den Muslimen unterwerfen. Dass gegenüber den Schriftbesitzern überhaupt irgendein Schutz zu gewähren sei, wurde schon von frühen muslimischen Koranexegeten – sunnitischen wie auch schiitischen – durch Sure 2,256 „Kein Zwang ist in der Religion“ (lā ikrāha ḫī d-dīn) legitimiert.35 Diesem Grundsatz zufolge durften Schutzbefohlene nicht um ihres Glaubens Willen verfolgt werden, sondern ihre Religion beibehalten. Ihnen wurde vonseiten der muslimischen Obrigkeit die Unversehrtheit von Leben und Eigentum, Kultfreiheit, rechtliche Autonomie in Personenstandsangelegenheiten sowie eine eigene religiöse Gerichtsverwaltung zuerkannt.36 Als Gegenleistung für die von den Muslimen erhaltenen Garantien mussten alle männlichen Mitglieder unter den Schutzbefohlenen eine spezielle Kopfsteuer (ǧizya) an die muslimischen Herrscher entrichten. Frauen, Kinder und Geisteskranke sowie christliche Mönche waren von der Zahlung dieser Steuer ausgenommen.37 Mit der Expansion des Islam im Zuge der arabisch-muslimischen Eroberungen wurde der ḏimmī-Status schließlich auch auf andere Religionsgruppen ausgeweitet, wie Zoroastrier, Buddhisten und Hindus. Die in der Regel vertraglich fixierten Bestimmungen bedeuteten jedoch zu keiner Zeit uneingeschränkte Religionsfreiheit, geschweige denn eine rechtliche Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen. Diese sollte erst Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der staatlichen Tanẓīmāt-Reformen des Osmanischen Reiches erfolgen, in deren Verlauf 1856 die Kopfsteuer offiziell durch eine allgemeine Militärbefreiungssteuer ersetzt wurde.38 Dem fehlenden Gleichheitsgrundsatz zum Trotz beförderte der SchutzbefohlenenStatus durch die Gewährung spezifischer Garantien die Integration von Nichtmuslimen in die islamische Gesellschaftsordnung und wirkte konfliktverhütend auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgruppen. MḪinungspluralismus und ApostasiḪ Im innermuslimischen Kontext wurde Toleranz bereits sehr früh durch den Grundsatz der Meinungsverschiedenheit (i tilāḫ) legitimiert. Man stützte sich Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 7 IV- 1.5.1 Toleranz im Islam dabei auf einen Propheten-Hadith, der besagte, dass Meinungsverschiedenheit innerhalb der Gemeinde eine Gnade sei.39 Die umstrittene Authentizität dieses Ausspruchs, die bereits von frühen Hadithgelehrten angezweifelt wurde40, hat der Anerkennung dieses Grundsatzes unter muslimischen Gelehrten über Jahrhunderte hinweg keinen Abbruch getan. Er ermöglichte die Entwicklung unterschiedlicher Rechtsschulen und legitimierte Auslegungspluralismus innerhalb des islamischen Rechts und der Koranexegese. Mit der Methodik der eigenständigen Urteilsfindung (iǧtihād) schufen bereits die frühen muslimischen Juristen ein Instrument, das Meinungspluralismus in rechtlichen Fragen zuließ. Andererseits soll der Religionsaustritt eines Muslims oder dessen Konversion zu einer anderen Religion als „Abfall vom Islam“ (irtidād) traditionellen Rechtsmeinungen zufolge mit dem Tod sanktioniert werden. Dabei wird die Todesstrafe für Apostasie im Koran an keiner Stelle erwähnt, sondern aus dem Propheten-Hadith „Wer seine Religion verlässt, der soll getötet werden“ abgeleitet.41 Muslimische Reformdenker wie Ṭāhā