Nr. 52 Juni 2007 research eu Europäische Kommission Polarjahr Forschungsschiff „Polarstern“ Landwirtschaft Grüne Rohstoffe auf dem Vormarsch Klimaerwärmung Es ist höchste Zeit ISSN 1024-0810 Magazin des Europäischen Forschungsraums research*eu, das Magazin des Europäischen Forschungsraums will zur Erweiterung der demokratischen Debatte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beitragen. Es wird von unabhängigen Journalisten verfasst und analysiert und stellt Forschungsprojekte, Ergebnisse sowie Initiativen vor, deren Akteure, Frauen und Männer, zur Stärkung und Bündelung der wissenschaftlichen und technologischen Exzellenz Europas beitragen. research*eu wird auf Englisch,Französisch, Deutsch und Spanisch – vom Referat Information und Kommunikation der GD Forschung der Europäischen Kommission herausgegeben. Es erscheint zehn Mal im Jahr. research*eu Welche Klimapolitik? Das Titelblatt der Nummer 52 kann zweifellos eine Überraschung für die Leser sein, die das Magazin regelmäßig erhalten. FTE info hat sich einer Veränderung unterzogen und heißt nun research*eu (siehe S. 4). Im neuen Gewand bringt es seine Zielsetzung zur Geltung: ein Fenster zum Europäischen Forschungsraum und eine Plattform für die von der Europäischen Union angeregte Debatte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu sein. Das Dossier über die Klimaerwärmung ist in diesem Sinne in dieser Ausgabe auf eine „neue Art“ geschrieben. Das Jahr 2007 ist tatsächlich ein Wendepunkt. Der Nachweis für den menschlichen Einfluss auf den globalen Wandel des Ökosystems Erde ist inzwischen wissenschaftlich untermauert und die Klimapolitik erhält eine gesellschaftliche Priorität, die das ganze 21. Jahrhundert bestimmen wird. Drei europäische Persönlichkeiten, der Niederländer Paul Crutzen, der britische Ökonom Nicholas Stern und der Schweizer Philosoph Dominique Bourg werfen Licht auf eine Frage, die uns alle angeht: Wie kann man dem entgehen, bevor es zu spät ist? Auch wenn heute Entscheidungen gefällt werden können und müssen, das Zeichen, das alle 27 Länder der Union gegeben haben, indem sie sich zur drastischen Reduzierung ihrer Emissionen bis 2020 verpflichten, ist unter diesem Gesichtspunkt eine erste Antwort auf die Höhe des Einsatzes. Es gibt aber keine Sicherheit darüber, dass sie ausreichen. Aus diesen Gesprächen geht hervor, dass eine angemessene Steuerung auf globaler Ebene notwendig ist. Um manche Verhaltensweisen von Umweltsündern zu „kriminalisieren“, wie es Dominique Bourg vorschlägt, oder andere radikale Maßnahmen zu ergreifen, müssen die Entscheidungen gemeinsam von allen Ländern der Welt getroffen werden, wobei die zu ergreifenden Maßnahmen sicherlich auch anzupassen sind. Aber angesichts der Schwierigkeiten, die es zur Verabschiedung des bereits veralteten Kyotoprotokolls zu überwinden galt, sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt. Michel Claessens Chefredakteur Die in diesem Editorial und den Artikeln wiedergegebenen Meinungen sind nicht bindend für die Europäische Kommission. Sie möchten die Druckversion von research*eu erhalten? Sie können das Magazin kostenlos über die Website abonnieren. http://ec.europa.eu/research/research-eu Gewünschte Ausgabe: □ Französisch □ Englisch □ Deutsch □ Spanisch Sie können aber auch diesen Abschnitt ausfüllen (bitte in Druckbuchstaben) und an folgende Adresse zurückschicken: research*eu ML DG1201 Boîte postale 2201 L-1022 Luxembourg Wenn Sie mehrere Exemplare einer bestimmten Ausgabe erhalten wollen, schicken Sie ihre Bestellung zusammen mit Ihrer vollständigen Anschrift und einer kurzen Begründung bitte an: Name: .................................................................................................................................................................. Organisation: ........................................................................................................................................ Anschrift: ...................................................................................................................................................... ........................................................................................................................................................................................... PLZ: ................................................................ Stadt: ............................................................................... Land: ..................................................................................................................................................................... • per E-Mail an: [email protected] • per Fax an: (+32-2-295 82 20). Falls Sie ein oder mehrere Exemplare älterer Ausgaben erhalten möchten, schicken Sie uns eine kurze Nachricht per E-Mail oder per Fax. Chefredakteur Michel Claessens Lektorat der Sprachversionen Julia Acevedo (ES), Stephen Gosden (EN), Regine Prunzel (DE) Allgemeine Koordination Jean-Pierre Geets, Philippe Gosseries, Flore Vaucelle Redaktionelle Koordination Didier Buysse, Christine Rugemer Autoren Paul Stuart Arinaga, James Binning, Didier Buysse, Kirstine de Caritat, Christopher de Oliveira, Stéphane Fay, Carlotta Franzoni, Cyrus Paques, François Rebufat, Christine Rugemer, Yves Sciama, Mikhaïl Stein, Alexandre Wajnberg Übersetzungen Elena Rista (Koordination der Übersetzungen), Vicky Giougly (Redaktionsleiterin – EN), Silvia Ebert (DE), Consuelo Manzano (ES), Karen Rolland (FR) Graphik Gérald Alary (Projektleiter), Gregorie Desmons (Gestaltung), François Xavier Pihen (Seitenlayout), Gaëlle Ryelandt und Yaël Rouach (Produktionskoordination und -ablauf), Daniel Wautier (Korrektur der Druckfahnen) Webversion Carmen Lupea (Team-Koordinatorin Webcontent), Giannis Tsevdos (Webeditor) Deckblatt Wirbelsturm – Zeichnung (Ausschnitt) eingesandt aus Belize von William Lopez, 12 Jahre, an die WMO Gesamtproduktion PubliResearch Druck Enschedé/Van Muysewinkel, Brüssel Auflage dieser Nummer 322 000 Alle Ausgaben von research*eu sind auch auf der Website der GD Forschung zu finden: http://ec.europa.eu/research/research-eu Für die Ausgabe verantwortlich: Michel Claessens Tel.: +32 2 295 9971 Fax: +32 2 295 8220 E-mail : [email protected] © Europäische Gemeinschaften, 2007 Nachdruck mit Quellenangabe gestattet Weder die Europäische Kommission noch irgendeine Person, die im Namen der Kommission handelt, sind für die Verwendung der in dieser Publikation enthaltenen Informationen oder für eventuelle, trotz der sorgfältigen Vorbereitung der Texte noch vorhandene Fehler verantwortlich. INHALT 18 In Kürze Kurzer Ausblick auf den Europäischen Forschungsraum 4 Schließen Sie FTE info und schlagen Sie research*eu auf 5 Das Team von research*eu 2007, das Polarjahr DOSSIER Klima DOSSIER KLIMA Erde im Blickpunkt Unter den sich überstürzenden Ereignissen, die die Menschheit an der Schwelle des 21. Jahrhunderts prägen, wird das Jahr 2007 einen Wendepunkt darstellen. Am 10. Februar dieses Jahres hat der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen (IPCC) sehr medienwirksam seinen fünften Bericht vorgestellt. In diesem werden zwei Jahrzehnte multidisziplinärer Untersuchungen zusammengefasst. Aus dem Bericht ist der formale Schluss zu ziehen, dass die durch menschliche Aktivitäten hervorgerufenen Symptome einer globalen Klimaerwärmung erwiesen sind und sich – schneller als erwartet – unwiderruflich ausbreiten werden. Es muss etwas geschehen. Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach 2007. Bereits im März hat jedenfalls die EU auf dem Europäischen Frühlingsrat unter deutscher Präsidentschaft ein schnelles und beispielhaftes Zeichen gesetzt. Ihr Ziel ist es, die Treibhausgasemissionen in Europa bis 2020 drastisch um 20 % zu senken. Dieses Dossier greift erneut die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Klimawandel auf. Dabei werden insbesondere die Ansichten von Paul Crutzen, Spezialist für Atmosphärenchemie, Nicholas Stern, Wirtschaftswissenschaftler und Autor eines bahnbrechenden Berichts über die Kosten der Erderwärmung und Dominique Bourg, Vordenker der nachhaltigen Entwicklung, gegenübergestellt. 6 research*eu nr 52 I JUNI 2007 Eiszylinder mit Einschlüssen der Felsplatte, Bohrung vom Standort Vostok (Antarktis) aus 3 600 m Tiefe. Studie des Laboratoire de glaciologie et de géophysique de l’environnement des CNRS in St-Martin d’Heres. 22 Forschungsschiff „Polarstern“ Bericht von Gauthier Chapelle von der Internationalen Polarstiftung, Teilnehmer an einer Forschungsexpedition des Eisbrechers „Polarstern“ in der Antarktis während des südlichen Sommers 2006-2007. Medizin © CNRS Bildarchiv/Laurence Medard Die Zukunft der DOSSIER KLIMA research*eu nr 52 I JUNI 2007 7 8 Es ist höchste Zeit Die vierte Auflage des Berichts des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC), der im Februar 2007 erschienen ist, lässt keine Zweifel mehr: Der Klimawandel ist da. 10 IPCC - Am Anfang steht die Wissenschaft… Hintergründe zu einer wissenschaftlichen Struktur außerhalb der Normen, die sich auf der weltpolitischen Bühne durchgesetzt hat. 12 Hilft Geoengineering? Nach Paul Crutzen, Chemienobelpreisträger, müssen die Forscher die Möglichkeiten eines menschlichen Eingriffs in die Erdatmosphäre untersuchen. Eine solche Lösung sollte nur im Notfall angewendet werden… Ein Gespräch. 14 Das wirtschaftliche Argument Gespräch mit Nicholas Stern, Autor eines nachhaltigen Berichtes über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Klimaerwärmung. Eine Arbeit, die die Neubezifferung dieser neuen, planetarischen Herausforderung erlaubt. 16 Für eine planetarische Ethik „Unsere Gesellschaft tritt die Flucht nach vorn an in die Technologie. Das ist die ganze Dramatik der nachhaltigen Entwicklung.“ Standpunkt von Dominique Bourg, Philosoph und Umweltschützer. 25 Protokoll der Antibiotika-Resistenz CombiGyrase, ein europäisches Projekt zur Antibiotikaforschung weckt Hoffnungen im Kampf gegen die bakterielle Resistenz. Landwirtschaft 26 Grüne Rohstoffe auf dem Vormarsch Können Landwirte angesichts der globalen Erderwärmung und der Notwendigkeit, die Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen zu reduzieren, auch zu Erzeugern industrieller Rohstoffe werden? Analyse des euroamerikanischen Konsortiums Epobio. Gemeinsame Forschungsstelle 29 Atompolizei im weißen Kittel Seit einem Vierteljahrhundert unterstützt die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission mit ihrer logistischen Erfahrung die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), deren Auftrag es ist, gegen die Verbreitung von Kernwaffen vorzugehen. Porträt 34 Jerzy Buzek, ein Wissenschaftler in der Politik Die Befreiungsbewegung Solidarność hat den Chemiker und Energiespezialisten Jerzy Buzek zu einem der geachtetsten Politiker in Polen gemacht. Heute ist er Europaparlamentarier. Bei der Ausarbeitung des RP7 war er Ansprechpartner der Kommission. Chancengleichheit 36 Geschlechtergleichstellung in kleinen Schritten Die Entwicklung der Chancengleichheit in der europäischen Politik. Das Projekt Equapol hat diesen gesellschaftlichen Ansatz in acht Ländern der Europäischen Union untersucht. Forschung & Medien 39 Mehr Wissenschaft auf dem Bildschirm Großaufnahme zweier Initiativen zu „Wissenschaft und Medien“ der Kommission: Athena Web und Futuris. Wissenschaft griffbereit 40 Kurz gefasst Pädagogische Ecke 42 Publikationen, Meinungen, Agenda Bild der Wissenschaft 44 Gletscherschmelze Ein Beispiel aus der Ausstellung Kunstwerk Erde, das von der Helmholtz-Gesellschaft organisiert wird. Nanotechnologien 32 Die Metamorphosen des Goldes im Nanobereich Wegen seiner funktionalen Eigenschaften ist Gold bereits seit langem in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Im Nanometer-Maßstab zeigt es neue physikalische und chemische Eigenschaften, die besonders im medizinischen Bereich viele neue Möglichkeiten eröffnen. Das gibt’s in der nächsten Ausgabe von research*eu Dossier Neue Viren TIC Computergestützte Übersetzung research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 3 Schließen Sie FTE info und schlagen Sie * research eu auf Dezember 2006 F 4 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Zeitschrift kann man teilen, falten und mit sich nehmen, man kann sie immer wieder lesen, sie darf einen gewissen Platz und eine gewisse Zeit einnehmen und den schönsten Teil der Grafik widmen) erinnert research*eu auch an die Effizienz des Internets, an das sich seine Schreibweise anlehnt. Damit bezieht sie sich auch auf ihr virtuelles Double, das von seinen Besonderheiten profitieren wird und weiter ausgebaut werden und auf andere Bedürfnisse antworten kann (regelmäßige Nachrichten, Links, die die Online-Artikel vertiefen, Lesermeinungen usw.) Ein einziger Titel für alle Ausgaben in vier verschiedenen Sprachen (auch das war Gegenstand interner Debatten), wird Einige sicherlich in Erstaunen versetzen oder vielleicht auch schockieren. Ein kurzer Blick auf das Deckblatt beruhigt jedoch… research*eu bleibt ein mehrsprachiges Magazin. Die verschiedenen Ausgaben decken natürlich nicht die sprachliche Vielfalt der Union ab, aber im Rahmen unserer Möglichkeiten bezeugen sie den Willen, die kulturelle Identität und Vielfältigkeit zu respektieren und eine möglichst große Anzahl an Lesern zu erreichen. Das heißt, dass im Moment vier Sprachversionen komplett verfügbar sind. (1) Die Wahl eines gemeinsamen Titels soll keinen Akt des Vasallentums gegenüber der aktuellen Lingua franca in Europa darstellen. Diese Wahl sollte als pragmatisch hingenommen werden. Man stelle sich die Verwirrung vor, die entstehen könnte, wenn sich ein französischer Leser auf Klima Wissenschaftlicher Notstand IKT I Der Mensch als Maschine 12 Medizin I Diabetes und Obesität 29 Nr.° 52 Juni 2007 research eu Europäische Kommission Magazin des Europäischen Forschungsraums Polarjahr Forschungsschiff „Polarstern“ Landwirtschaft Grüne Rohstoffe auf dem Vormarsch ISSN 1830-7361 TE info wurde vor mehr als 10 Jahren als vorübergehender Informationsbrief der Europäischen Kommission mit institutionellen Inhalten veröffentlicht. Er hat sich im Laufe der Jahre zu einem Magazin entwickelt, das mit einem journalistischen Ansatz die Akteure der europäischen Forschung und deren Projekte in den Mittelpunkt stellt. Dieser anfängliche Titel erschien mehr und mehr unvollständig und veraltet und stand in keinem Verhältnis zur formalen und inhaltlichen Entwicklung. Der Gedanke, ihn zu ändern, lag schon seit längerem in der Luft. Aber die Presse tut sich immer sehr schwer bei einem solchen Schritt. Die mögliche Namensänderung einer regelmäßigen, viersprachigen Publikation, die seit vielen Jahren eine starke Verbreitung genießt, zog viele Abstimmungen, Beratungen und Leserumfragen nach sich. Nachdem ein Konsens gefunden war, brauchte man nur noch einen „guten“ Namen: research*eu wurde geboren. Wir hätten uns auch, wie es oft der Fall ist, für einen Bezug auf die Mythologie oder Antike oder für einige Variationen der Vorsilbe eur- oder euro entscheiden können. Wir haben einen kompakten Titel vorgezogen, der der Art des Magazins gerecht wird, und der gleichzeitig seinen Inhalt (research) und seinen Ursprung (eu – 2006 eröffnete Web-Domain zur Bezeichnung des geografischen Wirkungsfelds der Europäischen Union) erkennen lässt. Die beiden Begriffe sind durch ein Sternsymbol verbunden. Unter Beibehaltung aller starken Aspekte einer gedruckten Publikation (eine Zeitung oder ISSN 1023-9006 Neuer Name, neue Grafik, mehr Seiten und Themen, die mal knapper mal ausführlicher gestaltet sind, sowie mehr Interaktivität mit unseren Lesern … Aber ein unverändert doppeltes Ziel: das Magazin des europäischen Forschungsraums zu sein und eine Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu schlagen. Klimaerwärmung Es ist höchste Zeit research*eu, ein Deutscher auf Forschung*eu und ein Spanier auf investigación*eu beziehen würde. (1) Die spanische Ausgabe, die vorher nur in elektronischer Form existierte, wird es ab dieser Ausgabe ebenfalls in der Druckversion geben. ec.europa.eu/research/research-eu research eueu Das Team von research * * Einmal ist keinmal. Hier die Hauptakteure, die an der Realisation von research*eu mitarbeiten. EUROPÄISCHE KOMMISSION Chefredakteur Michel Claessens Lektorat der Sprachversionen Julia Acevedo (ES) Stephen Gosden (EN) Régine Prunzel (DE) DESIGN Gregorie Desmons – Gestaltung François Xavier Pihen – Seitenlayout Gaëlle Ryelandt und Yaël Rouach – Koordination und Produktionsablauf ALLGEMEINE KOORDINATION Jean-Pierre Geets Philippe Gosseries Flore Vaucelle REDAKTION Redaktionelle Koordination Didier Buysse Jean-Pierre Geets Christine Rugemer Autoren Paul Stuart Arinaga James Binning Kirstine de Caritat Christopher de Oliveira Stéphane Fay Charlotte Lemaître Cyrus Pâques François Rebufat Yves Sciama Mikhaïl Stein Alexandre Wajnberg KOORDINATION DER ÜBERSETZUNGEN Elena Rista WEBSITE Carmen Lupea Team-Koordinatorin Webcontent Giannis Tsevdos – Webeditor research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 5 DOSSIER KLIMA Die Zukunft der Erde Unter den sich überstürzenden Ereignissen, die die Menschheit an der Schwelle des 21. Jahrhunderts prägen, wird das Jahr 2007 einen Wendepunkt darstellen. Am 10. Februar dieses Jahres hat der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen (IPCC) sehr medienwirksam seinen fünften Bericht vorgestellt. In diesem werden zwei Jahrzehnte multidisziplinärer Untersuchungen zusammengefasst. Aus dem Bericht ist der formale Schluss zu ziehen, dass die durch menschliche Aktivitäten hervorgerufenen Symptome einer globalen Klimaerwärmung erwiesen sind und sich – schneller als erwartet – unwiderruflich ausbreiten werden. Es muss etwas geschehen. Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach 2007. Bereits im März hat jedenfalls die EU auf dem Europäischen Frühlingsrat unter deutscher Präsidentschaft ein schnelles und beispielhaftes Zeichen gesetzt. Ihr Ziel ist es, die Treibhausgasemissionen in Europa bis 2020 drastisch um 20 % zu senken. Dieses Dossier greift erneut die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Klimawandel auf. Dabei werden insbesondere die Ansichten von Paul Crutzen, Spezialist für Atmosphärenchemie, Nicholas Stern, Wirtschaftswissenschaftler und Autor eines bahnbrechenden Berichts über die Kosten der Erderwärmung und Dominique Bourg, Vordenker der nachhaltigen Entwicklung, gegenübergestellt. 