Swiss Medical Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe

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SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer
Swiss
Medical Forum
12–13 23. 3. 2016
292 D. Kleindienst, G. Plitzko,
C. Wieland, et al.
Neuroendokrine Tumoren
der Lunge
299 S. Giroud, A.-S. Brunel,
A. Lovis, J. Castioni
Ein nicht trivialer grippaler
Infekt bei einem 37-jährigen
Patienten
307 S. Kiss, F. Nussberger,
C. Cantieni, et al.
Obstruktive Pyelonephritis
With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly”
286 N. Rouiller, Y. Corminbœuf,
M. Suter, et al.
Adipositas: Ansätze und
Perspektiven
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
Organe officiel de la FMH pour la formation continue
Bollettino ufficiale per la formazione della FMH
Organ da perfecziunament uffizial da la FMH
www.medicalforum.ch
INHALTSVERZEICHNIS
283
Redaktion
Beratende Redaktoren
Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Dr. Nadja Pecinska,
Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Prof. Dr. Ludwig T. Heuss, Zollikerberg;
Basel (Managing editor); Prof. Dr. David Conen, Basel;
Dr. Pierre Périat, Basel; Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal
Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern;
Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds;
Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern
Advisory Board
Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich;
Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds;
Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne;
Dr. Sven Streit, Bern; PD Dr. Ryan Tandjung, Zürich
Und anderswo …?
A. de Torrenté
285 Brustkrebs im Anfangsstadium und Bisphosphonate: welcher Nutzen?
Übersichtsartikel
N. Rouiller, Y. Corminbœuf, M. Suter, F. Pralong, L. Favre
286
Adipositas: Ansätze und Perspektiven
Die ständig zunehmende Zahl von Adipositaspatienten ist ein grosses Problem für die öffentliche
Gesundheit. Zwar ist das Arsenal wirksamer Arzneistoffe sehr begrenzt, mit der bariatrischen
Chirurgie steht uns allerdings sowohl im Hinblick auf das Gewicht als auch auf den Stoffwechsel
eine sehr interessante Behandlungsoption zur Verfügung, bei der jedoch eine gründliche und
fächerübergreifende Vorbereitung nötig ist. Um diese Epidemie einzudämmen, muss besonderes
Augenmerk auf die Prävention gelegt werden.
D. Kleindienst, G. Plitzko, C. Wieland, D. Born, M. Röthlin
292
Neuroendokrine Tumoren der Lunge
Neuroendokrine Tumoren der Lunge sind eine heterogene Gruppe von Tumoren, die vom
low-grade-Karzinoid bis zum high-grade-kleinzelligen Bronchialkarzinom reicht. Die vorliegende
Übersichtsarbeit stellt die Epidemiologie, Diagnostik, Behandlung und Prognose der einzelnen
Tumorentitäten sowie deren histopathologischen Merkmale vor dem Hintergrund der 2015
aktualisierten WHO-Klassifikation dar.
Was ist Ihre Diagnose?
S. Giroud, A.-S. Brunel, A. Lovis, J. Castioni
299
Ein nicht trivialer grippaler Infekt bei einem 37-jährigen Patienten
Der 37-jährige Patient sucht die Notfallstation wegen eines vor allem tagsüber auftretenden
unproduktiven Hustens, subfebriler Temperaturen, Myalgien seit einer Woche und basal
thorakal links lokalisierter, atemabhängiger Schmerzen auf.
INHALTSVERZEICHNIS
284
Fallberichte
K. Gardill
Zeitgemässe neurologische Diagnostik peripherer Nervenschäden
303
Auch in einer neurologischen Praxis kann die abschliessende Abklärung peripherer Nervenschädigungen zeitnah und mit geringem Aufwand gelingen. Hierbei bietet sich v.a. die Nervensonographie an, die an jedem Ort einsetzbar ist und zudem dynamische Beurteilbarkeit und
beliebige Wiederholbarkeit nebst Nebenwirkungsfreiheit bietet.
S. Kiss, F. Nussberger, C. Cantieni, N. Willi, M. Voegeli, S. Subotic, P. Maurer, T. Gasser
307 Obstruktive Pyelonephritis
Mammakarzinom-Metastasen im Ureter sind selten und werden zu Lebzeiten nur entdeckt, wenn sie Beschwerden hervorrufen.
Zumeist scheinen sie jedoch asymptomatisch zu verlaufen, denn in der Autopsie werden sie deutlich häufiger, in ca. 8% der Fälle,
entdeckt.
Extended abstracts from SMW
New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 310.
Impressum
Swiss Medical Forum –
Schweizerisches Medizin-Forum
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
und der Schweizerischen Gesellschaft
für Innere Medizin
Marketing EMH / Inserate:
Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin
Marketing und Kommunikation,
Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41
(0)61 467 85 56, [email protected]
Redaktionsadresse: Ruth Schindler,
Redaktionsassistentin SMF,
EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG,
Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz,
Tel. +41 (0)61 467 85 58,
Fax +41 (0)61 467 85 56,
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ISSN: Printversion: 1424-3784 /
elektronische Ausgabe: 1424-4020
Erscheint jeden Mittwoch
© EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG
(EMH), 2016. Das Swiss Medical Forum
ist eine Open-Access-Publikation
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Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich
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publizierten Angaben wurden mit der
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Verfassernamen gezeichneten Veröffentlichungen geben in erster Linie
die Auffassung der Autoren und nicht
zwangsläufig die Meinung der SMFRedaktion wieder. Die angegebenen
Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit
den Fachinformationen der verwendeten Medikamente verglichen werden.
Herstellung: Schwabe AG, Muttenz,
www.schwabe.ch
Titelbild:
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UND ANDERSWO …?
285
Und anderswo …?
Antoine de Torrenté
Brustkrebs im Anfangsstadium und
Bisphosphonate: welcher Nutzen?
Fragestellung
Zirkulierende Tumorzellen können sich in
osteoblastischen Nischen verstecken, indem
sie osteoblastische Stammzellen verschieben.
So können sie mehrere Jahre lang in einem
«schlafenden Zustand» verharren, dann plötzlich proliferieren und Knochenmetastasen
sowie Metastasen in anderen Organen bilden.
Bisphosphonate könnten durch die Veränderung der Mikroumgebung des Knochens
das Risiko verringern, dass sich diese Tumorzellen darin einnisten. Frühere Studien hatten die Auswirkung von Bisphosphonaten auf
die Verlängerung des knochenmetastastenfreien Überlebens bei Frauen mit Brustkrebs
im Frühstadium gezeigt. In anderen Studien
war, ausser bei Frauen nach der Menopause,
kein positiver Effekt zu verzeichnen. Dies
lässt vermuten, dass die natürliche oder
künstlich erzeugte Senkung des Östrogenspiegels für den Nutzen der Bisphosphonate
erforderlich war. Stimmt dies tatsächlich?
Methode
In der Metaanalyse wurden vor 2008 veröffentlichte Studien untersucht. Diese mussten
Natrium-Glukose-Cotransporter 2(SGLT2)Hemmer (Canagliflozin; Invokana®):
schlechte Neuigkeiten?
In der Diabetesbehandlung werden seit kurzem SGLT2-Hemmer, die eine Glukosurie bewirken, eingesetzt. Bekannte Nebenwirkungen
sind urogenitale Infektionen, insbesondere bei
Frauen, sowie gelegentlich Ketoazidosen. In
neun Studien hat sich nun bestätigt, dass bei
Patienten, die Canagliflozin einnehmen, häufiger Frakturen auftreten als bei den Kontrollprobanden. Handelt es sich dabei um einen für
Canagliflozin spezifischen oder um einen
Gruppeneffekt? Nun hat die FDA (Food and
Drug Administration) eine Post-Marketing-Studie mit Canagliflozin durchgeführt, die nach
zwei Jahren eine verringerte Knochendichte
am Schenkelhals und der Wirbelsäule ergab.
Häufig treten die Probleme erst dann auf,
wenn Medikamente auf dem Markt sind …
Voelker R. JAMA. 2015 Oct 20;314(15):1554.
Akute Lumbalgie: einfache oder komplexe
Schmerzbehandlung?
323 Patienten mit akuter, nichttraumatischer
Lumbalgie ohne radikuläre Ausstrahlung wur-
randomisiert sein und Frauen mit Brustkrebs
im Frühstadium einschliessen, die Bisphosphonate oder Plazebo erhielten. Zu jeder Patientin wurden von 2011–2014 Informationen
wie Behandlung, Alter, Menopausenstatus,
Tumordurchmesser, Adenopathien, Östrogen- und Progesteronrezeptoren des Tumors
sowie Zeitpunkt und Lokalisation der Rezidive erfasst. Primäre Endpunkte waren ein
Krebsrezidiv (Lokal- bzw. Regionalrezidiv,
Fernmetastasen oder Befall der kontralateralen Brust) und die brustkrebsspezifische Mortalität. Sekundäre Endpunkte waren Gesamtsterblichkeit, das erste Knochenrezidiv und
Frakturen.
Resultate
Die Daten umfassten >18 000 Frauen aus
2–5-jährigen Studien, die Bisphosphonate
oder Plazebo erhielten. Es traten ~3500 Erstrezidive und ~2100 Todesfälle auf. Bezogen
auf die Gesamtzahl der Patientinnen war eine
kaum signifikante Verringerung des Zehnjahresrisikos für Erstrezidiv, Knochenrezidive
und spezifische Mortalität zu erkennen. Bei
Frauen nach der Menopause bewirkte die
Gabe von Bisphosphonaten hingegen eine
hochsignifikante Verringerung der Knochenrezidive (6,6 vs. 8,8%, 2p = 0,002 ) sowie der spe-
den entweder tägl. mit 2× 500 mg Naproxen,
Naproxen + Cyclobenzaprin (einem Muskelrelaxans) oder Naproxen + Oxycodon/Acetaminophen behandelt. Nach einwöchiger Behandlung erbrachte die zusätzliche Therapie
mit Cyclobenzaprin bzw. Oxycodon/Acetaminophen im Vergleich zur Monotherapie mit
Naproxen keinen Zusatznutzen in Bezug auf
Schmerzen oder funktionellen Zustand. Keep
it simple …
Friedmann BW, et al. JAMA. 2015 Oct 20;314(15):
1572–80.
Prostataspezifische Alpha-Adrenorezeptor-Antagonisten: Sturzgefahr?
Prostataspezifische Alpha-AdrenorezeptorAntagonisten werden häufig zur Linderung
obstruktiver Harnwegserkrankungen eingesetzt. Eine retrospektive Studie warnt nun vor
der durch die Medikamente ausgelöste Sturzgefahr. 150 000 Patienten, die zum ersten Mal
Alpha-Adrenorezeptor-Antagonisten (insbesondere Tamsulosin) erhielten, wurden mit
Patienten verglichen, die das Medikament
nicht einnahmen. Nach 90 Tagen hatten die
Patienten unter Alpha-Adrenorezeptor-Ant-
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(12–13):285
zifischen Mortalität (14,7 vs. 18%, 2p = 0,002).
Auch die Zahl der Frakturen ging zurück, RR
0,85. Die Art des Bisphosphonats hatte wahrscheinlich keinen Einfluss auf die Resultate.
Eine Verringerung neuer kontralateraler
Tumoren oder ausserhalb der Knochen lokalisierter Metastasen war hingegen nicht festzustellen.
Probleme und Kommentar
In Metaanalysen kann die Behandlung von
Subgruppen zu verzerrten Resultaten führen.
Es ist nicht sicher, ob alle Bisphosphonate
gleich wirksam sind. Nichtsdestotrotz ist die
Studie extrem wichtig, da sie eine Population
von Patientinnen beschreibt, bei der eine Bisphosphonatgabe keinen Nutzen hat. Andererseits zeigt sie eindeutig, dass Frauen mit niedrigem Östrogenspiegel von einer Bisphosphonatbehandlung profitieren. Wahrscheinlich
sollten sie allen Frauen nach der Menopause
als Add-On-Therapie verabreicht werden.
Early Breast Cancer Trialists’ Collaborative Group
(EBCTCG). Coleman R, et al. Lancet. 2015 Oct 3;
386(10001):1353–61.
agonisten ein erhöhtes Risiko für eine Spitaleinweisung aufgrund von Stürzen oder Frakturen: 1,45 vs. 1,28%. Die Ursache dafür sind
wahrscheinlich hypotone Episoden oder Synkopen. Dies mag wenig erscheinen, die Medikamente werden jedoch häufig verschrieben!
Welk B, et al. BMJ. 2015 Oct 26;351:h5398.
Klinische Anzeichen einer Rhinovirusinfektion und Schlafdauer
Rhinovirusinfektionen sind sehr unangenehm: verstopfte und laufende Nase, Husten,
Atembeschwerden. In der Westschweiz wird
dies «avoir la crève» genannt, was sich von
«krepieren» ableitet und die Heftigkeit der
Symptome treffend zum Ausdruck bringt. Bei
164 gesunden, freiwilligen Probanden wurde
sieben Tage lang die Schlafdauer erfasst. Anschliessend wurden sie intranasal mit einem
Rhinovirus infiziert. Die Wenigschläfer (<5
Stunden) wiesen signifikant mehr objektive
klinische Infektionsanzeichen auf als die Vielschläfer (>7 Stunden), OR 4,5. Gut zu wissen?!
Prather AA, et al. SLEEP. 2015;38(9):1353–9.
ÜBERSICHTSARTIKEL
286
Ursachen und Folgen sind vielfältig
Adipositas:
Ansätze und Perspektiven
Nathalie Rouiller a , Yann Corminbœuf a , Michel Suter b , François Pralong a , Lucie Favre a
a
b
Abteilung für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois
Abteilung für Viszeralchirurgie, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois
Die ständig zunehmende Zahl von Adipositaspatienten ist ein grosses Problem für
die öffentliche Gesundheit. Zwar ist das Arsenal wirksamer Arzneistoffe sehr
begrenzt, mit der bariatrischen Chirurgie steht uns allerdings sowohl im Hinblick
auf das Gewicht als auch auf den Stoffwechsel eine sehr interessante Behandlungs­
option zur Verfügung, bei der jedoch eine gründliche und fächerübergreifende
Vorbereitung nötig ist. Um diese Epidemie einzudämmen, muss besonderes Augen­
merk auf die Prävention gelegt werden.
