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Vorwort
Lutz Götze
Kulturkontrastive Grammatik – ein neuer Ansatz in Theorie und Praxis der Fremdsprachenvermittlung
Resümee
Während Kontrastive Grammatiken seit sehr langer Zeit existieren – also Vergleiche zweier oder mehrerer Sprachen mit linguistischen Mitteln –, sind Überlegungen zu Kulturkontrastiven Grammatiken neu. Grundlagen liefern sowohl
Ideen Wilhelm von Humboldts zur unterschiedlichen Weltansicht, die in verschiedenen Sprachen deutlich wird, Gedanken Ernst Cassirers zur Symbolkraft
der Sprache und Karl Bühlers Überlegungen zum Organon-Modell einerseits
wie andererseits – in der Nachfolge des sowie Auseinandersetzung mit dem
sprachlichen Determinismus der Sapir-Whorf-Hypothese – amerikanische Forschungsrichtungen der Kognitiven Anthropologie und Ethnosemantik, deren
Vertreter vor allem Dell Hymes, John Gumperz und Erving Goffman sind. Eine
Kulturkontrastive Grammatik in unserem Sinne vergleicht die deutsche Sprache
mit europäischen, afrikanischen und asiatischen Sprachen nicht lediglich linguistisch, sondern vor dem Hintergrund kultureller Wurzeln und Traditionen, Entwicklungen und Normen, die die sprachlichen Ausdrucksmittel prägen und unterschiedliche Weltansichten bedingen. Diese Forschungen sind für das differenzierte Verstehen von Kulturen unerlässlich und zugleich Grundlage der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache überall auf der Welt.
Kontrastive Grammatiken gibt es seit langer Zeit: Sprachvergleiche und Reflexionen über Sprachen wurden seit mehr als 2000 Jahren bei den Ägyptern, Griechen, Indern und anderen Kulturen betrieben (Rein 1983, 7). Der Vergleich
diente im Regelfall praktischen Zwecken: Mithilfe der Gegenüberstellung
zweier oder mehrerer Sprachen sollten Ähnlichkeiten und Unterschiede ermittelt
und zum Studium der jeweils anderen Sprache herangezogen werden. Neben
den Wortvergleichen gab es aber bereits in der frühen Neuzeit das deutsch-italienische Sprachlernwerk von Georg von Nürnberg, das syntaktische Probleme
beim Vergleich beider Sprachen behandelte und Deutsch- wie Italienisch-Lernenden von Nutzen war (Glück 2002).
Einen ersten Höhepunkt erreichte der Sprachvergleich in Deutschland in der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft, zumal in den Arbeiten Franz Bopps,
der verwandte Strukturen zwischen dem Sanskrit und europäischen sowie weite-
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ren asiatischen Sprachen aufdeckte und zum Begründer des Systems der indoeuropäischen Sprachen wurde.
Einen zweiten Höhepunkt erlebte der strukturelle Sprachvergleich durch die in
der Nachfolge Ferdinand de Saussures entwickelten Zweitspracherwerbstheorien. Deren erste und ungemein folgenreiche, die Kontrastivhypothese, besagte
in ihrer ursprünglichen Fassung, dass Sprachen, die insgesamt oder in Teilen
stark voneinander abwichen – also kontrastierten – als Fremdsprachen schwer zu
erlernen seien und entsprechend beim Lernenden erhebliche Fehlermengen verursachten. Umgekehrt seien im Ganzen oder in Teilen strukturidentische oder
zumindest ähnliche Sprachen als Fremdsprachen leichter zu erlernen und die
Zahl der Fehler sei entsprechend gering. In einer rigiden Weiterentwicklung dieser Hypothese wurde sogar behauptet, aufgrund des Strukturkontrastes zweier
oder mehrerer Sprachen ließen sich Fehler beim Fremdsprachenlernen nicht nur
erklären, sondern sogar voraussagen. Freilich wurde diese weiter gehende Hypothese bald wieder zurückgenommen, weil sie sich in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts als falsch erwies (Bausch/Kasper 1979).