6 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Eiszylinder mit Einschlüssen der Felsplatte, Bohrung vom Standort Vostok (Antarktis) aus 3 600 m Tiefe. Studie des Labors für Gletscherkunde und Geophysik der Umwelt des CNRS in St-Martin d’Heres. DOSSIER KLIMA © CNRS Bildarchiv/Laurence Medard im Blickpunkt research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 7 DOSSIER KLIMA Es ist höchste Zeit © WWF/photos NASA Wer könnte noch an der Klimaerwärmung zweifeln? Die endgültige Beurteilung der Wissenschaftler des IPCC (1) hat im Februar 2007 den Ernst der Lage herausgestellt und zu schnellem Handeln aufgefordert. Die Schmelze der polaren Eiskappen, Beleg für die Klimaerwärmung. Packeis in der Arktis und bei Grönland 1979 und 2005. D ie Klimaerwärmung ist eindeutig.“ Mit diesem kleinen, sachlichen Satz, ausgesprochen vor einem beeindruckenden Aufgebot von „ Reportern und Kameras aus aller Welt, hat Susan Solomon, Co-Präsidentin einer Arbeitsgruppe des IPCC und Forscherin am Earth System Research Laboratory von Boulder (USA), den richtigen Tonfall für eine streng wissenschaftliche Botschaft getroffen. Es ist der 2. Februar 2007. Der IPCC veröffentlicht in Paris den vierten Bewertungsbericht. Dieser ist das Ergebnis sechsjähriger Arbeit der weltweiten Klimaforschungsgemeinschaft. Wenn der Vortrag auch ziemlich sachlich ist, so ist die Botschaft jedoch von höchster Brisanz. „Wir sind der Meinung, dass die steigende, globale Erwärmung seit Mitte des 20. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich auf die Zunahme von Treibhausgas-Emissionen durch menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist“, konstatiert die Wissenschaftlerin. „Das Wort ‚höchstwahrscheinlich’, das den Ausdruck ‚wahrscheinlich’ im vorherigen Bericht ersetzt, muss als gravierende Änderung 8 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 gedeutet werden, wenn man bedenkt, dass er von einer Gruppe eher konservativer Forscher stammt“, gibt David Wratt, Direktor des National Climate Centre in Wellington (Neuseeland) zu bedenken. Wratt weiß, wovon er spricht, denn er ist einer von ungefähr vierzig leitenden Autoren, die das Dokument ausgearbeitet haben. Er betont, dass dieses höchstwahrscheinlich eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 90% zum Ausdruck bringt. Achim Steiner, Vorsitzender des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), vertritt die gleiche Meinung: „Dieser Tag wird vielleicht als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem die Frage nach dem Einfluss des Menschen auf das Klima geklärt wurde.“ Zuverlässige Modelle, alarmierende Szenarien Hier handelt es sich nicht um revolutionäre Erkenntnisse, sondern um eine Bestätigung und Bekräftigung dessen, was der IPCC seit Jahren ankündigt. Unser Planet erwärmt sich, weil die Temperatur im Laufe des 20. Jahrhunderts um ca. 0,7 °C angestiegen ist. Noch gravierender ist die Tatsache, dass die Erderwärmung immer schneller voranschreitet. Aktuell erwärmt sich die Erde um jeweils 0,2 °C pro Jahrzehnt. Und wie sieht es morgen aus? „Die Antwort darauf geben uns globale Modelle, die immer zuverlässiger werden“, erklärt Susan Solomon. Zuverlässiger deshalb, weil sie immer weiter verbessert werden und deshalb die Natur der Phänomene immer besser darstellen können. Außerdem steigert sich ihre Zuverlässigkeit durch ihre höhere Zahl (im Moment gibt es ungefähr 25 Modelle im Vergleich zu knapp zehn beim vorigen Bericht). Und schließlich, weil man mehrere zur gleichen Zeit anwenden kann: sieben oder acht Simulationen geben natürlich mehr Hinweise als nur eine. Die wichtigsten Lektionen des Berichts sind eindeutig die alarmierenden Zukunftsaussichten: werden keine besonderen Maßnahmen gegen die Erderwärmung ergriffen, liegt die wahrscheinliche globale Erwärmung im 21. Jahrhundert zwischen 1,8 und 4 °C. Dabei muss man bedenken, dass die Entwicklungsprognose für die menschliche Gesellschaft genauso schwierig ist wie die Klimaprognose. Spezialisten haben demzufolge für die verschiedenen Szenarien zusammenhängende Hypothesen über die Weltbevölkerung, die Wahl der Technologien (mehr Kohle oder mehr Nuklearenergien/erneuerbare Energien) und die Art des Wachstums (z. B. stärkere Orientierung in Richtung Dienstleistungen und Information oder in Richtung materiellen Konsums) aufgestellt. Die Klimaforscher stehen nun vor der Aufgabe, die Konsequenzen dieser verschiedenen Zukunftsmodelle auszuwerten. Bei Betrachtung der Zahlen bewegen wir uns auf einer Skala zwischen einem Anstieg um 1,8 °C im günstigsten (im weiteren B1) und DOSSIER KLIMA Das Katastrophenprogramm Die angekündigten Temperaturanstiege stellen jedoch Mittelwerte für den Planeten dar und beschreiben keine einheitliche und kontinuierliche Erwärmung. Die mittlere Erderwärmung ist nur ein mathematisches Beispiel, das dazu dient, das Ausmaß der Zerstörung durch den Menschen aufzuzeigen. Eine Voraussage der exakten Ausmaße, die sie annehmen kann, ist weitaus schwieriger. Auf regionaler oder lokaler Ebene können kleinere oder mittlere Phänomene die großen Tendenzen verschärfen oder abschwächen. Mit den neuen Modellen ist es jedoch möglich, verschiedene Entwicklungen darzustellen. Hitzewellen und sehr hohe Temperaturen werden häufiger auftreten, länger anhalten und intensiver sein. Das führt weltweit zum Abschmelzen der Schneedecken und zum Auftauen der Permafrostböden 2. In der Arktis und in der Antarktis wird sich die Meereisdecke stark zurückbilden und, einigen Simulationen zufolge, ab 2050 im Sommer ganz von der nördlichen Halbkugel verschwunden sein. Ein sehr wichtiger Aspekt des Klimas für menschliche Aktivitäten ist die Niederschlagsmenge. Hier rechnet man mit einer Steigerung in den hohen Breitengraden und mit einer Abnahme von bis zu 20 % in den meisten subtropischen Gebieten. Im gesamten Mittelmeerbecken wird es spürbar weniger Niederschläge geben, was starke Auswirkungen auf alle südeuropäischen Länder nach sich ziehen wird. Alle Modelle zeigen eine Intensivierung von Orkanen und Taifunen in den Tropen, während die Stürme in den mittleren Breiten in Richtung der Pole abgeleitet werden. Schließlich scheint der Meeresspiegel im Laufe der letzten 20 Jahre um ungefähr 3,1 mm pro Jahr angestiegen zu sein. Diesen Ausführungen zufolge wird sich dieses Phänomen im 21. Jahrhundert fortsetzen. Drei Rätsel Trotz des Wissensfortschritts bleiben einige wichtige klimatologische Unsicherheitsfaktoren bestehen. Während die allgemeine Tendenz unumstritten ist, bemühen sich die Forscher darum, einige Phänomene zufriedenstellend im Modell darzustellen. Dabei stehen sie vor drei großen Rätseln. Als Erstes wären die positiven Rückführungen in den Kohlenstoffkreislauf zu nennen. Hierbei stellt sich folgende Frage: in welchem Maße tragen die Folgen der Erwärmung auf die Pflanzenwelt zu einer Verschärfung der Erwärmung insgesamt bei? Zum Beispiel hat die Gluthitze 2005 in Europa schwerwiegende Schäden in der Vegetation verursacht. Die Pflanzen haben keinen atmosphärischen Kohlenstoff mehr absorbiert, sondern während ihres Absterbens sogar noch Kohlenstoff freigesetzt. Diese Art der Rückführung lässt sich allerdings sehr schwer im Modell nachbilden. Eine weitere Frage betrifft das Verhalten der Aerosole in der Atmosphäre. Die kleinen Partikel natürlichen (Feinstaub) oder menschlichen Ursprungs (insbesondere industrielle Sulfatabfälle) reflektieren oder absorbieren das Licht, je nach Größe und Farbe. Das hat verschiedene Folgen auf die Atmosphäre und die Wolkendecke. Aerosole sind nämlich an der Wolkenbildung beteiligt, die ihrerseits allerdings schwer vorherzusagende Auswirkungen auf die Strahlung hat. Je nach Wolkenbeschaffenheit, ob dick oder dünn, ob sie sich in großen oder weniger großen Höhen befinden, können diese zur Abkühlung oder Erwärmung der Atmosphäre beitragen. Zuletzt stehen die Forscher der zukünftigen Entwicklung der antarktischen und grönländischen kontinentalen Eiskappen ratlos gegenüber. Möglicherweise entsteht durch den Erwärmungsprozess eine geschmolzene Schicht, die sich wie ein Schmiermittel an der Basis der gigantischen Eismassen bildet. Diese Schicht könnte ihre natürliche Bewegung zum Meer hin beschleunigen und sie auf lange Sicht schmelzen lassen. Die daraus resultierenden Konsequenzen für den Meeresspiegel wagt bis jetzt niemand vorauszusagen. Yves Sciama (1) Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen (2) Aus dem Englischen permafrost, bezeichnet permanent gefrorene Böden. Bei den möglichen Katastrophenszenarien würde das gesamte Mittelmeerbecken unter einer großen Dürre leiden. Auf dem Bild ist der Einfluss der menschlichen Eingriffe in die Feuchtzonen der Camargue zu sehen. Dieser wird vom Zentrum für funktionelle und evolutionäre Ökologie (CEFE) in Montpellier untersucht. Diese Arbeiten befassen sich mit den Mikroorganismen in den Sedimenten unter dem Aspekt der Treibhausgas-Emissionen. © CNRS/Gilles Pinay 4,0 °C im schlechtesten Fall (im weiteren A1 FI, für fossilintensiv). Die Angaben umfassen auch eine mögliche Fehlerspanne. So könnte A1FI den Prognosen des IPCC zufolge einen Anstieg von +2,4 °C bis +6,4 °C verursachen. Warum gibt es diese Differenz? Ein Merkmal der Klimaerwärmung ist, dass sich ihre Auswirkungen um so stärker bemerkbar machen, je weiter man sich von der tropischen Zone entfernt und sich auf die Kontinente und hohen Breitengrade konzentriert. Man kann insgesamt davon ausgehen, dass man 50 % zur globalen Erwärmung dazurechnen muss, um die Erwärmung in Westeuropa zu erhalten und bis zu 300 %, um eine gültige Prognose für die Polarregionen und die nördlichsten Teile des Kontinents zu treffen. A1 FI beschreibt also eine schwere Klimakatastrophe. research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 9 DOSSIER KLIMA IPCC – Am Anfang steht A Wer sind die Forscher, die hinter der Abkürzung IPCC (Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) stehen, und warum gelten sie als Autorität? Dieser höchste Gelehrtenausschuss wurde 1988 als Gemeinschaftsinitiative der Weltorganisation für Meteorologie (WOM) und des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) gegründet. Für Michel Jarraud, Generalsekretär der WOM, hat sich diese außerhalb der Normen stehende Einrichtung in der weltpolitischen Szene durchgesetzt, „weil hier der wissenschaftliche Aspekt immer vorrang hat“. uf Initiative der WOM – unbestritten das universellste und kooperativste wissenschaftliche Netz weltweit – wurde vor zwei Jahrzehnten der IPCC gegründet. Als den Meteorologen die ersten Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der weltweiten Klimaerwärmung und menschlichen Aktivitäten vorlagen, hielten sie es für notwendig, regelmäßige Beobachtungen durchzuführen und Erkenntnisse über diese beunruhigende Entwicklung zu gewinnen. Aus diesem Grunde sollten hoch entwickelte Modelle erarbeitet werden, anhand derer die Entwicklungen in der Zukunft prognostiziert werden sollten. Der IPCC ist keine Forschungseinrichtung. Er ist eher als international beauftragtes Gremium zu sehen, das alle fünf bis sechs Jahre den „Stand der Wissenschaft“ zur Klimaentwicklung in einer für die Entscheidungsträger und für die Öffentlichkeit verständlichen Sprache vorlegen soll. „Wenn die Angaben von Tausenden Globale Erwärmung (°C) Darstellung der mittleren globalen Temperatur gemäß der Szenarien NORDAMERIKA • Sinkende Wasserspiegel in den Großen Seen • Beeinträchtigung der Landwirtschaft in den großen Ebenen • Gefährdete Ökosysteme: Moore, Tundren © IPPC 2007 WG-AR4 Jahr Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Temperaturen merklich angestiegen. Besonders auffällig ist, dass dies seit 1950 immer schneller geschieht. Das Phänomen El Niño bewirkt allgemein einen globalen Temperaturanstieg. Dieser war im Jahr 1988 besonders heftig. Zweifellos wurde in diesem Jahr ein Rekordanstieg gemessen. Einige Klimaforscher sagen bereits voraus, das der Rekord 2007 gebrochen wird, denn El Niño 2007 ist wieder da. 10 POLARREGIONEN • Rückgang der arktischen Eiskappe • Folgen für die Fischgründe research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 LATEINAMERIKA • Überschwemmungen, tropische Wirbelstürme • Gefährdete Ökosysteme: Mangrovenwälder DOSSIER KLIMA die Wissenschaft… von Wissenschaftlern zusammengetragen, diskutiert und zusammengefasst sind, werden sie zur Freigabe an die einzelnen Regierungsvertreter geschickt. Diese hoch offizielle Anerkennung der Sachverhalte verleiht den Ergebnissen ein enormes Gewicht. Kein Land der Welt hat die Ergebnisse des letzten Berichts angezweifelt“, teilt Michel Jarraud mit. Politik unter falschem Verdacht Dieses „Korrekturlesen“ durch staatliche Vertreter wurde oft kritisiert. So warfen die „Klimaskeptiker“ dem IPCC vor, eine politische Organisation zu sein. „Am Anfang glaubten einige, dass es schwer sei, ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wissenschaft herzustellen. In der Tat gibt es ein sehr innovatives und sehr effizientes Gleichgewicht. Es ergibt sich aus der Tatsache, dass die wissenschaftliche Objektivität immer im Vordergrund steht.“ (1) Der Vorwurf der ‚Politisierung’ des IPCC wird immer mehr entkräftet, je mehr der wissen- schaftliche Konsens gestärkt wird. „Betrachten Sie die Entwicklung der Berichte. Im ersten wurde gesagt, dass es Indizien für einen Klimawandel gäbe, im zweiten, dass eine Zahl übereinstimmender Indizien vorhanden sei. Der dritte Bericht sprach vom wahrscheinlichen Klimawandel, und im jetzt vorliegenden wird der Klimawandel als höchstwahrscheinlich eingestuft. Heute steht fest, dass das Klimasignal nicht mehr durch natürliche Veränderung erklärt werden kann.“ Die aus der Klimaerwärmung entstehende Verunsicherung führt in einem mehr und mehr multidisziplinären Kontext zu neuem Forschungs- und Datenbedarf. Man muss die Atmosphäre, die Kryosphäre (Eisflächen des Planeten), die Hydrosphäre (Flüsse und Meere), die Biosphäre (Einheit der Lebewesen) usw. untersuchen. Die Forscher bitten die WOM um die unterschiedlichsten Beobachtungen. Dazu gehören beispielsweise Spurengase mit Treibhauseffekt, Vulkanpartikel, Wüstenstaub. Während die Möglichkeiten der Satellitenbeobachtung auf spektakuläre Weise zunehmen, werfen die unersetzbaren Beobachtungen am Boden jedoch immer mehr Probleme auf. Sie können, insbesondere in den Entwicklungsländern, lückenhaft sein, da dort weder die Mittel für Instrumente aufgebracht noch die Betriebskosten gedeckt werden können. Besonders trifft das in wichtigen Gebieten Afrikas, Asiens und der Pazifischen Inseln zu. „Eine Hauptaufgabe der WOM besteht darin, die Kapazitäten ihrer Mitglieder zu stärken. Bei den Regierungen muss deshalb besonders eindringlich darauf hingewiesen werden, dass ein gutes Beobachtungsnetz keine unrentable Investition ist, sondern sich ganz im Gegenteil auszahlt. Dazu sollte man anmerken, dass 90% der Naturkatastrophen meteorologischen oder hydrologischen Ursprungs sind und dass eine effiziente Prävention nur auf der Grundlage präziser Beobachtungen möglich ist.“ Yves Sciama (1) Alle Zitate von Michel Jarraud EUROPA • Mehr Regen im Norden, Trockenheit im Süden • Gletscherschmelze • Auswirkungen auf den Wintersport-Tourismus Mögliche Folgen der Klimaerwärmung (Zeitraum 2050-2100) Anpassungsvermögen an den Klimawandel ASIEN • Migration von Millionen von Menschen aufgrund des steigenden Wasserspiegels • Gefährdete Ökosysteme: Mangrovenwälder, Korallenriffe Stark Schwach Verringerte Wasservorräte AFRIKA • Verwüstung • Hungersnöte • Gefahr von Überschwemmungen und Erosionen in Küstengebieten • Fortbestand der Unterentwicklung AUSTRALIEN NEUSEELAND • Dürre • Gefährdete Ökosysteme: Korallenriffe, australische Bergmassive Entwicklung von Infektionskrankheiten Vermehrtes Auftreten extremer Klimaereignisse Verminderung der landwirtschaftlichen Ressourcen Beeinträchtigung der biologischen Vielfalt Gletscherschmelze Quelle: IPPC Climate Change 2001 © La Documentation française, Cartothèque research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 11 DOSSIER KLIMA Hilft Geoengineering? Für Paul Crutzen, renommierter Spezialist für Atmosphärenchemie am deutschen Max-Planck-Institut und Träger des Nobelpreises (1995), geht der Bericht 2007 des IPCC „an der Realität vorbei“. Mit seinem Vorschlag die Möglichkeiten eines direkten Eingriffs auf die Erdatmosphäre zu untersuchen, spätestens wenn das Klima anfängt, aus den Fugen zu geraten, hat der Niederländer im letzten Jahr ein Tabu gebrochen. Paul Crutzen – „Das Einzige, was man am Bericht des IPCC bemängeln könnte, ist, dass er sich zu vorsichtig ausdrückt.“ Was halten Sie von den Schlussfolgerungen des neuesten Berichts des IPCC? Sie bringen nicht viel Neues für jemanden, der diese Problematik verfolgt. Die Zahlen unterscheiden sich eigentlich kaum von jenen, die im vorigen Bericht von 2001 veröffentlicht waren. Das bedeutet keinesfalls, dass die Klimatologie seitdem keine Fortschritte gemacht hat. Die Entwicklungswahrscheinlichkeiten sind präziser und fundierter geworden. Der Widerspruch zwischen den Temperaturerhebungen in der Atmosphäre und den Satellitendaten, bisher ein Besorgnis erregendes Problem, ist mit der Aufdeckung falsch interpretierter Messdaten durch die Satelliten beseitigt worden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Erklärung, dass der Temperaturanstieg die Kohlenstoffspeicher in den Ozeanen und an Land reduzieren wird. Die Bestände würden freigesetzt und zu CO2-Quellen werden. Diese Frage ist im Bericht von 2001 offen geblieben. Das Einzige, was man an den Ausführungen des IPCC-Berichts bemängeln könnte, ist, dass er sich zu vorsichtig äußert und etwas an der Realität vorbeigeht. Die Situation ist möglicherweise viel kritischer, als sie hier dargestellt ist. Beispielsweise wird der Anstieg des Meeresspiegels unterschätzt. Das wurde schon von mehreren Forschern betont. 