Etwas Besseres als den Tod findest du allemal

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# 2000/36 Dossier
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Noise and Note
Etwas Besseres als den Tod findest du
allemal
Von Felix Klopotek
Wie sich vor 30 Jahren die musikalische Avantgarde aufmachte, den
Klassenkampf zu entdecken.
I.
Nicht nur Musik lag in der Luft, als in den sechziger und siebziger Jahren junge
Komponisten die pathetische Forderung Karlheinz Stockhausens, die Welt der Klänge »mit
allen verfügbaren Mitteln unserer Zeit« zu verändern, ernst nahmen und sich daran
machten, der Neuen Musik die Töne beizubringen.
In den Fünfzigern Schüler oder Kollegen von Stockhausen oder John Cage, entwickelten
sie - auch in offener Abgrenzung - Modelle von Musik oder genauer: Musik-Machen, mit
denen das Verhältnis zum Sozialen thematisiert und der Sound als Ausdruck des Sozialen
verstanden werden sollte. An die Stelle des musikalischen Schöpfers und seines
individuellen Werks traten kollektive, volksmusikalische, improvisatorische und nichtmusikalische Arbeitsweisen.
Gruppen wie das Scratch Orchestra und AMM, Musica Elettronica Viva, Gruppo di
Improvisazzione Nuova Consonanza und Komponisten und Meta-Musiker wie Frederic
Rzewski, Eddie Prévost, Keith Rowe, Cornelius Cardew, Franco Evangelisti, Christian Wolff
oder Takehisa Kosugi bemühten sich, ihre musikalische Praxis als ästhetischen Ausdruck
von Kritik und Utopie ins Verhältnis zum Sozialen, dem realen gesellschaftlichen Feld der
Klassenkämpfe zu setzen.
»Every noise has a note«, diese Feststellung des AMM-Schlagzeugers Eddie Prévost, die
zugleich Forderung und Feststellung war, beschreibt die radikalisierte Ästhetik der Neuen
Musik: dass dem Geräusch, dem im bildungsbürgerlichen Sinn Nicht-Musikalischen, wie
dem Musikalischen eine Regelhaftigkeit zu Grunde liegt und damit auf ein (kreatives)
Ordnungsprinzip zurückzuführen ist, das die Vermittlung von Geräusch und Musik, von
noise und note impliziert. Dabei wird die Erzeugung und Herkunft des Geräusches aus
einer sozialen Praxis bestimmt. Umweltgeräusche sind Teil der sich in der Umwelt
bewegenden sozialen Akteure. Im Klartext bedeutete dies die Aufhebung der Trennung
von Akteur (Komponist / Musiker) und Zuhörer.
Rückblickend auf jene Zeit in den Sechzigern, als AMM mit dieser Forderung erstmals
auftraten, schreibt Prévost im Begleittext der ersten LP »AMMMusic»: »It is a tribute to
our early supportive audiences that they could respond to our work and reinforce the
validity of our activity; these were immensely valuable responses given the newness and
uncertainties which accompanied the music.« (1)
Das Prekäre dieses Versuchs lag darin, dass am Ende das Musikalische im Sozialen
aufgehen, von diesem nicht mehr getrennt gesehen werden sollte. Die musikalische
Praxis sollte sich selbst aufheben. Die Prämissen, die bestimmten, was man unter einer
Komposition, unter einer Aufführungspraxis versteht, sollten soweit hintertrieben werden,
dass es möglich war, musikalische Praxis als genuin soziale zu verstehen.
In dem Moment aber, wo das Soziale sich desinteressiert an den Vorstellungen der
Komponisten zeigte und sich die Arbeiterklasse durch die Dekonstruktion der klassischen
Konzertsituation nicht zum letzten Gefecht inspirieren ließ, in dem Moment also, als der
Sprung in die Wirklichkeit ausblieb und die Trennung von Avantgarde und Publikum sich
abermals bestätigte und ad infinitum reproduzierte, verdinglichte sich der eben noch
aufgehobene Kompositionsbegriff zur Methode.
Wogegen diese Generation von Komponisten antrat, dass z.B. die einst revolutionären
Techniken Stockhausens zu einer Anrufung Gottes verkamen und sowohl für eine
herrschaftsaffirmierende Entsubjektivierung in der Musik wie für den Geniekult im
Kulturbetrieb herhalten mussten, das wiederholte sich in dem Moment, da die postulierte
Ineinssetzung von musikalischer Theorie und sozialer Praxis scheiterte.
Als die musikalischen Neuerer wieder zu klassischeren Formen des Komponierens
übergingen, die großen Gruppen sich auflösten oder sich wie AMM in einer fast schon
mythisch verklärten Produktionsweise einrichteten, verschwand auch die Bewegung bzw.
die übergreifende Idee des Kollektivs. Hier liegt der Grund, weswegen dieser Teil der
Geschichte der Neuen Linken, besonders in ihrem eigenen Bewusstsein, untergegangen
ist.