Ǧābir al-‘A lwānī und Muḥammad ‘Ābid al-Ǧābirī (gest. 2010) haben in ihren Schriften darauf hingewiesen, dass dieser Hadith mit größter Vorsicht betrachtet werden müsse, da er als schwach überliefert gilt und somit keine verbindliche Regelung aus ihm abgeleitet werden könne.42 Dieser Gedanke findet sich auch bei dem schiitischen Theologen Māǧid al-Ġarbāwī wieder, der in seiner 2006 erschienenen Abhandlung über den Toleranzbegriff betont, dass die Apostasiebestrafung ein historisches Relikt aus der Frühzeit des Islam darstelle. Zu dieser Zeit wurde der Abfall vom Islam als politischer Verrat an der gesamten muslimischen Gemeinschaft gewertet, auf den mit einer entsprechend harten Strafe reagiert wurde.43 Al-Ġarbāwī macht damit deutlich, dass die Bestrafung eines Apostaten ausschließlich für die Frühzeit des Islam zulässig gewesen sei, jedoch in der Gegenwart nicht mehr als eine verbindliche Regelung verstanden werden dürfe. Vielmehr würde der Koran in Sure 5,54 sogar selbst bezeugen, dass die Existenz von Apostaten keine Schwächung der muslimischen Gemeinschaft bedeute.44 Des Weiteren greift al-Ġarbāwī in seiner Interpretation das auch von anderen Gelehrten angeführte Argument auf, dass der Koran zwar die Bestrafung des Apostaten im Jenseits androhe, jedoch keine Bestrafung im Diesseits oder gar eine Tötung gebiete.45 Die Tatsache, dass er hier mit den beiden sunnitischen Denkern al-‘Alwānī und al-Ǧābirī übereinstimmt, zeigt, dass derartige Ideen in der heutigen Zeit nicht als isolierte Einzelmeinungen betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr als Beleg für einen innermuslimischen Diskurs, in dem neue Denkansätze über konfessionelle Schranken hinweg formuliert und weiterentwickelt werden. 8 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 Vielfalt von Toleranzbegründungen Toleranz lässt sich im islamischen Kontext aus unterschiedlichen Quellen ableiten. Diese umfassen, wie bereits gesehen, zum einen den Bereich der religiösnormativen Offenbarungsquellen, Koran und Hadith. Hier kann mit Blick auf moderne Interpretationen die Sure 2,256 „Kein Zwang ist in der Religion“ als die mit Abstand wichtigste Maxime für die Legitimierung religiöser Toleranz im Sinne positiver wie auch negativer Glaubensfreiheit angesehen werden.46 Zudem spielt Sure 109 eine wichtige Rolle: Sprich: „O ihr Ungläubigen! Ich verehre nicht, was ihr verehrt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre, und nicht verehre ich, was ihr verehrt habt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Euch eure Religion und mir die meine!“ Hier ist es der letzte Vers „Euch eure Religion und mir die meine“, der als koranischer Beleg für Toleranz dient. Ebenso sehen heutige pluralistisch orientierte Muslime in Sure 2,148 eine göttliche Aufforderung zur Akzeptanz von religiöser Diversität: Es hat ein jeder eine Richtung, nach welcher er sich wendet. Wetteifert daher um das Gute! Wo immer ihr auch sein mögt, Gott wird euch alle sammeln. Und siehe, Gott ist aller Dinge mächtig. In vormodernen Korankommentaren, wie der denen Sunniten aṭ-Ṭabarī (gest. 923) und des Schiiten aṭ-Ṭabrisī (gest. 1154), findet sich die Grundtendenz wieder, dass sich dieser Vers auf die vom Islam anerkannten Buchreligionen (explizit: Juden und Christen) bezieht, die von muslimischer Seite aus respektiert werden, selbst wenn sie nicht der absoluten Wahrheit des Islam folgen und damit nicht als gleichwertig gegenüber diesem gelten. Ausschlaggebend seien allein die guten Taten eines Gläubigen, denn an diesen würden Muslime wie auch Andersgläubige letztendlich vor Gott gemessen werden.47 Dieser Grundtenor findet sich auch in modernen Interpretationen wieder.48 Eine religiös begründete Ethik der Toleranz wird neben dem Koran auch aus der Prophetensunna abgeleitet, mit Verweis auf den Kooperationswillen Mohammeds im Umgang mit Nichtmuslimen. Hier ist vor allem die vom Propheten im Jahr 622 begründete Gemeindeordnung von Medina von Bedeutung. Der Tradition der altarabischen Stammeskonföderationen folgend werden darin Juden und Polytheisten gegenüber den Muslimen als gleichberechtigte Mitglieder der Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 9 IV- 1.5.1 Toleranz im Islam neu entstandenen Gemeinde anerkannt.49 Dabei sind es hauptsächlich moderne Interpretationen, die dieses Vertragswerk als Ausdruck des Bestrebens Mohammeds deuten, unter seiner Führung eine friedliche Koexistenz von Muslimen und Nichtmuslimen zu ermöglichen.50 Auch das aus frühislamischer Zeit stammende Sendschreiben des vierten Kalifen ‘Alī (reg.: 656–661) an dessen Statthalter von Ägypten, Mālik al-Aštar, taucht in muslimischen Toleranzinterpretationen als Begründung für inhaltliche Toleranz auf. In diesem Schriftstück aus der frühen Kalifatszeit ruft ʻAlī seinen Statthalter dazu auf, Muslime und Nichtmuslime gleichwertig zu behandeln und ihnen in gleicher Weise mit Liebe (maḥabba) und Barmherzigkeit (raḥma) zu begegnen.51 Diese Aufforderungen zu einem humanen Umgang gegenüber den eigenen Untertanen – Muslimen wie auch Nichtmuslimen – ist umso bedeutender, als dass ‘Alī als vierter der sunnitischen „rechtgeleiteten Kalifen“ und als erster Imam der Schiiten in den beiden großen Strömungen des Islam eine religiöse Autorität repräsentiert. Es verwundert demnach nicht, dass diese ethischen Anweisungen in gegenwärtigen muslimischen Argumentationen als Beleg für eine originäre islamische Toleranzethik angeführt werden.52 Neben dem religiös-normativen Schrifttum lässt sich innerhalb der muslimischen Geistestradition die mystisch-philosophische Dichtung als Quelle einer kulturspezifischen narrativen Toleranzethik ausmachen. Dass diese bis in die Gegenwart hinein auch als solche verstanden und rezipiert wird, zeigt nicht zuletzt die Toleranzinterpretation des iranischen Intellektuellen ʻAbdolkarīm Sorūsh, einem der weltweit bekanntesten muslimischen Reformdenker. Dieser hat in seinem 2004 erschienen Essay Treatise on Tolerance das Konzept der Toleranz im iranischen Kontext fruchtbar gemacht.53 Darin geht Sorūsh davon aus, dass Toleranz (modārā) eine universelle, „außerreligiöse Tugend“ sei, die sich nicht primär durch eine bestimmte Religion oder Kultur begründet, sondern von sich aus religions- und kulturunabhängig angelegt sei.54 Um diese Botschaft noch genauer auf den iranischen Kontext zuzuschneiden, greift Sorūsh in seinem Toleranztraktat auf ein Gleichnis des persischen Mystikers und Dichters Ǧalāl ad-dīn Rūmī (gest. 1273) zurück, das die Suche nach dem