12 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Das Klima ist möglicherweise weniger stabil, als wir es annehmen, und die Temperaturen können schneller steigen als vorhergesehen. Ich bin Spezialist auf dem Gebiet der Erforschung der Ozonschicht und möchte Ihnen hier ein Beispiel geben. In unseren anfänglichen Auswertungen zum Ozonloch haben wir das Problem eindeutig unterschätzt, weil wir die Lage der Arktis nicht berücksichtigt hatten. Wir hatten nicht bedacht, dass das FCKW, welches in die mittleren und hohen Breitengrade der Nordhalbkugel eingeleitet wurde, katastrophale Auswirkungen hatte, die zur Veränderung des Ozons am gegenüberliegenden Pol führen würden. Kann nicht auch eine ähnliche „Überraschung“ bei der Erwärmung auftauchen? Für diesen Fall muss eine Strategie bereitstehen, die eine schnelle Reaktion ermöglicht. Man kann in Erwägung ziehen, dass eine kontrollierte Emission an Schwefelaerosolen, ungefähr eine Million Tonnen pro Jahr, den Prozess signifikant verlangsamen würde. Mit ihrer Behauptung, man könne das Klima durch Einleitung von Schwefelaerosolen in die Erdatmosphäre „abkühlen“, haben sie eine kontroverse Debatte eröffnet. Von einer Zustimmung ist man noch weit entfernt. Wenn sich das Klima zu sehr und zu schnell erwärmt und untragbare Konsequenzen für große Teile der Menschheit nach sich zieht, besteht dringender Handlungsbedarf. Man weiß jedoch, dass bei jedem großen Vulkanausbruch große Mengen an Schwefelaerosolen auf natürlichem Wege produziert und in die Atmosphäre katapultiert werden. Dieses Phänomen sorgt für eine spürbare Abkühlung der Atmosphäre, die sehr gut messbar ist. Der Mechanismus ist denkbar einfach: die Schwefelpartikel reflektieren die auftreffende Sonneneinstrahlung und erhöhen die sogenannte Albedo (1) der Atmosphäre. Haben Sie eine Vorstellung von den Kosten dieser Strategie und der Technik, die eingesetzt werden könnte? Bezüglich der Technik kann ich mich nur zurückhaltend äußern, weil ich kein Spezialist auf dem Gebiet der Raumfahrt bin. Die amerikanische Akademie der Wissenschaften (NAS) befasst sich bereits mit diesem Projekt. Eine denkbare Vorgehensweise bestünde im Einsatz von Raketen, die Kohlenwasserstoffe verbrennen, wenn sie in die Troposphäre eintreten und dann Schwefelsäure in die Stratosphäre abgeben. Allerdings müssten die Aerosole in die Stratosphäre eingebracht werden, da sie sonst zu schnell durch den Regen ausgewaschen würden. Welche „Nebenwirkungen“ hätten diese „provozierten“ Emissionen? Ein Teil der Aerosole würde in Form von Schwefelsäure wieder auf die Erde fallen, was dann zu saurem Regen führen würde. Die Säurebildung dürfte jedoch einen gewissen DOSSIER KLIMA Prozentzsatz nicht überschreiten, und es ist wahrscheinlich, dass die Ökosysteme das verkraften werden. Schwefelemissionen menschlichen Ursprungs spielen bereits seit zwanzig Jahren eine wichtige Rolle und haben in keinem Fall so katastrophale Auswirkungen gehabt wie der Treibhauseffekt. Man muss jedoch einen weiteren Anstieg der Schwefelemissionen in stark industrialisierten Ländern, wie China und Indien, beobachten und berücksichtigen. Einer der möglichen negativen Nebeneffekte könnte auch die verschärft fortschreitende Zerstörung des Ozons in der Stratosphäre sein. Das muss geprüft werden. Schließlich gibt es noch eine andere mögliche und unerwünschte Konsequenz, über die man sich im Klaren sein muss: diese Aerosole könnten die Bildung von Zirruswolken begünstigen. Diese Wolken entstehen in großen Höhen und könnten den Treibhauseffekt verstärken. Aus diesem Grund müssen Forschungen unternommen werden. In ihren Reaktionen bezeichnen Ökologen Ihren Vorschlag als Wissenschaft aus der „Hexenküche“. Doch wie reagiert die Gemeinschaft der Wissenschaftler auf Ihren Vorschlag? Manche sind dafür, andere dagegen. Natürlich wurde ich von einigen hart angegriffen, aber es waren weniger, als ich erwartet hatte. Letztlich hat die Debatte einen sehr nüchternen Verlauf genommen und ich glaube, dass © U.S. Geological Survey Der gigantische Ausbruch des philippinische Vulkans Pinatubo im Juni 1991 hat ein immenses, natürliches Labor zur Klimabeobachtung geschaffen. Hier kann man die Auswirkungen des massiven Gasausstoßes in die Atmosphäre, insbesondere den Einfluss des Schwefels auf den Treibhauseffekt, untersuchen. wir einen Konsens für die Finanzierung der Forschungsarbeiten finden werden. Die Arbeiten zur Modellbildung sind schon im Gange. Sie wurden abgeglichen mit der umfangreichen Sammlung neuester Daten, die durch Messkampagnen nach dem Ausbruch des Pinatubo (Philippinen) 1991 und des El Chichon (Mexiko) 1982 zusammengestellt wurden. Wenn es zu neuen Eruptionen in den kommenden Jahren kommen sollte, werden wir in der Lage sein, gründliche Untersuchungen durchzuführen. Gibt es auch noch andere erwähnenswerte Lösungen des „Geoengineering“, die Ihrer Meinung nach untersucht werden sollten? Natürlich. Da wäre etwa die geologische CO2Sequestrierung. Zu ihr liegen bereits einige Forschungsergebnisse vor. Eine Überlegung wäre die Ausstreuung von Eisen ins Meer. Auf diese Weise könnte man die Photosynthese in den Ozeanen anregen, die sehr viel Kohlenstoff speichert. Es wurde auch schon vorgeschlagen, Pumpen auf den Ozeanen zu installieren, um gelöste Salzpartikel freizusetzen, die dann die Albedo erhöhen sollen. Weiter wurde in Erwägung gezogen, „Spiegel“ im All zu installieren, die Sonnenstrahlen reflektieren sollen. Jede dieser Möglichkeiten muss wissenschaftlich untersucht werden. Außerdem bin ich glücklich, dass ich mit der Publikation meines Artikels im Jahr 2005 dazu beitragen konnte, dass die Diskussion über das Geoengineering in Gang gekommen ist. Wäre es nicht besser, unsere Emissionen zu reduzieren? Absolut! Ich sage auch nicht, dass all das getan werden muss, aber es müssen Untersuchungen angestellt werden, um die Möglichkeiten zu erforschen. Diese Arbeiten dürfen in keinem Fall dazu animieren, die Verschmutzung wie bisher fortzusetzen. Ich hoffe, dass der Einsatz von Geoengineering niemals notwendig werden wird. Die Vergangenheit hat mich jedoch pessimistisch gemacht. Der neueste Bericht des IPCC scheint, über die Wissenschaftler hinaus, endlich in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit und der Industrie vorgedrungen zu sein. Aber man muss sehen, wie lange das anhält. Es hat schon öfter eine große Aufbruchstimmung geherrscht. Man denke an die Zeit nach dem Gipfel von Rio oder nach dem Abkommen von Kyoto und noch früher in den 70ern. Letztendlich ist dabei nie etwas herausgekommen. Ich hoffe dennoch, dass wir jetzt das wahre Ausmaß erkennen. Es sollte ausreichen, um endlich eine tief greifende Kursänderung einzuleiten. Yves Sciama (1) Die Albedo ist das Verhältnis zwischen der Sonnenenergie, die von einer Oberfläche reflektiert wird, und der auftreffenden Sonnenenergie. Man verwendet eine Skala von 0 (für eine schwarze Oberfläche ohne Reflexionseigenschaften) bis 1 (vollkommener Spiegel, der alle auftreffenden, sichtbaren und elektromagnetischen Strahlen ohne Absorption in alle Richtungen reflektiert). research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 13 DOSSIER KLIMA Das wirtschaftliche Argument Im vergangenen Oktober hat Nicholas Stern, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, der britischen Regierung einen Bericht über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Klimaerwärmung (1) vorgelegt. Daraufhin ging eine Zahl um die Welt: wenn nichts zur Bremsung der Klimaerwärmung getan werde, würden ab jetzt bis 2050 Ausgaben in Höhe von 5 500 Milliarden Euro anfallen. Das wären mehr Kosten als für beide Weltkriege zusammen. Diese These, die weniger abstrakt ist als ein paar °C Temperaturerhöhung, zeigt, wie sehr der Klimakampf die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert. Nicholas Stern – „Es ist bekannt, dass die südlichen Länder am stärksten von der Erwärmung betroffen sein werden, während im Moment die nördlichen Länder die größten Verschmutzer sind.“ Wie sind Sie bei der Berechnung der Kosten der Klimaerwärmung vorgegangen und welche Erkenntnisse lassen sich daraus über die globale Entwicklung der Weltwirtschaft ziehen? Dieser Bericht stützt sich auf die übereinstimmenden Resultate verschiedener ökonomischer Modelle, die aus wissenschaftlicher Sicht sehr gut ausgearbeitet sind. Mit ihrer Hilfe konnte man verschiedene klimatische, ökologische und ökonomische Parameter und Hypothesen testen. Alle Szenarien bestätigen, dass ohne eine wirksame Energiepolitik zur Verminderung der Treibhausgasemissionen, die durch die Klimaerwärmung verursachten globalen Kosten einen jährlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von mindestens 5 % weltweit zur Folge haben werden. Einige Simulationen zeigen außerdem, dass einige schwerwiegende Faktoren sogar einen Einbruch um 20 % des BIP nach sich ziehen könnten. Auf welche klimatologischen Grundlagen stützt sich Ihr Bericht? Zu den neusten wissenschaftlichen Leistungen gehört die Beschreibung der möglichen Temperaturspannen für jede atmosphärische 14 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Treibhausgaskonzentration. Wenn wir nicht handeln, könnte sich diese im Vergleich zum vorindustriellen Niveau bereits im Jahr 2035 verdoppelt haben. Das würde sich in einer Erhöhung der mittleren Erdtemperatur um mehr als 2 °C zeigen. Bleiben wir passiv, d. h. würden wir ein „Business as usual“ fortsetzen, läge am Ende des 21. Jahrhunderts die Wahrscheinlichkeit einer Temperaturerhöhung um mehr als 5 °C bei über 50 %. Ein solcher Anstieg würde nicht nur beachtliche Folgen für die Umwelt nach sich ziehen, sondern hätte auch extreme Auswirkungen auf die Menschheit, weil er zu massiven Völkerwanderungen führen würde. Die Geschichte zeigt uns, dass Völkerwandungen niemals friedlich abgelaufen sind. Angesichts der Bevölkerungsdichte werden die erwarteten Wanderungen ein nie zuvor da gewesenes Ausmaß annehmen. Ihr Ansatz bestand nicht nur darin, Katastrophenszenarien wirtschaftlich auszuwerten, sondern auch eine Folgenabschätzung durchzuführen, die für die notwendigen politischen Maßnahmen erforderlich ist, um die Katastrophe zu vermeiden… Die alarmierendsten Prognosen könnten beträchtlich reduziert werden, wenn man eine Stabilisierung der Treibhausgase in der Atmosphäre zwischen 450 und 550 ppm (2) CO2 erreichen würde. Das aktuelle Niveau liegt bei 430 ppm und steigt jährlich um 2 ppm. Um eine Stabilisierung innerhalb dieser Spanne zu erreichen, müssten sich die Emissionen im Jahr 2050 um mindestens 25 % unter dem aktuellen Niveau befinden oder vielleicht auch darunter. Das ist ein hoch gestecktes Ziel, wenn wir aber abwarten, können wir selbst den gegenwärtigen Gehalt der Treibhausgase in der Atmosphäre nicht halten. Die Trägheit, mit der die internationale Gemeinschaft die Vorgaben des Kyoto-Protokolls umsetzt, zeigt nur allzu deutlich die große Angst vor dem „Wachstumseinbruch“. Mittel- und langfristig gesehen geht jedoch kein Weg daran vorbei. Verglichen mit den ökonomischen Erschütterungen, die uns erwarten, liegen die Kosten der Aktion – der sofortigen radikalen Reduzierung der Treibhausgasemissionen – bei ungefähr 1 % des BIP weltweit. Das kann die Wirtschaft verkraften und ist mit der Entwicklung vereinbar. Kurz gesagt: packen wir’s an, bevor die Kosten ins Unermessliche steigen. Besteht inzwischen die Einsicht, dass gehandelt werden muss? Skepsis ist nicht länger angemessen. Der erste Teil unseres Berichts weist deutlich die Einwände derer zurück, die immer noch Zweifel an der Klimabedrohung hegen. Wir widerlegen hauptsächlich zwei Arten der vorgebrachten Argumente. Das erste: die Nichtbeachtung der wissenschaftlichen Grundlagen der Erderwärmung. Der letzte Bericht des IPCC beweist, dass das nicht haltbar ist. Das zweite: die irrige Meinung, dass der Mensch anpassungsfähig DOSSIER KLIMA CO2-Emissionen in 2004 (in Tonnen / Einwohner) © French documentation ▲ 49,6 11,5 5,6 1,8 ▲ ● 0,04 ohne Angaben Statistik: geschachtelte Mittelwerte ▲ ▲ ▲▲ ▲ ▲▲ ● ▲ MAXIMA Katar Kuweit Luxemburg Vereinigte Arabische Emirate ● ● ● ● ● ▲ ● 49,6 26,4 24,9 23,9 Bahrein USA Australien Kanada 23,7 19,7 17,5 17,2 ● ● ▲ Quelle: Internationale Energieagentur – IEA Key World Energy Statistics 2006, division des statistiques – www.iea.org/ ist und sich so auf die eine oder andere Weise an die Veränderungen anpassen wird. Auch das ist ein Trugschluss, sowohl aus ethischer als auch aus sachlicher Sicht. Wie kann man von „Anpassung“ reden, wenn immer klarer wird, dass wir klimatischen Auswirkungen entgegengehen, mit denen die Menschheit bis heute nicht konfrontiert worden ist. Da eine gewisse Erwärmung – auch unter Kontrolle – unvermeidbar ist, könnte man jedoch auch annehmen, dass die Bevölkerung Interesse daran hat, sich für die Anpassung zu wappnen. Was wir auch immer tun werden, das Klima wird sich wegen der Treibhausgasmengen, die wir in der Vergangenheit freigesetzt haben, und die wir weiter freisetzen werden, in der Tat immer weiter erwärmen. Unsere Kostenrechnungen enthalten die Anpassungsmaßnahmen und -investitionen, die auch in der Politik eine wichtige Rolle spielen sollten. Die Einschätzung der Investitionskosten für die neuen Infrastrukturen ist nicht leicht – z. B., um dem Anstieg des Meeresspiegels entgegenzuwirken – man kann dennoch abschätzen, dass sich die Ausgaben allein für die OECD-Länder auf etwa 150 Milliarden US-Dollar im Jahr belaufen werden. Gleichwohl ist es unmöglich, sich an alle Bedrohungen anzupassen. Man kann zum Beispiel nichts gegen die unvermeidbaren Störungen der Ökosysteme tun. Wie kann man die Reduktionsmaßnahmen für Treibhausgase, die nach langwierigen Vorarbeiten im Abkommen von Kyoto angedeutet wurden, umsetzen? Es ist bekannt, dass die südlichen Länder am stärksten von der Erwärmung betroffen sein werden, während im Moment die nördlichen Länder die größten Verschmutzer sind. Nach Kyoto ist es nun an der Zeit, dass die „Verschmutzerstaaten“ zur Kasse gebeten werden. Der Preis für Kohlenstoffemissionen muss festgelegt werden, und ab da müssen flexible Regelungen für die Industrie geschaffen werden. Der Handel mit Emissionszertifikaten ist zu entwickeln, und es müssen Kohlenstoffsteuern eingeführt werden. Das System für den Emissionshandel, zu dem sich Europa verpflichtet, ist ein guter Ausgangspunkt. Aber im Gegensatz zu dem, was die Verfechter der Chicagoer Schule behauptet haben, sind die Marktmechanismen nicht ausreichend. Man muss gleichzeitig neue, rechtliche Bestimmungen in Erwägung ziehen, damit die Industrien in saubere Technologien, wie Elektroautos, Nuklearenergie, BioKraftstoffe, saubere Kohletechnologien usw. investieren. Zur Durchführung dieser Initiativen ist Einigkeit auf internationaler Ebene erforderlich. In dieser Beziehung hat Ihr Bericht, der von der britischen Regierung in Auftrag gegeben wurde, auf Anhieb ein weltweites Echo ausgelöst. Ja, weil er zum ersten Mal einen Überblick in Zahlen über die wirtschaftlichen Herausforderungen durch die Klimaerwärmung gibt und sich dabei auf immer fundiertere Prognosen der Klimaforscher stützt. Ich habe den Bericht dem G8-Gipfel, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der Organisation für Afrikanische Einheit sowie in Japan, Indien und China vorgelegt. Wie Sie wissen, ist die Union nunmehr entschieden zu Veränderungen bereit. Ich nehme persönlich auch die Bewußtseinsbildung in Ländern wie Indien wahr. Dort habe ich dreizehn Jahre lang gearbeitet. Die indische Regierung nimmt dieses Problem sehr ernst. Sie hat mit Aufforstungsmaßnahmen begonnen und es sich zum Ziel gesetzt, ihren Energieverbrauch trotz eines jährlichen Wirtschaftswachstums von 9 % zu stabilisieren. Das gleiche gilt für China. Im Gegensatz zu dem, was man so hört, sind die Chinesen nicht inaktiv. Sie wollen ihr Wachstum nicht der Ökologie opfern, doch auch sie beginnen damit, die Debatten zu diesem Thema anzupassen. Sie haben das wirtschaftliche Argument, die Bedrohung durch eine Rezession, als auch die Umweltrisiken verstanden. Wie sieht es in den Vereinigten Staaten aus? Noch vor zwei Jahren konnte man dort hören, dass die Klimaerwärmung ein Scherz sei. Das sind längst verklungene Töne. Beachten Sie, welche Positionen Demokraten wie der Ex-Vizepräsident Al Gore und auch die neue Politik von Arnold Schwarzenegger in Kalifornien in letzter Zeit eingenommen haben. Er und seine Republikaner engagieren sich im Bündnis mit den Demokraten dafür, im Jahr 2020 Treibhausgaswerte von 1990 zu erreichen. Dies ist eine wichtige Entscheidung, weil dieser Staat unter den Wirtschaftsmächten an sechster Stelle steht. Sie sind also grundsätzlich optimistisch? Wir haben eine schwere Zeit vor uns. Ich bin Anhänger der politischen Philosophie von John Stuart Mill und seiner Auffassung des Regierens durch Diskutieren. Wir haben die öffentliche Debatte dadurch genährt, dass wir die Notwendigkeit zum Handeln aufgezeigt haben. Von der Bedrohung für das Wachstum und den Risiken der Rezession zu sprechen, ist Sache der politischen und industriellen Spitzen, wenn ihnen die Argumente ausgehen. Sie werden sich langsam der Problematik bewusst, und das stimmt mich ein wenig optimistischer. Aber geht dieser geistige Wandel intensiv und schnell genug vor sich, um zu handeln? Das kann ich nicht sagen. Ich fungiere nur als Wortführer in einem Plädoyer, das sich auf die ökonomische Ratio in einer weltpolitischen Diskussion stützt. Mikhaïl Stein (1) The Economics of Climate Change, 2006, The Economist print edition (2) ppm = Teile pro Million = 10-6 www.sternreview.org.uk research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 15 DOSSIER KLIMA Für eine planetarische „Es müssen neue Formen der ökonomischen und politischen Regulierung geschaffen werden“. Für Dominique Bourg, Philosoph und Umweltschützer, Direktor des Institut des Politiques Territoriales et d’Environnement Humain (IPTEH) an der Universität Lausanne, verlangt die Klimaerwärmung die ethische Neuformierung einer Gesellschaft, die ihre Grenzen entdeckt. Dominique Bourg – „Unsere Zivilisation zerstört sich selbst, weil sie glaubt, alle Grenzen auf jedem Gebiet überschreiten zu können.