Wozu Diagnoserichtlinien? 1. Historische Entwicklung der Diagnosesysteme 2. Methodisch – statistische Probleme 3. Erkenntnistheoretisch-philosophische Aspekte 4. Diverse Kritikpunkte 5. Wozu Diagnosen? 6. Psychologische und soziale Dimensionen 7. Alternativen und Ergänzungen R.Danzinger MANIFESTATION VON KRANKHEIT AUF VERSCHIEDENEN EBENEN Betrachtungsebene Medizinische Ebene Art der Störung Konsequenzen Krankheit (disease) Symptome, Pathologie, Diagnosen Beeinträchtigung (impairment) Subjektive Ebene Leiden (illness) Persönliche Notlage Behinderung (disability) Soziale Ebene Krankenstand (sickness) Verlust von Rollenerfüllung Benachteiligung Einschränkung (handicap) HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER PSYCHIATRISCHEN DIAGNOSESYSTEME 1 – AUSGEWÄHLTE FRÜHE BEISPIELE Antike: Erregungszustände, Depression, Verwirrung, Gedächtnisverlust, Verblödung Paracelsus: Vesania (substanzindiziert) 1493-1541 Insanitas (genetisch determiniert) Mondsucht (astrologische Einflüsse) Karl Linné: Ideales (Delir, Amentia, Manie, Depression) 1707-1778 Imaginarii (Hypochondrie, Phobie, Vertigo) Pathetici (Bulimie, Satyriasis, Erotomanie) HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER PSYCHIATRISCHEN DIAGNOSESYSTEME 2 – AUSGEWÄHLTE FRÜHE BEISPIELE Philippe Pinel: 1745-1826 Manie mit/ohne Delir Melancholie Dementia Idiotie Ganz ähnlich die Systematik seines Schülers Jean-Etienne-Esquirol 1772-1840 Christian Heinroth: 1773-1843 Johann Christian Reil: (1759-1813) Repräsentant der „Psychiker“ Verschiedene Sünden als Ätiologie Repräsentant der „Organiker“ Frühform der Hirnlokalisationslehre HISTORISCHE ENTWICKLUNG PSYCHIATRISCHER DIAGNOSESYSTEME 3 TRIADISCHE EINTEILUNG NACH E. KRAEPELIN 1855 – 1926 EXOGEN ENDOGEN PSYCHOGEN Vergiftungen Infektionen Syphilis Seniles Irresein Thyreogenes Irresein Dementia praecox Epilepsie Manisch-Depressive Tätigkeitsneurosen Verkehrspsychosen Schicksalspsychosen Hysterie Paranoia Psychopathie Vorläufer von Wilhelm Griesinger 1817-1868 HISTORISCHE ENTWICKLUNG PSYCHIATRISCHER DIAGNOSESYSTEME 4 DEUTSCHE KLASSIFIKATIONEN IM 20. Jhdt. Karl Jaspers Somatische Krankheiten mit Seelenstörung Die drei großen Kreise der Psychosen Psychopathien Kurt Schneider Folgen von Krankheiten Abnorme Spielarten seelischen Wesens Von seinem Schüler Huber fortgeführt und modifiziert Eugen Bleuler Assoziationspsychologische Erweiterung des Schizophreniebegriffes HISTORISCHE ENTWICKLUNG PSYCHIATRISCHER DIAGNOSESYSTEME 5 DEUTSCHE KLASSIFIKATION IM 20. Jhdt. K. Leonhard Alternative Gliederung der Psychosen in: Phasische Psychosen Reine Depressionen und Euphorien Zykloide Psychosen Unsystematische und systematische Schizophrenien Versuche von Franzek und Beckmann diese Einteilung organisch zu untermauern (1996) K. Wilmans Entwurf einer für die Reichsstatistik bestimmten Diagnosetabelle der Geisteskrankheiten (Würzburger Schema) diente mit seinen 21 Gruppen psychischer Störungen als Grundlage für die Gutachten der T4 Aktion zur Ermordung psychisch Kranker in der Nazizeit HISTORISCHE ENTWICKLUNG PSYCHIATRISCHER DIAGNOSESYSTEME 6 DSM III ICD 10 Multiaxialer Aufbau Deskriptive Orientierung (weg von ätiologischen Theorien) Operationalisierte Diagnosedefinitionen Aufgabe der Vorstellungen von endogen, psychogen und allmählich auch psychoorganischen Ätiologien 9 Diagnosekategorien, 5 Kodierungsstellen. Mehrfachdiagnosen entsprechend simultaner und sukzessiver Komorbidität EINIGE STANDARDISIERTE INTERVIEWS UND SYMPTOMCHECKLISTEN FÜR PSYCHISCHE STÖRUNGEN SKID Strukturiertes klinisches Interview für DSM SCAN Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry CIDI Composite International Diagnostic Interview IDCL Internationale Diagnosenchecklisten ICDML ICD-10 Merkmalsliste DSM V und ICD 10 Psychosoziale Belastungsfaktoren ICD 10 Stelle 3, DSM IV Achse 4 Soziale Funktionseinschränkungen ICD 10 Stelle 2, DSM IV Achse 5 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik OPD 1/2 Krankheitsverarbeitung Dysfunktionale Beziehungsmuster Repetitive Konfliktmuster Persönlichkeitsstruktur Freyberger et al. 1997 DIVERSE PRINZIPIEN DIAGNOSTISCHER EINTEILUNG heilbar/unheilbar akut/chronisch ätiologisch/deskriptiv kategorial/dimensional Restitutionssymptome/primäre Symptome