wahren Glauben der verschiedenen Religionen mit dem Versuch einer Menschengruppe vergleicht, einen in einem dunklen Raum festgehaltenen Elefanten durch bloßes Tasten im Dunkeln als solchen zu erkennen.55 Rūmīs Geschichte vom „Elefant im Dunkel“ handelt davon, dass sich die Menschen nach dem Verlassen des Raumes unterschiedliche Ansichten über das erzählen, was sie zu tasten erahnt glaubten. Diejenigen, die den Fuß des Elefanten berührten, glaubten, dass in dem Raum eine Säule gestanden habe. Andere, die den Rücken 10 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 des Tieres fühlten, erklärten später eine Wand darin erkannt zu haben. Keiner von ihnen war letztlich dazu fähig gewesen, den wahren Inhalt des Raumes, einen einfachen Elefanten, komplett als Ganzes zu erfassen. Die von Sorūsh wiedergegebene Erzählung vom „Elefant im Dunkeln“ ist nicht nur schön zu lesen, sondern besitzt als eine der ältesten Begründungen für religiösen Pluralismus auch einen festen Platz in der iranischen Geistesgeschichte.56 Zu finden ist sie in dem dichterischen Hauptwerk Rūmīs, dem Maṯnavī, das aufgrund seiner Vielzahl ethisch-relevanter Aussagen auch als „Koran in persischer Sprache“ gilt und im Iran seit jeher eine wichtige Quelle ethischen Verhaltens repräsentiert.57 Neben Rūmī rekurriert Sorūsh in seinem Toleranztraktat auch auf das Werk des persischen Nationaldichters Ḥāfeẓ (gest. 1389), um zu zeigen, dass die Idee der Toleranz der iranischen Kultur und Gesellschaft nicht fremd sei.58 Denn wie auch bei Rūmī der Fall, besitzt die Dichtung Ḥāfeẓʼ innerhalb der iranischen Geistestradition bis heute ethische Relevanz. So versucht Sor ūsh vornehmlich dem westlichen Leser zu verdeutlichen, dass Ḥāfeẓ die inhaltliche Toleranz zu einer ethischen Maxime erhoben habe, wenn er in einem Vers seines berühmten Dīvān zu „Großherzigkeit gegenüber Freunden“ und „Toleranz gegenüber Gegnern“ aufruft.59 Toleranz gegenüber Andersgläubigen und -denkenden begründe Ḥāfeẓ dabei durch den Gedanken der Fehlbarkeit eines jeden Menschen: Alle Menschen, egal welchen Glauben oder welche Weltanschauung sie teilen, würden ihrer menschlichen Natur nach immer zu einem fehlerhaften Verhalten neigen, weshalb keiner von ihnen Anspruch auf Unfehlbarkeit stellen könne und somit auch niemand seinen Mitmenschen zur Befolgung seiner eigenen Ansichten zwingen dürfe.60 Stattdessen solle ihm gegenüber Toleranz im Sinne eines geduldigen und nachsichtigen Umgangs geübt werden. Fazit Die vorhergegangenen Ausführungen haben versucht zu verdeutlichen, dass sich in der islamischen Geistestradition unterschiedliche Ausgangspunkte für eine Ethik der Toleranz finden lassen. Die Erscheinungsformen von Toleranz waren dabei so vielfältig, wie das im Koran und Hadith Vorgefundene interpretiert worden ist. Daneben etablierten sich aber auch andere Quellen für Toleranz, wie die Mystik oder eine kulturspezifische narrative Ethik. Diese spielen, wie das iranische Beispiel zeigt, auch in gegenwärtigen muslimischen Toleranzinterpretationen eine gewichtige Rolle. Klöcker/Tworuschka: Handbuch der Religionen 50. EL 2016 11 Toleranz im Islam IV- 1.5.1 Interpretationen ändern sich, genauso wie sich die zeitlichen Kontexte wandeln, in denen sie entstehen. So nehmen auch