Bodenhaftung suchen

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>> Die Politische Meinung
>> Programmatik der CDU
kontrovers
Johann Michael Möller
Bodenhaftung suchen –
Zur Bedeutung des Erbes
der Unionsparteien
Eine große Koalition kann sich schwerlich
zur Wiederwahl stellen. Das unterscheidet sie von anderen Regierungsbündnissen, die keine Befristung in sich tragen.
Spätestens in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode und ungeachtet ihrer gemeinsamen Regierungsbilanz werden
Union und SPD also ihre Vernunftehe
aufgeben und ihr normales Konkurrenzverhältnis wieder entdecken müssen. Das
ist keine Schwarzmalerei. Das liegt in der
Natur der Sache. Alle wissen davon, auch
wenn sie es sich noch nicht eingestehen
wollen.
Fraglich ist nur, wer von den beiden
Partnern zuerst die Nerven verliert. Wer
als Erster das Regierungsbündnis aufkündigt, weil es für ihn zu verlustreich
geworden ist. Vieles deutet im Augenblick auf die SPD hin. Sie hat ihrer Meinung nach die schwierigeren Ministerien, die undankbareren Aufgaben; und
sie gerät zunehmend in den Schatten
der Kanzlerpartei. Ganz offensichtlich
stecken die Sozialdemokraten in der
Klemme zwischen moderner Reformpolitik und linkem Oppositionsprofil. Auch
wenn die Linkspartei bei weitem nicht so
lautstark auftritt wie befürchtet, bleibt
sie doch eine strukturelle Herausforderung für die SPD und engt deren Regierungsspielraum ein. Es gibt eben neuerdings eine linke Alternative im Parlament.
Die machtpolitisch größte Sorge der
Union muss deshalb ihrem Koalitionspartner gelten, der unruhig zu werden
beginnt und Land zu gewinnen versucht.
Schon daran wird sichtbar, wie sehr
diese Koalition von strategischen Erwägungen zusammengehalten wird – und
nicht von einer gemeinsamen Idee. Die
SPD braucht diese Koalition wie ein Trockendock. Sie besitzt keine wirkliche Alternative zu ihr. Sie hat weder ihre
Machtfrage geklärt, noch ist sie nach dem
Abgang Gerhard Schröders bereits wieder kampagnenfähig. Eine linke Mehrheit existiert gleichfalls nur als Hypothese.
Aber auch die Union kann sich trotz
steigender Umfragewerte keineswegs sicher sein, ihr Strukturproblem zu lösen
und im zweiten Anlauf die Mehrheit für
eine schwarz-gelbe Koalition zu bekommen. Das ist ihre eigentlich paradoxe Situation: Sie muss eine Koalition stabilisieren, in der sie sich kaum zur Wiederwahl
stellen kann. Und sie muss das Profil verwischen, das sie für den eigenen Wahlerfolg braucht.
Versuch einer Doppelstrategie
Die Union versucht diesem Dilemma
mit einer Doppelstrategie zu entkommen. Um die Machtfrage kümmert sich
die Regierung, um die politische Identität die Partei. Aus diesem Kalkül heraus soll zeitgleich zur Regierungsarbeit
eine Programmdebatte geführt werden.
Doch die Ablösung der Kabinettspolitik
vom Selbstverständnis der Partei, so un-
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vermeidlich sie jetzt erscheinen mag, ist
riskant. Denn sie geht zu Lasten der demokratischen Legitimation und Willensbildung. Das war doch das eigentliche
Problem der Regierung Schröder: dass
er seine Partei auf seinem Reformkurs
nicht mitnehmen konnte, dass er per Dekret zu regieren versuchte, top down,
wie man heute sagt, und dadurch immer
mehr den Boden unter den Füßen verlor.
Nicht anders erging es der CDU mit
ihrem Reformprogramm. Sie hat nicht
einsehen wollen, dass volkwirtschaftliche Rezepte noch keine Politik sind und
jede Reform auch ihre Mehrheit braucht.