Diese Praxis relativierte alsbald freilich obendrein die Hypothese: Kenner des
Fremdsprachenunterrichts wiesen darauf hin, dass es häufig gerade nicht die
auffälligen Strukturkontraste zwischen Sprachen seien, die dem Fremdsprachenlernenden insgesamt Probleme bereiteten und Fehler verursachten, sondern
deren Gegenteil, nämlich die Ähnlichkeiten oder Strukturidentitäten, während
die Unterschiede – wenn vom Lehrer oder durch das Lehrmaterial bewusst gemacht – eher Lernerleichterungen darstellten. Juhász wies bereits 1970 auf diese
faux amis, also Strukturähnlichkeiten zweier oder mehrerer Sprachen, hin, die –
als Ranschburg’sches Phänomen der Homogenenhemmung – den Lernenden in
die Irre führten: in der falschen Annahme, die zielsprachliche Form müsse sich
notwendigerweise von der erstsprachlichen unterscheiden, produziere der Lernende eine völlig andere Form und begehe gerade dadurch einen Fehler (Juhász
1970). Die Kontrastivhypothese steht seither im Rahmen der Zweitspracherwerbshypothesen in der Kritik.
Alle diese sprachvergleichenden Untersuchungen sowie deren didaktische Konsequenzen blieben der Ausdrucksseite der Sprache, also der Struktur bzw. Form,
verhaftet. Unterschiedliche Bedeutungen sprachlicher Phänomene wurden allenfalls im Einzelfall erwähnt.
Einen vollkommen anderen Weg ging Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19.
Jahrhunderts. Auf der Grundlage seiner hermeneutisch begründeten Sprachtheorie verglich er – auch mithilfe seines weit gereisten jüngeren Bruders Alexander
– die deutsche Sprache mit asiatischen oder mesoamerikanischen Sprachen und
begründete damit seine Auffassung dessen, dass jede Sprache eine Weltansicht
berge, fremde Sprachen also nicht nur strukturell im Vergleich zur Erstsprache
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(Muttersprache) verschieden, sondern Ausdruck einer je unterschiedlichen Weltansicht seien:
„Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander
leuchtet es klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte
Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre
Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit
der Weltansichten selbst.“ (von Humboldt 1994, 27f.)
In seinem posthum erschienenen Werk Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1836, 57) erklärte der Tegeler Philosoph Sprache nicht als
Ergon, also etwas Statisches, sondern als Energéia, also als dynamische Entität:
ein Werkzeug, mit dessen Hilfe es gelinge, aus endlichen Mitteln unendlichen
Gebrauch zu machen.
Noam Chomsky hat später diesen Gedanken zur Grundfigur seiner Universalgrammatik gemacht: eine allen Einzelsprachen zugrunde liegende Struktur von
angeborenen Ideen (innate ideas), die mit Hilfe von Transformationsregeln an
die Oberflächenstruktur jeder Einzelsprache zu befördern und in einer Grammatik zu beschreiben seien (Chomsky 1966). Freilich beinhaltet Chomskys Verweis auf Humboldt einen kategorialen Fehler: Humboldt hat nie von einer Universalgrammatik, sondern stets nur von der Grammatik von Einzelsprachen gesprochen, die es zu beschreiben gelte.
Humboldts forscherisches Interesse galt also der Darstellung unterschiedlicher
Weltansichten in den Einzelsprachen: Neben den modernen europäischen Sprachen waren dies das Sanskrit, das Griechische, Lateinische, Chinesische, Japanische, Kawi, das Aztekische und weitere mesoamerikanische Sprachen. Allein
diese umfassende Betrachtung hebt Humboldts Erkenntnis und Bedeutung weit
über die kontrastiven Untersuchungen mancher heutiger Zeitgenossen hinaus,
deren empirische Grundlage im Regelfall zwei und selten mehr Sprachen umfasst. Sie erklärt auch die enge und allenfalls mittlere Reichweite zahlreicher
Sprachforscher des angelsächsischen, zumal nordamerikanischen, Raumes wie
Chomsky, denen in aller Regel nur ihre eigene Sprache nebst geringen Kenntnissen in anderen lebenden Sprachen zu Gebote steht.
Sprachvergleich ist für Humboldt das entscheidende Mittel, die Denkwelten, das
Alltagsverhalten wie z. B. Höflichkeits- und Trauerbezeugungen oder die Orientierung in Raum und Zeit anderer Kulturgemeinschaften zu erforschen. Damit
nähert er die Sprachwissenschaft der heutigen Anthropologie, Ethnologie und
den Sozialwissenschaften an, die es damals – zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts – freilich in dieser Form als Wissenschaftsdisziplinen noch nicht gab.