Dazu passte, dass die Protagonisten jener Bewegung, mittlerweile etablierte
Komponisten, sich an der eigenen Vergangenheit häufig kritisch abarbeiteten (und in
diesem Sinn den langen Marsch der meisten 68er nicht mitgemacht haben), ohne
allerdings diese Thematisierung in irgendeiner Weise für aktuelle Debatten
kommunizierbar zu gestalten.
II.
»Does group direction, or authority, depend on the strength of a leading personality,
whose rise or fall is reflected in the projected image, or does the collation of a set of
minds mean the development of another authority independent of all members but
consisting of all of them?« (2)
So geläufig die implizierte egalitäre Haltung heute wieder sein mag - etabliert durch den
Free Jazz oder politisierte Popkollektive -, in der Neuen Musik der fünfziger Jahre waren
kollektive Arbeitsweisen nicht vorgesehen.
In Europa war es vorrangiges Ziel, eine hinreichend rational durchorganisierte Musik zu
komponieren. Diese Praxis knüpfte an Arnold Schönberg an, der bereits in seiner
Zwölftonmusik die Dimension der Tonhöhen reihenmäßig, eben: rational, geordnet hatte.
Seine Nachfolger in der Nachkriegszeit, die Serialisten, gingen noch einen Schritt weiter.
Alle Dimensionen des Tonsatzes, also auch Dauer, Lautstärke und Klangfarbe wurden nun
reihenmäßig geordnet, mit dem Ziel, das integrale Kunstwerk zu schaffen.
Ein früher Kritiker, der in diesem Machbarkeitsanspruch die Züge von wahnhafter
Fetischisierung und kaum verhohlener Herrschaftsaffirmation erkannte, war Adorno: »In
sonderbar infantilem Glauben wird das Material mit der Kraft begabt, von sich aus den
musikalischen Sinn zu setzen. Gerade darin aber schlägt das astrologische Unwesen
durch: die Intervallverhältnisse, nach denen man die Zwölftöne anordnet, werden trüb als
kosmische Formel verehrt. Das selbstgemachte Gesetz der Reihe wird wahrhaft
fetischisiert.« (3)
Und wie zur Bestätigung sollte Stockhausen schon bald von der »Einschwingung ins
kosmische Ganze« delirieren. In dem Organ des Stockhausen-Kreises, der »Reihe« (sic!),
wurde die Dehumanisierung und Entsubjektivierung der Musik zu Gunsten einer
objektiven Ordnung gefeiert: »Tatsächlich hat Musik solcher Art kosmischen Charakter.
Sie ist sternenweit dem subjektiven Gefühlsbereich entrückt; in ihrem fremden, neuen,
vielfach erschreckenden Formenwesen werden Kräfte lebendig, die nicht nur
übermenschlich, sondern auch überirdisch erscheinen.« (4)
Im Prinzip wurde damit die Rolle des Komponisten entwertet. Er vollstreckt nur noch die
Logik eines ihm äußerlichen Prinzips. Gleichzeitig kann er sich aber als Genie feiern, dem
die kosmische Ordnung eingegeben wurde. Dazu Adorno: »Die Ordnung, die sich selber
proklamiert, ist nichts als das Deckbild des Chaos.« (5)
Was bei Schönberg als planvoll-rationale Strukturierung des musikalischen Materials
begonnen hatte, die nicht länger naturverfallen war und das Ideal einer nicht auf
repressiver, verwertungslogischer Vermittlung basierenden Arbeitsweise repräsentierte,
vollzog die Dialektik der Aufklärung. Ordnung verfiel zur zweiten Natur. »So unterwarf sich
die junge Generation, kaum der 'totalen' Herrschaft (des Nationalsozialimus; F.K.)
entronnen, dem totalen Zwang des 'integralen Kunstwerkes'«. (6)
Auch die demgegenüber libertäre Variante der amerikanischen Avantgarde, die Werke
der New Yorker Schule um John Cage, Morton Feldman, Earle Brown und Christian Wolff,
zielten nicht auf Befreiung des Interpreten bzw. Improvisation ab. Aber anstatt als Prophet
Gottes auf serielle Himmelfahrt zu gehen, verabschiedete sich der Komponist in ihren
Stücken auf sublime, ironische Weise.
Die New Yorker entwickelten Modelle der Indetermination, die der Leitlinie folgten, wie
der Kontrollfanatismus und die Herrschaft über das musikalische Material aufgehoben
werden kann. Sie probierten aleatorische, auf Zufallsprinzipien fußende, Verfahren, die
den Einfluss des Komponisten auf das Setzen von Rahmenbedingungen beschränkte.
Cages wohl berühmtestes Stück, »4:33«, das für diesen Zeitraum das Schweigen der
Instrumente festlegt, bedeutet nichts anderes: In dem Moment, wo von den Musikern
keine musikalische Aktivität ausgeht, gewinnen alle die Geräusche, Husten im Publikum,
Lärm von der Straße, das Knarren der Stühle an Bedeutung, die vorher verdrängt oder
überhört wurden.
Ein anderes Kompositionsprinzip bestand in der Ausarbeitung von grafischen Notationen,
die die im klassischen Notenbild vorgesehenen Kontrollparameter des Tonsatzes außer
Kraft setzten und einen größeren Interpretationsfreiraum ließen.