“ Wird das Klima zur wichtigsten Herausforderung für den gesamten Planeten? Man muss die Dinge globaler sehen. Unsere Erde weist zwei Ungleichgewichte auf, die sich beide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Wir müssen sie abbauen, wenn wir eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit erreichen wollen. Das erste betrifft die Verteilung des globalen Reichtums. In den Zeiten Adam Smiths lag die Kluft zwischen den großen Zivilisationen hinsichtlich des Wohlstands bei 1 zu knapp 2. Im Jahr 2000 lag dieses Verhältnis laut Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNPD) bei 1 zu 74. Das Ungleichgewicht hat sich also verschärft. Die Abstände sind genau in dem Moment so groß geworden, als sich zum ersten Mal eine nie da gewesene Transparenz in der Geschichte der Menschheit gezeigt hat. Es gibt keinen Flecken auf der Erde, wo die Leute nicht wissen, wie gut man mit Wohlstand lebt – so wie Sie und ich in Europa zum Beispiel. Wenn man dieses wichtige konfliktgeladene Ungleichgewicht nicht im Hinterkopf hat, kann man die heutige Zeit nicht verstehen, insbesondere nicht den „Hyperterrorismus“. Das zweite Ungleichgewicht, das sich genau im gleichen Zeitraum entwickelt hat, betrifft die weltweite Veränderung der Umwelt. In dieser Hinsicht hat der Mensch immer schon 16 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Schaden angerichtet und durch manche seiner Eingriffe in die Umwelt wurden schon ganze Kulturen dahingerafft. Aber heute sind diese Probleme globaler Natur und sie entwickeln sich rapide weiter, weil der Mensch die Hand im Spiel hat. Die Herausforderung ist groß, weil man vielleicht ein lokales Ökosystem wiederherstellen kann, jedoch niemand in der Lage ist, die gesamte Biosphäre zu sanieren. Sie scheinen nicht viel vom technischen Fortschritt zu halten … Man muss aus dem 20. Jahrhundert lernen. Als man die Radioaktivität entdeckte, hielt man sie für ungefährlich. Sie hat sich als krebserregend erwiesen – das war die erste Überraschung! Als man FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoff) erfunden hatte, freute man sich über seine chemische Trägheit. Das war die Garantie für seine Sicherheit und man produzierte es in Massen. Jahrzehnte später fiel auf, dass FCKW die Ozonschicht schädigt – das war die nächste Überraschung! DDT wurde als die Entdeckung des Jahrhunderts vorgestellt, sehr effizient und ungefährlich. Aber dieses Pestizid ist nicht nur schädlich für die Umwelt, in bestimmten Konzentrationen ist es auch gesundheitsschädlich – noch eine Überraschung! Und ich habe noch nicht vom Asbest und anderen Dingen gesprochen. Und schließlich hat sich auch die Verwendung von Kohlenwasserstoffen als Gefahr für das Klima herausgestellt. All das zeigt, dass unsere Technologien nur teilweise hilfreich sind und keinesfalls das ganze System beherrschen können. Es hat sich gezeigt, dass sie sogar große Schäden anrichten können. Je leistungsfähiger diese Technologien sind, desto schwerwiegender können die Folgeschäden sein. Wären nicht die technologischen Modelle des Geoengineering eine Möglichkeit, wie sie von dem Klimaforscher Paul Crutzen (1) vorgeschlagen werden? Hier verspricht man sich durch den Einsatz der Atmosphärenchemie eine Abschwächung des Treibhauseffekts. Meiner Meinung nach ist das wieder eine technologische Flucht nach vorne, wenn man Aerosole in die hohe Atmosphäre pumpt, um auf chemischem Wege das CO2 zu neutralisieren. Auch hierbei könnte es wieder böse Überraschungen geben und das auf globaler Ebene. Crutzen selbst zieht diese Lösung nur im Extremfall in Betracht, wenn die Katastrophe uns dazu zwingt oder das System zusammenbricht. Aber ich halte es für inakzeptabel, die heutige Untätigkeit damit zu rechtfertigen, dass man morgen angeblich auf globaler Ebene handeln könne. Mit dieser Option im Nacken laufen wir Gefahr, dass Bedingungen geschaffen werden, die uns keine andere Wahl mehr lassen, als sie einzusetzen. Welche Lösungen wären in diesem Fall sinnvoll? Zu den Voraussetzungen für Nachhaltigkeit gehört die wesentliche Reduktion des Rohstoffund Energiestroms. Man muss schrittweise vorgehen, über Jahrzehnte hinweg, weil damit beträchtliche Veränderungen einhergehen. DOSSIER KLIMA Die von dem IPCC definierten klimatischen Ziele, in die die Union eingewilligt hat, sind folgende: die Reduktion der globalen CO2Emissionen auf die Hälfte und auf mindestens ein Viertel – für die OECD-Länder für die Vereinigten Staaten müsste das ein Zehntel sein, wenn man genau wäre. Für die entwikkelten Länder bedeutet das eine jährliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 3%, und das über mehrere Jahrzehnte. Zum Vergleich sollte man anführen, dass die heutige Tendenz einer Erhöhung um 2 % pro Jahr entspricht. Eine weitreichende, kostensparende Abnahme ist keine Lösung. Wir werden nie ohne Geld und ohne Neuerungen zum Ziel kommen, deshalb muss man eine ernsthafte Abnahme des Zustroms erreichen, indem man weiterhin Wohlstand schafft. Wir werden unsere Ziele auch nicht ohne Veränderung des Lebenswandels erreichen. Vor dieser Wahrheit haben unsere Gesellschaften allerdings Angst. Sie treten lieber die Flucht nach vorn an in die Technologie. Das ist der heikle Punkt der nachhaltigen Entwicklung. Aber wie schaffen wir es, unseren Lebenswandel so umzustellen, wie Sie es sich wünschen? Eine nachhaltige Entwicklung ist nur möglich, wenn man an die ethischen Grundlagen geht. Bis jetzt lautete die „goldene Regel“: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem Anderen zu. Diese Ethik der Nähe, die früher ausreichte, ist der heutigen Welt nicht angepasst. Sie berücksichtigt weder die künftigen Generationen noch die geografisch weit entfernt lebende Menschheit. Jedes Mal, wenn ich heute in mein Auto steige, beeinflusse ich das Ökosystem sowie die Menschen, die räumlich und zeitlich weit von mir entfernt sind. Diese neue Art der Ethik hat politische Folgen. Unsere Gesellschaft stützt sich auf die Perspektive des Kontraktualismus. Nach Hobbes und Locke organisiert diese unsere Gesellschaft so, dass jeder seine Interessen verfolgen kann. Unter diesem Aspekt war das „Es gibt keinen Flecken auf dem Planeten, wo die Leute nicht wissen, wie gut man mit Wohlstand lebt.“ © Michel Meuret/INRA „Wenn man auch vielleicht ein lokales Ökosystem wiederherstellen kann, so ist doch niemand in der Lage, die gesamte Biosphäre zu sanieren.“ Hauptziel, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. So darf man heute aber nicht mehr denken. Die liberale Gesellschaftsorganisation und die Verwaltung der ökologischen Gemeingüter laufen in entgegengesetzte Richtungen. Man muss neue ökonomische Regulierungsmöglichkeiten und neue Strategien entwickeln. Wie könnte diese neue Ethik konkret aussehen? Ich gebe ein Beispiel: Durch die Kohlenstoffsteuer, die ich allen Einwänden zum Trotz befürworte, würden die Emissionen über den Preis, also über den Markt, geregelt. Die Idee ist einfach: die Autofahrer würden ihre Fahrten verringern, weil sie zu teuer wären. Das würde aber noch nicht ausreichen: Zugegebenermaßen würden einige Aspekte unseres Lebenswandels am Ende „kriminalisiert“ oder, um mich weniger dramatisch auszudrücken, könnten als schwere Verfehlungen betrachtet werden. Schließlich regelt man einen Mord nicht über den Markt, man verbietet ihn per Gesetz. Die Rolle des Marktes ist es, ökonomische Anreize zu schaffen. Das ist der Preis, den man zahlen muss, um die neuen, ethischen Werte zu schaffen, die die Weltbevölkerung so nötig braucht. Ist jetzt die Zeit für radikale Maßnahmen gekommen? Für eine Reaktion bleiben uns nur noch zehn oder fünfzehn Jahre. Die Klimaprozesse laufen sehr langsam ab und sind unwiderruflich. Das © Jean-Paul Chassany/INRA Ethik CO2, das wir jeden Tag ausstoßen, bleibt in der Atmosphäre und wird das Klima jahrhundertelang erwärmen. Wenn wir den Ozean erwärmen, braucht er Jahrtausende, um seinen Urzustand wiederzuerlangen. Und die Schäden, die wir der Artenvielfalt zufügen, werden die Lebewesen für Millionen Jahre schwächen. Das ist ein hoher Preis für das Autofahren während eines Jahrhunderts. Glauben Sie, dass der Wohlstand aus der aktuellen Krise herausführen kann? Auf gewisse Weise kann sich diese Konfrontation mit den Grenzen des Planeten als außergewöhnliche Chance herausstellen. Unsere Zivilisation zerstört sich selbst, weil sie glaubt, alle Grenzen auf jedem Gebiet überschreiten zu können. Wir haben alle Regeln der Kunst durchbrochen, haben totalitäre Regime hervorgebracht, haben gezeigt, dass es weder physische Grenzen – wie es der moderne Sport zeigt – noch ethische Grenzen, z. B. das Klonen, gibt. Der Konsum ist ausgeufert und natürliche Grenzen haben wir schon längst überschritten. Wir sind besessen: wir wollen mehr und noch mehr. Die gesamte Neuzeit verrennt sich auf irgendeine Weise in den Gedanken, den Platz ihres Schöpfers einnehmen zu wollen. Und schließlich stehen wir vor einem Phänomen, das uns den Sinn wiederfinden lässt und den Sinn des Sinns. Hoffentlich verpassen wir die Gelegenheit nicht. Yves Sciama (1) S. Seiten 12-13. research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 17 IN KÜRZE NACHRICHTEN Nanodialogue verlängert Nanoroboter im Blut. Schon bald Wirklichkeit? Die wissenschaftliche und industrielle Revolution der Nanotechnologie setzt sich fort. Sie verspricht unzählige Innovationen, die sich in vielen verschiedenen Bereichen (Gesundheit, neue Werkstoffe usw.) als nützlich erweisen können. Aber die Fortschritte, die im atomaren Gerüst der Materie erzielt werden, werfen auch zahlreiche ethische Fragen über die möglicherweise risikoreichen Folgen auf, die bislang kaum untersucht wurden. Welche Ansichten vertritt die Gesellschaft derzeit zu diesen Fragen? Die von der EU geförderte Initiative Nanodialogue, die von der Fondazione IDIS-Città della Scienza (IT) koordiniert wird, hat eine Debatte auf europäischer Ebene zu dieser Frage eingeleitet. Die Moderatoren haben durch Veranstaltungen wie Ausstellungen und Diskussionsforen in acht Mitgliedstaaten den Herzschlag der verschiedenen Meinungen, Hoffnungen und Bedenken ermittelt, die angesichts der neuen Dynamik der Nanowissenschaften entstanden sind. Im Februar 2007 wurde Nanodialogue im politischen Rahmen des Europäischen Parlaments verlängert, wo verschiedene an diesem Projekt beteiligte Akteure – die 18 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Geisteswissenschaften waren dabei sehr stark vertreten – den Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern aus Politik und Industrie sowie assoziierten Organisationen ihre Schlussfolgerungen über die gesellschaftliche Dimension des Zeitalters der Nanotechnologie vorlegten. Ihr Bericht plädiert dafür, die Bürger auf transparente Weise zu informieren und an den großen Forschungsmöglichkeiten teilhaben zu lassen. Weiterhin fordert er die Weiterentwicklung des Zugangs zu Wissensdatenbanken und eine Vertiefung der ethischen Aspekte in den Forschungsansätzen. www.nanodialogue.org/ Die Herausforderung der trickreichen Objekte Mikrochips sind überall. Immer mehr Objekte des Alltagsgebrauchs enthalten winzig kleine Mikroprozessoren, die diesen eine gewisse „Intelligenz“ verleihen. Sie handeln automatisch, ohne dass der Benutzer etwas davon merkt, über vorgeschlagene Wahlmöglichkeiten. Diese sogenannten „eingebetteten“ (aus dem Englischen embedded) Systeme finden sich in vielen geläufigen Produkten wieder – in Telefonen, medizinischen Innovationen, Haushaltsgeräten, Spiel- und Fahrzeugen usw. Die europäische Industrie steht heute an der Spitze der Innovationen und Entwicklungen dieses Sektors. Um diese Position zu halten und zu stärken, haben die wichtigsten Akteure aus Technologie und Fertigung, die an der Weiterentwicklung und Verbreitung dieser Systeme arbeiten, eine erste Gemeinsame Technologieinitiative gestartet, die im Rahmen des 7. Rahmenprogramms (RP7) ins Leben gerufen wurde. Artemis (Advanced R&D on Embedded Intelligent Systems) vereinigt mehrere europäische Industrieunternehmen, zu denen Nokia, Philips, Thales, DaimlerChrysler oder auch STMicroelectronics gehören. Zielsetzung: den Know-howTransfer zwischen den verschiedenen Unternehmen und Disziplinen zu koordinieren und Ressourcen, von denen die Fortschritte in diesem Bereich abhängen, für alle zugänglich zu machen. Das Budget von Artemis liegt bei ungefähr 3 Milliarden Euro über sieben Jahre. 50 % der Mittel stammen von den Unternehmen, der Rest wird über das RP7 und von den Mitgliedstaaten finanziert. www.artemis-office.org/ Erawatch – Das Europa der Online-Forschung Im Januar 2007 hat die Europäische Kommission eine neue zentralisierte Informationsquelle über Forschungssysteme und -politiken ins Internet gestellt, die den gesamten Europäischen Forschungsraum umfasst. Durch Erawatch haben Analytiker und politische sowie wissenschaftliche Entscheidungsträger über ein einziges Portal Zugang zu konzentrierten und aktualisierten Informationen – Strategiepapiere, Ergebnisse, Förderformen, neuste Indikatoren – sowie zu Analysen über den Fortschritt der Forschungssysteme in und außerhalb der Mitgliedstaaten. cordis.europa.eu/erawatch/ Die Atmosphäre aus der Sicht des „Grünen Horns“ Auf der kapverdischen Insel Sao Vicente, gegenüber von Mauretanien, wurde eine neue internationale Station zur Beobachtung der Atmosphäre in Betrieb genommen, an der sich Forschungseinrichtungen aus Deutschland, dem Vereinigten Königreich und der Republik Kap Verde beteiligen. Sie soll zu einem besseren Verständnis der Interaktionen zwischen Ozean und Atmosphäre und ihrer Rolle bei der Klimaänderung beitragen. Dieses Observatorium hat die Aufgabe, die Veränderungen der chemischen, biologischen und physikalischen Zusammensetzung der Luft bei Kontakt mit tropischen Gewässern zu kontrollieren und zu messen. An dieser Schnittstelle, die wissenschaftlich als „marine Grenzschicht“ bezeichnet wird, findet der Prozess der atmosphärischen IN KÜRZE Selbstreinigung durch freie Hydroxylradikale statt. Sie besitzen die Fähigkeit, Treibhausgase (Methan, Distickstoffmonoxid usw.) zu zersetzen. Es wird geschätzt, dass ca. 75 % der Methanzersetzung in tropischen Zonen erfolgen. Bis heute wurden nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen in dieser Region durchgeführt. Sie wären allerdings hilfreich, um Informationen über das besonders große Veränderungspotenzial durch das Zusammenspiel zwischen Atmosphäre und Ozean in diesen heißen Breitengraden zu erhalten. Protein sorgt für die menschliche Abwehr gegen die parasitäre Erkrankung. www.ird.fr/fr/actualites/fiches/ 2005/fiche230.htm www.nottingham.ac.uk/schoolm3/ Neutralisierung des Denguefiebers Die WasserstrahlTechnologie www.york.ac.uk/capeverde/ Mutation der Schlafkrankheit in Indien entdeckt An den beiden einzigen traditionellen Krankheitsherden auf der Welt der menschlichen Trypanosomiasis – die eher „selten“ vorkommende Schlafkrankheit in Afrika und die Chagas-Krankheit in Lateinamerika – ist hinlänglich bekannt, dass diese parasitäre Erkrankung durch Hausvieh übertragen wird. Bei einem Bauern in Indien wurde nun erstmals ein isolierter Fall dieser Krankheit festgestellt. Er hat die Neugier seiner Entdecker, dem Team von Philippe Truc vom Institut de Recherche pour le Développement (IRD-FR) geweckt, dem sich die Arbeitsgruppe von Etienne Pays von der Freien Universität in Brüssel angeschlossen hat. Mithilfe der Blutanalysen des Patienten konnte festgestellt werden, dass die Krankheit durch eine genetische Mutation ausgelöst wurde, die zur Abwesenheit des Antikörpers Apolipoprotein L führte. Dieses Raumfahrtallianz der Midlands. Es soll zur Stärkung der Position Europas auf dem weltweiten Markt für Luft- und Raumfahrttechnologie beitragen. Ein neues Wasserstrahltechnologiezentrum – das erste seiner Art in Europa – hat an der Universität Nottingham (UK) seinen Betrieb aufgenommen. Bei der Wasserstrahltechnologie (Waterjet technology – WT) handelt es sich um ein sehr genaues Schnittverfahren, bei dem ein mit extrem feinem Sand gemischter Wasserstrahl eingesetzt wird. Es eignet sich für verschiedene Werkstoffe, vor allem für Metalle. Die europäischen WT-Anlagen konnten bisher nur flaches Werkmaterial bearbeiten, zum Beispiel Metallbleche schneiden. Die neue britische Anlage kann auch dreidimensionale Objekte zerschneiden. Dieses in der Luftund Raumfahrtindustrie eingesetzte Verfahren ist äußerst präzise und auch umweltfreundlich. Bei den alternativen, klassischen Schnittmethoden werden in der Regel ätzende Säuren verwendet, wogegen das Wasserstrahlverfahren keine Verschmutzung verursacht. Dieses neue Zentrum, das mit 1,6 Millionen Euro gefördert wird, ist eine Partnerschaft zwischen der Universität Nottingham, Rolls-Royce, der Entwicklungsagentur der East Midlands und der Luft- und Beim Denguefieber, das vor allem in tropischen Zonen verbreitet ist, handelt es sich um eine von Mücken übertragene Virusinfektion, die zum Verlust des Blutplasmas führen kann. Um die Ursachen dieses Plasmaverlusts besser verstehen zu können, haben französische, britische und thailändische Forscher die Rolle bestimmter Enzyme, Metalloproteasen genannt, nachgewiesen, die im Organismus in schwacher Konzentration natürlich vorkommen. Diese Enzyme greifen vor allem den interzellulären Zement der Zellwände an und können bei der Entwicklung bestimmter Krebsformen eine Rolle spielen. Bei einer in vivo durchgeführten Versuchsreihe konnten die Forscher den dem Plasmaverlust zugrunde liegenden Gefäßbruchmechanismus und vor allem seine Neutralisierung reproduzieren. Ist dies möglicherweise ein neuer Weg zu einer Therapie oder einem Impfstoff? www.ird.fr/fr/actualites/fiches/ 2006/fas254.pdf Gesünderes Wasser Die Trinkwasserqualität ist ein hygienisches Muss. Wenn das kostbare Nass in den Wassernetzen zirkuliert, ist sie aber auch sehr angreifbar. Wasser ist nicht steril. Auch Wassernetze sind es nicht. Um Risiken mikrobieller Verunreinigungen zu verhindern, muss man diese also ständig überwachen. Nach vier Jahren der Forschung hat das europäische Konsortium Safer, an dem sich Hochschulen und Wasserversorgungsunternehmen aus sechs Ländern (FR, PT, UK, DE, FI, LV) beteiligen, seine Arbeiten über neue Überwachungs- und mikrobiologische Kontrollmethoden des Leitungswassers beendet. Die Forscher haben Kriterien und Frühwarnsysteme für möglicherweise auftretende pathogene Mikroorganismen in Biofilmen eingesetzt. Sie konnten Verfahren für die nachträgliche Desinfektion entwickeln, die den Einsatz traditionell genutzter chemischer Produkte verringern. www.safer-eu.com/ research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 19 IN KÜRZE SCHLÜSSEL ZUM RP7 den europäischen Regionen oder auch zu Ländern, die am RP7 beteiligt sind. CORDIS: Teilnahmeportal Anlässlich des Starts des Siebten Forschungsrahmenprogramms 2007-2013 erhält CORDIS, das Internetportal für alle Akteure des Europäischen Forschungsraums, ein neues Gesicht. Die Benutzer können hier vor allem die ständig aktualisierte Liste aller thematischen Arbeitsprogramme der Europäischen Kommission und der Aufrufe zur Einreichung von Projektvorschlägen einsehen. Außerdem bietet CORDIS zahlreiche Online-Hilfen für die Gründung von Forschungskonsortien an, die allen potenziellen Teilnehmern und Interessenten offen stehen. Das Portal bietet auch: • thematisch ausgerichtete Seiten, die verschiedenen Forschungssektoren (Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Informationsgesellschaft, Nanotechnologien, Sicherheitsforschung) sowie übergreifenden Ansätzen (KMU, Innovation, internationale Kooperation, Forschermobilität, Wissenschaft in der Gesellschaft, Frauen in der Wissenschaft) gewidmet sind; • zahlreiche Seiten zu den Strategien der Europäischen Union und den Forschungsaktivitäten des Landes der Ratspräsidentschaft sowie zu den verschiedenen Mitgliedstaaten, 20 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 RP7 Portal cordis.europa.eu/fp7 Themenseiten und nationale oder regionale Seiten cordis.europa.eu/fr/sitemap.htm#eu -activities Aus den Helpdesks wird Europe Direct Für alle allgemeinen oder besonderen Fragen zur europäischen