Doch Humboldt begriff als einer der ersten, dass die historische und vergleiIX
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chende Sprachwissenschaft ohne enge Bezüge zu Nachbarschaftsdisziplinen von
nur geringem Erkenntniswert bleiben müsse und das Fremde nicht erkennen
könne. Traoré drückt es im vorliegenden Band anders aus:
„Wenn wir also im Rückgriff auf Wilhelm von Humboldt Sprachenvergleich als ein
Mittel betrachten, um, modern ausgedrückt, unter Berücksichtigung der eigenen
Perspektive den Fremden in seinem eigenkulturellen Kontext zu wahrzunehmen bzw.
zu verstehen, so plädieren wir dafür, bei der Kontrastierung von Sprachen im Rahmen
des Fremdsprachenunterrichts systemlinguistische Aspekte um kulturspezifisch-funktionale zu erweitern. Wir wollen diesen Ansatz sprachkulturspezifisch-funktionale
Perspektive nennen.“ (Traoré 2008, 76)
Humboldts Sprachphilosophie wurde im 19. und in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts – von Ausnahmen abgesehen – nicht zur Kenntnis genommen. Die
historische Sprachwissenschaft, die junggrammatische Schule, später die strukturelle Linguistik sowie die generativ-transformationelle Grammatik dominierten Forschungsparadigmata und Lehrstuhlbesetzungen. Hinzu kam die verfälschende Verwendung einzelner Humboldt’scher Denkfiguren in der Inhaltsbezogenen Grammatik Leo Weisgerbers, zu Zeiten des Faschismus in Deutschland
und später in der DDR: Humboldts grandiose philosophische Ansätze wurden
verkannt, missachtet oder missbraucht.
Zu den wenigen Forscherpersönlichkeiten, die sich der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts verpflichtet fühlten und sie kreativ weiterentwickelten, gehört der aus der Marburger neu-kantianischen Schule Hermann Cohens hervorgegangene Ernst Cassirer, der mit seinen Schriften die akademische Welt seit
dem Beginn des 20. Jahrhunderts faszinierte: Hingewiesen aus dem Gesamtwerk
sei hier lediglich auf das vierbändige opus magnum Das Erkenntnisproblem in
der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906-1940), die Philosophie der symbolischen Formen (1923-1925), Die Sprache (1923) sowie Zur
Logik der Kulturwissenschaften (1942). Cassirers Werk wurde vom Nationalsozialismus verschwiegen, Cassirer musste ins Exil nach Schweden und schließlich in die USA flüchten. In New York starb er, mitten im wissenschaftlichen
Schaffen, im April 1945. Die Columbia University ehrte ihn, gemeinsam mit
dem am Vortag verstorbenen amerikanischen Präsidenten Franklin Delano
Roosevelt, mit einer Erinnerungsplakette.
Auch nach 1945 war in Deutschland wegen der Dominanz strukturalistischer
und generativ-transformationeller linguistischer Schulen für Cassirers Denken
kein Platz. Erst mit dem Aufkommen neuerer Arbeiten zum Mythos – vor allem
Hans Blumenberg und Roland Barthes – sowie dem intensiven Nachdenken über
Fremdkulturalität beim Vermitteln von Literaturen und Sprachen wuchs die ErX
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kenntnis, dass Wilhelm von Humboldt und Ernst Cassirer zwei Sprachphilosophen außerordentlicher Bedeutung seien, an denen hinfort kein Weg mehr vorbei führen konnte, wenn es um das Eigene und das Fremde, die Symbolkraft bei
der Darstellung der Wirklichkeit und die Rolle der Sprache dabei ging: Sprache
eben – ganz im Sinne Humboldts – keineswegs nur als Mittel der Abbildung
verstanden, sondern selbst schöpferisch tätig. Ähnlich sieht es später Paul Klee,
der über die Künste – und in Sonderheit die Malerei – schrieb, sie bildeten keineswegs nur die Natur ab (Mimesis), sondern sie machten diese sichtbar.