An diesem Umstand ist die Partei im
Wahlkampf gescheitert und nicht an einer unreifen und verängstigten Bevölkerung. Der Union ist es nicht gelungen,
eine Mehrheit der Wähler von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen, weil
sie die materiellen Zumutungen nicht
mit einer Vision verbinden konnte und
das Opfer nicht mit einem höheren Sinn.
Als Antwort auf das Wahldebakel hat
man lieber den Reformkurs revidiert, als
darüber nachzudenken, wie er mehrheitsfähig hätte werden können. Das ist
zwar der bequemere Weg, aber nicht der
richtige.
Wettstreit der Ideen
Es ist deshalb naiv zu glauben, dass ausgerechnet zwei Parteien, die an der sozialen Frage gescheitert sind, jetzt in einer
großen Koalition einen harten Reformkurs einschlagen werden. Weil sie im
Wahlkampf eine politische Antwort auf
den gesellschaftlichen Wandel schuldig
geblieben sind, müssen sie das jetzt
dringend nachholen. Und damit kommt
die jeweilige politische Farbe ins Spiel.
Denn es gibt keine Reformpolitik, die
nur in der Sache verfährt, die losgelöst
wäre vom Bild der Gesellschaft, von
Werten und Traditionen, von Überzeugungen und Interessen. Man mag den
neuen SPD-Vorsitzenden Matthias Plat-
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zeck ob seiner ungeklärten machtpolitischen Rolle belächeln, aber seine auffallend reife Rede auf dem Karlsruher Parteitag im November letzten Jahres hat
das Problem präzise benannt: Die SPD
will keine Reformpolitik an und für sich;
sie will eine sozialdemokratische Reformpolitik, die sich an den Traditionen
der Partei, ihren Werten und ihren Utopien orientiert und eine eigene, linke
Antwort auf die Herausforderungen der
Globalisierung darstellt.
Platzeck hat das offen ausgesprochen:
Es geht ihm nicht um das Regieren um des
Regierens willen. Es geht ihm nach wie
vor um die große sozialdemokratische
Idee der gleichen Freiheit für alle. Wer
dies für politische Lyrik hält, hat nicht begriffen, dass eine freiheitliche Gesellschaft auch aus dem Wettstreit ihrer
Ideen lebt.
Wie aber sieht die christlich demokratische Antwort auf diese Herausforderung aus? Worin besteht die besondere
Antwort einer christlichen Partei auf die
drängenden Fragen der Zeit? Im Postulat
der Selbstverantwortung oder dem Prinzip der Subsidiarität?
Es fällt den politischen Beobachtern
auf, wie „eigentümlich bestimmt“, aber
auch wie merkwürdig abstrakt die Rede
vom christlichen Menschenbild in der
CDU neuerdings ist, als ob dies eine
selbstverständliche, nicht mehr näher zu
erläuternde Voraussetzung ihrer Politik
sei. Das bedeutet entweder die völlige
Sinnentleerung solcher Formeln oder eine
wachsende Scheu, auch die Konsequenzen des christlichen Menschenbildes auszusprechen. Was heißt christlich für die
Genforschung, die Sterbehilfe, das Familienbild oder den sozialen Zusammenhalt? Im Grunde hat die CDU eine ähnliche Säkularisierung durchlaufen wie die
sie umgebende Gesellschaft. Der Verweis
auf ihr christliches Erbe hat etwas Optionales, ja Beliebiges, das immer seltener
noch aus eigenem Erleben schöpft und
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immer weniger aus bewusster Religiosität.
Humus der Partei
Wer weiß denn heute wirklich noch, welche Glaubensformen, Überlieferungen
und Milieus den Humus dieser Partei
einst ausmachten? Wie wichtig es ehedem war, die katholischen und evangelischen Traditionen zusammenzuführen,
das politisch zersplitterte bürgerliche Lager zu einen, den rechten Rand einzubinden? Der Neuanfang der CDU nach dem
Krieg begann doch nicht auf der tabula
rasa. Aber die CDU, die einmal eine große
überzeugende Antwort auf die deutsche
Katastrophe war, ist merkwürdig geschichtsblind geworden, gerade zu ahistorisch, auch sich selbst gegenüber. Das
wird manchmal blitzartig deutlich. In der
Hohmann-Affäre etwa, in der die CDU
geradezu hilflos reagierte. Dass sie selbst
in den Katakomben des Widerstandes
begründet wurde, dass es der christliche
Glaube war, der vielen Männern und
Frauen aus ihren Reihen die Kraft gab, einem mörderischen Regime zu widerstehen, daran musste die CDU selbst erst
mühsam wieder erinnert werden.