Diese Rücknahme des Kompositionsbegriffes brachte allerdings eine Frage auf, die von
Cage oder Feldman so nicht vorgesehen war: die Freiheit des Interpreten. Das
Verschwinden des Komponisten bedeutete keinesfalls die Inthronisierung der Spielenden Improvisation war strikt verboten. Die Musik war definitiv kein soziales Experiment. (7)
Trotzdem: Die New Yorker Schule hatte eine Leerstelle geschaffen. Während in dem
weiteren Schaffen von Cage diese Leerstelle weiter bewusst unbesetzt blieb, im Sinne
eines augenzwinkernden Zen-Buddhismus, lag es nahe, diese von der anderen Seite, der
Seite der Akteure (Interpreten, Musiker, Publikum), zu besetzen. D.h. die
Umweltgeräusche nicht nur immanent als Erweiterung des Musikbegriffs zu verstehen,
sondern sie als in erster Linie von Menschen gemachte zu begreifen.
Bereits in der Überwindung des Serialismus durch die Indeterminationen, deren
aktionistischer Teil die frühe Fluxus-Bewegung war, zu Beginn der sechziger Jahre, wurde
deutlich, dass es sich dabei um keinen ausschließlich musikalischer Vorgang handelte.
Die Konzerte und Aktionen, die zwischen 1960 und 1962 im Atelier der Kölner Künstlerin
Mary Bauermeister stattfanden und die die Fluxus-Bewegung auch in Deutschland
etablierten, waren Happenings, die mit subversivem Anspruch aufgeladen wurden: »Ö es
gab einen klaren Trend, der die Auswahl des Repertoires überwiegend bestimmte und
Werke der Kölner Schule kaum zuließ, obwohl die Atelierreihe eng mit deren Komponisten
verknüpft war. Es waren Stücke wie Cages 'Cartridge Music' und 'Water Music', Busottis
'Pearson Piece' und Paiks Aktionswerke, die im geistigen Zentrum der Reihe standen pure Live-Werke, mit allen Sinnen zu erleben und von einer unentrinnbaren Präsenz. (Ö)
Das spezifisch Un-Amerikanische der Atelierkonzerte war wohl die Einbeziehung der Ideen
aus dem Cage-Kreis in das massiv gesellschaftskritische, dialektisch und ideologisch
flankierte Denken der europäischen, speziell der Kölner Avantgarde (gemeint sind hier die
Autoren und Kritiker Hans G. Helms und Klaus-Heinz Metzger; F.K.). Die Zen-beeinflußten,
konfuzianisch kreierten Cage-Werke wurden als sozialkritisch missverstanden oder mit
einem neuen Ideengerüst übergestülpt.« (8)
Wie dem auch sei - die Begeisterung für den Indeterminismus traf bei einstigen
Stockhausen-Adepten wie Cornelius Cardew oder Franco Evangelisti auf ein zunehmendes
ideologiekritisches Unbehagen an der eigenen musikalischen Sozialisation.
III.
Ein entscheidender Auslöser für den Durchbruch des Kollektivismus war die
Entwicklungen des Jazz, die spätestens Mitte der sechziger Jahre im Free Jazz kulminierte.
Jazz und Neue Musik führten bis dahin ein Dasein, das Kontakte zur jeweils anderen Seite
ausschloss. Zwar gab es im Third-Stream-Jazz Bemühungen, an die Formsprache der
Zwölftonmusik anzuschließen, diese Fusion erwies sich, bei aller eleganten Musik, die
dabei herauskam, aber als wenig produktiv. Zu oberflächlich schien die Vermittlung, zu
unentschieden das Pendeln der Musik zwischen Schönberg und Thelonious Monk. So
wiesen Cage und Feldman improvisatorische Attitüden weit von sich. Als die FluxusBewegung gegen Stockhausen während seines New York Besuches 1964 protestierte
(»The first cultural task is publicly to expose and FIGHT the domination of white, EuropeanUS ruling-class art! (Ö) Stockhausen - patrician 'Theorist' of white supremacy: go to
hell!«), waren die Aktionen eher durch Stockhausens diskriminierende Äußerungen über
Jazz (deren Authentizität freilich nicht eindeutig belegt ist) motiviert.
Mit dem Free Jazz trat die Improvisierte Musik allerdings in eine Phase, die die klassischen
Song- und Bluesschemata als Grundlage der Improvisationen hinter sich ließ. Nicht mehr
an harmonisch-melodisch fixiertes Material gebunden und rhythmisch den 4/4- Takt in ein
multidirektionales Pulsieren auflösend, gewannen die Free Jazzer ihren eigenen Zugang
zum Geräusch als integriertem Teil des Spielens. Dessen Erzeugung wurde dezidiert als
Gruppenprozess gedacht und praktiziert - Musik-Machen als sozialer Akt war hier gereits
verwirklicht. Free Jazz führte die Kollektivimprovisation (wieder) in den Jazz ein.