Cassirer bringt es auf den Punkt, wenn er in seinem sprachphilosophischen
Hauptwerk, der Philosophie der symbolischen Formen, meint:
„Die echte Wirklichkeit kann nicht auf einmal ergriffen und abgebildet werden, sondern wir können uns ihr nur in immer vollkommeneren Symbolen beständig annähern.“
(Cassirer 1998, Bd. 3, 154)
Im Zentrum der Überlegungen Cassirers steht der Dualismus von Substanzbegriff und Funktionsbegriff, der neu gedacht werden müsse, nämlich in der
Weise, dass eine Annäherung an die Wirklichkeit lediglich über immer komplexere Symbole möglich sei:
„Unter einer symbolischen Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden,
durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ (Cassirer 1998, Bd. 16, 79)
Symbole spielen bei der Annäherung an die reale Welt eine ähnlich wichtige
Rolle wie bei der Deutung des Mythos. Unter Bezug auf die drei großen Kritiken Immanuel Kants will Cassirer über die komplexeren Symbole eine Phänomenologie der Erkenntnis schaffen, die die unabhängig voneinander handelnden
Bereiche von Natur- und Geisteswissenschaft wieder zusammenführt und ihre
Gemeinsamkeiten bei der Erkenntnis der Wirklichkeit betont. Den neuen Rahmen der Gesamtschau, die über Kants Kritik der Vernunft hinausgeht, sieht er in
einer Kritik der Kultur, in deren Zentrum die Sprache steht:
„Soll die Sprache als eine wahrhaft selbständige und ursprüngliche Energie des Geistes
erwiesen werden, so muß sie in das Ganze dieser Formen eingehen, ohne mit irgendeinem schon bestehenden Einzelglied desselben zusammenzufallen – so muß ihr bei
aller systematischen Verknüpfung, die sie zuerst mit der Logik und Ästhetik eingeht,
eine ihr eigentümliche Stelle in diesem Ganzen zugewiesen und damit ihre Autonomie
gesichert werden.“ (Cassirer 1998, Bd. 11, 121)
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Die Sprache gewinnt damit eine alle Bereiche der Erkenntnis verbindende und
dennoch autonome Rolle: zentral für das Erkennen der Wirklichkeit, der Gedanken-, Gefühls-, Sozial- und Willenswelt wie des Mythos. Denken und
Sprache bedingen einander; über die Sprache werden andere Kulturen symbolhaft vermittelt. Sprache als Kern des Ausdrucks von Vernunft, des sozialen Bewusstseins und des Gefühls- und Willenslebens: Cassirer hat hier die Brücke geschlagen nicht nur zu Wilhelm von Humboldt, sondern greift weit voraus und
findet seine Bestätigung in neueren neurowissenschaftlichen Arbeiten von Raum
und Zeit in unterschiedlichen Kulturen (Götze 2004).
Dem Denken Humboldts und Cassirers ist der Ansatz einer Kulturkontrastiven
Grammatik verpflichtet. Als dritten Ahnherren nennen wir den Sprachpsychologen Karl Bühler, der – ganz im Sinne Humboldts – Sprache als organon, also
Werkzeug, versteht, mit dem jeder Mensch die ihm eigenen Ziele im sprachlichen Handeln verfolgt: Bühler gliedert alle verbalen Äußerungen in die Trichotomie Ausdruck (System), Appell (Signal) und Darstellung (Symbol).
Zahlreiche Lebewesen verfügten, so Bühler, über Ausdrucks- und Appellstrukturen ihrer jeweiligen Sprache, lediglich dem Menschen sei darüber hinaus die
Funktion der Darstellung eigen. Die drei Grundfunktionen menschlicher Sprache sieht der Wiener Sprachpsychologe im sprachlichen Zeichen manifestiert:
„Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, System [...]
kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal
kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie
andere Verkehrszeichen.“ (Bühler 31999, 28)
Bühlers geistige Nähe zu Cassirer wird unmittelbar evident beim Symbolbegriff.
Darüber hinaus steht er grundsätzlich Humboldt’schen und Cassirer’schen
Denkwelten nahe, indem er Sprache stets in ihrer Funktion im menschlichen
Alltag versteht: Ihr Gebrauch wird vor- oder zumindest gleichrangig beschrieben mit der Form, also den Ausdrucksmitteln. Damit ist Bühler zugleich geistiger Vater aller nachfolgenden Sprachhandlungstheorien, nicht zuletzt der aus
dem Denken Ludwig Wittgensteins hervorgegangenen ordinary language philosophy, die in die Theorie der Sprechakte Austins (1962) und Searles (1969,
1971) mündete, die freilich von dem universellen Geltungsanspruch ausgingen
und damit die Kulturspezifik jeglichen Sprechakts verkannten.
Noch einmal Wilhelm von Humboldt: Er hat sehr früh die Schwierigkeit verstanden, vor der jeder Sprachen vergleichende Forscher steht, nämlich ein
tertium comparationis – also ein beiden oder mehreren zu vergleichenden Sprachen gemeinsames Drittes – zu finden, mit dessen Hilfe die Regeln der verglichenen Sprachen genau und gleichberechtigt formuliert werden können. Dies ist
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im Grunde eine Unmöglichkeit, weshalb zahlreiche Forscher auf das griechischlateinische grammatische Vorbild zurückgriffen. Freilich gerieten sie bei zahlreichen außereuropäischen Sprachen sofort in Erklärschwierigkeiten, etwa beim
Vergleichen europäischer Sprachen mit dem Chinesischen, das weder Verbflexionen noch Tempora kennt und das Phänomen Zeit mit anderen sprachlichen
Mitteln ausdrückt (s. u. Mueller-Liu, 351ff.).