Im Jahr 2009 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Adipositas als die am weitesten verbreitete epidemi­
sche Erkrankung nicht infektiösen Ursprungs aner­
kannt. Dies unterstreicht deutlich die Notwendigkeit,
sich mit allen Fragen zu befassen, die mit der Adiposi­
tas­Behandlung verbunden sind oder vielmehr mit
den verschiedenen Adipositas­Typen, da sowohl Ur­
sachen als auch Folgen von Übergewicht vielfältig sein
können. Die erste dieser Fragestellungen betrifft die
Prävalenz dieser Krankheit, die in allen Industrie­
ländern weiter kontinuierlich ansteigt. In der Schweiz
hat sie sich in den letzten zwanzig Jahren praktisch
verdoppelt und betrug im Jahr 2012 bei der letzten Er­
hebung des Bundesamtes für Statistik 10,3% der Bevöl­
kerung (5,4% im Jahr 1992), wobei der Anteil der Betrof­
fenen unter den Männern höher liegt (Abb. 1).
Diese Zahlen sind besorgniserregend, da Adipositas in
den meisten Fällen mit metabolischen und kardiovas­
kulären Komplikationen einhergeht, welche die Ursache
der ernsten Krankheitsfolgen sind. In diesem Artikel
wird der aktuelle Stand der Empfehlungen für die kli­
nische Patientenbehandlung zusammengefasst, wobei
unterstrichen wird, dass die Entwicklung besser
angepasster und individueller Behandlungsstrategien
so dass dort ein Nebeneinander von Adipositas und
derzeit eine zentrale Frage für unser Gesundheitssys­
Mangelernährung zu beobachten ist [1]. Die weltweite
tem ist.
Verbreitung des Phänomens kann mit den unten
beschriebenen Veränderungen der Lebensgewohnhei­
Die Ursachen der Adipositas-Epidemie
Lucie Favre
ten erklärt werden, die auch die Entwicklungsländer
betreffen. Das Jahr 2000 war ein bedeutsamer und
Die Adipositas­Epidemie trat ursprünglich in den
beunruhigender Wendepunkt, da die weltweite Zahl
Vereinigten Staaten auf, hat nunmehr aber nicht nur
der übergewichtigen Menschen erstmals jene der unter­
Europa, sondern auch die Entwicklungsländer erreicht,
gewichtigen übertraf.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(12–13):286 –291
ÜBERSICHTSARTIKEL
287
Eine fächerübergreifende Behandlung
Initiale Bewertung
60%
Männer
Vielfältige ätiopathogenetische Faktoren, etwa geneti­
Frauen
sche Defekte, endokrine oder iatrogen­medikamentöse
Ursachen, kommen als Auslöser von Adipositas in
50%
Frage und müssen systematisch in Betracht gezogen
40%
werden. Dem Endokrinologen kommt in der Behand­
lung eine zentrale Funktion zu, um die Möglichkeiten
30%
einer sekundären Adipositas auszuschliessen und eine
20%
angemesse Behandlung aller Komorbiditäten dieser
Krankheit zu gewährleisten.
10%
0%
Ungeachtet dessen ist bei einem Grossteil der Adiposi­
1992 1997 2002 2007 2012
Übergewicht
1992 1997 2002 2007 2012
Adipositas
tas­Patienten eine Essstörung zu beobachten. Deshalb
ist es wichtig, dass in das Betreuungsteam aus Endokri­
nologen, Ernährungsberatern und Pflegefachkräften
auch Psychologen und Psychiater integriert werden,
die für die Behandlung von Essstörungen speziell aus­
Abbildung 1: Epidemie Adipositas. Quelle: BFS Aktuell; 14 Gesundheit; Neuchâtel,
November 2014. Mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Statistik (BFS).
gebildet sind. Wie wichtig es ist, die Essstörungen zu
berücksichtigen, wird noch dadurch unterstrichen,
dass durch hypokalorische Diät das Gewicht nicht
langfristig gehalten werden kann. Diese Diäten sind in
Der Zugang zu Nahrung ist sehr einfach geworden,
der Tat mit einer ausgeprägten Einschränkung der
vielleicht sogar zu einfach. Die geringen Kosten von
Kognition verbunden und führen, sobald sie beendet
Nahrungsmitteln mit hohem Fett­ und Zuckergehalt,
werden, in 90 bis 95% der Fälle [4] zu einer neuerlichen
die Allgegenwart von Fertiggerichten und überdimen­
Zunahme des Gewichts, das dann meist sogar über
sionierten Portionen erklären zum Teil die Adipositas­
dem Ursprungsgewicht liegt – der typische Jo­Jo­Effekt.
Epidemie. Mit dem Verschwinden der im Kreise der
Familie eingenommenen Mahlzeit geraten auch gewisse
Essstörungen
grundlegende Ernährungsregeln in Vergessenheit.
Als Essstörung wird eine gestörte Beziehung zur Er­
Der Umgang mit Nahrungsmitteln hat sich ebenfalls
nährung bezeichnet. Im DSM­5 ist eine genaue Liste
verändert, seitdem der Zugang so unkompliziert ge­
der verschiedenen Essstörungen zu finden.
worden ist. Es ist eine kontinuierliche Zunahme an
Diejenigen Essstörungen, die bei Gewichtszunahme in
Betracht gezogen werden müssen, sind vor allem die
Die übermässige und unausgewogene
Nahrungsaufnahme sowie die bewegungsarme
Lebensweise sind die Rahmenbedingungen.
psychogene Hyperphagie (binge eating disorder) sowie
der Zwang, zwischen den Mahlzeiten Imbisse zu ver­
zehren. Die Bulimia nervosa geht mit Kompensations­
mechanismen einher, die bei den beiden anderen Ess­
Essstörungen zu beobachten, wobei Nahrung als Kom­
störungen nicht zu beobachten sind, und ist deshalb
pensationsmittel für Probleme verwendet wird. Der
klassischerweise nicht mit einer Gewichtszunahme
Energieverbrauch ist wegen Bewegungsmangel ver­
oder Adipositas verbunden.
mindert, weil Wegstrecken in Fahrzeugen zurück­
Beim Binge Eating kommt es zum Verzehr grosser Men­
gelegt und Stunden sportlicher Aktivitäten allzu oft
gen von Nahrung in weniger als zwei Stunden. Dabei
durch Videospiele und Fernsehen ersetzt werden. Die
wird mehr Nahrung aufgenommen, als die meisten
übermässige und unausgewogene Nahrungsaufnahme
Menschen im selben Zeitraum und unter denselben
sowie die bewegungsarme Lebensweise sind somit die
Umständen essen würden und könnten. Während die­
Rahmenbedingungen der Adipositas [2].
ser Heisshungerattacken kommt es überdies zu einem
Darüber hinaus zeigen aktuelle epidemiologische Stu­
Verlust der Kontrolle über das Essverhalten. Um von
dien die signifikante Rolle von Entwicklungsstörun­
psychogener Hyperphagie sprechen zu können, muss
gen, die für Adipositas prädisponieren, und besonders
dieses Phänomen im Laufe von drei Monaten mindes­
die Rolle mütterlichen Übergewichts, das mittels epi­
tens einmal wöchentlich auftreten.
genetischer Transmission an die folgende Generation
Der Zwang zu Zwischenimbissen (compulsive snacking)
übertragen wird [3].
wird unter «nicht näher bezeichnete Essstörung»
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(12–13):286 –291
ÜBERSICHTSARTIKEL
288
(OSFED) klassifiziert und ist durch Nahrungsaufnahme
Jahren zur Behandlung von Typ­2­Diabetes eingesetzt.
zwischen den Mahlzeiten gekennzeichnet. Bei diesen
Sie wirken zudem zentral auf das Sättigungsgefühl
beiden letzten Essstörungen kommt es also wiederholt
und verzögern die Magenentleerung [9]. Dadurch sinkt
zu einem Kontrollverlust bzgl. Nahrungszufuhr.
die Kalorienaufnahme und folglich auch das Körper­
Es bestehen überdies enge Zusammenhänge zwischen
gewicht. Liraglutid wird zur Behandlung von Typ­2­
Adipositas und anderen Psychopathologien, etwa De­
Diabetes in einer Maximaldosierung von 1,8 mg pro
pression, bipolarer Störung und Schizophrenie. Dadurch
Tag verwendet. Vor kurzem wurde in einer Studie ge­
wird die psychiatrische Untersuchung der Adipositas­
zeigt, dass dieser Arzneistoff in einer Dosierung von
Patienten noch komplexer.
3 mg pro Tag in Kombination mit geänderten Lebens­
und Ernährungsgewohnheiten eine doppelt so grosse
Konservative Behandlung von Adipositas
Gewichtsreduktion wie in der Plazebogruppe bewir­
ken kann, wobei ein Drittel der behandelten Patienten
Durch die fächerübergreifende Behandlung sollen die
über 10% des ursprünglichen Gewichts verlor [10]. Die
Patienten darin unterstützt werden, ihre Lebens­ und
Food and Drug Administration (FDA) hat diese Therapie
Ernährungsgewohnheiten zu ändern, um somit das Kör­
deshalb in einer Dosierung von 3 mg pro Tag zur Be­
pergewicht zu stabilisieren. Werden diese veränderten
handlung von Adipositas zugelassen, wenn der BMI
Gewohnheiten danach mithilfe regelmässiger körper­
der Patienten mindestens 30 kg/m2 beträgt oder aber
licher und psychologischer Kontrollen langfristig auf­
wenn ein BMI von mindestens 27 kg/m2 und Begleit­
rechterhalten, ist in vielen Fällen eine progressive Ge­
krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Fett­
wichtsabnahme die Folge. Ein Verlust von etwa 5–10%
stoffwechselstörungen vorliegen. Zurzeit sind GLP­1­
des ursprünglichen Körpergewichts darf dabei erwar­
Analoga in der Schweiz jedoch nicht zur Behandlung
tet werden. Diese eher mässige Gewichtsabnahme geht
von Adipositas zugelassen, sofern der adipöse Patient
erwiesenermassen mit signifikanten Verbesserungen
nicht zusätzlich an Diabetes leidet. Es sei daran erinnert,
der metabolischen Begleitkrankheiten einher [5, 6] und
dass in den letzten Jahren verschiedene anorexigene
sollte daher durchaus gefördert werden.
Wirkstoffe wegen zu starker Nebenwirkungen vom
In der Schweiz steht zur konservativen Verringerung
Markt zurückgezogen wurden.
von Übergewicht eine begrenzte Zahl von Arzneistof­
fen zur Verfügung. Dazu zählt Orlistat (Xenical®), das
die Fettaufnahme im Darm vermindert. Fluoxetin
(Fluctine®) galt lange als Mittel der Wahl zur Kontrolle
Chirurgische Behandlung von Adipositas
Hauptziel der Behandlung von Adipositas ist es, eine
von Essanfällen, aktuelle Studien schränken diese Aus­
nachhaltige Gewichtsabnahme und somit eine lang­
sage indes ein [7, 8] und zeigen, dass auch andere selek­
fristig positive Wirkung auf die Lebensqualität und die
tive Serotonin­Wiederaufnahmehemmer bei dieser
metabolischen, kardiovaskulären, respiratorischen
Indikation ähnlich wirksam sind.
und muskuloskelettalen Begleitkrankheiten herbeizu­
Die GLP­1­Analoga (Exenatid und Liraglutid), welche
führen. Im Jahre 2011 wurde in der Schweiz der BMI­
die Insulinsekretion steigern und die Glukagonsekre­
Grenzwert für eine chirurgische Behandlung von
tion verringern, werden in der Schweiz seit einigen
40 auf 35 kg/m2 gesenkt, und auch eine metabolische
Tabelle 1: Bedingungen für die chirurgische Behandlung von Adipositas gemäss Artikel 1 der KrankenpflegeLeistungsverordnung (KLV).
Der Patient oder die Patientin hat einen Body Mass Index (BMI) von mehr als 35 kg/m2.
Eine adäquate konservative Therapie zur Gewichtsreduktion war zwei Jahre lang erfolglos.
– Bei einem BMI von mindestens 50 kg/m2 ist eine Dauer von zwölf Monaten ausreichend.
– Diese Therapie kann aus verschiedenen Programmen mit oder ohne Unterstützung durch eine Fachkraft zusammengesetzt sein.
– Es ist nicht erforderlich, dass diese Therapie ununterbrochen durchgeführt wurde.
Es gibt keine Altersbeschränkung.
– Bei Patienten, die mehr als 65 Jahre alt sind, sind Operationsrisiken und Lebenserwartung aufgrund der Begleiterkrankungen
abzuwägen.
– Bei Patienten, die unter 18 Jahren alt sind, ist die Indikation für eine Operation nur nach einem Gespräch mit einem
Spezialisten für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen gegeben.
Die Vorbereitung und der Eingriff erfolgen in einem von der SMOB (Swiss Society for the Study of Obesity and metabolic
Disorders) anerkannten Adipositas-Zentrum, das über ein erfahrenes interdisziplinäres Team verfügt.
Der Patient verpflichtet sich schriftlich zu einer regelmässigen Nachkontrolle durch das interdisziplinäre Team eines von
der SMOB akkreditierten Adipositas-Zentrums.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(12–13):286 –291
ÜBERSICHTSARTIKEL
289
Begleiterkrankung ist nun keine Voraussetzung mehr.
Nahrungsrestriktion + mässige Malabsorption
In Tabelle 1 sind die Bedingungen für die chirurgische
Behandlung von Adipositas in der Schweiz zusammen­
gefasst. Derzeit ist es nur durch bariatrische Chirurgie
möglich, eine deutliche und dauerhafte Gewichtsab­
Speiseröhre
nahme mit spürbarer Verbesserung der mit der morbi­
den Adipositas einhergehenden Begleitkrankheiten zu
Magenpouch
(15 ml)
erreichen [11, 12]. Ein solcher Eingriff kann mittelfristig
aber auch zu einem Misserfolg führen. Dies lässt sich
Abgetrennter Teil des
Magens
vor allem dadurch erklären, dass die Patienten sich an
die durch den bariatrischen Eingriff bedingte Nah­
rungsaufnahme­Einschränkung anpassen und dabei
die Essstörung nach und nach reaktiviert wird. Wurde
die Essstörung im Vorfeld also nicht behandelt, kann
mit der Zeit eine Gewichtszunahme und in manchen
Kolon
Nahrungstransportierender
Dünndarm
Fällen sogar eine Rückkehr zum Gewicht vor der Ope­
ration erfolgen.
Bevor eine bariatrische Chirurgie in Betracht gezogen
wird, ist zudem eine Analyse der Zusammensetzung
und der Ausgewogenheit der Ernährung von entschei­
dender Bedeutung. Dazu ist ein diätetischer Ansatz in
Form therapeutischer Einzel­ oder Gruppenschulungen
nötig. Auch die körperliche Aktivität ist ein zentraler
Bestandteil der Behandlung von Patienten, die sich
einer bariatrischen Operation unterziehen möchten
[13]. Die präbariatrische Behandlung sollte sich daher
Abbildung 2: Roux-en-Y-Magenbypass (RYGB) (Grafik: L.Kubski).
fächerübergreifend gestalten.