Neue Selbstvergewisserung
Wir schütteln heute befremdet den Kopf,
wenn wir das frühe Ahlener Programm
von 1947 lesen, das noch den Geist einer
untergegangenen Epoche atmet. Aber
auch die große Hoffnung der frühen
Union, den Weg zur „Wiederverchristlichung“ unserer Gesellschaft zu bereiten,
ist uns heute fremd geworden. Stattdessen hat das lieblose Bild des frühen Wahlvereines überlebt, der sich „auf einen
Fundus von Moralvorstellungen und ein
einigermaßen homogenes Milieu stützen
konnte“, wie es Thomas Schmid in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
formulierte, von dem nicht mehr viel
übrig geblieben ist. Der Fundus der alten
Wertvorstellungen wirkt aufgezehrt, das
Milieu ist in Auflösung begriffen, und die
Partei, die jahrzehntelang ohne Programmdiskussion auskam, braucht zur
Selbstvergewisserung plötzlich eine Wertedebatte. Welche Zuschreibung gilt aber
noch: die einer christlichen Partei, einer
bürgerlichen, einer konservativen? Ist sie
sozial oder liberal?
Die verschiedenen Traditionsstränge
der Union stehen längst nicht mehr
gleichwertig zur Verfügung. Das christliche, das marktwirtschaftliche und das
konservative Erbe sind in höchst unterschiedlicher Verfassung. Das Christliche
ist heute vor allem in seiner sozialen Ausprägung präsent, in der Tradition der katholischen Soziallehre und dem Bekenntnis zum Sozialstaat.
Doch die Verbindung beginnt sich offensichtlich aufzulösen, sowohl durch die
Krise des überbordenden Sozialstaates als auch durch die unverkennbare
Emanzipation des Religiösen aus seiner gesellschaftspolitischen Umklammerung. Nicht erst seit dem Weltjugendtag
in Köln erleben wir eine Rückkehr der Religion und des religiösen Bewusstseins,
wie es noch vor Jahren unvorstellbar war
und natürlich auch eine Antwort auf die
Herausforderungen durch die islamische
Welt darstellt. Mit Verblüffung registriert
der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf
Korte, dass diese „Religionsanfälligkeit“
nicht nur die Verlierer von Modernisierungsprozessen kennzeichnet, „sondern
auch die Gewinner“, die zwar merken,
dass ihr Wohlstand wächst, aber nicht ihr
Glücksempfinden.
Verbindung sozialer
und liberaler Ideen
Parteipolitisch aber hat die Union von
dieser Entwicklung kaum profitieren
können. Im Gegenteil. Die dezidierte
Hinwendung der Parteiführung zu liberalen und marktwirtschaftlichen Positionen stand dem sogar entgegen. Das Wahldebakel vom 18. September 2005 hat je-
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doch die drängende Frage aufgeworfen,
wie eine zeitgemäße Verbindung sozialer
und liberaler Ideen heute überhaupt noch
aussehen könnte. Programmatisch gelingt diese Verbindung über das Ideal der
Freiheit. Aber nur wenn dies auch die
Freiheit zur Verantwortung meint.
Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?
Die zentrale Herausforderung aller Politik ist der erbarmungslose Wettbewerbsdruck auf die sozialstaatlichen Gesellschaften der westlichen Welt. Schelskys
nivellierte Mittelstandsgesellschaft war
das Idealbild ausgeglichener Verhältnisse
ohne nennenswerte Unterschiede und bei
größtmöglicher Teilhabe an der gesellschaftlichen Wertschöpfung. Mit der
Nachkriegszeit und der bipolaren Weltordnung ist dieses Gesellschaftsmodell
historisch geworden. Die Unterschiede
wachsen dramatisch, die sozialen und
räumlichen Disparitäten nehmen zu, die
Verteilungsspielräume beängstigend ab.