Humboldt fordert deshalb, dass es gelte,
„jede Sprache dergestalt in ihrer Eigenheithümlichkeit [zu] studiren, daß man durch
genaue Zergliederung ihrer Theile erkennt, durch welche bestimmte Form sie, ihrem
Baue nach, jedes grammatische Verhältnis bezeichnet.“ (von Humboldt 1994, 56)
Die uns Heutigen geläufige Gleichberechtigung aller Sprachen – und damit der
Kulturen, deren wichtigster Aspekt die Sprache ist – wird hier erstmals wissenschaftlich gefordert und bekräftigt. Diesem Gedanken sind alle Beiträge des vorliegenden Bandes verpflichtet. Dies gilt zumal für Europa, diesen Kontinent der
Mehrsprachigkeit, die es gegen alle Versuche zu verteidigen gilt, im Zuge der
Globalisierung die englische Sprache als alleinige internationale Sprache zu
etablieren. E pluribus unum! Europa stellt eine Einheit in der Vielfalt dar: gewachsenen aus dem griechisch-lateinischen Erbe und den Reichtum der Verschiedenartigkeit seiner Sprachen (noch) bewahrend.
Eine andere Traditionslinie leitet sich her aus der in der kritischen Auseinandersetzung mit dem linguistischen Relativitätsprinzip der Amerikaner Sapir (1949)
und Whorf (1956) entwickelten anthropologischen Linguistik/kognitiven Anthropologie, deren wichtigste Vertreter Gumperz, Brown, Levinson und
Goffman darstellen (Brown 1958; Goffman 1971; Gumperz/Levinson 1996).
Brown betonte, dass nicht die natürlichen Einzelsprachen unser Denken bestimmten, sondern die Menschen, die zur Orientierung in der sie umgebenden
Welt in ihrer Sprache Konzepte und Begriffe auf der Grundlage ihrer Ideen und
Wahrnehmungen schüfen. Gumperz/Levinson kritisierten vor allem den von
Whorf dekretierten Determinismus, also die Auffassung, dass jede Sprache das
Denken der Menschen bestimme. Sie forderten einen Paradigmenwechsel von
der bislang dominierenden Linguistik hin zu einer kognitiven Anthropologie, um
das Verhältnis von Sprache, Denken und außersprachlicher Realität genauer zu
bestimmen. Neue Forschungsbereiche entstanden, so die Kulturanthropologie
und die Ethnosemantik, die das Besondere einzelner Sprachen und Kulturen betonten. Vertreter sind Dell Hymes und John Gumperz, deren Forschungen einer
Ethnographie der Kommunikation sowie der Entwicklung von Diskursstrategien
gewidmet waren. Wichtig sind darüber hinaus die Arbeiten Erving Goffmans
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zum frame-Prinzip, also dem Rahmen jeglicher Kommunikation, sowie zur kulturellen Normierung von Körper- und Gesichtsausdruck, also der Imagearbeit.
Diese kulturrelativen Forschungen der Anthropologie und Kulturkontrastivität
stehen in deutlichem Gegensatz zu Entwicklungen in Linguistik und Psychologie der nachstrukturalistischen Ära: Einerseits vertraten Noam Chomsky und
seine Schüler in der Generativen Transformationsgrammatik einen mental-universalistischen Ansatz, demzufolge es eine allen Sprachen und Kulturen zugrunde liegende Basis gebe, andererseits wurde auch im Rahmen der im letzten
Viertel des vergangenen Jahrhunderts engagiert vorangetriebenen Untersuchungen zur so genannten Künstlichen Intelligenz (artificial intelligence) – ein
zumindest mehrdeutiger Terminus – nach universalen Prinzipien des Gehirns
geforscht, die – falls sie erkannt werden sollten – auf Maschinen übertragen
werden sollten, die dergestalt zu sich selbst organisierenden Systemen neuronaler Netze zu entwickeln seien, welche dem menschlichen Denken Zug um Zug
angenähert werden könnten und eines Tages in der Lage sein sollten, den Menschen zu übertreffen. Heute, zu Beginn des neuen Jahrtausends, hat sich freilich
in dieser Frage eher Ernüchterung ausgebreitet.