1965 suchte Cardew, 29 Jahre alt und nach einigen Jahren als Stockhausen-Assistent
mittlerweile selbst Lehrer, nach einer jungen, aufgeschlossenen Jazzcombo, die bereit und
willens war, sein Mammutwerk »Treatise«, eine ausgedehnte, offen strukturierte, die Rolle
des Interpreten explizit hervorhebende grafische Komposition, zu realisieren - von einer
bloßen Interpretation mochte man nicht mehr reden. Wichtiger als das, was die
Interpreten spielten, war ihm die Frage, wie sie miteinander kommunizierten und den
grafisch fixierten Teil gemeinsam umsetzen konnten.
Anders als seinen Lehrern ging es ihm nicht um die Heiligkeit des Klanges, sondern um
die diffizile Konstruktion eines egalitären sozialen Miteinanders. Das konnte er sich
musikalisch in den sechziger Jahren nur im Medium der avancierten Klangforschung
vorstellen. (9)
Er fand diese Jazzer in der Gruppe AMM, in der z.B. der Pop-Art-Maler und Gitarrist Keith
Rowe beschlossen hatte, seine elektrische Gitarre nie mehr zu stimmen, sie vielmehr als
völlig neues Instrument zu begreifen, wenn man sie auf den Tisch legt und mit
Stahlfedern, Feilen, Gummibällen oder Kontaktmikrofonen traktiert. Zu den Kuriosa dieser
Zeit zählt, dass AMM das gleiche Management wie Pink Floyd hatten, mit diesen auftraten
und ihre erste Platte auf einem Major Label veröffentlichen konnten.
Cardew wurde von der Auseinandersetzung mit der Gruppe, für die Diskussionen über den
Sinn von Musik genauso wichtig waren wie das Spielen selber, so in den Bann gezogen,
dass er Mitglied wurde und sich ganz der improvisatorischen Praxis verschrieb
(wohlgemerkt: als ehemaliges Wunderkind der Neuen Musik!). Ende der sechziger Jahre
entwarf er eine Ethik der Improvisation. Zu den sieben Tugenden, eines Musikers zählten:
Einfachheit, Integrität, Selbstlosigkeit, Toleranz, Bereit-Sein, Identifikation mit der Natur
(!), Akzeptieren des Todes (!). (10) Diese Ethik führte ihn schließlich vom Buddhismus
zum Maoismus.
Die Improvisationen von AMM sind zu diesem Zeitpunkt harscher, unerbittlicher Krach:
Ziel ist es, die Rückführbarkeit eines Klanges auf ein Instrument zu verhindern. Die
Gruppe tritt als Gruppe auf - auch wenn sie die Wichtigkeit der individuellen Stimmen
beim Prozess der Klangerzeugung betonten, im Gesamtbild spielten sie keine Rolle. Die
Gruppe trat in abgedunkelten Räumen auf, die Konzerte dauerten mehrere Stunden,
eingeschlossen lange Phasen von Stille.
Cardew war kein Einzelfall: Frederick Rzewski (wie Cardew ein virtuoser Pianist) gründete
zusammen mit den ebenfalls dissidenten Kollegen Alvin Curran und Richard Teitelbaum
Musica Elettronica Viva (MEV). Auch hier verschränkt sich die Erweiterung des
Musikbegriffes um das Geräusch mit der Praxis der Improvisation.
Franco Evangelisti hörte ganz auf zu komponieren und rief die Gruppo di Improvvisazione
Nuova Consonanza ins Leben. Neben Rzewski war u.a. Ennio Morricone dabei. In Japan
operierten die Group Ongaku und später die Taj Mahall Travellers, in beiden Gruppen
spielte der Violinist Takehisa Kosugi, ein legendärer Cage-Interpret und Fluxus-Aktivist.
Die Unterschiede bestehen im Umgang mit dem Werkbegriff. Während AMM prinzipiell
eine antiinstitutionelle Haltung einnehmen und den anderen Gruppen Zugehörigkeit zum
Establishment vorwerfen, lehnt Nuova Consonanza diese Entgrenzung ab: die Musik bleibt
eine Komposition, wenn auch eine aus dem Stehgreif entwickelte, an der alle Musiker mit
gleichem Recht partizipieren. MEV dagegen mutieren zu einer umherschweifenden
Kommune, praktizieren die Identität von alltäglichem Leben in der Gruppe und Auftritten.
Das Publikum nimmt an den Konzerten teil.
Frederick Rzeweski löste sich bald von der unmittelbaren Praxis der Improvisation und
begann, seine Arbeiten politisch zu konzipieren. Die Stücke »Coming Together« und
»Attica« (beide 1971) thematisieren das Massaker, das Polizeieinheiten auf Anordnung
des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller unter den meuternden (politischen)
Gefangenen der Strafanstalt Attica anrichteten.
Zu rezitierten Briefen von Gefangenen entfaltete Rzewski eine dichte tonale Klangfläche.