Die Indikation für bariatrische Operationen hat sich in
den letzten Jahren deutlich gewandelt. Das Ausmass
Verringerung des Magenvolumens
des Übergewichts ist nicht mehr das wichtigste Ent­
scheidungskriterium, da sich die bariatrische Chirur­
gie und vor allem der Magenbypass als besonders wirk­
sam zur Behandlung des Typ­2­Diabetes erwiesen haben.
Buchwald et al. [14] haben in einer Meta­Analyse über
eine komplette Remission des Typ­2­Diabetes in 80%
Restmagen
(200 ml)
der Fälle berichtet. Dass die Resultate neuerer Studien
weniger aussergewöhnlich waren, erklärt sich durch
Resezierter
Teil des Magens
die strengere Definition bzgl. Typ­2­Diabetes­Remission,
die in den neueren Untersuchungen verwendet wurde.
In einer aktuellen Studie [15], in der eine Diabetes­Re­
mission durch einen HbA1c­Wert von <6% ohne Therapie
definiert wurde, betrug der Anteil von Typ­2­Diabetes­
Pylorus
Remissionen drei Jahre nach der Magenbypassopera­
tion 38% der Patienten. In einer anderen Studie [16]
wurde ein HbA1c­Wert von <6,5% mit einem Nüchtern­
blutzucker von ≤5,6 mmol/l ohne Behandlung zur De­
finition der Diabetes­Remission herangezogen; fünf
Jahre nach der bariatrischen Operation betrug der
Remissionsanteil laut dieser Studie 50%. In allen Fällen
wurde über eine deutliche Verbesserung der Blut­
zuckerkontrolle und somit über eine Vereinfachung
der Behandlungen berichtet [17]. Durch weitere Studien
soll nunmehr festgestellt werden, welche adipöse
Abbildung 3: Schlauchgastrektomie (SG) (Grafik: L. Kubski).
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ÜBERSICHTSARTIKEL
290
Typ­2­Diabetiker am meisten von einem chirurgischen
wird die Nahrungsmittelzufuhr jedoch vermindert
Eingriff profitieren und somit eine Remission ihrer
und die Magen­Darm­Passage signifikant beschleu­
Krankheit erwarten dürfen [18, 19]. Faktoren wie die
nigt [25], wodurch Fettsäuren vermehrt fäkal ausge­
Dauer der Krankheit, das Ausmass der Behandlung,
schieden werden und daher ebenfalls Mängel an Nähr­
das Alter des Patienten sowie die präoperative Einstel­
stoffen auftreten können. Laut einer aktuellen Studie
lung des Blutzuckers sind zu berücksichtigen. Auch
ist das Risiko von Nährstoffmangel innerhalb des ers­
haben nicht alle bariatrischen Operationen die gleiche
ten Jahres nach einem RYGB nicht ausgeprägter als
Auswirkung auf den Diabetes und das Resultat hängt
nach einer Schlauchgastrektomie [26], wobei jedoch
auch von der Wahl der Intervention ab. Bei den anderen
vereinzelt über Fälle mit schwerwiegenden Mängeln
Belgleitkrankheiten sind nach dem chirurgischen Ein­
nach Schlauchgastrektomien berichtet wurde [27, 28]. Es
griff ebenfalls deutliche Verbesserungen zu beobachten,
muss deshalb unbedingt daran erinnert werden, dass
etwa bei Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen,
diese beiden Formen bariatrischer und metabolischer
Schlafapnoe­Syndrom sowie Knochen­ und Gelenk­
Eingriffe eine sorgfältige Kontrolle allfälliger Nähr­
schmerzen [20]. Darüber hinaus können nach einer
stoffmängel erfordern. Im Hinblick auf die Gewichts­
signifikanten Gewichtsabnahme orthopädische Opera­
reduktion liegen für die Schlauchgastrektomie noch
tionen vorgenommen werden [21], die im Allgemeinen
keine langfristigen Ergebnisse vor, die Auswirkungen
zu einer beträchtlichen Steigerung der Lebensqualität
auf den Glukosestoffwechsel sind allerdings weniger
der Patienten führen.
günstig als nach einem RYGB.
Verschiedene chirurgische Eingriffe möglich
Sekundäre Komplikationen
Die zur Verfügung stehenden chirurgischen Eingriffe
Zu den sekundären Komplikationen des bariatrischen
sind hauptsächlich der Roux­en­Y­Magenbypass (Roux-
Magenbypasses zählen die Dumpingsyndrome (Früh­
en-Y-gastric bypass, RYGB, Abb. 2), die Schlauchgastr­
oder Spätdumping). Diese beiden Syndrome gehen auf
ektomie (Abb. 3) und die biliopankreatische Diversion.
unterschiedliche pathophysiologische Ursachen zurück:
Die biliopankreatische Diversion ist sehr wirkungs­
Das Frühdumping wird durch eine hyperosmolare
voll, besonders in metabolischer Hinsicht, ist jedoch
Masse aus fett­ und zuckerreicher Nahrung ausgelöst,
mit erheblichen ernährungsphysiologischen Risiken
wodurch es zu einem Wassereinstrom in den Dünn­
verbunden und deshalb nur einer Minderheit der Pati­
darm und möglicherweise zu einer relativen Hypo­
enten vorbehalten (die meisten mit einem BMI von
volämie kommt. Ursache des Spätdumpings ist eine
>60 kg/m 2). Das Magenband wird immer seltener ge­
Hypoglykämie infolge einer vermehrten Insulinaus­
wählt wegen seiner geringeren Wirksamkeit und der
schüttung, die ihrerseits durch die veränderte Nähr­
zahlreichen Langzeitkomplikationen. Der in der Schweiz
stoffresorption und die gesteigerte Sekretion von Inkre­
am häufigsten durchgeführte Eingriff ist der RYGB,
tinen (GLP­1) bedingt ist.
gefolgt von der Schlauchgastrektomie (sleeve gastrec-
Schliesslich ist es wichtig, auf das erhöhte Risiko einer
tomy, SG). Von den 4000 bariatrischen Operationen,
Alkoholabhängigkeit hinzuweisen. Zur Begründung
die 2013 in der Schweiz vorgenommen wurden, waren
dieses Phänomens wurden verschiedene Erklärungen
80% Magenbypässe (Quelle: Swiss Society for the Study
vorgebracht, insbesondere, dass der Konsum von Alko­
of Obesity and metabolic Disorders, SMOB). Die Zahl der
hol zur Kompensierung der durch die Operation be­
Schlauchgastrektomien nimmt allerdings jedes Jahr
dingten Nahrungseinschränkung eigesetzt werde. Al­
zu. Ein RYGB umfasst auch diätetische Restriktionen
kohol wird nach einer Magenbypassoperation zudem
und umgeht den Zwölffingerdarm und den proxi­
deutlich schneller resorbiert; so kommt es nach einem
malen Abschnitt des Jejunums, wo die Vitamin­ und
derartigen Eingriff zu Blutalkoholkonzentrationen, die
Nährstoffaufnahme hauptsächlich stattfindet. Dadurch
doppelt so hoch sind wie nach der Einnahme derselben
können Mängel auftreten, die durch Substitution be­
Menge Alkohol vor der Operation [29]. Interessanter­
hoben werden müssen [22, 23]. Die Schlauchgastrekto­
weise haben Untersuchungen gezeigt, dass es nach
mie ist in zahlreichen Ländern und insbesondere in
einer Schlauchgastrektomie zu keiner Veränderung der
Frankreich mittlerweile der häufigste Eingriff [24]. Ihr
Alkoholresorption [30] kommt. Dieser Punkt könnte
Vorteil ist, dass der normale Verlauf des Intestinaltrak­
bei denjenigen Patienten, bei denen das Risiko einer
tes nicht verändert wird; sie ist indes der einzige Ein­
Abhängigkeit beträchtlich ist, die Wahl der Operations­
griff, der nicht reversibel ist, da sie mit der Resektion
art beeinflussen.
von 80–90% des Magens einhergeht. Man könnte also
Auch das Selbstmordrisiko darf im gesamten Verlauf
meinen, dass die Schlauchgastrektomie in geringerem
der fächerübergreifenden Behandlung nicht ausser
Ausmass zu Nährstoffmangel führt. Infolge des Eingriffs
Acht gelassen werden. Im Vergleich zur allgemeinen
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ÜBERSICHTSARTIKEL
291
Bevölkerung weisen Adipositas­Patienten eine erhöhte
zu leiden und ein metabolisches Syndrom zu ent­
Dr. med. Lucie Favre
Prävalenz von Selbstmordversuchen auf, die durch das
wickeln, wenn die Mutter adipös ist.
Cheffe de clinique CHUV
Unwohlsein und die Stigmatisierung erklärt werden
Die vom Fernsehen transportierten und in die Werbung
kann [31]. Auch nach bariatrischen Operationen bleibt
integrierten Botschaften sollten geändert und stärker
das Selbstmordrisiko höher als in der allgemeinen Be­
reglementiert werden, da sie erhebliche Auswirkungen
völkerung [32], betrifft aber vor allem Patienten, die
auf das Publikum haben [34]. Auch E­Health­Angebote
CH­1003 Lausanne
schon vor dem Eingriff unter psychiatrischen Störun­
könnten einen Beitrag zum Thema Prävention leisten,
lucie.favre[at]chuv.ch
gen litten. Vor den Operationen ist daher eine psycho­
etwa durch Apps, die Ratschläge bezüglich körperlicher
logische Beurteilung unverzichtbar. Auch in der post­
Aktivität beinhalten [35].
Korrespondenz:
Service d’endocrinologie,
diabétologie et métabolisme
Consultation de Prévention
et Traitement de l’Obésité
Rue St­Martin 3
operativen Phase muss den am meisten gefährdeten
Überdies sollten auch die Hausärzte mit ihren Patien­
Patienten eine sorgsame Unterstützung zukommen.
ten über die mit dem Gewicht verbundenen Probleme
sprechen. Manche Patienten haben eine falsche Vor­
stellung im Hinblick auf BMI und fühlen sich folglich
Prävention
nicht von diesem Problem betroffen [36, 37]. Diese Be­
Um Adipositas am besten vorzubeugen und die Ent­
obachtungen sind die Folge einer tendenziellen Nor­
wicklung metabolischer Komplikationen, insbeson­
malisierung von Übergewicht in unserer Gesellschaft,
dere Typ­2­Diabetes, zu bekämpfen, sollte bereits im
weshalb die Patienten zunehmend glauben, dass die
sehr jungen Alter gehandelt werden; die pädiatrische
medizinischen Bedenken hinsichtlich Adipositas für
Bevölkerungsgruppe muss daher im Mittelpunkt der
sie nicht gelten.
Präventionsarbeit stehen. Die Ernährungserziehung
Auf politischer Ebene könnten Initiativen, die darauf
sollte nicht nur den Eltern obliegen, auch das Gemein­
abzielen, die Nahrungsmittelindustrie und den Gross­
wesen, vor allem die Schulkantinen, spielen eine zen­
handel zur Beschränkung der Herstellung und des Ver­
trale Rolle, um eine angemessene, ausgeglichene Er­
triebs bestimmter, vor allem fett­ und zuckerreicher
nährung zu gewährleisten. Ebenso müssen schon die
Produkte zu zwingen, zur Eindämmung dieser Epi­
jungen Altersgruppen zu körperlicher Aktivität moti­
demie beitragen [38]. Ebenso wichtig ist, dass vermehrt
viert und von einer bewegungsarmen Lebensweise
Kosten von Angeboten für Adipositaspatienten über­
möglichst abgehalten werden [33].
nommen werden und der Zugang zu körperlicher Akti­
Besonderes Augenmerk muss auf die Überwachung
vität, die ihrem Zustand angepasst ist und von Fach­
des Gewichts gebärfähiger und schwangerer Frauen
kräften überwacht wird, für sie erleichtert wird. Zudem
gelegt werden. Für das Kind besteht nämlich ein deut­
müssen mehr auf Adipositas spezialisierte Fachkräfte –
lich höheres Risiko, später unter Gewichtsproblemen
Ärzte, Psychologen, Ernährungswissenschafter und
Pflegefachkräfte – ausgebildet werden.
Disclosure statement
Das Wichtigste für die Praxis
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbin­
dungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
• In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Adipositas-Patienten
verdoppelt.
• Die Auslöser der Gewichtszunahme müssen identifiziert und eine sekundäre Adipositas ausgeschlossen werden. Die Früherkennung metabolischer Auswirkungen ist unverzichtbar.
• Sowohl bei konservativer als auch chirurgischer Therapie ist eine Behandlung der zugrundeliegenden Essstörung erforderlich.
• In der Schweiz ist derzeit nur Orlistat zur Behandlung von Adipositas
zugelassen. Die GLP-1-Analoga sind für diese Indikation noch nicht zugelassen, könnten künftig aber eine interessante Alternative sein.
• Ein Magenbypass führt zu einer deutlichen Gewichtsabnahme und verbessert das metabolische Profil der Patienten. Bei diesem Eingriff ist
eine regelmässige Ernährungsüberwachung nötig.
• Das Augenmerk sollte sich schon im sehr jungen Alter auf die Prävention richten.
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2016;16(12–13):286 –291
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Vollständige Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang
des Online­Artikels unter www.medicalforum.ch.
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ÜBERSICHTSARTIKEL
292
Fallbericht einer ungewöhnlichen Elektrolytentgleisung und eine Literaturübersicht
Neuroendokrine Tumoren der Lunge
Dirk Kleindienst a , Gabriel Plitzko a , Christina Wieland b , Diana Born c , Markus Röthlin a
a
b
c
Chirurgische Klinik, Kantonsspital Münsterlingen
Medizinische Klinik, Kantonsspital Münsterlingen
Institut für Pathologie, Kantonsspital St. Gallen
Neuroendokrine Tumoren der Lunge sind eine heterogene Gruppe von Tumoren,
die vom low-grade-Karzinoid bis zum high-grade-kleinzelligen Bronchialkarzinom
reicht. Die vorliegende Übersichtsarbeit stellt die Epidemiologie, Diagnostik,
Behandlung und Prognose der einzelnen Tumorentitäten sowie deren histopathologischen Merkmale vor dem Hintergrund der 2015 aktualisierten WHO-Klassifikation dar.
Epidemiologie
Ungefähr 20–30% aller neuroendokrinen Tumoren
(NET) finden sich in der Lunge, die nach dem Gastrointestinaltrakt die zweithäufigste Lokalisation der NET
ist [1–3]. NET machen insgesamt 20–25% der invasiven
pulmonalen Neoplasien aus [4–6].