Den Forschungen der Kulturanthropologie und Ethnosemantik ist unser Ansatz
einer Kulturkontrastiven Grammatik verpflichtet. Dazu gehören auch neuere
Arbeiten von Geertz (1973) und Hofstede (1980, 1997) zur kulturvergleichenden
Anthropologie sowie zum Kulturbegriff, den vor allem Goodenough (1964) und
Bachmann-Medick (2004) auf der Grundlage der Forschungen Lévi-Strauss’
(1958, 1981) entwickelten. In Deutschland sind hier vor allem die Arbeiten
Thomas’ (1991, 1993), Lüsebrinks (2008) und Götzes (2004, 2007) zu erwähnen. Ziel aller genannten Ansätze (s. u. Mueller-Liu, 117ff.) ist ein
differenzierter Kulturbegriff, der gesellschaftliche wie individuelle Alltagshandlungen in ihren sprachlichen, nichtsprachlichen und parasprachlichen Aspekten
zu erfassen und zu analysieren vermag. Dabei ist das dialektische Verhältnis von
Sprache, Denken und außersprachlicher Wirklichkeit in unterschiedlichen Kulturen der zentrale Forschungsgegenstand, den es mit Methoden der kulturellen
Anthropologie sowie der Praktischen Semantik zu erklären gilt. Die Analyse
von Alltagshandlungen zum interkulturellen Handeln und zur Überwindung von
Vorurteilen beim Kontakt von Vertretern unterschiedlicher Kulturen wird zum
zentralen Thema.
Was ist nun das Besondere und Neue an einer Kulturkontrastiven Grammatik?
Sie analysiert Sprachen als Teil von Kulturen und versucht dabei, je spezifische
Beschreibungsverfahren zu wählen, die der jeweiligen Sprache angemessen
sind, ohne – wie in der Kontrastiven Linguistik geschehen – ein tertium
comparationis zu wählen, das häufig den untersuchten Sprachen – oder einer
von ihnen – nicht angemessen ist. Zugleich versucht sie, die hinter dem sprachliXIV
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chen Ausdruck stehende Weltansicht zu entschleiern. Ein Beispiel möge dies
verdeutlichen: Der Ausdruck von Zeit geschieht in den, auf dem griechischlateinischen Vorbild fußenden, germanischen, romanischen oder slawischen
Sprachen gemeinhin über das Temporalsystem der Verben, daneben auch mithilfe von Temporaladverbien, Partikeln, Konjunktionen und Präpositionen mit zeitlicher Bedeutung. Andere, nicht-indoeuropäische Sprachen wie das Chinesische
oder einige indigene Sprachen in beiden Amerika, verfügen über keine Verbflexion und kennen auch keine entsprechenden Tempusformen. Nun ist es für
eine Kulturkontrastive Analyse nicht akzeptabel, dieses Phänomen lediglich als
Defizit asiatischer und amerikanischer Sprachen zu charakterisieren, sondern es
gilt, nach dessen Ursachen zu forschen: Das lineare Zeitbewusstsein, das dem
Okzident charakteristisch ist, und der sich daraus ergebende Zeitpfeil existieren
in zahlreichen östlichen, zumal buddhistisch geprägten Kulturen nicht. Dort
gelten nicht die Triade der Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
sondern der Moment/Augenblick und die Dauer: ein anderes, aber auch nicht
zirkuläres Zeitverständnis (Götze 2004, 2007 und s. u. 233ff.). Ein Thai oder
Chinese bedient sich daher anderer sprachlicher Mittel wie Partikeln oder
Adverbien, um Zeitliches zu markieren (s. u. Traoré, 21ff. und Loto, 311ff.).
Solche kulturellen Unterschiede muss eine Kulturkontrastive Grammatik herausarbeiten, weil sie Quelle sprachlicher Fehler etwa beim Erwerb des Deutschen
als Fremdsprache sind, die freilich von Lehrern häufig – ganz im Sinne einer
Kontrastiven Grammatik – oberflächenstrukturell, somit rein linguistisch interpretiert und – falsch – therapiert, werden.
Eine Kulturkontrastive Grammatik unterscheidet sich aber auch deutlich von
Arbeiten zur kontrastiven Pragmatik, die sich im Regelfall im Vergleich von
Sprechakten/Sprachhandlungen in unterschiedlichen Sprachen (Fragen – Antworten, Fragen – Erklären, Einladen – einer Einladung folgen usw.) erschöpfen, ohne deren kulturelle Bedingtheit und/oder ethische Normen zu berücksichtigen, die das sprachliche Handeln prägen.