Die Kompositionen zielen auf eine unmittelbare politische Wirkung, ohne auf die
Erfahrungen mit der Improvisation gänzlich zu verzichten: die Werke wurden mit Jazzern
realisiert, andere enthalten ausgedehnte improvisierte Passagen. Seine berühmteste
Komposition sind die 36 Variationen des chilenischen Revolutionsliedes »The People
United Will Never Be Defeated«. Ein Werk, das vom Interpreten höchste Virtuosität
verlangt, weil Rzewski die Variationen als immer kompliziertere, immer verstiegenere
Permutationen des volksmusikalischen Ausgangsmaterials gestalteten. Damals sprach
man dann wohl von einer Hommage an die Kreativität der Massen.
IV.
1969 bildete sich auch das Scratch Orchestra, das initiiert wurde auf Anregung von
Cornelius Cardew und einer Reihe anderer Komponisten. Die Liste der Komponisten, die
heute zu den führenden Englands zählen, ist immer noch beeindruckend: Michael Nyman,
John White, Gavin Bryars, Michael Parsons, Howard Skempton und Brian Eno.
Entscheidend aber ist, dass sich die Gruppe explizit an Nicht-Musiker wendete. (11) In der
Verfassung des Orchesters (sie haben das tatsächlich so genannt) heißt es u.a.:
»Definition: Ein 'Scratch Orchestra' besteht aus einer großen Zahl von Enthusiasten, die
ihre Fähigkeiten für Aktionen wie Musikmachen, Performance oder Kontemplation
zusammenbringen. Notiz: Das Wort Musik und die ihm verwandten Begriffe bedeuten in
diesem Zusammenhang nicht ausschließlich Klang und darauf bezogene Phänomene, zum
Beispiel das Hören. Worauf sie sich beziehen, ist flexibel und hängt voll und ganz von den
Mitgliedern des 'Scratch Orchestras' ab.« Unter Punkt 2, »Populäre Klassik«, hieß es:
»Teile bekannter Werke klassischer Musik werden gesammelt, zum Beispiel eine
Partiturseite, ein Teil einer Instrumentalstimme oder eine Schallplattenaufnahme. Ein
qualifiziertes Mitglied spielt den gewählten Teil, während die anderen Spieler mitspielen,
so gut, wie sie können. Sie spielen, was sie von dem betreffenden Werk in Erinnerung
haben und füllen die Gedächtnislücken mit improvisatorischem Material.« (12)
Auf konstituierenden Versammlungen im Herbst 1969 trafen sich bis zu 70 Musiker und
Aktivisten. Cardew löste das Problem einer demokratischen Organisierung einer so
großen und heterogenen Gruppe dadurch, dass er jedem Anwesenden einen Termin gab,
an dem er oder sie ein Konzert nach den eigenen Maßstäben durchführen konnte. Im
ersten Jahr seines Bestehens spielte das Orchester über 50 Konzerte. In keiner anderen
Gruppe wurde auf so konsequente Weise Ernst gemacht mit allen Implikationen, die die
jungen Komponisten aus den Erfahrungen mit Fluxus, Free Jazz und Hippie-Marxismus
herausgelesen hatten.
Roger Sutherland, als Nicht-Musiker in die Gruppe gekommen und heute noch in der
Noise-Improvisationsgruppe Morphogenesis aktiv, beschreibt die Umsetzung einer von
vielen Partituren: »Die Partitur hieß 'Anima Two' und schrieb einfach vor: 'Führe jede
Aktion so langsam wie möglich aus.' Jeder aus dem Orchester konnte das realisieren, wie
er wollte. Einer setzte sich an die Orgel und spielte einen einzelnen Akkord aus Bachs
Toccata und Fuge in d-Moll. Er hielt den Akkord über die ganze Zeit der Aufführung, als
würde er unendlich dauern. Ich interpretierte die Partitur, indem ich von einem Ende der
Bühne zum anderen ging, in unglaublicher Zeitlupe. Das hatte ich wochenlang geübt. Man
konnte kaum sehen, dass ich mich bewegte. (Ö) Cornelius Cardew saß da wie eine Statue
mit seinem Cellokasten, und er begann, den Kasten ganz langsam zu öffnen. Er brauchte
zwei Stunden dafür. Das waren alles ganz leise Aktivitäten. Das einzige, was man
durchgehend hörte, war der statische Orgelakkord. Es gab auch ein paar andere Klänge,
aber der Haupteffekt war, dass fünfzig Leute unglaublich langsame Aktionen ausführten,
so dass der Eindruck entstand, die Zeit sei irgendwie aufgehoben.« (13)
Dass auch solche Konzepte, die man heute eher mit Rührung zur Kenntnis nimmt,
irgendwann zur Methode gerinnen würden, daran haben die Mitglieder wahrscheinlich
keinen Gedanken verschwendet. Die Gruppe zerbrach dann auch, allerdings nicht daran,
dass die Komponisten gegenüber den Nicht-Musikern ihre bildungsbürgerlichen
Ansprüche durchsetzen wollten.
Rückblickend äußert sich Roger Sutherland zur schleichenden Zersetzung: »Was geschah,
war ziemlich unerwartet. Ungefähr 1971 begannen Cornelius Cardew und ein paar
andere, besonders Keith Rowe und (der Pianist; F.K.) John Tilbury, ideologische und
politische Texte mitzubringen und sie stundenlang vorzulesen. Das mochten wir alle nicht.