Es gibt wieder eindeutige Gewinner und
eindeutige Verlierer. Vielleicht steht ganz
am Ende dieser Entfesselung des Kapitalismus wieder eine Periode der Harmonisierung der sozialen Verhältnisse. Aber
auf dem Weg dorthin bleiben Millionenheere von Modernisierungsverlierern zurück.
Sie kann, sie darf die Politik nicht ignorieren. Aber keiner weiß heute genau, wie
mit ihnen umzugehen ist. Der amerikanische Weg der Working Poor ist so wenig
befriedigend wie das europäische Modell
der sozialstaatlichen Alimentierung. Und
weiterhin zu hoffen, dieses Problems mit
Wachstumsraten Herr werden zu können, ist frivol. Alle Bildungsoffensiven
und Innovationscluster werden nichts
daran ändern, dass eine bestimmte Form
von Arbeit schneller abwandert, als sie
substituiert werden kann. Und dass für
einen Teil der Menschen in den Industriegesellschaften die einfache Arbeit ausgeht. Im Grunde ist es erschreckend, wie
sehr sich die Öffentlichkeit an diesen Pro-
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zess schon gewöhnt hat und wie halbherzig nach Lösungen gesucht wird.
Sozialer Kitt der Zukunft
Die perforierte Gesellschaft beginnt Normalität zu werden, räumlich wie sozial.
Und sie verlangt nach anderen Lösungsmodellen als der alten Wachstumsphilosophie. Karl-Rudolf Korte spricht sogar
von einer „Präventivstrategie gegen die
Desintegration“ der Gesellschaft. Denn
die Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaft ist nur die eine Seite des Problems.
Die andere aber ist der soziale Zusammenhalt, die Frage also, worin der soziale Kitt einer Gesellschaft in Zukunft besteht. In der alten Wohlstandsverheißung, dem Wohlstandspatriotismus der
Bonner Jahre mit Sicherheit nicht. Dafür
verläuft der globale Umverteilungsprozess zu rasant. Wie es sich überhaupt als
Irrtum erweist zu glauben, Gesellschaft
vor allem materiell begründen zu können. Das war eine Illusion, die sich selbst
in Zeiten wachsender Verteilungsspielräume nur mühsam aufrechterhalten ließ.
In der Union wird daher die Idee einer
„solidarischen Leistungsgesellschaft“ diskutiert, die uns auch als „aktive Bürgergesellschaft“ entgegentritt. Wieder fällt
der abstrakte Ton auf, das Chiffrenhafte.
Natürlich heißt Solidarität, „Verantwortung füreinander zu übernehmen“ als
„wichtiger Weg zur Sinnfindung für das
eigene Leben“, wie es der CSU-Politiker
Alois Glück formuliert. Aber ein solcher
Imperativ, der auf eine Anthropologie der
Nächstenliebe vertraut, wirkt reichlich
konstruiert und lebensfern.
Bürgerliches Erbe
Die Union sollte sich besser um ihr bürgerliches Erbe und ihren bürgerlichen Anspruch kümmern. Denn was heißt es heute
noch, eine bürgerliche Partei zu sein, wenn
das Wirtschaftsbürgertum zur FDP und
das Bildungsbürgertum zu den Grünen
abzuwandern droht? Es gibt in der Uni-
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on keinen selbstverständlichen Anspruch
auf Bürgerlichkeit mehr. Und der Diskurs
darüber findet eher im linken Milieu statt.
Dort sieht man die Renaissance des Bürgertums als überfällige Antwort auf den
„Rückbau des gewohnten Sozialstaates“,
der nach den Worten des Hallenser Historikers Manfred Hettling in eine fundamentale Ordnungskrise führt, wenn die
Stabilität unserer Gesellschaft weiterhin
nur „auf sozialstaatlichen Leistungen und
individuellen Konsummöglichkeiten“ beruht.