Eine Kulturkontrastive Grammatik ist somit ein Gesamtwerk: linguistische
Analyse und Vergleich unter Berücksichtigung kultureller Wurzeln und Traditionen, Entwicklungen und kulturspezifischer Normen, die Grundlage sprachlicher Äußerungen sind. Sie will zugleich, im Sinne Humboldts, den Prozess
deutlich machen, der erklärt, wie sprachliche Mittel individuelle und gesellschaftliche Bilder, Vorurteile, Traditionen und Normen prägen. Sprache und
Denken bedingen einander, sprachliche Form und individuelles oder gesellschaftliches Bewusstsein ebenso. Diese Anerkennung unterschiedlicher kultureller Wertesysteme freilich darf nicht zur Relativierung von Normen führen. Das
alles überwölbende und verbindliche Wertesystem wird deshalb in der vorliegenden Schrift in der Deklaration der Menschenrechte der Französischen ReXV
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volution von 1789 sowie der Vereinten Nationen von 1948 gesehen. Vor diesem
ethischen Rahmen sind alle kulturspezifischen Wertordnungen zu interpretieren.
Damit wird jeder Form eines Kulturrelativismus eine Absage erteilt. Ob mit dem
Verweis auf die Interpretationsmöglichkeit einschlägiger Suren des Koran Frauendiskriminierung und feudalistische Gesellschaftsstrukturen in islamischen
Ländern rechtfertigt werden oder Menschenrechtsverletzungen in China wie die
Ermordung von Studenten auf dem Tian-Anmen-Platz, die Folterung regimekritischer Journalisten oder Massenexekutionen im Reich der Mitte mit dem Verweis auf Konfuzius oder die vermeintliche Störung der inneren Ruhe Chinas
verteidigt werden: Dies alles und viele Verbrechen mehr sind Verletzungen der
Menschenrechte und müssen verfolgt und geahndet werden. Sie sind in nichts zu
rechtfertigen, schon gar nicht mit dem Verweis auf je besondere kulturelle Traditionen und damit auch nicht mit Interpretationen einer Kulturkontrastiven
Grammatik.
Doch diese Grammatik kann dazu beitragen, das Verständnis über die Ursachen
kultureller Konflikte zu fördern und, im besten Fall, zu deren Lösung beizutragen. Diese Klärung kann aber auch bewirken, dass der Dialog scheitert, weil sie
die Unvereinbarkeit grundlegender Positionen deutlich macht, die nicht durch
Formelkompromisse überdeckt werden darf und soll. Bei dieser notwendigen
Klärung kann zutage gefördert werden, dass die Tradition und das Wertesystem
der europäischen Aufklärung einerseits und andere – zumal islamische –
Wertvorstellungen nicht zusammenpassen. Necla Kelek hat recht, wenn sie in
der Laudatio der Ludwig-Börne-Preisverleihung 2009 sagt:
„Wir werden die strukturellen und ideologischen Hindernisse der Integration nicht
beseitigen, wenn wir einem ‚Wunschdenkenǥ über den Islam verhaftet bleiben, das
Gewalt nur als ein Problem von Extremisten oder als falsche Auslegung einer an sich
richtigen Lehre sehen will. Wenn wir die kulturellen Differenzen nicht benennen, wird
über die Integrationshindernisse weiter der Schleier gebreitet. Denn wir meinen Unterschiedliches, wenn wir dieselben Begriffe verwenden: Freiheit, Anstand, Würde, Ehre,
Schande, Respekt, Dialog, das alles sind Werte und Normen, die in einer westeuropäischen Gesellschaft mittlerweile ganz anders definiert werden als in der islamisch-türkisch-arabischen Kultur“ (Kelek 2009, 21)
Die einzelnen Beiträge des Bandes liefern Bausteine dieses gemeinsamen Wollens, das für das Verstehen fremder Kulturen und deren Wertesysteme einerseits
sowie für die Vermittlung von Fremdsprachen andererseits – hier vor allem des
Deutschen als Fremdsprache – unverzichtbar ist. So gibt es Arbeiten zum Verstehen von Zeit und Raum im subsaharischen Afrika, in China und in Thailand
im Vergleich zu Deutschland, zum Genus verbi und Passiv im Thai und im
XVI
Vorwort
Deutschen, zum Alltagshandeln beim Ausdruck der Höflichkeit sowie Trauerbezeugung in unterschiedlichen Kulturen, zur Rolle und dialektischen Umsetzung der Migrationsliteratur im subsaharischen Afrika sowie zu kulturspezifischen Lernstrategien in Kamerun und Thailand.