Die WHO-Klassifikation von 2015 unterscheidet zwischen den low- bis intermediate-grade-Karzinoid-Tumoren, die in ein typisches Karzinoid (TC, low-grade)
und ein atypisches Karzinoid (AC, intermediate-grade)
unterteilt werden, sowie den high-grade-Tumoren, zu
denen das kleinzellige Bronchialkarzinom (SCLC) und
das grosszellige neuroendokrine Karzinom (LCNEC)
zählen (Tab. 1) [7].
Die häufigste Entität stellt mit 15–20% das SCLC dar.
Deutlich seltener treten das LCNEC (1,6–3%), das TC
(1–2%) sowie das AC (0,1–0,2%) auf [1, 4–6, 8]. Der Altersgipfel bei Diagnosestellung liegt zwischen der 4. und
6. Dekade, wobei TC und AC häufiger bei Frauen auftreten, während Männer häufiger von SCLC und LCNEC
betroffen zu sein scheinen [7–15].
In über 90% der Fälle treten NET sporadisch auf. Nur in
seltenen Fällen liegt eine genetische Ursache wie ein
MEN1-Syndrom zugrunde [1]. Während Rauchen als
Dirk Kleindienst
Klassifikation und Histopathologie
Risikofaktor für das LCNEC und das SCLC eine grosse
Die kürzlich aktualisierte WHO-Klassifikation von
Rolle spielt, scheint dies auf die Genese der Karzinoid-
2015 unterscheidet low- bzw. intermediate-grade-Karzi-
Tumoren keinen Einfluss zu haben [1, 8, 12, 16].
noid-Tumoren (TC und AC) und high-grade-neuroendo-
Die Ursprungszelle neuroendokriner Tumoren der
krine Tumoren. Die Karzinoid-Tumoren können, wenn
Lunge ist bislang nicht eindeutig geklärt. Man vermutet
auch selten, aus einer DIPNECH hervorgehen. Die
bei SCLC und LCNEC eine pluripotente epitheliale Zelle
Gruppe der high-grade-neuroendokrinen Tumoren der
mit neuroendokrinem Differenzierungspotential [17,
Lunge beinhaltet das kleinzellige neuroendokrine
18]. Bei den Karzinoid-Tumoren ist die Ursprungszelle
Karzinom (SCLC) und das grosszellige neuroendokrine
unbekannt. Selten wird eine diffuse idiopathische pul-
Karzinom (LCNEC). Bei diesen beiden meist aggressiven
monale neuroendokrine Zellhyperplasie (DIPNECH) als
Tumorentitäten ist eine Assoziation mit einer DIPNECH
Vorläuferläsion beschrieben [4, 6].
nicht bekannt [4, 6, 20].
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(12–13):292–298
ÜBERSICHTSARTIKEL
293
Tabelle 1: Charakteristika pulmonaler neuroendokriner Tumoren.
TC
AC
LCNC
SCLC
Mitosen pro mm2
0–1
2–10
>10
>10
Nekrosen
nein
selten, punkförmig
ja
ja
Ki-67-Proliferationsindex
bis 5%
bis 20%
40–80%
50–100%
Synaptophysin/Chromogranin
positiv
positiv
80–90% positiv
80–90% positiv
CD56
positiv
positiv
80–90% positiv
80–90% positiv
TTF-1-Expression
meist negativ
meist negativ
50% positiv
80% positiv
TC = typisches Karzinoid; AC = atypisches Karzinoid; LCNC = Large cell neuroendocrine carcinoma; SCLC = Small cell lung carcinoma.
Allen Gruppen gemein ist die immunhistochemische
Expression der neuroendokrinen Marker Synaptophysin, Chromogranin A und CD56. Zusätzlich weisen
diese Tumoren eine variable Expression für TTF-1 auf.
Zur Unterscheidung zwischen einem Karzinoid-Tumor
und einem high-grade-NET ist neben der Histomorphologie die immunhistochemische Bestimmung des Proliferationsindexes mittels Ki-67 erforderlich (Tab. 1).
Karzinoid-Tumoren weisen in der Regel eine geringe
Proliferationsrate (bis max. 20% beim AC) auf, während die high-grade-NET eine starke Proliferationsneigung zeigen. Auch sind Mitosen und Nekrosen in
grösserer Zahl vorhanden [4, 6, 7, 19].
Histomorphologisch sind TC und AC meist von einer
dünnen Kapsel begrenzt und zeigen ein organoides
oder trabekuläres Wachstum. Seltenere Wachstumsformen wie Rosettenbildung, papilläre, follikuläre oder
pseudoglanduläre Architektur können ebenfalls beobachtet werden. Ein TC darf per definitionem eine
Mitose auf 2 mm2 und eine Proliferationsrate von nicht
mehr als 5% zeigen. Finden sich bis zu 10 Mitosen pro
2 mm2, eine gesteigerte proliferative Aktivität bis 20%
und/oder kleine herdförmige Nekrosen, klassifiziert
dies für ein AC [4, 6, 7].
Beim SCLC findet sich eine diffuse Ausbreitung. Wachstumsmuster wie bei den Karzinoiden finden sich selten. Allerdings kann ein Karzinoid mikroskopisch
einem SCLC ähneln, so dass die Bestimmung des Proliferationsindexes eine entscheidende Rolle spielt. Dieser beträgt beim SCLC mindestens >50%, zudem finden
sich zahlreiche, teilweise grossflächige Nekrosen.
Fallbeschreibung
Eine 70-jährige Patientin stellte sich nach der Rückkehr von
den Kanarischen Inseln wegen eines nicht-juckenden generalisierten Exanthems am Körperstamm auf der Notfallstation
vor. Zudem beklagte sie eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit,
einhergehend mit einer Antriebs- und Kraftlosigkeit, zunehmenden symmetrischen Ödemen an beiden Unterschenkeln,
einem aufgetriebenen Gesicht sowie Schluckstörungen. Anamnestisch bestanden keine Episoden von Dyspnoe, thorakalen
Beschwerden oder Palpitationen, ebenso wenig wie Fieber,
Schüttelfrost oder Nachtschweiss. Die gastroenterologische
Anamnese zeigte keine Auffälligkeiten.
Klinisch präsentierte sich die Patientin in deutlich reduziertem
Allgemeinzustand mit einem sehr dunklen Hautkolorit, trockenem Hautturgor und ausgeprägten, symmetrischen Unterschenkelödemen. Auffällig war ein starker enoraler Soor,
ansons ten waren keine relevanten klinischen Befunde zu erheben.
Laborchemisch bestand eine Dyselektrolytämie mit einer
Hypokaliämie, einer Hypokalziämie und einer metabolischen
Alkalose. Zudem fiel eine Entgleisung des bislang gut kontrollierten Typ-2-Diabetes auf (Tab. 2). Das Röntgenbild des Thorax (Abb. 1A) zeigte eine rundliche Verschattung in Projektion
auf den Mittellappen. Die CT erbrachte als Korrelat einen solitären Rundherd ohne Verkalkungen oder Nekrosen (Abb. 1B).
Hinweise auf eine lymphatische, hepatische oder ossäre Metastasierung fanden sich nicht. Im Rahmen des Stagings wurde
eine FDG-PET/CT (Fluorodeoxyglukose-Positronen-EmissionsTomographie/Computertomographie) durchgeführt, in der
sich ein mässig gesteigerter Uptake im Bereich der bekannten
1,9 × 3,2 cm messenden Raumforderung des Mittellappens
(Abb. 2A) sowie ein intensiver Uptake beider Nebennieren
(Abb. 2B) zeigte.
In den weiteren laborchemischen Analysen fand sich eine
deutlich erhöhte Kortisolkonzentration mit gleichzeitig stark
erhöhter ACTH(adrenokortikotropes Hormon)-Serumkonzen-
Die dritte Gruppe der neuroendokrinen Tumoren der
Lunge beinhaltet das LCNEC, bei dem sich ebenfalls
Tabelle 2: Laborwerte der 70-jährigen Patientin.
grossflächige Nekrosen und meist eine Invasion der
Pleura oder der Brustwand zeigen [4, 6, 7, 21]. Hinzu
Messwert
Referenz
Kalium
2,3 mmol/l
3,4–5,0 mmol/l
kommen mehr als 30 Mitosen auf 2 mm2 und eine er-
Kalzium
1,84 mmol/l
2,1–2,6 mmol/l
höhte proliferative Aktivität zwischen 40 und 80%.
pH
7,58
7,35–7,45
Äusserst selten kann ein LCNEC mikroskopisch einem
Glukose
19,5 mmol/l
3,5–5,5 mmol/l
Karzinoid ähneln, so dass für die Unterscheidung auch
HbA1c
9,1%
hier die Bestimmung der Mitosen und des Prolifera-
Kortisol im Serum 3669 nmol/l
80–690 nmol/l
ACTH
<46 ng/l
tionsindexes unabdingbar ist [7].
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769 ng/l
–6%
ÜBERSICHTSARTIKEL
294
A
B
Abbildung 1: Konventionell-radiologisches Röntgen (A) und CT-Thorax (B) der 70-jährigen Patientin.
Es besteht eine 1,9 × 3 cm messende Raumforderung im rechten Mittellappen.
A
B
Abbildung 2: FDG-PET/CT des Thorax und Abdomens.
Mässig gesteigerter Uptake im Bereich der Raumforderung des rechten Mittellappens (A), intensiver Uptake beider Nebennieren (B).
tration (Tab. 2). Im Rahmen eines Dexamethason-Hemmtests
war die Kortisolsynthese nicht supprimierbar.
Die transbronchiale Biopsie der Raumforderung ergab eine
solide, neuroendokrin differenzierte Neoplasie mit gering vergrös serten Zellkernen und fokalen Crush-Artefakten. Immunhistochemisch zeigte sich eine Positivität für den neuroendokrinen Marker Synaptophysin und punktförmig («dot-like») für
den panepithelialen Marker Lu5. In Anbetracht dieses histopathologischen Resultates und vor dem Hintergrund des nuklearmedizinischen Befundes wurde zunächst von einem adrenal
metastasierten kleinzelligen Lungenkarzinom (SCLC) ausgegangen. Diskrepant zu dieser Beurteilung war die geringe
FDG-Aufnahme des Primärtumors im PET-CT im Vergleich zu
den symmetrisch massiv Stoffwechsel-aktiven Nebennieren.
Bei der nachträglichen immunhistochemischen Untersuchung
zur Bestimmung der Proliferationsrate mit Ki-67 lag diese
dann auch bei weniger als 2%. Aufgrund dieser niedrigen, gegen ein SCLC sprechenden Proliferationsrate und unter Berücksichtigung der laborchemischen Resultate wurde letztendlich die Diagnose eines Karzinoid-Tumors der Lunge mit
paraneoplastischer ACTH-Sekretion und massiver NNR-Stimulation postuliert. Dementsprechend wurde bei fehlendem
Anhaltspunkt für eine Metastasierung und einer regelgerechten Lungenfunktion die Indikation zur Mittellappen-Lobekto-
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2016;16(12–13):292–298
mie gestellt. Die Operation konnte unter perioperativer Hydrokortison-Substitution ohne Komplikationen durchgeführt
werden.
Die histopathologische Aufarbeitung bestätigte die am Biopsiematerial gestellte Diagnose eines typischen Karzinoids mit
immunhistochemischer Positivität für ACTH (ca. 30% der Tumorzellen). TNM (UICC 2009): pT1a pN0 (0/2) L0 V0 Pn0 R0; Stadium
IA (Abb. 3).
Die Patientin erholte sich gut vom durchgeführten Eingriff. Im
postoperativen Verlauf stellte sich unter passagerer Substitution eine Normalisierung des Serum-Kaliums ein, auch glich
sich die metabolische Alkalose spontan aus. Eine Verlaufskontrolle des ACTH war aufgrund des, am ehesten kardial bedingten, unerwarteten Todes der Patientin kurz nach Spitalaustritt nicht mehr möglich.
Klinik
Die klinische Symptomatik der pulmonalen NET hängt
von der Tumorlokalisation ab. In ca. 75% der Fälle sind
Karzinoide, in ca. 95% das SCLC zentral lokalisiert. Die
betroffenen Patienten präsentieren sich mit Husten,
ÜBERSICHTSARTIKEL
295
A
B
C
D
Abbildung 3: Mikroskopische Ausschnitte aus dem Operationspräparat.
A: Übersicht aus den peripheren Randabschnitten des Tumors am Übergang zum umgebenden Lungenparenchym. Zu erkennen
ist eine feine fibröse Kapsel, die den Tumor begrenzt. An einer Stelle findet sich jedoch ein kleiner Durchbruch der Kapsel
(Pfeil). B: Detailaufnahme, welche das trabekuläre Wachstum darstellt. C: Geringe proliferative Aktivität (Ki-67) mit einem
positiven Zellkern (Pfeil). D: Deutliche Positivität des Tumors für Synaptophysin.
Thoraxschmerz, Hämoptysen, rezidivierenden Pneu-
einer muskulären Schwäche [25–28]. Darüber hinaus
monien oder einem Stridor [1, 6, 7, 19, 22, 23]. Das LCNEC
kann eine ektope Serotoninsekretion zu einem mit
ist hingegen in 80–85% der Fälle peripher gelegen und
Flush, Tachykardie, Hypertension, Bronchospasmus
führt daher deutlich seltener zu den vorgängig
und Diarrhoe einhergehenden Karzinoid-Syndrom füh-
beschriebenen Symptomen, sondern eher zu unspe-
ren. Weitere paraneoplastische Syndrome können eine
zifischen grippeähnlichen Beschwerden oder Nacht-
durch ektope GnRH-Sekretion verursachte Akromegalie
schweiss [7, 10, 11].
sein oder das vor allem beim SCLC auftretende Syndrom
Zusätzliche Symptome können durch eine ektope Hor-
der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH). Letzteres äus-
monsekretion bedingt sein. Paraneoplastische Syn-
sert sich mit einer euvolämen Hyponatriämie und ver-
drome treten am häufigsten beim SCLC auf. Bei Karzi-
minderten Serumosmolarität bis hin zu neurologischen
noiden sind sie mit 1–3% deutlich seltener, auch im
Symptomen wie Krampfanfällen oder komatösen Be-
Vergleich zu gastrointestinalen NET. Eine ektope Hor-
wusstseinszuständen [1, 6, 23, 25, 29].
monsekretion ist im Zusammenhang mit dem LCNEC
ungewöhnlich [10, 11, 22–24]. Trotz des insgesamt seltenen Auftretens stellen pulmonale NET die häufigste Ur-
Diagnostik
sache für eine ektope ACTH-Sekretion dar. Das daraus
Der Goldstandard in der Diagnostik pulmonaler NET
resultierende Cushing-Syndrom manifestiert sich unter
ist die Kontrastmittel-gestützte CT. Zur Gewinnung von
anderem mit einer Hypokaliämie, metabolischen Alka-
histopathologischem Untersuchungsmaterial kann die
lose, diabetischen Stoffwechsellage, Ödemneigung oder
Biopsie bei zentral gelegenen Tumoren transbronchial
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2016;16(12–13):292–298
ÜBERSICHTSARTIKEL
296
und bei peripheren Tumoren transthorakal erfolgen.
von GnRH (gonadotropin-releasing hormone) bzw. von
Als Ganzkörperuntersuchungsverfahren bietet sich
IGF1 (insulin-like growth factor 1) [23, 26, 30, 31, 33].