Das befremdete die Leute, die nicht an Politik interessiert waren. Cardew war kurz davor
zu einer Art chinesischem Sozialismus konvertiert. Er meinte, dass die wichtigsten
Aufgaben die politische Revolution und der Sozialismus waren. Wenn Musiker sich dem
nicht unterordnen würden, dann wären sie konterrevolutionär.
Das war eine ziemlich primitive Logik. Musik, egal von wem, ob von Cage, von
Stockhausen oder sogar von ihm selbst, die nicht eine sozialistische Ideologie zum
Ausdruck bringen würde, und zwar sehr deutlich, und außerdem dazu geeignet wäre, die
Leute vom Sozialismus zu überzeugen, sei reaktionär, negativ und so weiter und müsse
abgelehnt werden. Und Cardew machte die unglaubliche Sache, alle seine zuvor
entstandenen Werke abzulehnen. Er begann Lieder und Klavierstücke zu schreiben, die
Transkriptionen von irischen oder chinesischen Revolutionsliedern waren. Sie waren in
Bezug auf Harmonie und Rhythmus sehr einfach gebaut. Die Diskussionen über die
Funktion von Musik, ob Musik nun politisch sei oder nicht, spaltete das Orchester. Was
zum Beispiel geschah, war, dass wir jetzt plötzlich das Spiel konventioneller Instrumente
erlernen sollten. Es gab sogar Klassen, wo man Unterricht in Rhythmus oder Geigespiel
bekam. Deshalb bin ich nicht ins Scratch Orchestra gegangen. Ich wollte mit Klang
experimentieren und nicht konventionelle Musik spielen. Das hätte ich auch irgendwo
anders gekonnt.« (14) 1974 erlahmten die Aktivitäten des Scratch Orchestras endgültig.
Auch AMM spalteten sich. Das Quartett brachte es tatsächlich fertig, in einen
anarchistischen Flügel mit Eddie Prévost und dem Saxophonisten Lou Gare und einen MLFlügel (Rowe, Cardew) zu zerfallen. Man ging 1973 noch gemeinsam auf eine EuropaTour, trat aber getrennt auf. Rowe und Cardew spielten zu Liedern und
Nachrichtensendungen von Radio Tirana (!) geräuschlastige Improvisationen, die die im
Fabrikalltag erlebten Entfremdungen des Proletariats widerspiegeln sollten. Ein traurigschönes Beispiel für den Zerfall der Protestbewegung und der einst so avancierten
Musikpraxis. Erst in den späten siebziger Jahren formierten sich AMM wieder als
geschlossene Gruppe.
Zurück zum Scratch-Orchestra: Der Prozess der Demokratisierung sollte zum Aufbau einer
musikalischen Kaderpartei führen. Das misslang. Cardew, der in einem dramatischen
Essay seinem Lehrer Stockhausen Imperialismus vorwarf und nicht zögerte, sich für seine
frühe Cage-Begeisterung zu geißeln, zog auch praktisch die Konsequenzen. Als Mitglied
einer britischen K-Gruppe sorgte er für musikalische Begleitung auf Demonstrationen,
agitierte als Streikposten etc. Als er 1973 »composer in residence« des Künstlerhauses
Bethanien in Berlin wurde, verteilte er Flugblätter gegen das Künstlerhaus, an dessen
Stelle besser eine Kinderpoliklinik hätte eingerichtet werden sollen.
1981 wurde Cardew bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzt. Ab Mitte der siebziger Jahre
spielte er mit AMM vereinzelte »secret concerts«, nicht angekündigte Konzerte unter
falschem Namen. Cardew habe, so Keith Rowe, seine Passion für die Avantgarde nie
aufgegeben.
Vom Scratch Orchestra sind heute keine Tonträger mehr erhältlich.
V
Die Politisierung der Neuen Musik ist nach und an den eigenen radikalen Maßstäben
gescheitert. Die soziale Frage nahm innerhalb der musikalischen Tätigkeit einen so
zentralen Platz ein, dass das Ausbleiben der vermeintlich logischen Konsequenz (=
Revolution) der Musik ihre Grundlage raubte. Sie wurde obsolet, verstrickte sich in
lächerliche Grabenkämpfe (Srcatch Orchestra, AMM) oder wurde kitschig (darin den
heutigen, albernen Stockhausen-Aufführungen nicht unähnlich): Cardews »Red Flag
Prelude« (1973/74) ist eine Abwandlung von »O Tannenbaum«.
Was bleibt, ist das hohe Niveau der Auseinandersetzung mit dem Material. Gerade in der
rückhaltlosen Thematisierung und Einbeziehung des sozialen Feldes, die nicht auf Kosten
der Musik ging, könnte ein Weg liegen, der über die Dichotomie von Musik als sozialem
Effekt vs. Musik als Technik hinausführt. (15) Es ist ein Unterschied, ob man Musik
verkürzend als Ableitung aus konkreten gesellschaftlichen Umständen begreift oder wie
jene Komponisten (natürlich auch in Verkennung ihrer eigenen privilegierten Haltung) als
genuin gesellschaftliche Praxis. Ebenso interessant ist es, zu beobachten, wie die
Komponisten und Musiker sich mit ihrem Überleben auseinandersetzten.