Der Bogen ist weit gespannt. Die Beiträge wollen nicht nur ein vertieftes Verständnis des Anderen und damit einer fremden Kultur vermitteln, sondern vor
allem dessen Einfluss auf die Sprache verdeutlichen. Als Konsequenz mögen die
Analysen für das Lehren der deutschen Sprache im Ausland wie im Inland
bessere Erklärungen liefern, als sie häufig in Handreichungen des Deutschen als
Fremdsprache zu finden sind. Herausgeber und Herausgeberin wünschen, dass
mit dem Konzept der Kulturkontrastiven Grammatik neue Wege in der Fremdsprachendidaktik und darüber hinaus eröffnet werden. Sie werden beim Dialog
der Kulturen dringend gebraucht.
Wir danken dem Verlag Peter Lang für die Publikation und die editorische
Beratung, vor allem Herrn Dr. Kurt Wallat.
Danken möchten wir aber besonders allen Beiträgerinnen und Beiträgern rund
um den Globus: Erst durch diese weltweite Zusammenarbeit und die dadurch
gewonnene Verbindung von Eigen- und Fremdperspektive war es möglich,
Wilhelm von Humboldts Idee einer in den natürlichen Sprachen verborgenen je
unterschiedlichen Weltansicht in die Tat umzusetzen. Das dadurch geschaffene
farbige Tableau höchst unterschiedlicher Interpretationen von Vorstellungen
über Raum und Zeit und von Alltagshandlungen prägt dieses Werk.
Unser Dank gilt ferner Dr. Elisabeth Venohr, Frau Doris Zintel-Matzanke sowie
Frau Nina Prowald für ihre stetige Unterstützung des Projekts und ihre Hilfe
beim Schreiben und Korrigieren der Texte sowie bei der Einrichtung des Manuskriptes.
Saarbrücken, im Juni 2009
Lutz Götze, Salifou Traoré, Patricia Mueller-Liu
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Abstract
Contrastive, or comparative, grammars – comparative analyses of two or more
languages – have a long tradition in foreign language teaching. The notion of a
culturally contrastive grammar, however, is a novel idea yet to be introduced in
general and applied linguistics. Drawing upon Wilhelm von Humboldt’s insights
into the different Weltanschauung represented by each language, Ernst
Cassirer’s thoughts on the symbolic force of language, Karl Bühler’s organon
model and the work of American linguists and anthropologists Dell Hymes and
John Gumperz in the tradition of Language and Culture, culturally contrastive
grammar in our sense of the term compares the structures of the German
language with those of other – European, Asian and African – languages not
only from a linguistic point of view but also with respect to the cultural roots,
traditions and norms which condition their use and constitute the Weltanschauung of the respective speech community. As illustrated by the papers
gathered in this volume, analyses of this kind are essential for an in-depth under-
XIX
Vorwort
standing of languages and cultures and should form the basis of German
language teaching all over the globe.
Résumé
Pendant que la grammaire contrastive, qui consiste en la comparaison de deux
ou plusieurs langues sur le plan linguistique, existe depuis longtemps, les
réflexions sur les grammaires culture-contrastives sont nouvelles. Elles se basent
d’un côté sur Wilhelm von Humboldt et son concept de Weltansicht que les
langues mette clairement en évidence, sur la notion de la force symbolique du
langage d’Ernest Cassirer et de l’Organonmodell de Karl Bühler et de l’autre
côté – suite au déterminisme linguistique formulé dans l’hypothèse Sapir-Whorf
et les discussions qui s’en sont suivies – sur les différents courants de recherche
américains en anthropologie cognitive et en ethnosémantique que représentent
surtout Dell Hymes, John Gumperz et Erving Goffman. Notre concept de
grammaire culture-contrastive sert à comparer l’allemand aux langues européennes, africaines et asiatiques non seulement sur le plan linguistique mais
aussi et surtout sur le plan culturel en tenant compte des traditions, développements et normes qui sont propres à chaque langue et qui sont à la base des différentes Weltansichten. Ces approches sont nécessaires pour comprendre la différence entre les cultures; elles constituent en même temps la base de l’enseignement de l’allemand langue étrangère partout dans le monde.
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