FDG und
Zur Komplettierung der Diagnostik und Evaluation des
DOTATATE verwendet werden [23, 24, 30, 31]. Dabei
perioperativen Risikos sollte neben einer Lungenfunk-
scheint die Tracer-Affinität und damit die Sensitivität
tionsprüfung auch eine Echokardiographie durchge-
zum Staging eine PET an, in der als Tracer
68Ga
18F
von 68GaDOTATATE von low-grade- zu high-grade-Tumo-
führt werden [31, 33].
ren abzunehmen, während es sich für 18FFDG entgegen-
Das Staging und die Stadieneinteilung erfolgen nach
gesetzt verhält [30, 32].
der UICC-TNM-Klassifikation (Tab. 3, 4) [4, 6, 7, 24, 30, 31].
Als biochemische Marker wird die Bestimmung von
Chromogranin A und NSE (neuronenspezifische Enolase)
im Serum empfohlen. Bei Verdacht auf ein Cushing-
Therapie
Syndrom sollten die Kortisolkonzentration im Serum
Die Therapie der Wahl beim TC und AC im Stadium I
und 24-Stunden-Urin sowie die Serum-ACTH-Konzen-
und II ist die chirurgische Resektion unter maximaler
tration bestimmt und ein Dexamethason-Hemmtest
Erhaltung von Lungenparenchym. Bei peripherer Lage
durchgeführt werden. Der Nachweis eines Karzinoid-
der Tumoren sollte eine Segmentektomie oder Lobek-
Syndroms kann mit der Konzentration von 5-Hydroxy-
tomie mit einer regionären Lymphadenektomie erfol-
indolessigsäure im 24-Stunden-Urin erfolgen, bei einer
gen. Bei zentralen Tumoren ist das Operationsver fah-
Akromegalie durch eine erhöhte Serumkonzentration
ren der Wahl die ebenfalls mit einer regionären
Tabelle 3: TNM-Klassifikation der pulmonalen NET [7].
T – Primärtumor
TX
Tumor kann nicht erfasst werden oder Nachweis von malignen Zellen im Bronchialsekret ohne radiologische
Darstellung eines Tumors oder in der Bronchoskopie
T0
Kein Anhalt für einen Primärtumor
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor ≤3 cm im Durchmesser, von Lungenparenchym oder viszeraler Pleura umgeben, ohne brochoskopischen
Nachweis einer Invasion proximal eines Lobärbronchus
T1a
Tumor ≤2 cm im Durchmesser
T1b
Tumor >2 und ≤3 cm im Durchmesser
T2
Tumor >3 und ≤7 cm im Durchmesser
oder Befall eines Hauptbronchus mit einem Abstand ≥2 cm zur Carina
oder Infiltration der viszeralen Pleura
oder Vorliegen einer Atelektase
T2a
Tumor >3 und ≤5 cm im Durchmesser
T2b
Tumor >5 und ≤7 cm im Durchmesser
T3
Tumor >7 cm im Durchmesser oder Infiltration von Brustwand, Diaphragma, N. phrenicus, mediastinaler Pleura,
parietalem Perikard
oder Befall eines Hauptbronchus mit einem Abstand <2 cm zur Carina (ohne Befall der Carina)
oder Metastase im gleichen Lungenlappen
T4
Tumor jeder Grösse, der Mediastinum, Herz, grosse Gefässe, Trachea, Carina, N. laryngeus recurrens, Ösophagus,
Wirbelkörper infiltriert
oder Metastasen in anderen ipsilateralen Lungenlappen
N – Regionale Lymphknoten
NX
Regionale Lymphknoten können nicht erfasst werden
N0
Keine Metastasen in regionalen Lymphknoten
N1
Metastasen in ipsilateralen peribronchialen, hiliären, intrapulmonalen Lymphknoten
N2
Metastasen in ipsilateralen mediastinalen oder subcarinalen Lymphknoten
N3
Metastasen in kontralateralen mediastinalen oder kontralateralen, hiliären Lymphknoten
oder Metastasen in ipsi- oder kontralateralen Skalenus- oder supraklavikulären Lymphknoten
M – Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen vorhanden
M1a
Separater Tumor in einem kontralateralen Lungenlappen, Tumor mit malignem Pleura-/Perikarderguss
M1b Fernmetastasen
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ÜBERSICHTSARTIKEL
297
tion von Fernmetastasen kann sinnvoll sein, wenn der
Tabelle 4: Stadien-Einteilung der pulmonalen NET [7].
Primärtumor einer kurativen chirurgischen Resektion
zugänglich ist oder eine Kontrolle mechanisch oder
Stadium
Okkultes Karzinom
TX
N0
M0
hormonell bedingter Symptome anderweitig nicht
0
Tis
N0
M0
IA
T1a
N0
M0
T1b
N0
M0
IB
T2a
N0
M0
IIA
T1a
N1
M0
T1b
N1
M0
T2a
N1
M0
T2b
N0
M0
T2b
N1
M0
T3
N0
M0
gänglich ist. Bei operablen Patienten (Stadium I und II)
erscheint eine ausgedehntere Resektion im Sinne einer
IIB
IIIA
IIIB
IV
möglich ist. Bei irresektablen Metastasen können lokal
ablative Verfahren wie eine Radiofrequenzablation
oder eine transarterielle (Chemo-)Embolisation angewendet werden [30, 31, 33].
Beim LCNEC bestehen zum Zeitpunkt der Diagnose
in 60–80% der Fälle Lymphknotenmetastasen und in
40% bereits Fernmetastasen [10], weshalb ein Grossteil
der Patienten nicht für eine chirurgische Therapie zu-
T1
N2
M0
T2
N2
M0
T3
N1
M0
T3
N2
M0
T4
N0
M0
Therapieempfehlungen, insbesondere nicht für eine
T4
N1
M0
neoadjuvante oder adjuvante Therapie. Einige retro-
T4
N2
M0
spektive Studien zeigen jedoch eine Verbesserung der
Lobektomie oder Pneumonektomie mit einem längeren
Überleben assoziiert zu sein. Aufgrund der geringen
Inzidenz des LCNEC und der somit eingeschränkten
Studienlage existieren allerdings keine allgemeinen
Jedes T
N3
M0
Prognose durch eine adjuvante Chemotherapie. In fort-
Jedes T
Jedes N
M1a
geschrittenen Erkrankungsstadien scheinen die beim
Jedes T
Jedes N
M1b
SCLC angewandten chemotherapeutischen Regime
eine effektive Therapie zu sein [10, 11, 24].
Nur ungefähr 5% aller Patienten mit einem SCLC weisen bei Diagnosestellung ein Stadium auf, das für eine
Lymphadenektomie einhergehende Manschettenre-
Tumorresektion qualifiziert (T1–2, N0–1, M0) [34, 35].
sektion [24, 30, 31, 33]. Ein Konsens für eine adjuvante
In diesen Fällen wird nach erfolgter Resektion eine
Therapie besteht derzeit nicht, jedoch ist insbesondere
adjuvante Chemotherapie und bei nodaler Positivität
bei hochproliferativen nodal-positiven AC eine adjuvante Behandlung in Betracht zu ziehen [31]. Die
Evidenz für die Behandlung von Karzinoiden in
den fortgeschrittenen Stadien III und IV ist gering,
Aufgrund der geringen Inzidenz des LCNEC und
der somit eingeschränkten Studienlage existieren keine allgemeinen Therapieempfehlungen.
weshalb diese in einem interdisziplinären Setting
an einem Zentrum erfolgen sollte. Für asymptomatische Patienten mit geringem Proliferationsindex des
Tumors scheint eine beobachtende Behandlungsstrategie mit engmaschiger Bildgebung alle 3–6 Monate
möglich. Bei symptomatischen Patienten mit hormonaktiven Karzinoiden können durch SomatostatinRezeptor-Analoga (Octreotid, Lanreotid) in bis zu 10%
eine Remission und in 30–50% eine Stabilisierung der
Krankheit erreicht werden. Eine Kontrolle der durch
zudem eine Radiotherapie empfohlen [34]. In allen
anderen, nicht metastasierten Stadien (T1–4, N0–3,
M0) sollte eine Platin-basierte kombinierte Radiochemotherapie erfolgen. Bestehen Fernmetastasen
(Stadium IV), ist eine alleinige, palliative Chemotherapie angezeigt. Eine prophylaktische Schädelbestrahlung wird für alle Stadien empfohlen [34, 35].
Prognose
eine Hormonsekretion bedingten Symptome ist in 30–
60% der Fälle möglich [23, 30, 31]. Bei einer Tumor-
Die Prognose der pulmonalen NET hängt massgeblich
progression kann eine systemische Chemotherapie
vom histologischen Subtyp und dem Stadium der
erwogen werden. Für die verschiedenen bisher ange-
Erkrankung bei Diagnosestellung ab. Das TC hat mit
wandten Therapieregime sind die Ergebnisse mit einer
einer 5-Jahres-Überlebensrate von 87–92% die günstigste
Ansprechrate von unter 30% allerdings enttäuschend
Prognose. Die 5-Jahres-Überlebensrate sinkt beim AC
[30, 31, 33]. Weitere therapeutische Optionen sind
auf 44–78% und beim LCNEC auf 15–57%. Die ungüns-
Somatostatin-Rezeptor-Analoga und eine Peptid-Re-
tigste Prognose weist mit 2–5% das SCLC auf [1, 4–6, 10,
zeptor-Radionukleotid-Therapie [23, 30, 31]. Die Resek-
30].
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2016;16(12–13):292–298
ÜBERSICHTSARTIKEL
298
Das Wichtigste für die Praxis
• Neuroendokrine Tumoren (NET) der Lunge machen ungefähr 20–25%
der pulmonalen Tumoren aus. Die häufigste Entität ist das kleinzellige
Bronchuskarzinom (SCLC); das grosszellige neuroendokrine Karzinom
(LCNEC) und die Karzinoide treten deutlich seltener auf.
• Neben der CT sind nuklearmedizinische Untersuchungsverfahren
(18FFDG-PET / 68GaDOTATATE-PET) diagnostisch wegweisend. Zudem
sollte eine Gewinnung von histologischem Untersuchungsmaterial erfolgen.
• Histologisch kann es schwierig sein, zwischen SCLC und Karzinoid-Tumoren zu unterscheiden. Daher ist eine immunhistochemische Bestimmung
der Proliferationsrate obligat.
• Weitere diagnostische Schwierigkeiten können durch das zusätzliche
Auftreten paraneoplastischer Syndrome bedingt sein.
• Der einzige kurative Therapieansatz für alle Entitäten der pulmonalen
NET ist die chirurgische Resektion des Tumors.
• Für die Behandlung fortgeschrittener Tumoren existieren beim SCLC
standardisierte Therapieprotokolle. Für die Karzinoide (typisches Karzinoid, TC und atypisches Karzinoid, AC) sowie für das LCNEC sind derartige Therapieprotokolle derzeit nicht vorhanden.
• Patienten mit einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium sollten mit
einem multimodalen Therapiekonzept an einem Zentrum behandelt
werden.
• Den grössten Einfluss auf die Prognose haben die Entität des Tumors
und das Tumorstadium bei Diagnosestellung.
Verdankung
Wie bedanken uns bei Prof. Dr. med. K.-U. Wentz für die radiologischen und bei Prof. Dr. med. A. Fleischmann für die histologischen
Abbildungen.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Titelbild
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Korrespondenz:
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Spitalcampus 1
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WAS IST IHRE DIAGNOSE?
299
Klinische Überlegungen
Ein nicht trivialer grippaler Infekt
bei einem 37-jährigen Patienten
Sabine Giroud a , Anne-Sophie Brunel b , Alban Lovis c , Julien Castioni a
a
Service de médecine interne, Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne; b Service des maladies infectieuses, Centre hospitalier universitaire
vaudois CHUV, Lausanne; c Service de pneumologie, Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne
Fallbeschreibung
Der 37-jährige Patient sucht die Notfallstation wegen
eines vor allem tagsüber auftretenden unproduktiven
Hustens, subfebriler Temperaturen, Myalgien seit einer Woche und basal thorakal links lokalisierter, atem-
1. Welche Massnahme erachten Sie zu diesem Zeitpunkt
als am aussagekräftigsten?
a)
b)
c)
d)
Ein Thorax-CT ohne Kontrastmittel
Ein Angio-CT des Thorax
Eine transthorakale Echokardiographie
Eine empirische orale Antibiotikatherapie
abhängiger Schmerzen auf. Er befindet sich in einem
Ein natives Thorax-CT erlaubt eine präzisere Lokalisa-
guten Allgemeinzustand, ist normokard und afebril.
tion der Läsion und die Differenzierung zwischen einer
Bei der Untersuchung fallen eine Paradontose sowie
parenchymatösen und einer pleuralen Pathologie, ist
ein holosystolisches Herzgeräusch über dem Aorten-
aber nicht direkt notwendig, zeigt doch das Thorax-
areal auf. Das Homans- und das Meyer-Zeichen sind
Röntgen eine wanddichte Verschattung und eine dis-
links negativ, rechts grenzwertig. Bei der Lungenaus-
krete Spiegelbildung, verdächtig für einen Abszess im
kultation wird eine Abschwächung des Atemgeräuschs
linken unteren Lungenlappen.
links basal festgestellt. Die Labor untersuchungen zei-
Ein Thorax-CT mit Frage nach Lungenembolie erübrigt
gen mit einer Leukozytose von 21 G/l und einer Erhöhung
sich, nachdem aufgrund des Röntgenbilds eine alterna-
der D-Dimere auf 3500 ng/ml eine Entzündung. Das Re-
tive Diagnose (Abszess) viel wahrscheinlicher ist und
sultat des Thorax-Röntgenbilds zeigt Abbildung 1.
im Röntgenbild keine Hinweise auf eine Lungenembolie,
wie das Hampton-Zeichen (trianguläre Pleuraläsion als
Ausdruck eines Lungeninfarkts) oder das WestermarckZeichen (Hypertransparenz als Ausdruck einer regionalen Minderdurchblutung), ersichtlich sind. Die Erhöhung der D-Dimere kann dem Entzündungszustand
zugeschrieben werden.