AMM, namentlich Eddie Prévost, haben in der Folge des Scheiterns eine »Meta-Musik«
konzipiert, die ein Überwintern ermöglichte. (16) »Every utterance, rustle and nuance is
pregnant with meaning. To make a meta-music is to hypothesise, to test every sound. To
let a sound escape unnoticed before coming to know what it represents or can do is
carelessness. Each aural emission can be unlocked to show its origins and intentions. (Ö)
If humanisation is our ultimate goal, 'art for art's sake' can only be justified as a tactical
withdrawal. No sound is innocent - musicians are therefore guilty if they collude with any
degeneration or demoralisation of music.« (17)
Nach wie vor geht es also darum, Sounds als soziale Ereignisse zu dechiffrieren und sie so
bewusst in einen sozialen Zusammenhang zu integrieren. Dieser besteht aber in dem
musikmachenden Kollektiv selber - mangels reeller Entsprechung. »Meta-Musik« ist
Musik, die über ihre eigenen konkreten Entstehungsbedingungen reflektiert und zwar im
Medium ihrer selbst. Ein Perpetuum Mobile. »The reason for playing is to find out what I
want to play.« (18) Jegliche Form von fixierter Prädetermination verbietet sich
(»Organising sound limits its potential«). Die Musik kann nur als spontane, gemeinsame
Anstrengung realisiert werden.
Der Begriff des Sozialen drückt sich nur durch die Musik aus - egal, wie emphatisch diese
Verknüpfung von AMM betont wird, zu einem gemeinschaftsstiftenden Ausdruck gelangte
das nicht mehr. Was nur der folgerichtige Schluss aus den sechziger Jahren ist. Damals
wurde die Improvisation, als Idee und Praxis, als Projektionsfläche für allgemeingültige
Utopien genommen. Ungefähr: Das egalitär spielende Kollektiv nimmt die egalitär
organisierte Gesellschaft vorweg.
Wahrscheinlich würde Eddie Prévost in letzter Konsequenz nichts anderes behaupten,
allerdings ist seine eigene Praxis klüger: weil sie die ständige Hinterfragung des eigenen
Machens ist und somit ein Regelwerk sich erarbeitet, das nur auf die eigene Musik
anwendbar ist. Als Hörer kann man daraus ableiten, was man will. Heute werden AMM, die
zwar nicht mehr laut wie früher aber immer noch so atemberaubend entrückt sind, als
Pioniere der Industrial- und Ambientmusik gefeiert, von Maoismus-Rezeption keine Spur.
Aber Ableitungen sind das eine, und die Musik ist das andere. Als improvisierte bleibt sie
flüchtig, prinzipiell unvorhersehbar, ohne dabei die Verbindlichkeit für den Moment, in
dem sie gespielt wurde, und - über diesen hinausgehend - für das Kollektiv, aufzugeben.
So hat sich das subversive Potenzial in die Musik zurückgezogen, anders ausgedrückt: in
eine Theorie, die, weil deckungsgleich mit ihrer Praxis, schwer entzifferbar ist und sowieso
heillos sich verstrickt in die eigene, Jahrzehnte währende Geschichte. Wie gesagt: für eine
Nutzanwendung bleibt da wenig übrig.
Aber anders als vor 30 Jahren würden AMM diesen Zustand begrüßen.
Anmerkungen
(1) Aus dem Begleittext der ersten LP von AMM, »AMMMusic«, die 1966 erschien und noch
als CD erhältlich ist. In dem Text heißt es auch: »An AMM performance has no beginning
or ending. Sounds outside the performance are distinguished from it only by individual
sensibility.«
(2) Ebenfalls aus den Linernotes zu »AMMMusic«.
(3) Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik. Frankfurt a. M. 1958, S. 107
(4) zit. nach Gottfried Eberle, »Neue Musik in Westdeutschland nach 1945«, in: Heister,
Hanns-Werner und Dietrich Stern: Musik der 50er Jahre, Argument-Sonderband AS 42,
Hamburg 1980, S. 47. Eine pointierte Kritik kam auch von Seiten Hanns Eislers. So
schreibt er über Stockhausens Komposition »Gesang der Jünglinge« (1953): »Da hat zum
Beispiel Stockhausen ein elektronisches - oder wie immer es nennt - Musikstück in
jahrelanger Arbeit hergestellt, und zwar nach dem Abschnitt der Bibel: 'Drei Männer im
Feuerofen'. Nun ist dieser Bibelabschnitt in der Übersetzung Luthers sprachlich ein
herrliches Stück, ein Bericht vorgeschichtlicher Résistance. Was macht Stockhausen
daraus? Der Text wird durch die Behandlung der Tonbänder bewußt unverständlich
gemacht und damit der eigentliche soziale Sinn dieser Bibelstelle wegeskamotiert. Was
verständlich bleibt, ist: 'Großer Gott, wir loben Dich'. Es ist, als ob die Musikriege des
Vereins 'Königin Luise' mit Raketenflugzeugen in die nächste Dorfkirche gebracht würde.«
(zit. nach Heister / Stern, a.a.O., S. 78.)