Forschung – und ganz speziell zum RP7 – wurde jetzt durch das Europe Direct Contact Centre ein neuer Dienst für die GD Forschung der Europäischen Kommission eingerichtet. Er ersetzt die bisherigen verschiedenen Help-Desk-Dienste, die nach Forschungsthematik aufgeteilt waren. Mit Ausnahme besonders komplizierter Fragen antwortet dieses Zentrum auf alle Anfragen innerhalb von durchschnittlich drei Werktagen. Wenn Sie es aber eilig haben, sollten Sie sich zunächst die Seite mit den Häufig gestellten Fragen (FAQ) anschauen, auf der Sie bereits zahlreiche, immer wieder gesuchte Antworten finden werden. Portal der GD Forschung ec.europa.eu/research/ Forschung auf Europe Direct ec.europa.eu/research/ index.cfm?pg=enquiries/ Häufig gestellte Fragen ec.europa.eu/research/ faq/index.cfm Descartes-Preis 2007 Im März 2007 verlieh eine internationale Jury den mit insgesamt einer Million Euro dotierten Descartes-Preis für europäische Forschung. Drei Siegerteams, die aus 66 Kandidaten und 13 Finalisten ausgewählt wurden, teilten sich diesen Preis. Das HochenergieStereoskopiesystem ist das Ergebnis einer Kooperation von etwa 100 Wissenschaftlern aus der EU (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Polen, Tschechien) sowie aus Armenien, Südafrika und Namibia. Dieses Teleskopsystem hat die bisherigen Beobachtungsmethoden der Astronomen in den vergangenen Jahren revolutioniert. Die Teams des Hydrosol-Projekts, an dem Hochschulen und Unternehmen aus Griechenland, Deutschland, Dänemark und dem Vereinigten Königreich beteiligt waren, haben eine Methode zur Herstellung von Wasserstoff durch Wasserspaltung mit dem Einsatz von Solarenergie entwickelt. Diese Methode könnte zur umweltfreundlichen Herstellung des Energiespeichers Wasserstoff beitragen. Die dritte ausgezeichnete Forschungsarbeit (AT, DK, IT, SE), Apoptosis, hat wesentliche Erkenntnisse über den programmierten Zelltod (Apoptose) gebracht, die zu neuen Entwicklungen bei Krebs- und Aids-Therapien führen könnten. Der Descartes-Preis für Wissenschaftskommunikation ging an fünf Preisträger: an Sheila Donegan für Eureka, einer wissenschaftlichen Jugendzeitschrift; an die Dokumentarreihe Europe, Janez Potočnik bei der Verleihung der Descartes – Preise A Natural History, einer Koproduktion von ORF, BBC und ZDF; an Professor Vittore Sivestrini von der Città della Scienza (Stadt der Wissenschaft) in Neapel; an Odd Askel Bergstad und andere Forscher des Netzwerks Mar-Eco für ihre Arbeiten zur Beteiligung der Öffentlichkeit an der „Volkszählung im Meer“ sowie an Wendy Sadler für die Schulprojektreihe Science Made Simple. http://ec.europa.eu/research/ descartes/index_en.htm Der Aufstieg des modernen Europas Attilo Stajon, ein ehemaliger Europabeamter, der am EspritProgramm und an den Programmen zu Informations- und Kommunikationstechnologien beteiligt war, unterrichtet an der Universität von Bologna (IT). Seine langjährige Erfahrung, die besonders in den USA geschätzt wird – er wurde von verschiedenen Universitäten bereits mehrmals eingeladen – hat er jetzt in einem Buch zusammengefasst, das bei Springer veröffentlicht wurde. In diesem Werk analysiert er, warum die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Vergleich zu ihren größten Konkurrenten so sehr von ihrer Fähigkeit abhängt, die Chancen der Informationsgesellschaft zu nutzen und hinsichtlich der Qualität einen dauerhaften strategischen Vorteil aufzubauen. „Das Werk bietet einen guten Überblick über die Dinge, die für den Aufstieg des modernen Europas bestimmend sind“, meint Luc de Brabandere, Vizepräsident der Boston Consulting Group. stajano.deis.unibo.it/index.htm IN KÜRZE PROJEKTSTARTS Umweltfreundlichere und leisere Flugzeuge Der Kampf gegen die größten Imissionen der Luftfahrt – Lärmbelästigung und CO2Emissionen – stellt eine politische und wirtschaftliche Herausforderung dar, der man sich nicht entziehen kann, und mit der alle großen Motorenentwickler konfrontiert sind. In diesem Bereich geht das führende Luftund Raumfahrtunternehmen Snecma Moteurs mit bestem Beispiel voran. Dieses Unternehmen, das einer die Umwelt direkt beeinflussenden Innovationspolitik stark verpflichtet ist (20% des FuE-Budgets sind dafür bestimmt), war beim Start des Projekts Vital (EnVIronmenTALly Friendly Aero Engine) im Januar 2005 unter dem 6. Rahmenprogramm die treibende Kraft. Das Projekt, das sich mit umweltfreundlichen Motoren für die Luftfahrtindustrie befasst, hat eine Dauer von vier Jahren. Ihm steht ein Budget von 90 Millionen Euro zur Verfügung, das zur Hälfte von der Union finanziert wird. Unter der Leitung von Snecma Moteurs beteiligen sich 53 Partner an diesem Projekt, darunter auch die wichtigsten europäischen Motorenhersteller wie Rolls-Royce Plc, Volvo Aero und der Flugzeughersteller Airbus, sowie zahlreiche KMU aus der Zulieferbranche, Hochschulen und Forschungszentren. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2009 den Lärmpegel von Motoren um 6 dB und die CO2-Emissionen um 7 % zu senken. Außerdem sollen innovative technische Lösungen für die Herstellung leichterer Turbinen gefunden werden, wodurch der Treibstoffkonsum erheblich gesenkt würde. Zusammen mit anderen europäischen Forschungsprojekten – Silence (Significantly Lower Communit to Aircraft Noise) oder EEFAE (Efficient Environmental Friendly Aero-engine) gehört Vital zu einer Reihe von Initiativen, die zur Durchführung der Ziele des beratenden Ausschusses Acare (Beratender Ausschuss für die Luftfahrt in Europa) eingeführt wurden. Sie sehen vor, die größten Emissionen durch den Luftverkehr bis 2020 um die Hälfte zu senken. www.project-vital.org große europäische Werften zu einem Konsortium zusammen, um die Entwicklung eines Schiffes zu untersuchen, das Schwerölschichten „verschlingen“, am Unglücksort selbst eingesetzt werden und schwerer See trotzen kann. Das Projekt Oil Sea Harvester (OSH) möchte einen neuartigen Trimaran (138 m lang und 38 m breit) bauen, der den Ölteppich in seinen riesigen mittleren Rumpf absaugt, während ihm die seitlichen Rümpfe Stabilität verleihen. Damit kann er auch bei Stürmen der Stärke 9 und Seegang der Stärke 7 eingesetzt werden. Das OSH könnte bis zu 6 000 Tonnen Schweröl, bei einer Kapazität von 250 Tonnen pro Stunde, aufnehmen. Das Rettungsschiff, das eine Reisegeschwindigkeit von 20 Knoten erreicht, muss schnell am Unglücksort ankommen und dort für den Betrieb beim Aufsaugen des Öls seine Geschwindigkeit sofort auf 1 Knoten drosseln können. www.osh-project.org/ Rettungsschiff gegen Ölteppiche Schnüffelroboter für die Feuerwehr Können Katastrophen bei Tankerunfällen auf dem offenen Meer verhindert werden? Man kann diesen sicherlich vorgreifen, indem die maritime Sicherheitstechnologie maßgeblich verstärkt wird, aber ein Risiko existiert immer. Man muss auch gegen die desolaten Zustände bei der Reaktion auf Tankerunfälle ankämpfen, wie sie beispielsweise in den Fällen der Erika 1999 und der Prestige 2002 herrschten, als die untergehenden, sturmgepeitschten Tanker unerbittlich ihr schwarzes Gift ausspuckten. Mit Unterstützung der Europäischen Union schlossen sich Ein Konsortium aus Hochschulwissenschaftlern und Unternehmen hat unter der Leitung der Sheffield Hallam University (UK) zwei von der EU finanzierte Projekte in die Wege geleitet, die eine Reihe kleiner Roboter für die Absicherung von Feuerwehreinsätzen entwickeln sollen. Um Gas in den Stollen festzustellen, nahmen die Bergleute Kanarienvögel mit unter Tage – sang der Votgel nicht mehr, war er am Gas erstickt. Heute gibt es dafür automatische Mini-Aufklärer im Spielzeugformat, die mit Infrarotkameras, Ladaren (laserradars) und Spürgeräten für chemische und toxische Substanzen ausgestattet sind. Sie könnten als Erste die Brandstellen betreten, und die Feuerwehrleute direkt über verschiedene Gefahren informieren. www.shu.ac.uk/mmvl/research/ guardians/ www.shu.ac.uk/mmvl/research/ viewfinder/ Zelltherapien: Hoffnung für Patienten Für die erlaubten Stammzellentherapien ist die Duchenne Muskeldystropie, eine Erbkrankheit, die über 30 000 Menschen in Europa mit einer schweren Behinderung belastet, ein wichtiges und innovatives Einsatzfeld. In diesem Bereich machen die Forschungen große Fortschritte insbesondere jene, die sich mit der Technik des „exon skipping“ befassen (1). Dem von der EU geförderten Projekt Myoamp wurde jetzt grünes Licht erteilt, um das noch zerstreute Wissen in einem neuen Best-PracticeModul zur Validierung der Transfermodi myogener (aus Muskeln stammender) Stammzellen zu systematisieren. Nach diesem Schritt werden dann auch die ersten klinischen Versuche möglich sein. Eine innovative Besonderheit von Myoamp liegt in der Absicht der Forscher, die Patientenvertreter in die Ausarbeitung dieser Praktiken, die für sie bestimmt sind, eng einzubeziehen. (1)Das Exon ist ein bestimmter Bereich eines Gens, der ein Protein codiert. ec.europa.eu/research/headlines/ news/article_07_03_05_en.html research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 21 2007, DAS POLARJAHR © Stephanie Langner/Alfred Wegener Institute Forschungsschiff „Polarstern“ Gauthier Chapelle bei der Arbeit in einer Kolonie von Kaiserpinguinen. Das Leben unter dem Schelfeis Im März 2002 brachen unter dem Einfluss der globalen Erwärmung mehr als 3 000 km2 des Larsen B-Schelfeises an der Antarktishalbinsel ab und legten ein neues, unerforschtes Meeresgebiet frei. Die Polarstern, ein Eisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), Deutschland, unternahm die erste intensive, biologische Forschungsexpedition in diese unbekannten Meeresgründe. Sie fand im Vorfeld des Programms Census of Antarctic Marine Life (CAML), einem Projekt des Internationalen Polarjahres, statt. Gauthier Chapelle von der International Polar Foundation berichtet von dieser Expedition, die im südlichen Sommer 2006-2007 stattfand. 1. Dezember 2006. Es sind jetzt 8 Tage vergangen, seit unser Schiff Kapstadt in Richtung Südpol verlassen hat. Eine Woche auf einem fast durchgehend unruhigen Meer (insbesondere mit Windstärken von 12 Beauforts bis zu einem heftigen Sturm bei den „rasenden Fünfzigern“). Aber die Polarstern ist ein solider Eisbrecher von ungefähr 120 m Länge. Sie ist das größte, europäische Forschungsschiff – und an Polargebiete gewöhnt. In dieser Woche konnten sich die Wissenschaftler beim Auspacken von Containern, der Einrichtung von Laboren und bei den Präsentationen der verschiedenen, geplanten Forschungsmissionen besser kennen lernen. 22 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Von den ca. fünfzig Forschern an Bord, zum größten Teil Spezialisten der Meeresbiologie, kommen 40 aus acht Ländern der Europäischen Union, darunter 27 aus Deutschland. Die Übrigen stammen aus sechs außereuropäischen Ländern. Wir befinden uns mitten im Geschehen. Nach der ersten Bekanntschaft mit einem Eisberg erreichen wir das Packeis unter einem endlich ruhigen Himmel. Im Morgengrauen fahren wir mitten durch die Eisschollen, aber sehr schnell wird die Eisschicht, die das Meer bedeckt, immer dicker. Zur gleichen Zeit tritt die polare Tierwelt in Erscheinung. Wir sehen die ersten Zügelpinguine und die erste Robbe. Dieser Anblick, auf den die Forscher seit Monaten gewartet hatten, lockte alle auf die Brücke. Jede wissenschaftliche Expedition kann erst nach langen Vorbereitungs- und Koordinationsarbeiten durchgeführt werden, bei denen die Programme der verschiedenen Biologenteams angepasst und miteinander verbunden werden. Das globale, gemeinsame Ziel dieser Forschungsexpedition ist die ausführliche Untersuchung der Lebensformen auf dem Meeresgrund, die bisher wenig erforscht und jetzt durch die Auswirkungen der Klimaerwärmung „freigesetzt“ wurden: Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind riesige Eisflächen an der Küste der Antarktischen Halbinsel (in Richtung Feuerland) abgebrochen. Dieses Schelfeis besteht aus riesigen Eismassen, die seit mehreren Jahrtausenden von den Gletschern an der Küste des südlichen Kontinents „abfließen“ und Flächen auf dem Meer bilden. Diese können sich Hunderte Kilometer weit in den Ozean hinein erstrecken. An ihrem äußersten Rand brechen Eisberge ab. Im letzten halben Jahrhundert erfuhr diese Halbinsel eine ungewöhnliche Erwärmung von mehr als 2 °C – das ist eine der größten Temperaturerhöhungen, die auf der Erdoberfläche gemessen wurden. Seit den Siebziger Jahren haben die Temperaturerhöhungen einen fortschreitenden Zerfall der 13 500 km² großen Oberfläche in zwei Zonen herbeigeführt, die ganz nüchtern Larsen A und Larsen B genannt werden. Sieben Jahre nach der vollständigen Auflösung von Larsen A hat sich nun auch das Eisschelf Larsen B im Februar 2002 vollständig abgelöst. Dieses ist das aktuellste und wichtigste Ereignis in der Endzeit des Schelfeises. Dabei wurde eine Meeresoberfläche von 3 250 km² freigelegt, die seit mindesten 12 000 Jahren durch eine 200 m dicke Eisschicht versiegelt war. Dieses Naturereignis, von dem die Wissenschaftler überrascht wurden, hat den auf die Meeresfauna spezialisierten Neue Küstenlinie bei Larsen B nachdem sich die Eisfläche aufgelöst hat. Biologen ein wunderbares Forschungsterrain eröffnet. Marmorbarsch im Schleppnetz. © Gauthier Chapelle (IPF)/Alfred Wegener Institute © Gauthier Chapelle (IPF)/Alfred Wegener Institute © Gauthier Chapelle (IPF)/Alfred Wegener Institute 2007, DAS POLARJAHR Eine Fundgrube der Erkenntnisse „Die Lebensformen unter den Eisschollen gehören zu dem am besten erhaltenen Ökosystem des Planeten, das bisher unzugänglich war“, betont Julian Gutt, Meeresökologe des AWI und wissenschaftlicher Leiter der Expedition. „Das Wissen um die Artenvielfalt unter dem Eis und die Entwicklung der Fauna seitdem sich das Eis aufgelöst hat, sind eine Fundgrube für wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse. Außerdem kann es ein aufschlussreiches Barometer für die Klimaveränderungen in den Polarmeeren sein.“ 6. Januar 2007. Am Spätnachmittag liefert ein letztes Schleppnetz seine Beute auf dem Arbeitsdeck ab. Als Erste bedienen sich die Ichthyologen, die schnell die Fische aussortieren, die sie für ihre Studien benötigen (siehe Kasten). Aber die Schleppnetze haben wie immer auch andere Organismen aufgesammelt, während sie über den Meeresgrund schleiften, den sogenannten Beifang. So werden auch die Benthos-Spezialisten (Benthos = lebende Organismen auf dem Meeresgrund) mit Proben und Typisierungsarbeiten versorgt. Dieser Fang besteht hauptsächlich aus einer beeindruckenden Menge enormer Kieselschwämme und der gesamten mit ihnen in Symbiose lebenden Fauna. „Es gibt eine Vielzahl von Organismen, die von den Höhlen in den Schwämmen profitieren“, erklärt Armin Rose vom Forschungsinstitut Senckenberg (DE). „Bei der Analyse dieser filtrierenden Tiere haben wir mehrere Arten von Copepoden [Ruderfußkrebse] gefunden – eine sehr artenreiche Gruppe kleiner Krebstiere, von denen einige in Symbiose mit Schwämmen leben. Das Ökosystem am Punkt Null Die Hauptaufgabe der Polarstern-Expedition ist ein erster Beitrag zur Zählung der antarktischen Meereslebewesen, Census of Antarctic Marine Life (CAML), dem größten internationalen, biologischen Forschungsprojekt während des Internationalen Polarjahres 2007-2008. Zwölf weitere Expeditionen werden unter seiner Schirmherrschaft bis zum Ende des Polarjahres folgen. CAML muss die großen Lücken in unserem Wissensstand über die antarktischen Meeresorganismen schließen. Das Ziel der Forscher ist es, über ein ausreichendes Inventar des „Nullzustands“ des Ökosystems zu verfügen. Das ist notwendig, um in Zukunft die Einflüsse des Klimawandels zu erfassen. „In der Gruppe der amphipoden Krebstiere sind mindestens 15 von 150 auf dieser Expedition bereits identifizierten Arten neu“, erklärt Cédric d’Udekem vom Institut Royal des Sciences Naturelles in Belgien. „Das heißt, wir müssen weiter forschen, denn über die Indentifikation der Arten hinaus, müssen jetzt ihre geografische Verteilung, ihre Fortpflanzungsart, ihre Ernährungsweise und vieles andere mehr beschrieben werden.“ 23. Januar 2007. Wir sind an einem unserer letzten Fanggebiete angelangt, das wir ausgewählt haben, um eine Vergleichsmöglichkeit zwischen den gesammelten Daten der Zonen Larsen A und Larsen B zu erhalten. Wir werden dieses Gebiet nach zwei intensiven Arbeitswochen verlassen. Das Team um Julian Gutt lässt gerade den ROV (aus dem Englischen: Remotely Operated Vehicle) zu Wasser. Das ist ein kleines, ferngesteuertes Unterseeboot, das mit mehreren Videokameras und Große Kieselschwammausbeute auf Deck der Polarstern Das Schicksal des Marmorbarsches er erste Teil der Expedition der Polarstern befasste sich mit der Auswertung der Fischbestände um die südlichen Shetland-Inseln in der Nähe der Antarktischen Halbinsel. Die russischen Fischkutter führten hier Ende der Siebziger bis Anfang der Achtziger Jahre einen intensiven kommerziellen Fischfang durch, der hauptsächlich zwei Arten betraf: den Marmorbarsch (oder antarktischen Kabeljau) und den antarktischen Eisfisch. Der rapide Einbruch der Barschbestände führte dazu, dass das Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (CCAMLR) den Fischfang in diesen Gebieten untersagt hat. Mehr als 20 Jahre danach sind die Fischbestände immer noch nicht vollständig wiederhergestellt, wie Karl-Hermann Kock vom Institut für Seefischerei in Hamburg berichtet. „Die Entnahmen, die wir gemacht haben, sind immer noch unbedeutend. Ich denke, dass wir veranlasst sein werden, von einer Wiedereinführung des Fischfangs abzuraten, wenn wir unsere vollständige Analyse der Ergebnisse auf der nächsten Versammlung der CCAMLR vorstellen, die in sechs Monaten in Hobart in Australien stattfinden wird.