Definitorische Operationalisierung Verlaufskriterien Mehrere Achsen der Diagnose Ansprechen auf die Therapie Komorbidität Multimorbidität (zusätzl. nicht psychiatr. Erkrankung) Genetische Diagnostik Salutogenetische Aspekte KATEGORIALE KLASSIFIKATION Abgegrenzte diagnostische Klassen mit definierten Ein- und Ausschlusskriterien. Meist Hierarchie zwischen den Krankheitskategorien. „Schubladen“ DIMENSIONALE (TYPOLOGISCHE)KLASSIFIKATION Hypothetische Idealtypen, denen die realen Fälle mehr oder weniger ähnlich sind. Statistisch entsprechen die multivariaten Verfahren (Faktoren – Clusteranalysen). Die Nähe zu den Typen (Faktoren) kaum durch Scores (Ladungen) quantitativ ausgedrückt werden. ERKENNTNISTHEORETISCHE GESICHTSPUNKTE Hat der kranke Patient überhaupt eine vom untersuchenden Psychiater unabhängige Existenz? Wird durch die Untersuchung nicht nur die äußere Realität verzerrt, sondern der Patient tatsächlich verändert? Setze ich den Patienten in die diagnostische Schublade, so verstecke ich ihn (Das Wort ist Mord am Ding G.F.W. Hegel). Durch die Beschriftung der Schublade mit dem diagnostischen Etikett mache ich ihn auf einer anderen Ebene wieder sichtbar. Dieses Etikett macht den Patienten konvertibel. Er kann verplant, verrechnet, beforscht werden. Es stellt den Tauschwert des Patienten auf dem Markt der Medizin dar. Der leidende, klagende, berührende Patient ist in der Schublade verschwunden. ZUR PROBLEMATIK DER DIAGNOSTISCHEN PROBEBEHANDLUNG Wir benehmen uns da wie jener schottische König in einem Roman von Victor Hugo, der sich eines unfehlbaren Mittels rühmte, um die Hexerei zu erkennen. Er ließ die Beschuldigte in heißem Wasser abbrühen, und dann kostete er die Suppe. Je nach dem Geschmack urteilte er dann: Ja, das war eine Hexe, oder: Nein, das war keine. DER GEGENSATZ POSITIVISTISCH/HERMENEUTISCH BEIM DIAGNOSTIZIEREN POSITIVISTISCH: Möglichst „objektives“ beschreiben der Symptome nach operationalisierten Regeln durch einen neutralen, sachlichen Diagnostiker. Dieser nomothetische Ansatz kommt den behavioral-kognitiven Ansätzen entgegen. HERMENEUTISCH: Verstehende Einfühlung in die Problematik des Patienten. Versuch auf der Basis eigener Lebenserfahrung sozusagen in den Patienten hineinzuschauen. Dieser ideographische Ansatz entspricht eher den psychoanalytischen Konzepten von Empathie und (Gegen)Übertragung. Auch die Mutter-Kind-Interaktionen laufen eher nach diesem einfühlenden, introspektiven Muster ab. Wenn jemand sagte, du handelst wie ein ehrlicher Mann, ich sehe es aber aus deiner Figur, du zwingst dich, und bist ein Schelm im Herzen, fürwahr ein solche Anrede wird bis ans Ende der Welt von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert werden. G.Chr.Lichtenberg S. Freud, 1912 W. Hogarth Charaktere und Karikaturen 1743 DIVERSE KRITIKPUNKTE AM PSYCHIATRISCHEN DIAGNOSTIZIEREN Stigmatisierung und soziale Diskriminierung durch psychiatrische Etikettierung Dazu ein schizophrener Dichter: Der Arzt zieht die Nummer dann Dem Patienten eine neue Seele an Der im Geiste einer Krankheit immer weiter ziehen soll Ernst Herbeck Konflikte im familiären und weiteren sozialen System werden im Patienten als Sündenbock konzentriert, er wird zum Symptomträger Die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung kann gestört werden. Fehlende Relevanz für den Betreuungsalltag in psychiatrischen Einrichtungen PSYCHOLOGISCHE UND SOZIALE DIMENSIONEN DER DIAGNOSE WOZU PSYCHIATRISCHE DIAGNOSEN PATIENTENBEZOGEN: Therapieplanung Prognose Psychoedukation Ätiologie MEDIZINBEZOGEN: Informationsaustausch Dokumentation Versorgungsplanung (Epidemiologische) Forschung Ausbildung Verrechnung (Leistungsnachweis) WICHTIGE DIMENSIONEN (ACHSEN) FÜR DIE ZUKUNFT Salutogenetische Kräfte der Selbstheilung Subjektive Krankheitstheorien (alternative Modellvorstellungen) Kontrolle über das bedrohliche Fremde Lebensqualität Distanzierung Patientenzufriedenheit mit der Behandlung Angstbewältigung Verständnis intrapsychischer Konflikte Hierarchisierung Genauere Erfassung krankheitsbezogener sowie protektiver und pharmaspezifischer Gene Verdinglichung Erfassung der Problemlösungsstrategien und typischen Verhaltensmuster Abwertung Berücksichtigung von Umweltfaktoren Ordnung und Sauberkeit