Dieses neue Interesse an Bürgerlichkeit
ist keineswegs nur sozialpolitischer Natur. Es entspringt dem Bedürfnis einer jüngeren Generation, der untergegangenen
Welt des alten Bürgertums nachzuspüren
und dem zivilisatorischen Modell, das
sich damit verband. Das ist keine arrivierte
Pose grüner Neubürger, sondern eine
Operation am offenen Leib der eigenen
Geschichte. Mithin eine geistige Enttrümmerungsarbeit, die zu erstaunlichen Bekenntnissen führt. So prognostiziert der
Soziologe Heinz Bude die Wiederkehr
von Familienstolz, bürgerlichem Eigensinn und Gemeinschaftsverpflichtung.
Also genau das, was auch Alois Glück für
seine solidarische Leistungsgemeinschaft
fordert, in der es nicht nur um Begriffe
wie Leistung, Solidarität und Subsidiarität
geht, sondern auch um „Heimat, Vaterland und Patriotismus“. (Siehe auch seinen Beitrag in dieser Ausgabe, Seite 9.)
Psychischer Gezeitenwechsel
Schon seit längerem geistert durch die
Union eine Debatte über Patriotismus.
Aber sie wird eben nicht von denen geführt, die sie immer gefordert haben, von
den christlich konservativen Parteien,
sondern von denen, die sie lange für obsolet hielten: von den Linken. Der Bremer
Historiker Paul Nolte spricht inzwischen
schon von einer linken Aneignung der
deutschen Nationalgeschichte, von ihrer
Bemächtigung durch ein Gefühl für die
eigene Herkunft, das den deutschen Linken traditionell eher fremd war. Das ist
eine bemerkenswerte Verkehrung der alten Fronten. Die verlorenen Söhne und
Töchter von achtundsechzig finden nach
Hause zurück und besetzen das Feld der
nationalen Geschichtspolitik; sie ringen
mit der Frage nach der kollektiven Identität und versöhnen sich mit ihrer Republik. Wie ein psychischer Gezeitenwechsel erschien das dem Historiker HansUlrich Wehler.
Im Gegenzug dazu fühlen sich die
christlich konservativen und liberalen
Kreise plötzlich heimatlos gemacht. Das
Wendejahr 1989 und der Fall der Mauer
waren eigentlich ihr großer historischer
Triumph gewesen. Aber sie wohnen der
Berliner Republik seither auffallend missmutig, fast randständig bei. Kein Wunder
also, dass auch die Unionsparteien ihr eigenes Stichwort Patriotismus bis heute
nicht mit Inhalt und Leben füllen konnten. Der historischen „Rückerkundung
des eigenen Lebens“, die in den letzten
Jahren zum herausragenden Motiv in der
deutschen Literatur und im deutschen
Film geworden ist, können sie nur einen dürren „Patriotismus der Zukunftsgestaltung“ (Paul Nolte) entgegensetzen,
der in der Regel in jenen geschichtslosen
Reformismus mündet, der ihrem Denken
heutzutage eigen ist.
Konservatives Erbe
Auch das konservative Erbe hat in diesem Denken keinen großen Stellenwert.
Mit diesem dritten wichtigen Traditionsstrang nach dem christlichen und dem
marktwirtschaftlichen tut sich die CDU
besonders schwer. Sie hat auch kaum
noch Repräsentanten für ihn. Er sei gar
kein Konservativer, hat selbst Wolfgang
Schäuble im letzten Bundestagswahlkampf öffentlich bekannt. Und viele in
seiner Partei werden ihm beipflichten. Sie
halten „konservativ“ für ein unzulässiges
Etikett des politischen Gegners.
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Dabei war es gerade das Konservative
in der Union, das zu Beginn des Bundestagswahlkampfes die Gemüter erhitzte.