“ D research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 23 2007, DAS POLARJAHR einem Fotoapparat ausgestattet ist. Nach ungefähr zehn Minuten Tauchfahrt ist die Begeisterung bei den Biologen, die erwartungsvoll vor den Kontrollbildschirmen stehen, groß: Schwämme, Korallen, Seeanemonen, Seesterne, Seeigel gesellen sich zu anderen Kreaturen mit exotischeren Namen wie Bryozoen, Ascidiae, Crinoiden oder Pycnogonidae. Sie bilden eine farbenprächtige und komplexe Landschaft, die fast die gesamten Bodensedimente in einer Tiefe von 300 m überdeckt. Welch ein Kontrast zu den vorangegangenen Tauchgängen! IPF, Schnittstelle Pole und Gesellschaft ie International Polar Foundation (IPF) wurde als Schnittstelle zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft auf dem Gebiet der Forschung in den Polarregionen und der Auswirkungen des Klimawandels in diesen Regionen gegründet. Ziel der IPF ist auch die Einrichtung einer neuen, ökologisch konzipierten Forschungsstation auf dem antarktischen Kontinent. Sie hat sich im Rahmen des Internationalen Polarjahres (1. März 20071. März 2009) dem Alfred-Wegener-Institut, dem CAML, der CousteauGesellschaft und der Polar Embassy angeschlossen, um der Expedition der Polarstern eine größtmögliche Öffentlichkeit zu geben. D Die Lehren aus der Meerestiefe Die Beobachtungen des Meeresgrundes in dem Gebiet, in dem sich das frühere Eisschelf Larsen B bereits aufgelöst hat, sind sehr unter- © Gauthier Chapelle (IPF)/Alfred Wegener Institute Das ferngesteuerte U-Boot wird mit seinen Videokameras zu Wasser gelassen © Julian Gutt/Alfred Wegener Institute Tiefsee-Meergurke, aus dem Gebiet von Larsen B. © Julian Gutt/Alfred Wegener Institute Eine amphipode Krebstierart, 10 cm lang, noch nicht beschrieben. www.polarfoundation.org © Cédric d'Udekem/Royal Belgian Institute for Natural Sciences schiedlich. Die Fauna ist hier weniger reichlich und das felsige oder schlammige Substrat ist immer gut sichtbar. Die Biologen hatten das erwartet: Vor fünf Jahren war hier noch eine Eisdecke von rund 200 m Dicke vorhanden, die den Lichteinfall auf die Wasseroberfläche verhinderte und gleichzeitig jegliches Wachstum von Phytoplankton (pflanzlichem Plankton) und Zooplankton, das sich vom Phytoplankton ernährt, hemmte. Genau diese an der Wasseroberfläche lebende Gemeinschaft ernährt normalerweise mit ihren Ausscheidungen und Überresten das Ökosystem am Meeresgrund. Was jedoch die Forscher in der Zone Larsen B überraschte, war die Anwesenheit mehrerer Arten, die eigentlich der Tiefsee angehören. „Wir haben mindestens eine Seeigelart, zwei Holothurienarten (Seegurken) und eine Crinoidenart (oder Seelilien) gefunden, die man normalerweise nur in Meerestiefen von 2 000 m oder mehr antrifft“, bemerkt Thomas 24 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Saucède von der Universität in Dijon, der sich auf Echinodermata (Stachelhäuter) spezialisiert hat. „Es ist möglich, dass das Zusammenwirken der niedrigen Temperaturen (sie schwanken um die 0 °C-Marke) und der Nährstoffarmut – die Zufuhr wird nur durch seitliche Zuströme gewährleistet – für diese Arten ausreichende Tiefseebedingungen schaffen“, fügt Enrique Isla von der Universität Barcelona hinzu. Er ist Spezialist für die Wechselwirkungen zwischen Wasser und Meeresgrund. Aber die andere wichtige Entdeckung wurde im Hinblick auf die Evolution dieser Gemeinschaften gemacht. Seitdem sich diese Eisflächen aufgelöst haben, ist das Licht zurückgekehrt und mit ihm das Plankton und sein Ökosystem. Deshalb kommen auch die vom „Planktonregen“ abhängigen Arten des Meeresbodens zurück. „In der Zone Larsen B haben wir eine große Population einer neuen Art von Manteltieren beobachtet, die schnell heranwächst. In der Zone Larsen A, wo die Eisfläche seit mehr als zehn Jahren verschwunden ist, gibt es auch schon wieder Kieselschwämme, die sehr langsam heranwachsen“, betont Julian Gutt. „Wir werden so direkt Zeugen der Einflüsse der Klimaveränderung, die sich in dem Übergriff der einen Lebensgemeinschaft auf eine andere zeigen. Andere Expeditionen werden unsere Befürchtungen hinsichtllich der Artenvielfalt vielleicht bestätigen, nämlich, dass die ursprüngliche Fauna komplett von den neuen Arten verdrängt wird.“ www.awi.de/en/home/ www.sciencepoles.org. MEDIZIN Protokoll der Antibiotika-Resistenz D ie Feinde sind bekannt. Man bekämpft sie, aber sie werden von Mal zu Mal widerstandsfähiger. „Sie“, das sind zum Beispiel MRSA, Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (Staphylokokken) und andere „Super-Bakterien“. Diese pathogenen Bakterien haben eine Antibiotika-Resistenz entwickelt. „Das Problem ist in den Krankenhäusern sehr akut, vor allem auf den Intensivstationen“, erklärt Lutz Heide, Professor an der Universität Tübingen (DE), Koordinator des Projekts CombiGyrase. „Ältere Patienten und Transplantations- und Implantationspatienten, die gerade eine Operation hinter sich haben, sind besonders anfällig.“ Das Problem, das man in den Industrieländern aus der Nähe verfolgt, existiert bereits seit einem halben Jahrhundert und hat sich in den letzten Jahren verschärft. „Wir kennen die wachsende Resistenz gegen unsere letzten Waffen unter den Antibiotika, das Methicillin und das Vancomycin. Die pathogenen Mikroben, insbesondere die grampositiven Bakterien, darunter die Enterokokken und Staphylokokken, haben eine Resistenz angenommen, die bei sonst harmlosen Infektionen eine Sepsis oder Lungenerkrankung mit oft tödlichem Ausgang verursachen können. Das ist einer der Hauptgründe für die hohe Mortalität in den Risikogruppen.“ Ungleichgewicht bei Mikroben und Forschung Auf der Resistenzebene ist die Situation nicht einheitlich, weshalb das European Antimicrobial Resistance Surveillance System (EARSS) mit der Verfolgung des Resistenzverlaufs in 31 Ländern beauftragt wurde. Seine Aufgabe besteht darin, für bestimmte Bakterien und in bestimmten Ländern die über 50 % liegenden Resistenzwerte zu erfassen. „So erhält man einen guten Überblick über das Verordnungsverhalten. Je mehr Antibiotika (über-) konsumiert werden, desto höher ist der selektive Druck auf die Mikroben, und das fördert das Resistenzverhalten.“ Das ist darwinistisch… und deshalb ist es notwendig, pausenlos nach neuen Molekülen zu suchen, dabei den Einsatz der bereits vorhandenen zu begrenzen und diese nur im Ernstfall einzusetzen. Die großen Pharmakonzerne haben im Großen und Ganzen ihre Forschungen auf diesem Gebiet eingeschränkt oder sogar gestoppt. Hält man sich die astronomischen Entwicklungskosten für ein neues Medikament vor Augen, versteht man, dass Investitionen in den Kampf gegen Diabetes, Bluthochdruck oder andere Leiden, die ein Leben lang behandelt werden müssen, ertragreicher sind, als die Suche nach einem neuen Antibiotikum, das nur von Zeit zu Zeit verschrieben wird. Gyrase auf dem Prüfstand Kleinere bis mittlere Biotechnologiefirmen haben allerdings noch nicht aufgegeben. Zwei davon sind Partner im CombiGyraseKonsortium. An diesem Konsortium, das von der Europäischen Kommission mit 1,56 Millionen Euro über einen Zeitraum von drei Jahren gefördert wird, sind sieben Partner aus fünf Ländern beteiligt. Das Ziel ist, eine bislang unveröffentlichte Methode zur Entwicklung neuer Antibiotika anzuwenden. CombiGyrase kann bereits drei Erfolge vorweisen. Der erste ist die Entwicklung einer Technologie, die durch Gentechnik die Chancen zur Entdeckung neuer Antibiotika aus natürlichen Verbindungen steigert. Diese Bei der Gyrase handelt es sich um ein Enzym, das für Bakterien lebenswichtig ist. Menschen besitzen es allerdings nicht. Daher stellt es ein ideales Ziel bei der medikamentösen Behandlung mit Antibiotika dar (dargestellt durch farbige Punkte). © Bentham Science Publishers Das europäische Antibiotika-Forschungsprojekt CombiGyrase, weckt Hoffnungen im Kampf gegen die bakterielle Resistenz, die ein großes Problem in den Krankenhäusern Westeuropas darstellt. Methode ist auf industrielle Maßstäbe übertragbar und spart Zeit bei der Suche nach geeigneten Molekülen. Der zweite Erfolg, der dieser Strategie zu verdanken ist, ist die Auswahl von fünfzig Verbindungen aus der Stoffgruppe der Aminocumarine. Diese hemmen das Enzym Gyrase, das für die Zellteilung und damit die Vermehrung der Bakterien verantwortlich ist. Damit steht eine große mögliche Auswahl für ein neues Antibiotikum zur Verfügung, dessen Interaktion mit seinem „Ziel“ erwiesen ist. Schließlich wurde bei diesem Projekt auch ein Gyrase-Hemmer entwickelt: das Symocyclinon, dessen Aktionsmechanismus ebenso neu wie vielversprechend ist. Das nährt die Hoffnung, dass neue Antibiotika gegen die multiresistenten Pathogene entdeckt werden, und Europa in seiner Unterstützung zur Entwicklung herausragender Techniken bestärkt wird. „Mit Spitzenteams und einem leistungsstarken Forschernetz nimmt Europa eine Führungsposition auf diesem Gebiet ein“, schließt Lutz Heide. Kirstine de Caritat CombiGyrase (Development of New Gyrase Inhibitors by Combinatorial Biosynthesis) www.combigyrase.org Dr. Lutz Heide – [email protected] European Antimicrobial Resistance Surveillance System (EARSS) www.rivm.nl/earss research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 25 © Alain Riaublanc/INRA LANDWIRTSCHAFT Grüne Rohstoffe auf dem Vormarsch Rapsfelder in Lothringen. Theoretisch können fast alle Erdölderivate aus Pflanzen im Großanbau erzeugt werden. Können Landwirte angesichts der globalen Erderwärmung und der Notwendigkeit, die Abhängigkeit von den fossilen Brennstoffen zu reduzieren, auch zu Erzeugern industrieller Rohstoffe werden? Das europäisch-amerikanische Konsortium Epobio analysiert die Aussichten und die Grenzen dieser möglichen Umstellung. S eit 1993 fördert die gemeinsame Agrarpolitik die Entwicklung nachwachsender Rohstoffe. Die Bezeichnung mag neu sein, die Praxis ist es nicht. Immer schon haben Landwirte Pflanzen angebaut, die beispielsweise Fasern für Bekleidung oder Industrie lieferten, wie etwa Leinen oder Hanf. Die Ausstattung der Ford-Automobile in den 30er Jahren wurde aus Soja-Kunststoff gefertigt. Daran erinnert sich kaum noch 26 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 jemand. Die „Jahre des Erdöls“, von denen man allmählich in der Vergangenheitsform sprechen darf, brachten den Boom auf diesem Gebiet. Derzeit sind 97 % der chemischen Produkte Erdölderivate, 1950 waren es nur 4 %. Es ist also ein enormer Forschungs- und Entwicklungsaufwand erforderlich, damit es die grüne Chemie aus landwirtschaftlichen Produkten mit ihrer schwarzen Konkurrentin aufnehmen kann. Aber in welche Richtung soll gearbeitet werden? Welche Produkte sind heute ausgereift? Mit welchen technologischen Engpässen haben es die Ingenieure und Forscher heute zu tun? Und unter welchen Bedingungen können diese Innovationen wettbewerbsfähig werden? Auf diese Fragen will Epobio, ein Konsortium aus zwölf europäischen und US-amerikanischen Labors, eine Antwort geben. Eine europäisch-amerikanische Taskforce Die Idee für dieses mit Mitteln des 6. Rahmenprogramms finanzierten Projekts stammt aus der EU/US-Taskforce für Biotechnologien (1). Auf beiden Seiten des Atlantiks zeigte sich dasselbe Anliegen, nämlich die Entwicklung landwirtschaftlicher Produkte im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe voranzutreiben, und damit sowohl für den Verbraucher als auch für die Umwelt Vorteile zu erzielen. Dianna Bowles, Professorin am Centre for Novel Agricultural Products an der Universität York (GB) und Koordinatorin von Epobio, drückt es so aus: „Diese Forschungsarbeiten © Michel Adiran/INRA Emulsion aus Lipidtröpfchen mit einer Tensid-Proteinhülle, komplett biologisch abbaubar (hergestellt aus Rapstrester). LANDWIRTSCHAFT Natürliche Polymere Alle Kunststoffe, so unterschiedlich sie erscheinen mögen, sind Polymere, d. h. langkettige Moleküle, die durch die Wiederholung desselben chemischen Musters gebildet werden. Kann man für diesen Zweck die zahlreichen pflanzlichen Polymere verwenden? Bis zum heutigen Tag ist Stärke das einzige lebensfähige und rentable Beispiel, auch wenn Kunststoffe aus Stärke noch sehr feuchtigkeitsempfindlich sind. Die Verwendung anderer pflanzlicher Polymere ist noch wenig erforscht und oft bleibt die Qualität hinter der von Produkten aus der Petrochemie zurück. Zudem bedarf der ökologische Nutzen der Biokunststoffe einer aufmerksamen Überprüfung. Auf den ersten Blick scheinen sie besonders umweltfreundlich zu sein, denn sie sind zu 100% biologisch abbaubar. Aber bleibt die Ökobilanz auch dann noch zufriedenstellend, wenn man die gesamte Produktionskette betrachtet einschließlich des eingesetzten Düngers (der wiederum Treibhausgase freisetzt), der Pestizide und des Transports? Sollte nicht eher das Recycling der existierenden Kunststoffe gefördert werden? Sollte das Erdöl künftig nicht lieber ausschließlich für die Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden, da dieser Bereich weniger als ein Zwanzigstel der Weltproduktion in Anspruch nimmt und die erzeugten Produkte volle Zufriedenheit gewährleisten? Die Antwort hängt von den Forschungsergebnissen über die Verbesserung des Guayule, die andere Kautschukpflanze D er Hevea-Baum ist bekannt, aber wer kennt Guayule? Dieser in trockenen Regionen vorkommende Strauch könnte eines Tages auch im Süden Europas intensiv angebaut werden. Das ist jedenfalls die Schlussfolgerung eines Expertenberichts von Epobio, der im November 2006 veröffentlicht wurde und der die Qualitäten des Guayule für die Gewinnung von Elastomer unterstreicht. Dieser Bericht baut auf zwei Feststellungen auf. Zum einen ist die Europäische Union hochgradig abhängig von den Importen von HeveaKautschuk aus drei Ländern Südostasiens mit gigantischen, extrem schädlingsgefährdeten Monokulturen. Zum anderen sind immer mehr Menschen (1 bis 6 % der Europäer) allergisch gegen Latex. Daher entspricht die Suche nach neuen Quellen für Gummi ebenso den strategischen Interessen der Europäischen Union wie den Bedürfnissen der Verbraucher. Die Experten von Epobio haben verschiedene Elastomerpflanzen untersucht, wie eine russische Löwenzahnart (Taraxacum koksaghys) und die Goldrute (Solidago virgaurea), und haben sich schließlich darauf geeinigt, dass Guayule die meisten positiven Eigenschaften aufweist: Anpassung an das halbtrockene Klima der Regionen im Süden Europas, Erfahrungen im Anbau aus den USA und Mexiko, geringe Anforderungen hinsichtlich der Nährstoffzufuhr für eine zufriedenstellende Ernte in der Größenordnung von einer Tonne Kautschuk pro Hektar. Was nach Ansicht der Experten noch zu tun bleibt, ist eine genetische Verbesserung der Pflanze, die bislang von den Züchtern verschmäht wurde, sowie die Entwicklung wirtschaftlicherer Möglichkeiten der Gewinnung des Rohstoffs. © University of Arizona & USDA-ARS. verdienen eine vorrangige Behandlung. Unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und der Klimawandel stellen eine besondere Bedrohung für unsere Gesellschaft dar. Doch gibt es zahlreiche Pflanzen, die Erdölprodukte ersetzen können.“ Hauptgegenstand dieser Forschungsarbeiten sind Produkte für die Industrie, die aber noch eine wissenschaftliche Herausforderung darstellen und einer fundierten Einschätzung bezüglich der wirtschaftlichen Machbarkeit und etwaiger Risiken bedürfen. Für drei Themengruppen aus diesem Bereich soll bis 2020 eine Prospektion versucht werden: für Biopolymere, vor allem zur Produktion von Kunststoff, für Pflanzenöle und schließlich für Produkte, die aus der Verarbeitung von Pflanzenzellwänden hervorgehen. Wirkungsgrads von Biopolymeren ab. Zu den verfolgten Ansätzen gehören unter anderem die Manipulation des Pflanzenstoffwechsels zur Erhöhung des Polymergehalts, die Verbesserung der Extraktionsverfahren und die Untersuchung neuer Biopolymerquellen, wie beispielsweise Inulin aus Zichorien, oder die Proteinpolymere. Was versprechen Pflanzenöle? Dort, wo die Forschungsarbeit zur industriellen Anwendung von Polymeren noch stockt, zeigen sich bei der Verwendung von Pflanzenölen bereits einige gute Erfolge. Wie der an Epobio beteiligte schwedische Forscher, Anders Carlsson, zurecht erinnert, „verfügen Pflanzenöle über eine ähnliche chemische Struktur wie die Kohlenwasserstoffe des Erdöls“. Schon heute werden 15 – 20 % der Pflanzenölproduktion außerhalb des Nahrungsmittelsektors eingesetzt. Es geht also nur darum, bereits existierende Industrieverfahren an neue Rohstoffe anzupassen. Beispiele: Der aus Raps hergestellte Biodiesel kostet 78 US-Dollar pro Barrel. Das ist ein Preis, der den Biobrennstoff fast schon kon- kurrenzfähig gegenüber dem Erdöl macht. Über ein Drittel der US-amerikanischen Tageszeitungen wird mit Druckertinten auf Sojabasis gedruckt. Oder Rizinusöl: Es ist als einer der besten Industrieschmierstoffe bekannt. Für den Absatz von Produkten aus Ölpflanzen ergeben sich also immer mehr und unterschiedliche Möglichkeiten. Um diese vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten noch zu fördern und beispielsweise Lösungsmittel, Farben oder Oberflächenbeläge zu erzeugen, müssen die Möglichkeiten der Synthese von Fettsäuren in den verschiedenen Pflanzen intensiv erforscht werden, da sich jede für eine bestimmte Art der Anwendung besonders eignet. Kann Gentransfer dazu beitragen, die Qualität oder Menge der von einer Pflanze produzierten Fettsäuren zu beeinflussen? Die Fachleute bei Epobio beharren darauf, dass es wichtig ist, ein Projekt mit Durchschlagskraft durchzuführen, das die Machbarkeit eines solchen Ansatzes des Gentransfers unter Beweis stellen kann, denn auch die traditionelle Landwirtschaft steht vor großen Aufgaben. Die europäische (1) Siehe FTE Info, Sonderausgabe „Forschung und Zusammenarbeit“, Juli 2005. research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 27 LANDWIRTSCHAFT Samen von Melonen und Ringelblumen – Pflanzen, die für die Herstellung von Pflanzenölen infrage kommen. Landwirtschaft zeichnet sich durch die Besonderheiten ihrer Ölpflanzenproduktion aus. Spitzenreiter in der weltweiten Pflanzenölproduktion sind Soja-, Palm- und Kokosöl. Diese Pflanzen sind in der Europäischen Union praktisch unbekannt, wo das Spitzentrio Raps, Sonnenblume und Olive heißt. Es geht also darum, neue Non-FoodAbsatzmöglichkeiten für die in Europa angebauten Ölsorten zu erschließen, die agronomische Forschung bei vielversprechenden, aber heute vernachlässigten Ölpflanzen (Leinen, Rizinus usw.) zu verstärken oder auch die landwirtschaftliche Nutzung von neuen Ölpflanzen, wie Wolfsmilchgewächse oder Ringelblume, ins Auge zu fassen. Biomasse: die pflanzliche Herausforderung Die erwartete intensive Entwicklung der Anwendungsmöglichkeiten von Pflanzenölen könnte zudem die oben erwähnte, noch stockende Entwicklung der Biopolymere beschleunigen. Denn bei der Gewinnung von Öl aus Ölpflanzen bleibt ein großer Anteil der Biomasse zurück, die aus Protein- und Zuckerpolymeren besteht und deren Nutzung sich lohnen könnte. Diese umfassende Sichtweise, bei der alle Bestandteile der Pflanze genutzt werden, wird mit dem Konzept der Bioraffinerie auf die Spitze getrieben, in der, ausgehend von pflanzlichen Zellwänden, Dutzende chemischer Produkte erzeugt werden sollen. Das ist eine umfangreiche Aufgabe, denn diese widerstandsfähige Membran, welche die Pflanzenzelle umschließt, stellt 85% der von der Landwirtschaft erzeugten Biomasse dar. „Die pflanzliche Zellwand hat für die Pflanze eine Stütz- und Schutzfunktion und ist daher gegen die Beschädigung durch Mikroorganismen resistent. Daher sind energieaufwändige 28 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 chemische Verfahren oder eine Enzymbehandlung erforderlich, um die drei Polymerarten abzubauen, aus denen die Zellwand besteht: Zellulose, das auf der Erde am häufigsten vorkommende organische Molekül Hemizellulose und Lignin. Das unterstreicht der am Projekt teilnehmende deutsche Forscher Ralf Möller. Bei dieser chemischen oder enzymatischen Aufspaltung sollen die Polymere in kleine Moleküle zerlegt werden, die später nach den Vorstellungen der Chemiker wieder zusammengesetzt werden: Dabei erhält man Biokraftstoffe aus der in der Zellulose enthaltenen Glukose, Harze und Die Zukunft der Krambe N Lösungsmittel aus der in der Hemizellulose enthaltenen Xylose oder Emulgatoren und Klebstoffe aus den Phenolen des Lignin. Bevor sich dieses große Projekt einer grünen Chemie verwirklichen lässt, ist jedoch noch Grundlagenarbeit zum Verständnis der Struktur der Pflanzenzellwand und vor allem zur Klärung der Möglichkeiten ihrer aus wirtschaftlicher Sicht ertragreichen Nutzung erforderlich. Die Bioraffinerien, die vielleicht eines Tages die petrochemischen Raffinerien der Erdölterminals ersetzen werden, werden heute in den Labors der Grundlagenforschung für die Pflanzenbiologie vorbereitet. Mikhaïl Stein EPOBIO ( realising the Economic POtential of sustainable resources - BIOproducts from Non-Food Crops ) www.epobio.net [email protected] © Dr. Win Phippen, Western Illinois University © CNAP (UK) Schnitt durch eine Kiefernnadel, bei der die pflanzliche Zellwand sichtbar ist. ach Ansicht der Ingenieure gehören Wachsester zu den besten industriellen Schmiermitteln, vor allem in der Automobilindustrie. Sie haben allerdings auch einen gewaltigen Nachteil: Die einzigen bekannten Quellen sind Walrat (ein Organ im Kopf des Pottwals) und Jojoba, eine tropische Pflanze. Aber Walfang ist verboten und eine Tonne Jojobaöl kostet die Crambe abyssinica astronomische Summe von 5 000 Euro. Damit es die Wachsester mit den derzeit gebräuchlichen, aus Erdöl gewonnenen Mineralölen aufnehmen können, schlagen die Wissenschaftler von Epobio einen gewagten Ansatz vor: die genetische Veränderung der Krambe (Crambe abyssinica), einer in Europa selten angebauten Ölpflanze. Diese Wahl basiert auf drei Vorteilen, welche die Pflanze gegenüber ihren potenziellen Konkurrenten Raps und Sonnenblume auszeichnet. Zunächst die landwirtschaftlichen Vorteile: Die Krambe benötigt nur wenig Wasser und Dünger, sie eignet sich nicht zum Verzehr und das ist für Experten eine wichtige Voraussetzung, damit die europäische Öffentlichkeit Genmanipulationen an dieser Pflanze akzeptiert. Der letzte Vorteil betrifft die Tatsache, dass eine Verbreitung der eingeschleusten Gene auf Wildpflanzen unmöglich ist, und damit das oft kritisierte Risiko einer genetischen „Verschmutzung“ umgangen wird. Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern haben gezeigt, dass sich die Erzeugung von Wachsestern aus Crambe abyssinica wirtschaftlich lohnen würde – vor allem, wenn die nach der Extraktion verbleibende Biomasse für die Erzeugung von Strom oder Wärme verwendet werden könnte. Jetzt sind die Molekularbiologen und die Spezialisten für industrielle Eigentumsrechte an der Reihe. Erstere, weil die Pflanzen mit den für die Biosynthese von Wachsestern notwendigen Genen ausgestattet werden müssen, und letztere, weil die erforderlichen Verfahren durch zahlreiche Patente geschützt sind. © Institut für Transurane GEMEINSAME FORSCHUNGSSTELLE Atompolizei im weißen Kittel Teilchendetektoren, Satellitenüberwachung, Lasersensoren, Expertensoftware für exotische Sprachen, Ausbildung von Atominspektoren… Seit einem Vierteljahrhundert unterstützt die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission mit ihrer logistischen Erfahrung die internationale Atomenergieorganisation (IAEO), deren Auftrag es ist, gegen die Verbreitung von Kernwaffen vorzugehen. D er 1968 von den Vereinten Nationen verabschiedete Atomwaffensperrvertrag soll die Abrüstung fördern, erkennt aber gleichzeitig das Recht der Nationen an, Kernkraft für friedliche Zwecke zu nutzen. Unter diesem Abkommen ist die überragende Mehrheit der Staaten der ganzen Erde vereint. Es fehlen aber einige Schwergewichte: vor allem die Atommächte Indien, Pakistan und Israel. Auch Nordkorea, das im Oktober 2006 einen unterirdischen Atomversuch durchführte, lehnte 2003 die Unterzeichnung des Vertrags ab. Und der Iran, der sich weigert, die Urananreicherung einzustellen, verwies die Inspektoren der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) des Landes. Ihre Aufgabe ist die Überwachung der weltweiten atomaren Aktivitäten, die Rüstungszwecken dienen könnte. Die in Wien ansässige Behörde beschäftigt über 2 200 Personen aus 90 Ländern und feiert am 29. Juli 2007 ihr 50jähriges Bestehen. Jedes Jahr führen 250 Inspektoren rund 10 000 Besuche in Versuche mit Nuklearbrennstoffen im Aktinidenlabor. 900 Anlagen in 71 Ländern durch. Ziel dieser Inspektionen ist es, alle geheimen Rüstungsprogramme aufzuspüren und gegen den illegalen Handel mit radioaktivem Material vorzugehen, das für militärische und zivile Zwecke eingesetzt werden kann – das sind vor allem Uran, Plutonium und Thorium. Im Jahr 2005 wurden die Behörde und ihr Leiter, der Ägypter Mohamed El Baradei, vor dem Hintergrund steigender Spannungen für ihre Bemühungen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. „Unsere Prüfungsmission steht unentwegt unter Druck“, stellt Olli Heinonen, stellvertretender Leiter der IAEO und Chef der für die Umsetzung des Atomwaffensperrvertrags verantwortlichen Abteilung, fest. „Der Zugang zu Bildung und wissenschaftlichen Erkenntnissen und die sinkenden Technologiekosten machen die Kernwaffenoption in einigen Spannungsgebieten attraktiver.“ Die wichtigsten Aufgaben der Gemeinsamen Forschungsstelle Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, benötigen die Inspektoren neueste Hightech-Mittel research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 29 © Institut für Transurane und eine ständig aktualisierte Ausbildung. Um beide Voraussetzungen zu erfüllen, ist die IAEO auf diesbezügliche Anstrengungen der Unterzeichnerstaaten angewiesen. Die Europäische Union unterstützt die Behörde mit etwa sechs Millionen Euro im Jahr, indem sie vor allem speziell durch ihre Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) entwickelte wissenschaftliche und technologische Dienste bereitstellt. „Die verschiedenen Institute der GFS spielen seit 1981 eine entscheidende Rolle für den Betrieb der Behörde“, erklärt Olli Heinonen. Von der Ausbildung der Inspektoren über die Entwicklung von Informationssoftware im Internet oder Satellitenüberwachung bis hin zu Laboranalysetechniken unterstützen rund hundert Forscher und Techniker der GFS die Arbeit der IAEO in 25 Bereichen. Das Institut für Transurane (ITU) in Karlsruhe (DE) etwa unterstützt die Inspektoren der IAEO. Das mit elektrischen Sicherheitszäunen umgebene Institut beherbergt das einzige Labor für die Erforschung von Aktiniden, einer Reihe radioaktiver Elemente, zu denen Uran, Plutonium und Thorium gehören. Roboter bei der Arbeit mit radioaktiven Stoffen in einer heißen Zelle (Hot Cell). Ausgestattet mit Elektronenmikroskopen, abgeschirmten Behältern, Massenspektrometern und anderen Geräten für die Analyse von Radionukleiden beherrschen die Detektive im weißen Kittel die Analyse der von den Inspektoren gewonnenen Proben bis ins Detail. Bereits 1990 wurde ein Laborroboter entwickelt, der die notwendigen hochpräzisen Analysen, wie z. B. die chemische Trennung von Uran und Plutonium, automatisiert. Dadurch wird nicht nur sehr viel Zeit gespart, die Forscher sind dadurch auch weniger Radioaktivität ausgesetzt. 30 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Auswertung radioaktiver Fingerabdrücke Eine der Techniken besteht z. B. darin, ein Element einer Probe zu verdampfen, um die daraus resultierenden Dämpfe durch Vergleich ihrer Zusammensetzung mit den Referenzmaterialien zu untersuchen. Bei einem anderen, besonders effizienten Verfahren wird den Inspektoren ein Baumwollgewebe zur Verfügung gestellt, das speziell dafür konzipiert ist, Milliarden von Partikeln aufzunehmen, die auch in den geringsten Staubablagerungen einer Anlage zu finden sind. Mithilfe der Massenspektrometrie isolieren die Forscher des ITU kleinste radioaktive Teilchen und bestimmen die isotopische Zusammensetzung der Uranpartikel. „Jegliche nukleare Aktivität hinterlässt Spuren“, erklärt Klaus Mayer, Leiter des Labors. „Jedes Element eines technischen Verfahrens entspricht einem Fingerabdruck voller Informationen über das Produktionsverfahren und sogar über die mögliche Verwendung. Ebenso wie ein Polizeilabor eine Vielzahl von Indizien analysiert, um einen Kriminalfall aufzuklären (Haare, Fingerabdrücke, Sprengstoffspuren, Fasern, usw.), analysieren wir sorgfältig die Zusammensetzung des Isotops, Verunreinigungen, seine makroskopische Erscheinungsform und die Mikrostruktur eines jeden vorliegenden Elements. Unsere äußerst leistungsfähigen Werkzeuge erkennen den Ursprung und die beabsichtigte Verwendung des von den Inspektoren beschlagnahmten Materials. Einige an einem Standort aufgenommene Partikel erlauben uns bisweilen, mehrere Jahre zurückzuverfolgen.“ Die Spürhunde des ITU haben seit den 90er Jahren rund dreißig Fälle von Kernmaterialschmuggel aufgedeckt. Sie haben es 1994 z. B. geschafft, am Flughafen München Plutonium in einem Aktenkoffer auszumachen. Im gleichen Jahr wurden mehrere Pastillen nuklearen Brennstoffs sowie ein kleiner Zylinder aus 99,7% reinem Plutonium analysiert, der bei einer Razzia gegen Geldfälscher beschlagnahmt wurde. Referenzmaterialien Ein anderer Standort der GFS, das Institut für Referenzmaterialien und Referenzmessungen (IRMM) in Geel (BE), ist ein weiterer Akteur der europäischen Zusammenarbeit mit der IAEO. Dieses Institut beschäftigt sich mit der © Institut für Transurane GEMEINSAME FORSCHUNGSSTELLE Das ITU besitzt das einzige Labor, das für die friedliche Erforschung der Aktinide eingesetzt wird. Inspektion der Analysekammer eines Photoelektronenspektrometers. Qualitätskontrolle bei den Nuklearmessungen in den europäischen und außereuropäischen Labors. Hierbei handelt es sich um eine wichtige Aktivität, um die Vergleichbarkeit der Messergebnisse zu gewährleisten. Das IRMM hat auch „Normen“ entwickelt, die bei den Analysen von nuklearem Material als Vergleichsskalen eingesetzt werden. Die dritte europäische Einrichtung, das Institut für Schutz und Sicherheit des Bürgers, befindet sich in Ispra (IT) und hat zahlreiche Hilfsmittel entwickelt, die etwa zur Schulung der Inspektoren oder zur Überwachung ihrer Mission in der Russischen Föderation dienen. Dieses Institut führt auch Tests an transportfähigem Material durch, das die Inspektoren der IAEO mitunter auch unter extremen Betriebsbedingungen einsetzen. Inspektor Roboter Das Institut hat ein Prüfsystem für komplexe Installationen entwickelt, das unter Einsatz der Lasertechnologie für Entfernungsmessungen die herkömmliche Methode der Bestandsaufnahme verbessert. Videoaufnahmen oder klassische Fotografien sind nicht präzise genug, um Veränderungen an kleineren, schlecht beleuchteten oder selbst gut verborgenen Orten erkennen zu können. Doch die Inspektoren müssen jede Veränderung an einem nuklearen Hochsicherheitssystem ausfindig machen können, die sich als kritisch erweisen oder sogar auf ein illegales Programm hindeuten könnte. Dieses Lasersystem ist mit zahlreichen Sensoren ausgestattet und kann ein millimetergenaues, dreidimensionales Modell eines Rohrsystems, eines Reservetanks, einer Maschinenhalle oder eines ganzen Gebäudes erstellen. Wenn diese Abtastungen regelmäßig durchgeführt und die Bilder übereinandergelegt © Dean Calma/IAEA © Petr Pavlicek/IAEA GEMEINSAME FORSCHUNGSSTELLE Entgegennahme von Proben in der Abschirmkammer der IAEO-Labors in Seibersdorf (AU). Messung der Radioaktivität im Gelände in Georgien (2002). werden, lassen sich Veränderungen an einer Anlage automatisch erkennen. „Warum wurde der Durchmesser dieses Rohres verändert? Können Sie diese Änderungen dokumentieren? Die kleinste nicht gemeldete Änderung weckt die Neugier der Inspektoren“, erklärt Willem Janssens, Leiter der Abteilung für nukleare Sicherheit bei der GFS. Im Jahr 2006 wurde dieses System in der gigantischen Wiederaufbereitungsanlage im japanischen Rokkasho-mura installiert (38 Gebäude, 1 700 Kilometer Rohrleitungen). Die GFS hat bereits viele Erfahrungen in den Wiederaufbereitungsanlagen von La Hague (FR) und Sellafield (UK) gesammelt und unterstützt auch den Überwachungsauftrag der IAEO in diesem riesigen Komplex. Europa hat an diesem Standort auch einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau eines Labors für analytische Messung und Kontrolle geleistet. Auf der Suche nach Informationen Das Konzept der nuklearen Sicherheit hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Grund hierfür waren die Entdeckung eines geheimen Atomprogramms im Irak (1991), die Zerschlagung von kriminellen Netzen, denen Inspektorenweiterbildung W enn die 250 Inspektoren der IAEO sicherstellen wollen, dass die Staaten ihren Verpflichtungen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags nachkommen, müssen sie die modernsten Techniken und Ausrüstungen kennen, präzise Analysen durchführen und mit extrem komplexen Informationen und Daten umgehen können. Zur Unterstützung dieser Aufgabe der IAEO hat das Institut für Schutz und Sicherheit des Bürgers der GFS unter Einbeziehung aller hohen Verantwortlichen für nukleare Sicherheit der EU 2005 das Internetportal Surveillance and Information Retrieval entwickelt und verwaltet es seitdem. Dieses Portal befasst sich mit den technischen Systemen und Neuerungen auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit (3D-Ansicht, integrierte Kontrollen aus der Ferne, Sicherung des Informationsaustauschs zwischen Aufsichtsorganen, Suche nach Informationen). Seit vielen Jahren bietet die GFS auch den Inspektoren der IAEO Schulungen auf höchstem Niveau an. Ihr Generaldirektor Roland Schenkel macht noch einmal deutlich, dass derzeit „Weiterbildungsmaßnahmen zur Erweiterung der Kenntnisse über sensitive Anlagen, Waffenschmuggel und radioaktive Stoffe, Analysetechniken und Kenntnisse für Entscheidungen über den Standort von Atomkraftwerken“ erforderlich sind. Eine neue Bildungsmaßnahme ermöglicht ebenfalls die Perfektionierung der Beobachtungs- und Untersuchungsfähigkeiten der Inspektoren der IAEO, damit diese in die Lage versetzt werden, illegale Aktivitäten zu ermitteln. Die Kurse der GFS, die das gesamte Spektrum der nuklearen Sicherheit abdecken, sind jedoch nicht nur für diese Organisation vorgesehen. Einige der Schulungen wenden sich an offizielle nationale oder internationale Organe, wie z. B. Europol und Interpol, an Zoll- und Sicherheitsbeamte. Hier können diese sich das notwendige Wissen für die Verhütung und den Schutz sowie für Aufkärungs- und Identifizierungstechniken aneignen. auch europäische Unternehmer angehörten, sowie der blühende Schmuggel nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes. In dem Versuch, die Kontrollmechanismen diesen neuen kriminellen Machenschaften anzupassen, hat die IAEO 1997 ein zusätzliches Protokoll verabschiedet, das zehn Jahre danach in 78 Staaten gilt, darunter die 27 Mitgliedstaaten der EU. Dieses Protokoll erweitert die Ermittlungsbefugnisse der Inspektoren beträchtlich, denn sie können von an den Informationsfluss in Bezug auf potenziell verbotene kerntechnische Aktivitäten überwachen. Hierfür bildet die Nachrichtensuchmaschine Europe Media Monitor (EMM), die ebenfalls von der GFS entwickelt wurde, ein einzigartiges Hilfsmittel zur Sichtung von Informationen weltweit auf diesem heiklen Gebiet (1). EMM analysiert rund um die Uhr die Presseaktivitäten von 800 Websites und 25 Presseagenturen in 30 Sprachen, einschließlich Farsi. Das Programm sammelt, indiziert und analysiert sowohl Presseartikel als auch zahlreiche Spezialberichte. Diese Informationen werden oftmals noch durch online verfügbare Satellitenfotos ergänzt. Filter verknüpfen die Informationen, werten sie hinsichtlich ihres Interesses aus und erfassen zusätzliche Analysehilfsmittel, wie Satellitenbilder. Im Kampf gegen illegale Machenschaften gibt es keine bessere Strategie als alles zu wissen. Cyrus Pâques (1) Mit etwa 10 000 Schlüsselwörtern bietet EMM eine umfassende Informationsdatenbank in zahlreichen Gebieten: dazu gehören Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft. Die Website wird von etwa 20 000 aktiven Benutzern konsultiert. Sie liefert täglich 25 000 Artikel und versendet rund 4 000 Benachrichtigungen täglich per E-Mail. AIEA www.iaea.org/ Websites der GFS Allgemeine Website www.jrc.cec.eu.int/ Zusammenarbeit GFS IEAO http://npns.jrc.it/IAEA-25 Abteilung nukleare Sicherheit http://nuclearsafeguards.jrc.it/ Surveillance and Information Retrieval http://sir.jrc.it/ ESARDA www.jrc.cec.eu.int/esarda/ Europe Media Monitor http://press.jrc.it/NewsExplorer/ research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 31 NANOTECHNOLOGIEN Die Metamorphosen des Goldes im Nanobereich Gold, das seit Jahrtausenden als das „wertvolle“ Metall schlechthin gilt, rückt immer mehr in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses allerdings eher wegen seiner funktionalen Eigenschaften als wegen seines Symbolgehalts. Im Nanobereich zeigt es neue physikalische und chemische Eigenschaften, die Wissenschaft und Industrie schwärmen lassen. Krebstherapie, Kampf gegen Umweltverschmutzung oder Miniaturisierung elektronischer Bauteile sind die Kernbereiche dieses neuen „Goldrausches“. 