(5) Adorno, a.a.O., S. 6.
(6) Eberle, a.a.O.
(7) Allerdings gibt es in dieser Tradition auch zu unmissverständliche, aber sehr diffizil
vorgetragene politische Statements. »King of Denmark«, eine Komposition Feldmans von
1964 für Schlagzeug Solo, verlangt von dem Interpreten äußerste Feinfühligkeit im
Umgang mit dem Instrument. Er darf keine Schlegel benutzen und also nur mit seinen
Händen, Armen etc. agieren. Dieses sehr leise Stück Musik (im demonstrativen Kontrast
zur eher lärmenden Schlagwerkmusik stehend) ist eine Hommage an den dänischen
König Christian X., unter dessen Regentschaft der jüdische Teil der dänischen
Bevölkerung vor der Wehrmacht nach Schweden evakuiert wurde und der sich aus
Solidarität öffentlich einen gelben Stern anheftete.
(8) Robert von Zahn, »Refüsierte Klänge. Musik im Atelier Bauermeister«, in: Das Atelier
Mary Bauermeister in Köln 1960 bis 1962, herausgegeben vom historischen Archiv der
Stadt Köln, 1993, S.117 f. In dem Band wird ein recht vollständiges Bild von der
kulturlinken Ursuppe abgegeben,die aus Adorno, Cardew, Bauermeister selber,
Stockhausen, Nam June Paik, LaMonte Young, Klaus-Heinz Metzger oder Hans G. Helms
u.a. zusammengerührt wurde.
(9) Eine komplette Aufführung des Werkes findet sich auf: »Cornelius Cardew - Treatise,
Jim Baker, Carrie Biolo, Guillermo Gregorio, Fred Ionberg-Holm, Jim O'Rourke, Art Lange«,
har [now] Art CD 2-122.
(10) vgl. Peter Niklas Wilson: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik. Hofheim
1999, S. 11ff.
(11) Auch dem amerikanischen Komponisten Christian Wolff, einem Sohn deutscher
Emigranten und aus dem engen Cage-Umfeld der fünfziger Jahre stammend, beginnt
ebenfalls für Nicht-Musiker zu komponieren. Die Partitur von »Stones« (1968) besteht
ausschließlich aus einem Gedicht, das in wenigen Zeilen Anweisungen gibt, wie man mit
Steinen Klänge erzeugen kann. Interessanterweise arbeitete Cardew zur selben Zeit an
einem Stück, »The Great Learning«, das ebenfalls (Improvisations-) Passagen umfasst, die
ausschließlich auf Steinen gespielt werden.
Über Wolffs Kompositionsreihe »Exercises« schreibt der Interpret Eberhard Blum: »Für die
Ausführenden ist Orientierungspunkt das Unisonospiel, doch sie sind frei, individuell über
Tempo, Dynamik, Artikulation, Spielweisen und Pausenlängen zu entscheiden wie auch
jederzeit darüber, ob sie spielen wollen oder nicht, d.h. über die Instrumentation. Das
alles wird im Verlauf der Aufführung entschieden, d.h., dass alle diese Aspekte der
Aufführung improvisiert werden - außer dass ein Unisono, mag es auch noch so fern sein,
immer ein Orientierungspunkt ist, zu dem ein Spieler, der zu weit davon entfernt ist,
zurückkehren muss. Mit anderen Worten: jeder Ausführende ist in dem Maße frei, in dem
es ihm gelingt, rechtzeitig die Zustimmung der anderen zur eigenen, speziellen
Aufführungsweise zu erlangen.« (Begleittext zu: »Exercises 1973 - 1975«, hat ART CD
6167)
Wolff stellt in seinem Werk die »parliamentary participation«, die es den Interpreten
erlaubt, frei in ihrer Gestaltung der reduzierten kompositorischen Vorgaben zu sein, der
»monarchical authority« des Komponisten gegenüber, die er eliminiert sehen will.
(12) zit. nach: Hanno Ehrler, »Radikale Demokratie. Das Londoner 'Scratch-Orchestra'«,
in: Musiktexte 75, August 1998, Köln, S. 52f..
(13) zit. nach: Hanno Ehrler, a.a.O., S.55.
(14) zit. nach: Hanno Ehrler, a.a.O., S.57.
(15) Selbst wenn die Musik zurücktrat, war dies ein radikaler Schritt. Cardew verwässerte
seine avantgardistischen Kompositionen nicht mit tonalen Elementen, sondern widmete
sich ganz den simplen Arbeiterliedern.
(16) Edwin Prévost: No Sound Is Innocent. AMM and the practice of self-invention. Metamusical narratives. Essays. Matching Tye near Harlow 1995. Wenn man sich von dem
Pathos nicht weiter stören lässt, dann ist das Buch als materialreiche, systematische wie
historische Einführung zu empfehlen.
(17) ebd., S. 33f. Den Moralismus hat er von Cardew übernommen.
(18) Aus den Linernotes zu »AMMMusic«.
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