Von einer notfallmässigen Echokardiographie wird abgesehen, weil eine Rechtsherz-Endokarditis mit einzelner septischer Embolisierung in die Lungen unwahrscheinlich ist.
Bei einem Lungenabszess werden eine empirische
orale Antiobiose mit Clindamycin und eine ambulante
Nachkontrolle 72 Stunden nach Therapiebeginn empfohlen. Unserem Patienten geht es nach 72 Stunden
Clindamycin per os nicht besser, so dass er hospitalisiert wird. Die Antibiotikatherapie wird nach Abnahme
von Blut- und Sputumkulturen um Ceftriaxon und Metronidazol erweitert. Die Kulturen bleiben steril. Dem
Patienten geht es aber nach 7 Tagen nicht besser, so
dass nun doch ein Thorax-CT (Abb. 2) angefertigt wird.
2. Welche Massnahme ist jetzt am zuverlässigsten zur
Sicherung der mikrobiologischen Diagnose?
a)
b)
c)
d)
Abbildung 1: Konventionelles Thorax-Röntgenbild (p.a., stehend).
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Wiederholung der Sputumkultur
Kultur der bronchoalveolären Lavage (Bronchoskopie)
Suche nach säureresistenten Bakterien im Sputum
Perkutane Biopsie des Abszesses und bakteriologische Kultur
des Eiters
WAS IST IHRE DIAGNOSE?
300
tienten zutrifft. Die Eiterkultur zeigt eine gemischte
anaerobe Flora mit Streptococcus milleri. Der Verlauf ist
nach der Abszessdrainage günstig, die Thoraxschmerzen
klingen ab und die Entlassung nach Hause wird geplant.
3. Welche Antibiotikatherapie schlagen Sie nun vor?
a) Clindamycin per os für total 6 Wochen
b) Ceftriaxon i.v. 2 Wochen stationär, anschliessend Moxifloxacin per os für 4 Wochen
c) Ceftriaxon i.v. ambulant über 4 Wochen, anschliessend
Metronidazol per os während 2 Wochen
d) Amoxicillin-Clavulansäure i.v. ambulant während 6 Wochen
Die empirische Behandlung eines Lungenabszesses beruht vor allem auf Clindamycin, das sich dem Penicillin G in zwei prospektiven Studien als überlegen erwiesen hat. Tatsächlich produzieren mehrere Anaerobier
Abbildung 2: Thorax-CT nativ. Verdichtung von 5 × 7 cm im linken Unterlappen
mit peripherem Milchglasaspekt und mehreren Luft-Flüssigkeits-Spiegeln im Zentrum
der Läsion.
der Mundflora (Prevotella, Fusobacterium und Bacteroides non fragilis) eine Penicillinase. Moxifloxacin hat
sich zwar bei der Behandlung von Lungenabszessen als
wirksam erwiesen, gilt aber nicht als erste Wahl, weil
In Sputum- oder Kulturen der bronchoalveolären Lavage
immer mehr Enterobakterien gegen Chinolone resis-
(BAL) ist es schwierig, anaerobe Keime der oropharyn-
tent sind. Metronidazol ist als Monotherapie wegen
gealen Flora zu isolieren, die hier in Anbetracht des
seiner Ineffizienz gegen Streptokokken weniger wirksam
hochgradigen klinischen und radiologischen Verdachts
als Clindamycin, kann aber mit Penicillin kombiniert
auf einen Lungenabszess vermutet werden müssen.
werden. Die Kombination Amoxicillin-Clavulansäure
Ausserdem sind diese Probenahmen oft durch die
ist eine hervorragende Alternative zu Clindamycin
Mundflora kontaminiert. Die Zytologie des Sputums
und zeichnet sich durch eine gute pulmonale Penetra-
hat eine Sensitivität von lediglich 30–50%, um eine
tion aus. Eine initiale orale Verabreichung erwies sich
peripheren Neoplasie aufzufinden. Die Bronchoskopie
einer parenteralen Induktion gefolgt von einer oralen
gilt nicht als Methode der Wahl für die mikrobiologi-
Therapie als gleichwertig. Es ist deshalb nicht sinnvoll,
sche Diagnostik. Nichtsdestotrotz muss in Anbetracht
parenteral weiter zu behandeln, wenn kein Resorptions-
der negativen Resultate der ersten Kulturen eine Bron-
problem vorliegt. Empirisch wird eine Therapiedauer
choskopie erwogen werden. Gewisse Richtlinien emp-
von 6–8 Wochen empfohlen mit einer abschliessenden
fehlen die Bronchoskopie in der Tat als Teil des Abklä-
radiologischen Kontrolle. Die Experten empfehlen
mikrobiologischen
eine Fortsetzung der Behandlung, bis der Abszess nicht
Diagnostik, sondern auch zur Erfassung einer zugrun-
mehr nachweisbar ist oder auf tiefem Niveau grössen-
deliegenden Neoplasie im Falle einer atypischen Prä-
stationär bleibt.
rungspfads,
nicht
nur
zur
sentation oder zum Ausschluss einer endobronchialen
Obstruktion.
Eine Lungentuberkulose ist in Anbetracht der Lokalisation der Läsion in den basalen Lungenabschnitten und
4. Welche Massnahme ist am wenigsten wirksam,
um einen Rückfall zu verhindern?
dass in den Direktpräparaten mit Auramin-Rhodamin-
a)
b)
c)
d)
e)
oder Ziehl-Neelsen-Färbung von zwei bis drei Sputen
Protonenpumpenhemmer erhöhen das Risiko einer
des klinischen und radiologischen Bildes weniger wahrscheinlich. Im Verdachtsfall sollte eine Aerosolisolation eingesetzt werden, bis die Bestätigung eintrifft,
Das Absetzen des Protonenpumpenhemmers
Die fachärztliche Behandlung der Paradontose
Die Pneumokokkenimpfung
Der Verzicht aufs Rauchen
Die Einschränkung des Alkoholkonsums
keine säureresistenten Bakterien nachgewiesen worden
Pneumonie und eines Lungenabszesses. Deshalb muss
sind.
ihre Indikation unbedingt überprüft werden.
Die perkutane Abszess-Punktion wird empfohlen, wenn
Die Paradontose ist, wie jede Form einer schlechten
eine über 7–14 Tage zuverlässig durchgeführte medika-
Mund- oder Kieferhygiene, mit Lungenabszessen asso-
mentöse Therapie versagt und der Abszess gross ist
ziiert, was mit der Präsenz ungewöhnlicher oder be-
(mehr als 6–8 cm Durchmesser), was auf unseren Pa-
sonders virulenter Keime erklärt wird.
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WAS IST IHRE DIAGNOSE?
301
Der Verzicht aufs Rauchen wird empfohlen, weil der
zen bedeuten eine Pleura-Mitbeteiligung. Obwohl ein
Tabakrauch die Flimmerzellen und ihre Abwehrfunk-
Lungenabszess häufig auf dem konventionellen Tho-
tion im Bronchialbaum beeinträchtigt.
rax-Röntgenbild erkennbar ist, gilt das Thorax-CT als
Der Alkoholabusus gilt als Risikofaktor für eine Aspira-
Methode der Wahl zur Unterscheidung des Lungenabs-
tionspneumonie, die nicht selten vor einem Lungenab-
zesses von anderen Differenzialdiagnosen, insbeson-
szess besteht. Die Pneumokokkenimpfung gilt nicht
dere dem Empyem (der Abszess bildet mit der Pleura
als Schutz vor einem Rezidiv eines Lungenabszesses
einen spitzen Winkel, das Empyem einen stumpfen
(Tab. 1). Weitere Risikofaktoren sind: Bewusstseinstr-
Winkel) oder dem exkavierten bronchopulmonalen
übung, Vollnarkose, Schluckstörung, Rauchen und
Karzinom (radiologisch dickere und unregelmässige
männliches Geschlecht.
Wände).
Tabelle 1: Risikofaktoren, die im Falle eines Lungenabszesses
gesucht und behandelt werden müssen.
Rauchstoppberatung und/oder Beratung durch Alkoholentzugs-Fachmann
Indikation des Protonenpumpen-Hemmers überprüfen
Zahnstatus zur Erfassung eines Infektfokus
Mikrobiologisch betrachtet sind beim Lungenabszess
häufig mehrere Keime oder eine Mischinfektion aus
Anaerobiern und Aerobiern der Mundhöhle nachweisbar. Die häufigsten Anaerobier sind Peptostreptococcus, Fusobacterium und Prevotella spp., die häufigsten
Aerobier sind Streptococcus milleri oder Streptococcus
pneumoniae, Staphylococcus aureus, Klebsiella pneumo-
Immunsuppression ausschliessen (HIV-Test)
niae, Pseudomonas aeruginosa und Escherichia coli.
Daneben können aber auch andere Bakterien wie
Diskussion
Nocardia spp. oder Rhodococcus spp. und Actinomyce-
Ein Lungenabszess ist eine eitrige, kavernöse, nekroti-
ten gefunden werden.
sche Läsion des Lungenparenchyms, der meist als
Die Abnahme von Blutkulturen ist empfehlenswert.
Komplikation einer Pneumonie auftritt, aber auch das
Sputumkulturen können hilfreich sein, sind aber nicht
Resultat einer Fremdkörperaspiration sein kann. Man
immer einfach zu interpretieren, weil sie häufig durch
unterscheidet primäre von aufgrund eines prädispo-
die Mundflora kontaminiert sind. Als diagnostischer
nierenden Faktors (Neoplasie, hämatogene Streuung)
Goldstandard gilt die Kultur der mittels perkutaner
sekundären Lungenabszessen.
oder transbronchialer Punktion gewonnenen Abszess-
Die klinischen Manifestationen von Lungenabszessen
flüssigkeit, ist aber bei gutem Ansprechen auf die em-
sind unspezifisch (Status febrilis oder subfebrilis, Hus-
pirische Antibiotikatherapie nicht notwendig. Im Falle
ten, Auswurf, Gewichtsverlust, Nachtschweiss) und der
einer atypischen Präsentation müssen die Differential-
Verlauf meist subakut, was dazu führt, dass der Patient
diagnose erweitert und eine Bronchoskopie durch-
den Arzt erst mit Verzögerung aufsucht. Thoraxschmer-
geführt werden, in erster Linie, um Mykobakterien,
Thorax-Röntgenbild stehend pa und lateral
(im Zweifelsfall Thorax-CT)
Verlauf 72 Std. nach empirischer oraler oder
parenteraler Antibiotikatherapie
Exkavierte Läsion mit
Spiegelbildung
Keine / wenig klinische
Verbesserung*
Deutliche klinische
Verbesserung
Andere Ursachen*
ausschliessen
Abzessdrainage?§
Ja, perkutan
Ja, endobronchial
Nein, gezielte Antibiotikatherapie während 6 Wochen
Abbildung 3: Verdacht auf Lungenabszess: Zusammenfassung der Massnahmen.
* Komplikation des Abszesses (Empyem usw.), bakterieller Infekt mit resistenten Keimen (Pseudomonas aeruginosa, Mykobakterien), unkontrollierte endovaskuläre Infektquelle (Rechtsherzendokarditis, septische Thrombophlebitis), suboptimale Antibiotikatherapie (Arzneimittelinteraktion, verminderte Resorption wegen gestörten Transits) oder Parasiten- oder Pilzinfekt.
Die perkutane oder transbronchiale Abszess-Drainage muss von Fall zu Fall diskutiert werden.
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WAS IST IHRE DIAGNOSE?
302
atypische Keime (Actinomyceten, Nocardia etc.), oppor-
Ausnahme geworden (weniger als 10% aller Fälle), hat
tunistische Keime (Aspergillus, Cryptococcus, Zygo-
aber ihren Stellenwert im Falle von Komplikationen
myzeten) oder eine darunterliegende Pathologie zu
wie Hämoptyse, einer bronchopleuralen Fistel, einem
entdecken (Neoplasie, Fremdkörper). Im Falle eines un-
Versagen der konventionellen Behandlunsgmassnah-
befriedigenden Verlaufs unter empirischer Antibioti-
men oder bei Verdacht auf eine ursächliche Neoplasie.
katherapie nach 7–14 Tagen muss eine Komplikation
Die Mortalität des Lungenabszesses konnte dank der
(Empyem etc.), eine Infektion mit einem resistenten
Antibiotikatherapie zwar gesenkt werden, liegt aber
Keim (Pseudomonas aeruginosa, Mykobakterien) oder,
gemäss aktueller Evidenz immer noch zwischen
was seltener vorkommt, eine unkontrollierte endo-
5–20%.
vaskuläre Infektionsquelle (Rechtsherz-Endokarditis,
Die Prognose hängt von der Abszessgrösse, der Viru-
septische Thrombophlebitis), eine suboptimale Anti-
lenz der involvierten Keime, insbesondere dem Vorlie-
biotikatherapie (Medikamenten-Interaktionen, vermin-
gen von Aerobiern (Streptococcus aureus, Pseudomonas
derte Resorption aufgrund eines gestörten Transits)
aeruginosa) und patientenspezifischen Faktoren (Alter,
oder eine Infektion durch einen Parasiten oder einen
Komorbidität, Immunsuppression), ab.
Pilz gesucht werden. In solchen Fällen sollte eine Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage und bakterio-
Danksagung
logischen, mykobakteriologischen und Pilzkulturen
Wir danken Prof. Gérard Waeber (Chefarzt der Abteilung Innere
Medizin) für seine sorgfältige Korrekturlesung und seine Vorschläge.
diskutiert werden. Der Nachweis von bakterieller oder
Disclosure statement
Pilz-DNA mittels PCR (polymerase chain reaction) kann
bei der Diagnostik helfen. Falls die medikamentöse
Die Autoren deklarieren keine finanziellen oder persönlichen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel.
Therapie erfolglos ist, wird häufig eine Abszessdrainage
Literatur
durchgeführt, weil sie die mikrobiologische Differen-
1
Korrespondenz:
zierung erlaubt und gleichzeitig den klinischen Verlauf
2
Dr. med. Julien Castioni
günstig beeinflusst (Abb. 3). Die Lobektomie ist die
Spécialiste en médecine
3
interne générale
4
Chef de Clinique
Service de médecine interne
CHUV, Rue du Bugnon 46
Antworten:
5
CH-1011 Lausanne
Julien.Castioni[at]chuv.ch
Frage 1: d. Frage 2: d. Frage 3: a. Frage 4: c.
Hirshberg B, Ben-Sira L, Kramer MR. Factors predicting mortality
of patients with lung abscess. Chest. 1999;115:746–50.