Nie zuvor hat eine junge, ideologisch ungebundene Generation die Union so beharrlich und so wohlmeinend nach ihrem
konservativen Wesen befragt wie im
Frühsommer des letzten Jahres. Aber die
Union schwieg beharrlich und entzog
sich einer gesellschaftlichen Debatte.
Keine Spur von „konservativen Tugenden“, keine Spur von Sympathie für das
„gute Alte, das Gewordene, Traditionelle“, beklagte Jens Bisky damals in der
Süddeutschen Zeitung.
Dieselbe Sorge trieb schon den Journalisten Eckhard Fuhr in seinem Buch über
die Berliner Republik als Vaterland um.
Auch er verdächtigte die Union, den Wirtschaftsstandort Deutschland durch „brachiale Traditionszertrümmerung“ fit machen zu wollen für den globalen Wettbewerb. Die bürgerlichen, die christlich demokratischen Parteien seien es heute, die
sich von ihrer Geschichte, ihrer Tradition,
ihrer Kultur, ihren Leitbegriffen verabschiedet hätten. Eine Verlustgeschichte.
Denn ihr Erfolg nach dem Krieg bestand
doch gerade darin, Herkunft und Zukunft,
Tradition und Partizipation miteinander
verbinden zu können, weshalb sie im
Stande war, wesentlich heterogenere Teile
der deutschen Bevölkerung zu repräsentieren als etwa die SPD. Die Union war die
„aktive Kraft“ (Frank Bösch) dieses Integrationserfolges und nicht nur ihr Resultat. Warum reduziert sie aber heute die
Erinnerung an ihre eigene Erfolgsgeschichte? Warum verkürzt sie ihre Reformpolitik um die entscheidende Frage,
was diese deutsche Gesellschaft denn in
Zukunft zusammenhalten soll, nachdem
der Wohlfahrtspatriotismus Adenauer’scher Prägung ausgespielt hat? Die SPD ist
daran gescheitert, dass ihren einzelnen
Reformanstrengungen kein gesellschaftlicher Entwurf zu Grunde lag. Aber sie war
zumindest auf dem Wege, dies zu erken-
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nen. Die Union läuft Gefahr, denselben
Fehler zu wiederholen. Und sie kann sich
dabei nicht auf die Zwänge der großen
Koalition herausreden.
Bodenhaftung suchen
Die Renaissance aller großen Themen der
Union findet derzeit außerhalb ihrer Parteigrenzen statt: die Wiederkehr des Religiösen, die Rückgewinnung des Bürgerlichen und die Rehabilitierung des Konservativen. Die Union nimmt davon kaum
Notiz. Sie präsentiert sich als geschichtslos ubiquitäre Partei und beklagt ihre
gesellschaftliche Erosion, den Umstand,
dass ihr nur noch ein Viertel der Wahlberechtigten die Stimme gibt. Dabei hat ihr
der Historiker Michael Stürmer schon
1985 ins Stammbuch geschrieben, dass nur
die Zukunft gewinnt, „wer die Erinnerung
füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“.
Auch wenn es immer wieder bestritten
wird: Sie existieren noch, die Stammwähler und die Kernmilieus der Parteien, die
ihnen Bodenhaftung geben. Und es
kommt noch eine neue Generation hinzu,
die wieder eine politische Heimat sucht,
mit der sie sich identifizieren kann. Matthias Platzeck und weite Teile der SPD
wissen das. Sie verstehen sich immer
noch als links und als Nachfahren der
großen deutschen Arbeiterbewegung.
Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum der
Union zu glauben, durch beliebige Öffnung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und Strömungen den historischen Integrationserfolg nach dem Krieg
wiederholen zu können. Im Gegenteil: Mit
einem „hohlen Bekenntnis zum christlichen Menschenbild“, das hat die Parteivorsitzende Merkel ihrer Partei ins Gesicht
gesagt, werde die CDU nicht durchkommen. Sie muss es mit ihrem Erbe und ihrem Selbstverständnis schon ernst meinen.
Die große Koalition hat ihr ein machtpolitisches Moratorium verschafft. Es wird
kürzer sein, als die meisten jetzt meinen.
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