gegenwärtig Muslime Einfluss darauf, in welche Richtung sich ihre Religion entwickelt und welchen Grad sie der inhaltlichen Toleranz darin beipflichten. Es muss deshalb gerade diesen progressiven Tendenzen erhöhte Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Ebenso dürfen jene außerhalb des religiösen Schrifttums existierenden Quellen ethisch-moralischen Handelns bei der Bewertung religions-und kulturspezifischer islamischer Toleranzkonzeptionen nicht übersehen werden. Anmerkungen 1 Hastedt 2012, S. 8 ff. Forst 2003, S. 12. 3 Habermas 2005, S. 264. 4 Schreiner 1990, S. 445–605. 5 Forst 2003, S. 276. 6 Schreiner 1990, S. 495. 7 Schulze 2011, S. 56; Krämer 2010, S. 41. 8 http://www.sueddeutsche.de/kultur/geschichte-der-toleranz-alles-ausser-aufruhr-1.3008818 [Zugriff: 28.06.2016]. 9 Höffe 2008, S. 315. 10 Eigene Einfügung. 11 Schulze 2011, S. S. 65. 12 Forst 2005, S. 12. 13 Lane 1865, Book I, Bd. 2, S. 648. 14 Kokew 2014, S. 139. 15 Wehr 1985, S. 295. 16 Schulze 1996, S. 510. 17 Wehr 1985, S. 290. 18 Schulze 1996, S. 508. 19 Lane 1872, Book I, Bd. 4, S. 1422–1423. 20 Ibn Man ẓūr 1993, Bd.6, S. 355. 21 Biberstein-Kazimirski 1860, Bd.1, S. 1135. 22 Wehr 1985, S. 607. 23 Anṭūn 1981, S. 144. 24 http://www.loghatnaameh.com [Zugriff: 22.7.2016]. 25 Junker/Alavi 2002, S. 698. 26 Steuerwald 1988, S. 497. 27 Ebd., S. 1158 28 Sure 4,116. Die Übersetzung der Koranverse erfolgt nach der Übersetzung von Hartmut Bobzin 2012. 29 Ša‘bān 2005, S. 112. 30 Cook 2005, S. 10. 2 12 Mediengruppe Oberfranken – Fachverlage GmbH & Co. KG, 95326 Kulmbach Toleranz im Islam IV- 1.5.1 31 Vgl. hierzu Fattal 1958; Khoury 1980; Bosworth 1982; Noth 1978 u. 1987; Friedmann 2003; Krämer 2010. 32 Heffening 1975, S. 11. 33 Sure 9,8 in der Übersetzung nach Hartmut Bobzin 2012: Wie? Und wenn sie über euch siegen und weder Vertrag noch Schutzverhältnis euch gegenüber beachten? Sie stellen euch mit ihrer Rede zufrieden, doch ihre Herzen lehnen ab. 34 Sure 29,46. 35 aṭ-Ṭabar ī 1994, Bd. 2, S. 133; aṭ-Ṭabrisī 1997, Bd. 2, S. 126. 36 Rohe 2009, S. 154. 37 Abū Yūsuf 1979, S. 122; al-Ḥillī 1969, Bd. 1, S. 327. 38 Matuz 1985, S. 230. 39 Bauer 2011, S. 184. 40 Paret 1979, S. 523. 41 Krämer 1999, S. 154. 42 al-‘Alwānī 2006, S. 123–44. Für die Argumentation von al-Ǧābir ī siehe Hefny 2010, S. 94. 43 al-Ġarbāwī 2006, S. 142. 44 Ebd. 45 al-Ġarbāwī 2006, S. 133–135. 46 Vgl. hierzu al-‘Alwānī 2006, S. 92; Abou El Fadl 2002, S. 18; al-Ġarbāwī 2006, S. 89; Sorūš 1997, S. 16. 47 aṭ-Ṭabarī 1994, Bd.1, S. 427; aṭ-Ṭabrisī 1997, Bd. 1, S. 335. 48 Vgl. hierzu az-Zuḥailī 2009, Bd.1, S. 392 ff.; Ṭabāṭabāʼī 1997, Bd. 1, S. 323. 49 Lohlker 2008, S. 45. 50 Šaʻbān 2005, S. 94. 51 ‘Alī ibn Abū Ṭālib 2014, S. 326. 52 Shah-Kazemi 2010, S. 181. 53 Sorūsh 2004. 54 Sorūsh 2004, S. 21. 55 Sorūsh 2004, S. 16. 56 Hick 1973, S. 140. 57 Amirpur 2011, S. 178. 58 Sorūsh 2004, S. 10. 59 Ebd. 60 Sorūsh 2004, S. 14 f. Literatur Abou El Fadl, KhalḪd: ThḪ PlacḪ oḫ TolḪrancḪ in Islam, Boston 2002 Abū Yūsuḫ, Ya‘qūb ibn Ibrāhīm: Kitāb al- arāǧ, BḪirut 1979 Al-‘Alwānī, Ṭāhā Ǧābir: Lā ikrāha 2ḫī d-dīn. Iškālīyāt ar-ridda wa-l-murtaddīn min ṣadr al-islām ilā l-yaum, Kairo 2006 Al-Ġarbāwī, Māǧid: At-tasāmuḥ wa manābi‘ al-lātasāmuḥ. 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