Takayanagi N, Kagiyama N, Ishiguro T et al. Etiology and outcome
of community-acquired lung abscess. Respiration. 2010;80:98–105.
DiBardino DM, Wunderink RG. Aspiration pneumonia: A review of
modern trends. Journal of critical care. 2015(30):40–8.
Herth F, Ernst A, Becker HD. Endoscopic drainage of lung abscesses: technique and outcome. Chest. 2005;127(4):1378–81.
Reynolds JH, McDonald G, Alton H et al. Pneumonia in the immunocompetent patient. The British Journal of Radiology.
83(2010):998–1009.
Korrigendum
Korrigendum zum Artikel von Quain Y, Ciancone D, Challet C,
Schaad N, Dreher R. Warum ist meine Patientin verwirrt?
Schweiz Med Forum. 2016;16(7):170–172.
Bei den Fragen und Antworten haben sich Fehler eingeschlichen.
Die korrekten Fragen und Antworten lauten:
Frage 2: Welche ist die ungeeignetste Zusatzuntersuchung?
d)
Lumbalpunktion
Frage 3: Welche ist die am wenigsten häufige Nebenwirkung
von Venlafaxin?
Frage 1: Wie soll der Wechsel des Antidepressivums
durchgeführt werden?
b)
e)
Anmerkung: Die Korrekturen wurden in der Online-Version des
Artikels ausgeführt.
Citalopram absetzen und ohne Wash-Out Venlafaxin stufenweise aufdosieren.
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Gewichtszunahme
FALLBERICHTE
303
Nervensonographie findet zunehmend Verbreitung im neurologischen Alltag
Zeitgemässe neurologische Dia­
gnostik peripherer Nervenschäden
Klaus Gardill
Neurologische Praxis, Bern
Einleitung
und Störung der Feinmotorik im Bereich der rechten
Grundlage in der Diagnostik peripherer Nerven­
schädigungen sind die Anamnese und die differen­
zierte klinisch­neurologische Untersuchung. Die wei­
tere apparative Abklärung wird anhand der klinischen
Diagnose durchgeführt und beinhaltet seit Jahrzehnten
primär elektrophysiologische Untersuchungen, insbe­
sondere in Form der Elektroneuromyographie [1]. Hier­
mit erfolgt eine Erfassung der Funktionsstörung be­
züglich Störungstyp, Ausmass, zeitlicher Dynamik und
nach Möglichkeit auch Lokalisation der Schädigung.
Seit Ende der 80er Jahre gelingt es, periphere Nerven
auch mit dem Ultraschall darzustellen [2]. Der rasante
technische Fortschritt in den letzten Jahren führte
dazu, dass die Nervensonographie zunehmend Ver­
breitung im neurologischen Alltag findet [4].
Fallbericht 1
Chronische Läsion des N. ulnaris
Hand vor. Dabei bemerkte sie keine relevanten Gefühls­
störungen oder Schmerzen, ausser gelegentlich auftre­
tende Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in die rechte
Schulter und den rechten Oberarm. Klinisch fanden
sich deutliche atrophische Paresen der Fingerspreizung
und Kleinfingerabduktion sowie der Daumenadduk­
tion rechts ohne Sensibilitätsstörungen oder sonstige
Auffälligkeiten, auch ohne Tinel­Zeichen im gesamten
Verlauf des N. ulnaris. Besondere Risikofaktoren oder
Belastungen (z.B. häufiges Armaufstützen oder Velo­
fahren), die den N. ulnaris schädigen könnten, waren
nicht bekannt.
Befunde
Unter der klinischen Verdachtsdiagnose einer Ulnaris­
neuropathie konnte in der motorischen und sensiblen
Elektroneurographie des N. ulnaris in üblicher Technik
zwar eine deutliche Schädigung des rechtsseitigen Nervs
motorisch belegt werden (Amplitudenminderungen
ohne Auffälligkeiten in der fraktionierten sensiblen
Klaus Gardill
Anamnese und klinischer Status
Neurographie), ohne allerdings den Schädigungsort
Eine 62­jährige Frau stellte sich mit einer seit einem hal­
lokalisieren und damit eine mögliche Ursache finden
ben Jahr bestehenden progredienten Kraftminderung
zu können, insbesondere auch im Ellenbogenbereich.
Abbildung 1: Motorische Neurographie des R. profundus des N. ulnaris auf der gesunden linken und betroffenen rechten Seite.
Der Nerv wird etwa in der Mitte der Handfläche (1) und proximal des Handgelenks (2) stimuliert, die Reizantwort über dem
M. interosseus dorsalis I abgeleitet. Die Zahlen in der Abbildung entsprechen den Latenzen [ms] als Korrelat der jeweiligen
Leitungszeit. Auf der rechten Seite erkennt man bei Stimulation proximal (2) eine Latenzverzögerung (Impulsverlangsamung)
auf 4,2 ms und darüber hinaus eine Amplitudenminderung (partielle Blockierung der Impulsweiterleitung) gegenüber distal (1).
Der später nervensonographisch exakt lokalisierte Schädigungsort ist als roter Punkt am gelben Nervenverlauf dargestellt.
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FALLBERICHTE
304
Die daraufhin durchgeführte, spezielle selektive Ab­
sprach mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen
leitung des R. profundus konnte dann allerdings den
eines Ganglions. Diese Verdachtsdiagnose konnte im
Schädigungsort zwischen dem distalen Unterarm und
Verlauf intraoperativ bestätigt werden. Angesichts der
der mittleren Palma manus belegen (zwischen den Sti­
ausgeprägten atrophischen Paresen und entsprechen­
mulationsorten 1 und 2, vgl. Abb. 1). Erkennbar war hier
den elektromyographischen Veränderungen ist mit ei­
bei proximaler Stimulation (2) eine Latenzverzögerung
nem längerfristigen Heilungsverlauf zu rechnen.
gegenüber der Gegenseite (4,2 vs. 2,9 ms) und insbe­
sondere eine Amplitudenminderung im Vergleich zur
distaleren Stimulation (1), unter anderem eine fokale
demyelinisierende Schädigung («partieller Leitungs­
Fallbericht 2
Akute Läsion des N. medianus
block») anzeigend. Das Elektromyogramm (EMG) vom
M. abductor digiti minimi sowie vom M. interosseus
Anamnese und klinischer Status
dorsalis I zeigte ausgeprägte akute und chronisch­neu­
Eine 62­jährige Patientin verletzte sich akzidentiell mit
rogene Schädigungszeichen, was insbesondere eine
der Metallspitze eines Frisierkamms in Form einer
längerdauernde Beeinträchtigung des Nervs belegte.
senkrechten Stichverletzung am Unterarm knapp 2 cm
Damit konnten elektrophysiologisch zwar der Schädi­
proximal des Handgelenks palmar links. Zwei Tage
gungsort und die zeitliche Dynamik geklärt werden, die
später erfolgte die notfallmässige neurologische Un­
Ursache der Schädigung blieb aber unklar.
tersuchung, da es progredient neben Handschmerzen
Mittels Nervensonographie konnte erwartungsgemäss
zu einer subjektiven Kraftminderung und Gefühlsstö­
ein unauffälliger Befund des N. ulnaris im Ellenbogen­
rungen der radialen palmaren Finger gekommen war.
bereich erhoben werden. Es gelang aber der Nachweis
Der klinische Befund zeigte die noch sichtbare Stich­
einer zystischen Raumforderung im Bereich der proxi­
verletzung etwa im anzunehmenden Verlauf des N.
malen Hand in der sogenannten Loge de Guyon knapp
medianus im distalen Unterarmbereich mit leichter
distal des Os pisiforme, mit Bedrängung des N. ulnaris
Schwellung und Hautrötung, daneben eine leichte
von ulnar (Abb. 2) als Ursache der Nervenschädigung.
Schwellung der radialen Hand und Finger. In der klini­
Diagnose, Therapie und Verlauf
fung keine eindeutige muskuläre Schwäche belegen,
Die klinische Diagnose einer chronischen Schädigung
aber eine Gefühlsminderung der Fingerbeeren I–III.
schen Untersuchung liess sich in der Einzelkraftprü­
des N. ulnaris konnte elektroneurographisch mit einer
Spezialableitung in der Loge de Guyon lokalisiert werden.
Befunde
Die Nervensonographie zeigte schliesslich die Ur­
Die Elektroneurographie des N. medianus zeigte so­
sache: Die typische Morphologie der Veränderung
wohl motorisch wie auch fraktioniert sensibel symme­
Abbildung 2: Axiale nervensonographische Darstellung der Loge de Guyon auf Höhe des distalen Os pisiforme rechts: Der N. ulnaris wird von ulnar
durch eine zystische Struktur bedrängt.
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FALLBERICHTE
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Abbildung 3: Axialer und Längsschnitt des N. medianus etwas proximal des Handgelenks links. Mit «W» ist die Lokalisation der Stichwunde bezeichnet.
Der Nerv zeigt in beiden Schnittebenen eine regelhafte, faszikuläre Struktur ohne Kontinuitätsunterbrechung einzelner Faszikel.
trische, unauffällige Befunde, was schon einmal gegen
romyographie [1] ergänzt. Limitationen dieser Metho­
eine relevante Schädigung des Nervs durch die Stich­
den sind bekannt: Elektroneurographische Verfahren
verletzung sprach. In der weiteren Abklärung mittels
können meist nur an definierten Stimulationspunkten
Nervensonographie konnte der N. medianus im Unter­
eher distal an den Extremitäten durchgeführt werden.
armbereich problemlos dargestellt werden: Die nor­
Im Falle mehr proximaler Nervenschädigungen ist
male, faszikuläre Struktur des Nervs war durchgängig
man insbesondere auf indirekte Schädigungszeichen
erkennbar. Bis auf eine minimale lokale Schwellung
wie die Wallersche Degeneration angewiesen, die aber
waren keine besonderen Verletzungsfolgen sichtbar,
wiederum meist erst nach 10–14 Tagen ihr volles Aus­
auch nicht in der Umgebung des Nervs, zum Beispiel
mass erreicht. Somit helfen auch Elektromyogra­
in Form eines Hämatoms (Abb. 3). Der Stichkanal war
phien, welche die axonale Schädigung beispielsweise
oberflächlich andeutungsweise erkennbar und schien
durch Wallersche Degeneration abbilden, in der Akut­
dort etwas radial des Nervenverlaufs lokalisiert.
phase (erste zwei Wochen nach Schädigung) häufig nur
Diagnose, Therapie und Verlauf
rum mit ausgeprägter Wallerschen Degeneration ist es
Die Befunde der Elektroneurographie funktionell und
erfahrungsgemäss ebenso schwierig, elektroneurogra­
der Nervensonographie morphologisch sprachen gegen
phisch exakt den Schädigungsort einer Störung zu
begrenzt weiter. Bei chronischen Schädigungen wiede­
eine relevante Schädigung des N. medianus und damit
ermitteln. Darüber hinaus ist selbst bei bekanntem
für eine gute Prognose. Damit erübrigten sich eine wei­
Schädigungsort die eigentliche Ursache mittels elektro­
tere Diagnostik und insbesondere ein operatives Pro­
physiologischer Verfahren «von aussen» nicht erkenn­
zedere. Die Ursache der leichten neurologischen Stö­
bar, so dass eine weitere Abklärung mit bildgebenden
rungen dürfte am ehesten eine leichte entzündliche
Verfahren erforderlich ist. Die Computertomographie
(Mit­)Reaktion lokal im Bereich der Verletzungsstelle
ist wenig geeignet, periphere Nerven direkt darzustel­
gewesen sein.
len (und stellt zudem ein strahlenbelastendes Verfah­
ren dar). Mit MRI (MR­Neurographie) [3] gelingt mit
den modernen Gerätegenerationen eine gute Darstel­
Diskussion
lung peripherer Nerven, allerdings ist der Untersu­
Die Diagnostik peripherer Nervenschädigungen hat
chungsaufwand hoch und die Ver fügbarkeit begrenzt.
das Ziel, den Ort, die Art und das Ausmass der Schädi­
In den letzten Jahren konnte sich die Nervensono­
gung zu erfassen, eine Ursache zu finden und die Pa­
graphie durch die Verwendung hochfrequenter Schall­
tienten gezielt einer möglichst kausalen Therapie zu­
köpfe (mind. 10 MHz, besser 18 MHz) und entsprechender
zuführen. Hierbei werden Anamnese und klinische
Bildbearbeitungsver fahren in geeigneten Ultraschall­
Untersuchung seit Jahrzehnten durch die Elektroneu­
geräten zunehmend etablieren und in vielen Fällen
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diese diagnostische Lücke schliessen [4]. Vorteile sind
Abklärung peripherer Nervenschädigungen zeitnah
Dr. med. Klaus Gardill
neben der sehr hohen bildlich­örtlichen Auflösung eine
und mit möglichst geringem Aufwand gelingen kann.
Facharzt für Neurologie
rasche und einfache Verfügbarkeit (auch «bedside»), ein
Ohne weitere aufwendige apparative Untersuchungen
geringer apparativer und personeller Aufwand und die
ist es möglich, die Patienten direkt zu einer speziellen,
Möglichkeit einer dynamischen Untersuchung, zum
im Idealfall kausalen Therapie weiterzuleiten oder aber,
Beispiel in verschiedenen Extremitätenpositionen und
wie im Fallbericht 2, mit grösstmöglicher Sicherheit den
durch Ver wendung einer Videoaufzeichnung der Un­
weiteren Verlauf abzuwarten.
Korrespondenz:
FMH
Mühledorfstrasse 1
CH­3018 Bern
klaus.gardill[at]hin.ch
www.neuropraxis­bern.ch
tersuchung. Zudem ist die Untersuchung bekannter­
massen nebenwirkungsfrei. Hervorzuheben ist, dass
Disclosure statement
man mittels Nervensonographie zudem in der Früh­
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
phase, unmittelbar nach einer Nervenschädigung bei­
spielsweise durch ein Trauma, die Nervenstruktur am
Schädigungsort darstellen kann. Damit ist es mög­
lich, Patienten im Falle eines nervensonographisch
nachgewiesenen Kontinuitätsverlustes des Nervs bereits
in den ersten Tagen unverzüglich einer chirurgischen
Literatur
1
2
Therapie zuzuführen.
3
Die vorliegenden instruktiven Beispiele zeigen, wie so­
4
gar in einer neurologischen Praxis die abschliessende
Bischoff C, Dengler R, Hopf HC. EMG NLG: Elektromyografie –
Nervenleitungsuntersuchungen. Stuttgart: Georg Thieme Ver­
lag;2014.
Fornage BD. Peripheral nerves of the extremities: Imaging with
US. Radiology. 1988;167:179–82.
Pham M. MR­Neurographie zur Läsionslokalisation im peripheren
Nervensystem. Warum, wann und wie? Nervenarzt. 2014;85:221–37.
Schelle T. Methodik und was kann die Nervensonografie.
Klin Neurophysiol. 2015;46(02):79–89.
Das Wichtigste für die Praxis
Die Bedeutung bildgebender Verfahren in der Abklärung peripherer Nervenschädigungen nimmt zu. Die
Nervensonographie bietet sich an, die bisherigen etablierten Verfahren sinnvoll zu ergänzen. Vorteile sind
neben der hohen bildlichen Auflösung die einfache Verfügbarkeit an praktisch jedem Ort, dynamische Beurteilbarkeit und beliebige Wiederholbarkeit, der geringe Aufwand und die Nebenwirkungsfreiheit. Beide
Fallbeispiele belegen aber auch, dass oft gerade die Kombination aller Verfahren die notwendigen Informationen liefern kann und diese deshalb bei Bedarf kombiniert werden sollten.
Wie auch bei den elektrophysiologischen Ableitungen handelt es sich bei der Nervensonographie um eine
untersucherabhängige Methode, das heisst, die Wertigkeit der Untersuchungen ist sehr stark von der Expertise des Untersuchers abhängig. Eine Standardisierung der Ausbildung und der Methoden ist zukünftig unabdingbar, um die Qualität der Befunde zu gewährleisten.
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FALLBERICHTE
307
Nierenbeckenabgangsstenose – eine ungewöhnliche Mammakarzinom-Metastase
Obstruktive Pyelonephritis
Stephan Kiss a , Fabio Nussberger a , Christoph Cantieni a , Niels Willi b , Michèle Voegeli c , Svetozar Subotic a ,
Patrick Maurer a , Thomas Gasser a
a
b
c
Urologische Universitätsklinik Basel Liestal, Kantonsspital Baselland
Kantonales Institut für Pathologie, Kantonsspital Baselland
Medizinische Universitätsklinik, Onkologie, Kantonsspital Baselland
Einführung
reich des Ureters konnte bei nicht möglicher Kontrastmittelgabe keine Aussage gemacht werden. Vor Beginn
Das Mammakarzinom ist bekannt als Tumor, der diffus
der Therapie wurden noch auf der Notfallstation Urin-
metastasiert. Daher können in allen Organen Mamma-
und Blutkulturen abgenommmen.
karzinom-Metastasen auftreten. Mammakarzinom-
Bei schwerer obstruktiver Pyelonephritis mit einer
Metastasen im Ureter, die klinisch Symptome verursa-
Urosepsis wurde auf der Notfallstation zur Stabilisie-
chen, sind jedoch selten und ungewöhnlich. Lediglich
rung des Blutdrucks und Hydrierung mit einer Infu-
342 Fälle von ureteralen Metastasen eines Mamma-
sion mit NaCl 0,9% 2000 ml über 24 Stunden begon-
karzinoms wurden bisher weltweit in der Literatur ge-
nen, des Weiteren eine antibiotische Therapie mit
schildert [1, 2]. Das Auftreten von ureteralen Metastasen
Ceftriaxon 2 g i.v. einmal pro Tag eingeleitet und die
eines Mammakarzinoms wird gemäss Autopsiestudien
Indikation zur JJ-Katheter-Einlage rechts sowie
unter 10% beschrieben und ist damit deutlich häufiger,
Dauerkatheter(DK)-Einlage gestellt. Der Eingriff konnte
als klinisch, sprich zu Lebzeiten, anzunehmen wäre
noch am selben Tag und ohne Komplikationen erfol-
[3–5]. Am häufigsten scheinen neben dem Mamma-
gen. Nach diesen Massnahmen zeigte sich eine rasche
karzinom das Magen-, Kolon- und Rektumkarzinom zu
Besserung der Symptomatik mit Normalisierung der
Metastasen des Ureters zu führen [2, 4]. Autopsien von
Nierenfunktion und regredienter Erweiterung des
Patienten mit einem beliebigen Karzinom zeigten eine
rechten Nierenbeckens. Nach Erhalt der positiven Blut-
Inzidenz von Uretermetastasen von 4,3% [4].
und Urinkulturen mit Nachweis eines multisensiblen
Escherichia coli konnte schliesslich das Ceftriaxon sistiert und Ciprofloxacin per os bis zum 14. Tag nach Be-
Fallbeschreibung
ginn der Therapie gegeben werden.
Eine 75-jährige Frau stellte sich mit akuten Flanken-
Aus der persönlichen Anamnese ging ein Diabetes
schmerzen rechts und seit einigen Tagen Pollakisurie
mellitus Typ 2, eine arterielle Hypertonie und ein lo-
und Dysurie sowie Fieber bis 38,5 °C vor. Klinisch
buläres Mammakarzinom links, pT3 pN1 cM0 G3, ER
präsentierte sie sich mit einer Tachykardie von
(Östrogenrezeptor) und PR (Progesteronrezeptor) posi-
100 bpm und mit einem hypotonen Blutdruck von
tiv, hervor. Dieses wurde vor 16 Jahren in kurativer
88/44 mm Hg.
Absicht mit einer Ablatio mammae links und lokaler
Laborchemisch zeigte sich ein pathologischer Urinstatus
kurativer Strahlentherapie, Lipoteichonsäure und ab-
mit Nachweis von Leukozyten >1500/µl und zahlreichen
schliessend mit Tamoxifen behandelt. Die Nachkon-
Bakterien im Urinsediment. In der Hämatologie und
trollen diesbezüglich waren stets unauffällig.
Chemie des Serums wurden eine deutliche Linksver-
Im weiteren Verlauf wurde einen Monat später die
schiebung bei erhöhten Leukozyten von 11 G/l (87%
Harnleiterschiene rechts entfernt, wonach sich im Nie-
neutrophile Granulozyten), eine leichte Thrombozyto-
renultraschall bald wieder eine Ektasie des rechten
penie von 118 G/l sowie eine eingeschränkte Nieren-
Nierenbeckenkelchsystems zeigte und das Kreatinin
funktion bei einem Kreatinin von 187 µmol/l (GFR
mit 119 µmol/l (GFR 40,8 ml/min/1,73 m2) wieder leicht
24,3 ml/min/1,73 m ) festgestellt. Die arterielle Blutgas-
erhöht war. Man entschied sich zur weiteren Diagnotik
analyse zeigte keinen pathologischen Befund. Auf-
für eine CT des Abdomens mit Kontrastmittel mit der
grund der Flankenschmerzen wurde zusätzlich eine
Frage nach einer Raumforderung im Bereich des Ure-
Sonographie durchgeführt, bei der das rechte Nieren-
ters oder Hinweisen auf eine Nierenbeckenabgangs-
2
Stephan Kiss
beckenkelchsystem eine Erweiterung präsentierte. Ein
stenose (Abb. 1 und 2) und für eine seitengetrennte
Harnleiterstein als Ursache für eine mögliche Obstruk-
Nierenfunktionsprüfung mittels Nierenfunktions-
tion konnte mittels einer nativen Computertomogra-
szintigraphie (Abb. 3). Diese zeigten eine relevante
phie (CT) nicht nachgewiesen werden. Bezüglich einer
Abflussstörung der rechten Niere mit Nachweis einer
anderen obstruktiv wirkenden Raumforderung im Be-
pyelo-ureteralen Nierenabgangsstenose rechts, weshalb
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formal die Indikation zur Nierenbeckenplastik gege-
Die histologische Diagnose des proximalen Harnleiter-
ben war. Vor diesem Eingriff wurde zur Vervollstän-
resektats stellte sich in der Folge als eine Metastase
digung der Befunde eine Urinzytologie mittels forcier-
eines lobulären Mammakarzinoms heraus, das bei die-
ter Diurese aus dem oberen Harntrakt abgenommen,
sem unerwarteten Befund nicht gänzlich im Gesun-
in der sich keine malignen Zellen nachweisen liessen.
den (R1) reseziert wurde. Bestätigt wurde die Metastase
Anschliessend wurde die Nierenbeckenplastik nach
zudem immunhistochemisch mit Nachweis von po-
Anderson-Hynes mit dem Da-Vinci-Robotersystem
sitiven Östrogenrezeptoren und positivem Pan-Cyto-
durchgeführt. Der postoperative Verlauf gestaltete
keratin-Marker Lu-5. Die Progesteronrezeptoren und
sich komplikationslos, der JJ-Katheter wurde im Ver-
Herceptin(Her)-2-Rezeptoren (neu) waren negativ
lauf ambulant per Zystoskop entfernt.
(Abb. 4). Aufgrund des nun bestätitgen Rezidivs und
Abbildung 1: CT Abdomen in der Übersicht.
Abbildung 2: Rechte Niere in der CT Abdomen. Erweitertes
Nierenbecken rechts mit Stenose des proximalen Harnleiters.
Counts/Second
Table of Result Summary
Parameters
Left
Right
Split Function (%)
64.6
35.4
Kidney Counts (cpm)
28 765
15 747
Time of Lasix (min)
Time of ½ Lasix (min)
Total
44 511
10.0
14.2
21.2
Left Kidney
Right Kidney
Left Background
Right Background
Minutes
Abbildung 3: Seitengetrennte Nierenfunktionsszintigraphie unter Lasix-Belastung präoperativ. Die Nierenfunktionsszintigraphie zeigt ein Abflusshindernis mit verspäteter Exkretion der rechten Niere. Nierenfunktionseinschränkung rechts.
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der Metastase des bekannten Mammakarzinoms wurde
A
zum erneuten Staging ein PET-CT angefertigt, mit dem
keine weiteren Metastasen nachgewiesen werden
konnten.
Nach diesem Bericht entschied man sich nach R1-Resektion zu einer antihormonellen Therapie mit Anastrozol 1 mg/Tag und lokaler Bestrahlung des Nierenbeckens rechts mit 50,4 Gy in 28 Fraktionen.
Die Therapie wurde von der Patientin gut vertragen,
und sechs Monate nach Therapieabschluss gab es keine
Hinweise eines lokalen Rezidivs oder einer weiteren
Metastase. Zehn Monate postoperativ war die Nierenfunktion mit einem Kreatinin von 101 µmol/l (GFR
47 ml/min/1,73 m2) leicht eingeschränkt und stabil. Die
postopertive Nierenfunktionsszintigraphie wies nun
keine Obstruktion der rechten Niere mehr nach. Die
bekannte Nierenfunktionssstörung rechts persistierte
B
bei ca. 30% (Abb. 5).
Diskussion
Ganz allgemein sind ureterale Metastasen, die zu Lebzeiten des Patinten entdeckt werden, gemäss Literatur
selten. In Autopsiestudien sind sie häufiger und werden gemäss Literatur in etwas weniger als 10% gefunden [6–8]. Bei Abrams et al. konnten in Autopsien von
167 Patienten mit bekanntem Mammakarzinom in
7,8% der Fälle Metastasen des Ureters nachgewiesen
werden [4]. Eine Arbeit von Geller et al. fand bei 181 Patienten mit Mammakarzinom in der Autopsie in 8,3%
ureterale Metastasen [8]. Es handelt sich also in der
Mehrheit der Fälle um post mortem beschriebene Metastasen, ohne dass diese zu Lebzeiten symptomatisch
geworden wären [9]. Betrachtet man die Metastasen im
C
oberen Teil des Ureters isoliert von denjenigen im unteren Teil, also von solchen, die durch direkte Ausbreitung beispielsweise von Prostata, Blase oder Zervix im
distalen Ureter verursacht werden können, so sind Metastasen von Mamma-, Magen- und Kolon- beziehungsweise Rektumkarzinom am häufigsten [3, 4, 9].
Zu Lebzeiten werden Metastasen eines Mammakarzinoms im Ureter äusserst selten gefunden. Meistens
werden diese nur deshalb bemerkt, weil sie symptomatisch werden [3].
Zusammenfassung
Unsere Patientin wurde 16 Jahre nach kurativer Behandlung eines invasiven, nodal-positiven, lobulären
Mammakarzinoms mit dem klinischen Bild einer Uro-
Abbildung 4: Histologie des proximalen Harnleiterresektats.
A: Hematoxylin- und Eosin(HE)-Färbung.
B: Pan-Cytokeratin(Lu-5)-Färbung (Immunhistochemie).
C: Östrogenrezeptor-Immunhistochemie.
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sepsis bei obstruktiver Pyelonephritis im Rahmen einer
pyelo-ureteralen Abgangsstenose symptomatisch. Eine
vorübergehende Harnleiterschienung mit anschlies-
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Counts/Second
Table of Result Summary
Parameters
Left
Right
Split Function (%)
69.9
30.1
Kidney Counts (cpm)
24 752
10 651
Time of Lasix (min)
Time of ½ Lasix (min)
Total
35 403
10.0
12.2
14.2
Left Kidney
Right Kidney
Left Background
Right Background
Minutes
Abbildung 5: Postoperative Nierenfunktionsszintigraphie.
Die postoperative Nierenfunktionsszintigraphie zeigte kein Abflusshindernis. Persistente Nierenfunktionseinschränkung rechts.
sender Diagnostik (mit CT und Nierenfunktionsszintigraphie) sowie eine operative Therapie unter klinischer Annahme einer Nierenbeckenabgangsstenose
wurden durchgeführt. Die Nierenszintigraphie bestätigte die pyelo-ureterale Abgangsstenose als Ursache
für die obstruktive Pyelonephritis. Nach erfolgter
Danksagung
Die Autoren danken D. Toia und N. Willi für das zur Verfügung
gestellte Bildmaterial.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Operation nach Anderson-Hynes stellte sich die Abgangsstenose wider Erwarten als eine Metastase eines
Adenokarzinoms der Mamma mit positiven Östrogenrezeptoren heraus. Die Resektion war histopatholo-
Literatur
1
2
gisch nicht im Gesunden erfolgt, weshalb nach erfolgtem unauffälligem Staging eine lokale Bestrahlung
und eine Anastrozol-Therapie indiziert waren.
Zusammenfassend ist also bei einer solchen Klinik
und bekanntem Malignom – in unserem Fall einem
3
4
5
Mammakarzinom – in seltenen Fällen auch an ein metastatisches Geschehen im Ureter als Ursache für die
Korrespondenz:
Stephan Kiss
Kantonsspital Baselland
Rheinstrasse 26
CH-4410 Liestal
stephan.kiss[at]ksbl.ch
Nierenabflussbehinderung beziehungsweise Nierenbeckenabgangsstenose zu denken. Die meisten Fälle
6
7
von ureteral-metastasierenden Mammakarzinomen
8
scheinen aber klinisch asymptomatisch und damit un-
9
erkannt zu verlaufen.
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2016;16(12–13):307–310
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