100 nm © Mass Spectrometry Laboratory - Universität Lüttich (BE) Es wurde allerdings festgestellt, dass bei der Isolierung von Gold-Nanopartikeln die Elektronen ihre Bewegungen an die begrenzten Dimensionen und Formen im Nanobereich anpassen und sehr interessante elektromagnetische Eigenschaften aufweisen. Dadurch eröffnen sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten im opto-elektronischen Bereich. Projekt Adonis – Durch opto-akustische Erregung von Gold-Nanopartikeln, die biofunktionalisiert und Ähnlichkeit mit dem Lebenden an bestimmten Zellen abgelagert sind, wird ein Gold wird bereits seit der Antike in der Ultraschall erzeugt, mit dem der Aufbau krankhafter Medizin eingesetzt, da es bei Kontakt mit dem Zellen festgestellt werden kann. Organismus reaktionsträge und korrosionsbeas reaktionsträge und oxidations- ständig ist. Darüber hinaus wird schon heute die beständige Metall wird seit der Tatsache genutzt, dass Gold biofunktionalisiert Antike zu medizinischen Zwecken werden kann, sodass es Antikörperproteine eingesetzt. Es weist eine gute oder Antigene an seiner Oberfläche adsorbieren elektrische Leitfähigkeit auf und ist wegen kann. Werden die Goldpartikel in den Körper seiner Farbvariationen und seiner Fähigkeit, eingeimpft, lagern sie sich an bestimmten Verbindungen mit organischen Molekülen Stellen ab und reagieren auf spezielle einzugehen, interessant. Soweit zu den klassi- Proteine, mit denen sie verbunden sind. So schen Attributen des Goldes. Wenn man sich können Krebszellen entdeckt und sogar zerjedoch auf die Ebene der Nanopartikel begibt, stört werden, indem die Goldpartikel mit offenbart das Edelmetall Eigenschaften, die Infrarotstrahlen erhitzt werden (siehe Kasten). noch vor kurzem niemand geahnt hätte. In Diese Fähigkeit der Goldpartikel, sich an diesem Bereich hat man festgestellt, dass es organischem Material abzulagern, wird auch unerwartete Katalysatorfähigkeiten aufweist eingesetzt, um Schnelltests zur Untersuchung von Körperflüssigkeiten (Blut, Speichel) auf und sogar zum Halbleiter wird. Substanzen, Allergene oder In einer Goldmasse entsteht der Fluss des toxische elektrischen Stroms durch die Bewegung der Mikroben herzustellen. Die biofunktionalen frei im Metall beweglichen Leitungselektronen. Goldpartikel lagern sich dabei an den gesuchten D 32 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 A B Im MINT-Projekt soll in integrierten Transistorschaltkreisen im Nanobereich die Bildung von Nanoverbindungen aus leitfähigen Gold-Nanopartikeln erforscht werden. Dazu werden Werkzeuge zur molekularen RNA-Erkennung verwendet, mit deren Hilfe ein adäquater und kontrollierter Substanzen ab. Dank ihrer roten Farbe lassen sie sich schließlich auf einem Teststreifen sichtbar machen. Giftgase erkennen und beseitigen Man hat entdeckt, dass Gold im Nanobereich auch ein sehr guter Katalysator ist. Die katalytischen Mechanismen sind zwar noch nicht vollständig erforscht, jedoch wird diese Eigenschaft bereits zur Verbesserung von Gasdetektoren eingesetzt. Das europäische Konsortium Nanogas hat beispielsweise Folgendes entdeckt: Wenn man Zinkoxid, mit dem sich geruchloses und doch tödliches Kohlenmonoxid (CO) aufspüren lässt, Goldpartikel hinzufügt, erhöht sich die Empfindlichkeit des Sensors, weil die Elektronenübertragung beschleunigt wird. NANOTECHNOLOGIEN C D Selbstaufbauprozess der Nanopartikel hervorgerufen werden kann (Abbildung C). In Abbildung D ist zu sehen, wie dieser Selbstaufbau bei zwei im Nanobereich getrennten Nanoelektroden erreicht wird. Und dann kommt die Nanoelektronik Ein weiterer nicht unwichtiger Bereich, in dem der Nanometer zur Maßeinheit wird, ist die Elektronik. Für David Cumming, Koordinator des europäischen Projekts MINT (Molecular Interconnect for NanoTechnology) „werden integrierte Schaltkreise den Bereich von rund zehn Nanometern erreichen. Neue Herstellungsmethoden werden bereits untersucht“. Aus diesem Zusammenhang stammt die Idee, Proteine wie DNA oder RNA einzusetzen, die sich falten und selbst organisieren können, um elektronische Schaltkreise in diesem Maßstab aufzubauen. Die Herstellung von Nanokabeln aus mit RNA-Ästen verbundenen Goldpartikeln oder die Verwendung von RNA-Netzen als Masken vor der Metallisierung mit Gold sind nur einige Forschungsbeispiele. Nun muss nur noch die elektrische Leitfähigkeit dieser Hybridmaterialien geprüft werden, bevor vielleicht sogar das Silizium entthront werden kann. Pierre-François Brevet, Leiter des Themenbereichs Methoden zur Charakterisierung der Gold-Nanopartikel der Forschungsgruppe Gold-Nano (CNRS, FR), ist zwar der Meinung, dass die Goldpartikel „inert sind und keine chemischen Reaktionen im biologischen Milieu auslösen, was ihre biomedizinische Verwendung rechtfertigt.“ Aber sind sie deshalb auch ungefährlich? Für den Forscher läge das Risiko eher bei den bei der Biofunktionalisierung eingesetzten Molekülen, einem Verfahren, das anhand von Vorschriften für Experimente mit neuen Molekülen oder Medikamenten streng überwacht wird. Um die Unschädlichkeit einer Anhäufung von Gold im Organismus garantieren zu können, ist es allerdings noch zu früh. François Rebufat Nanogas http://ec.europa.eu/research/industrial_technologies/impacts/article_3011_en.html MINT www.elec.gla.ac.uk/mint/ Or-Nano www.insp.jussieu.fr/or-nano/index.htm Mit Klang und Licht gegen Krebs I m massiven Zustand ist es gelb. Rot, violett oder gar blau wird es, wenn es auf Partikel im Nanobereich reduziert wird. Diese Eigenschaft ist unter Handwerkern, die feinstes Goldpulver verwenden, um Glas eine lichtabhängige Färbung zu verleihen, seit Jahrhunderten bekannt. Sie wird heute zur Entdeckung von Krebszellen eingesetzt. In sehr präzisen Dimensionen (5 bis 10 nm) reagieren die Goldpartikel auf Laseremissionen im Infrarotbereich, indem sie einen Teil der Energie als Licht reflektieren, den anderen in Wärme umwandeln. Nachdem sie mit speziellen Antikörpern auf die für kranke Zellen spezifischen Projet Adonis – Durch opto-akustische Antigene biofunktionalisiert wurden, können sie Erregung von Gold-Nanopartikeln, die biofunktionalisiert und an bestimmten Zellen mit infraroten Strahlen, die das biologische abgelagert sind, wird ein Ultraschall erzeugt, Gewebe durchdringen, angestrahlt werden. mit dem der Aufbau krankhafter Zellen Auf diese Weise können die Partikel mithilfe festgestellt werden kann. der Magnetresonanztomographie sichtbar gemacht werden. Jedoch bleiben „diese Techniken in Fällen wie dem Prostatakrebs zu ungenau, um Zustand und Entwicklung zu bestimmen“, erläutert Robert Lemor, Koordinator des europäischen Projekts Adonis, das sich dieser typischen Männerkrankheit widmet. Dieses europäische Projekt läuft seit einem Jahr und verwendet ebenfalls Ultraschall zur Lokalisierung der Gold-Nanopartikel. Werden diese bestimmten Infrarotfrequenzen ausgesetzt, senden sie einen bestimmten Ton aus, der durch Ausdehnen und Zusammenziehen des Materials verursacht wird. „Die Verbindung optischer und akustischer Detektoren bietet größere Präzision, weil die akustischen Methoden viel tiefer in das Gewebe eindringen“, erläutert Robert Lemor. Die Erkennung ist lediglich eine erster Schritt und das Konsortium plant auch Therapieverfahren. Durch Veränderung der Wellenlänge des Lichts sowie der Größe und Form der Nanopartikel kann der reflektierte thermische Energieanteil im Vergleich zur Lichtemission erhöht werden. Das an der Krebszelle abgelagerte Partikel wird erhitzt. Unter 60 °C wird die Durchlässigkeit der Membran verändert und die Zelle zerstört. Dieses Verfahren wird derzeit in vitro getestet und könnte bei verschiedenen Tumoren eingesetzt werden, nachdem für jeden einzelnen diejenigen Zellen ermittelt wurden, an denen sich die Goldpartikel ablagern müssen. www.fp6-adonis.net ©Institute of Applied Physics – University of Bern (CH) Tritt der Sensor mit einem CO-Molekül in Kontakt, erhält er ein Elektron, ändert seine elektrische Leitfähigkeit und überträgt ein Signal. Die Katalysefähigkeit der Gold-Nanopartikel wird auch dazu genutzt, Kohlenmonoxid oder bestimmte andere toxische Gase zu verändern und somit zu filtern. In Gegenwart von Sauerstoff ist Gold das einzige Metall, das CO bei Umgebungstemperatur oxidieren kann, wodurch das weniger toxische CO2 (Kohlendioxid) gebildet wird. Andere Verfahren zur Reduktion von Stickoxiden oder zur Oxidation von Methan werden derzeit untersucht. Die Industrie hofft, damit die Leistung von Auspuffkatalysatoren oder von Filtern für Gasmasken erhöhen zu können. Schon heute werden Goldpartikel in geruchsbindenden Filtern eingesetzt, wie zum Beispiel zur Verbesserung der Luft in japanischen Toiletten. research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 33 PORTRÄT Jerzy Buzek, ein Wissenschaftler D in der Politik Es gibt Zeitabschnitte, die uns ein Leben lang prägen. Für Jerzy Buzek waren das die 13 Monate zwischen der Gründung von Solidarność am 31. August 1980 und dem ersten Kongress der Gewerkschaft, der am 10. Oktober 1981 zu Ende ging. Dreizehn Monate, die die Geschichte Europas verändert haben. Dreizehn Monate des Aufruhrs, die Jerzy Buzek, damals Direktor eines Instituts der Wissenschaftsakademie, dazu brachten, zu einem der angesehensten Politiker Polens und schließlich zu einem einflussreichen Mitglied im Europäischen Parlament zu werden. 34 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Jerzy Buzek – „Der Verfassungsentwurf ist gescheitert, weil er die Bürger nicht angesprochen hat. Diese brauchen konkrete Projekte, die ihre Lebensqualität verbessern können.“ en Wendepunkt seiner Laufbahn sieht Jerzy Buzek jedoch an einem früheren Zeitpunkt, nämlich im Jahr 1972. Als junger Forscher am Institut für chemische Verfahrenstechnik in Gliwice geht er nach Cambridge, um dort ein wissenschaftliches Praktikum zu absolvieren. Von der Royal Society wir ihm ein Stipendium angeboten, mit dem er in England bleiben könnte. Zur großen Überraschung seiner Kollegen lehnt er das Angebot ab. „Ich möchte nach Polen zurückkehren, da der Sozialismus nur dort gestürzt werden kann. Das will ich nicht verpassen.“ Ein Visionär? Vielleicht, aber auf jeden Fall einer mit Geduld. Die 70er Jahre verbringt er in der „grauen Tristesse“ des sozialistischen Polens, in seiner Geburtsregion Oberschlesien. Dort erforscht er die energetische Optimierung der Kohleindustrie und die Chemie von Schwefeldioxyd. Auch hier ist er Visionär und legt die theoretischen Grundsteine für eine Reduzierung der Schadstoffemissionen durch die Industrie, die von der damaligen Regierung vollständig vernachlässigt wurden. Der Aufstieg von Solidarność Mit der Reise von Papst Johannes Paul II. nach Polen wird die Gesellschaft aufgerüttelt. Diskussionen kommen in Gang, Verbindungen werden geknüpft, ein kräftiger Wind der Freiheit weht durch das Land. Obwohl er evangelisch ist – er gehört zu den 80 000 Polen lutherischer Konfession, die meistens aus Oberschlesien stammen, – nimmt Jerzy Buzek an einer gigantischen Messe teil, einem sowohl politischen als auch religiösen Ereignis, zu dem sich 2 Millionen Menschen in Krakau versammelt haben. Im darauf folgenden Sommer kommt es in Danzig zu den ersten Streiks. Jerzy Buzek verfolgt die Entwicklung im Fernsehen, jedoch vorwiegend über parallele Informationskanäle. Nach Legalisierung von Solidarność übernimmt er die Leitung der Gewerkschaft in seinem Institut und engagiert sich bei ihrer Entwicklung. Er reist durchs Land, leitet Hunderte von Versammlungen und arbeitet an der Struktur der untypischen Organisation, die er heute als „ein Netz der Netze der Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Seine Energie, seine Entschiedenheit und seine Überzeugungskraft wirken Wunder. Als Solidarność mit bereits 10 Millionen Mitgliedern im Herbst 1981 ihren ersten nationalen Kongress abhält, wird er zum Präsidenten des Kongresses gewählt. „Das war das wichtigste Ereignis in meinem Leben, von dem sich dann alles Weitere abgeleitet hat.“ 13. Dezember 1981. In Polen wird das Kriegsrecht verhängt. Buzek weiß, dass er verhaftet werden kann. Das Institut bietet ihm ideale Deckung, denn für die Staatspolizei erscheint er als hervorragender Wissenschaftler, der sich in seine Arbeit stürzt. Das stimmt natürlich, allerdings nimmt er auch an der geheimen Leitung von Solidarność teil. „Eine außergewöhnliche Lehrzeit, in der ich wirklich gelernt habe, was Politik ist.“ Professor Buzek am Tag und Karol – sein Pseudonym – in der Nacht. Ein irres Arbeitstempo, PORTRÄT das noch durch eine harte private Prüfung verschärft wird: Seine Tochter wird schwer krank und er muss zusammen mit seiner Frau nach Deutschland reisen, um sie behandeln zu lassen. Die Tochter wird zwar wieder gesund, aber aufgrund dieser harten Prüfung kann er bei den Umwälzungen im Sommer 1989 nicht dabei sein. Anfang der 90er Jahre ist Lech Walesa Präsident und die UdSSR gibt es nicht mehr. Jerzy Buzek arbeitet in seinem Labor und interessiert sich für saubere Kohle und Treibhausgase. Ein Ministerpräsident auf dem Weg in die EU Als die ehemaligen Kommunisten 1996 wieder in der Regierung sitzen, wenden sich seine Freunde von Solidarność an Jerzy Buzek. Die Gewerkschaft begibt sich auf das politische Parkett und gründet hierfür auch eine Partei, die „Wahlaktion Solidarność” (AWS). Er überwacht die Ausarbeitung des Wirtschaftsprogramms und erklärt sich „aus Gefälligkeit“ dazu bereit, ohne vorherigen Wahlkampf als Kandidat bei den Parlamentswahlen anzutreten. Dann fährt er nach Spanien in den Urlaub. Dort erhält er einen Telefonanruf: „Wärst du bereit, Premierminister zu werden?“ Die AWS hat im Bündnis mit etwa 30 anderen Parteien die Wahl gewonnen und seine Freunde von Solidarność setzen auf seine moralische Autorität als Verbindungsglied zwischen den verschiedenen politischen Strömungen dieser Mitte-Rechts-Koalition. Obwohl er bis zu jenem Zeitpunkt auf der nationalen politischen Bühne unbekannt ist, wird er doch aufgrund seiner menschlichen Wärme und moralischen Strenge von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Die vier Jahre, ein Rekordzeitraum in Polen seit dem Demokratisierungsprozess 1989, die er im Posten des Premierministers verbracht hat, waren kein Spaziergang. „Reformen waren dringend notwendig und sie mussten schnell durchgeführt werden gleich in den ersten Monaten.“ Gebiets- und Verwaltungsreform des Landes mit Verringerung der Wojewodschaften von 49 auf nur noch 16; Neustrukturierung des Steinkohlebergbaus, wodurch die Anzahl der Bergleute halbiert wird; zahlreiche Privatisierungen usw. Jerzy Buzek zieht sich den wachsenden öffentlichen Unmut zu, verfolgt aber weiter seinen Kurs, überzeugt, dass dies die einzige Strategie ist, mit der sich sein großes Ziel, nämlich der Beitritt Polens zur Europäischen Union, verwirklichen lässt. Politik und Energie 2001 erleidet die AWS eine verheerende Wahlniederlage. Nach vier Jahren an der Spitze des Landes ist es für Jerzy Buzek fast unmöglich, wieder in sein Institut zurückzukehren. Er gibt Konferenzen „ich werde viel öfter darum gebeten, über die internationale Politik zu reden als über Energie, die beiden Gebiete sind aber auch eng miteinander verknüpft...“ Er macht sich Gedanken über die Fragen zur Energiesicherheit und gründet eine Stiftung, um die Entwicklung der polnischen Zivilgesellschaft zu fördern. 2004 wird er als Abgeordneter in das Europäische Parlament gewählt, wo er seine Kameraden aus den abenteuerlichen Solidarność-Jahren, Bronisław Geremek, Jan Kułakowski und Jacek Saryusz-Wolski, wiedertrifft. „Alle waren Mitglieder meiner Regierung und wurden mit den besten Wahlergebnissen des Landes gewählt. Die Polen haben endlich den Sinn unserer Aktion verstanden“, sagt er, als wolle er die Blessuren der aufreibenden Jahre an der Spitze des Landes vergessen machen. Der Rückschlag, den das Projekt „Europa“ in jüngerer Zeit erlitten hat, betrübt ihn, ohne ihn jedoch niederzuschlagen. „Der Verfassungsentwurf ist gescheitert, weil er die Bürger nicht angesprochen hat. Diese brauchen konkrete Projekte, die ihre Lebensqualität verbessern können. Frieden in Europa, eine gemeinsame Währung, freier Personenverkehr das waren solche Projekte.“ Und jetzt? „Ein konkretes und mobilisierendes Ziel für den europäischen Aufschwung wäre eine gemeinsame Energiepolitik. In Anbetracht der Probleme mit Gaslieferungen aus Russland und dem Kampf gegen den Treibhauseffekt erscheint diese als immer wichtiger.“ Hinter dem Europaabgeordneten tritt deutlich der Professor Buzek mit seinen 200 Veröffentlichungen und seinen drei Patenten im Bereich Energie zum Vorschein. Mikhaïl Stein Jerzy Buzek Kurzbiographie 1940 geboren in Śmiłowice, das damals dem Deutschen Reich angeschlossen war 1963 Abschluss an der Fakultät für Energiewirtschaft der Technischen Universität in Schlesien 1981 Vorsitzender des ersten Solidarność-Kongresses 1996 Ministerpräsident Polens 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments 2006 vom Parliament Magazine zum besten europäischen Abgeordneten des Jahres in der Kategorie Forschung und Technologie gewählt www.buzek.pl/index.php Einer der Akteure des 7. Rahmenprogramms m Europäischen Parlament war Jerzy Buzek der Ansprechpartner der Kommission bei der gemeinsamen Erarbeitung des 7. Rahmenprogramms. Er ermöglichte die kurzfristige Annahme bereits in erster Lesung (Juni 2006) des Projekts der Kommission , deren Berichterstatter er ist. Die Europaabgeordneten haben jedoch bedauert, unzureichende Mittel bereitgestellt zu haben: 50 Milliarden Euro sind für den Zeitraum 2007-2013 vorgesehen. Das entspricht einem Anstieg um 40% im Vergleich zum Vorgängerrahmenprogramm. „Wir hätten gerne die doppelte Summe gehabt. Wahrscheinlich haben wir hier unsere Chance verpasst.“ Auch wenn er sich in diesem Punkt nicht durchsetzen konnte, hat das Europäische Parlament doch etwa 700 Änderungen vorgeschlagen. Die wichtigsten davon sind: die Definition neuer vorrangiger Themenbereiche, wie z. B. Weltraum und Sicherheit; die Rahmenbedingungen für die Stammzellenforschung, einschließlich des Verbots der Zerstörung von Embryonen zu Forschungszwecken; der Schwerpunkt auf der Chemie oder die Erweiterung der Energieforschung um drei Prioritäten (Energieeffizienz, nachhaltige Energien, Forschungen auf dem Gebiet sauberer Kohletechnologien und der Kohlenstoffbindung). In den beiden letzten Bereichen lässt sich unschwer der Einfluss des Wissenschaftlers Jerzy Buzek erkennen. Auf dem heiklen Terrain der Stammzellenforschung kam sein Verhandlungstalent zum Einsatz. I research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 35 CHANCENGLEICHHEIT Geschlechtergleichstellung Welche Entwicklung lässt sich bei der Berücksichtigung der Gleichstellung der Geschlechter in der öffentlichen Politik in Europa erkennen? Welchen Einfluss hat das von der EU befürwortete Prinzip der Chancengleichheit auf die nationalen Strategien? Wie wirkt es sich in der Realität auf die jeweilige Stellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft aus? Das Equapol-Projekt hat den Ansatz des „Gender-Mainstreamings“ in acht europäischen Ländern (1) untersucht. Hierbei lag der Schwerpunkt auf zwei großen Bereichen: der Einkommensverteilung und der Bildung. Momentaufnahme einer vielschichtigen Landschaft. A ngesichts der geschlechtsspezifischen Benachteiligung sind Männer und Frauen, je nachdem in welchem Land sie leben, noch lange nicht gleichgestellt. Von den acht Ländern, die von fünf Forscherteams im Rahmen des EquapolProjekts zwei Jahre lang untersucht wurden, ist Schweden das Musterbeispiel. Dort wird „Alles“ unternommen, um die Unterschiede bei Rechten, Status und Behandlung zu überwinden. Man kann hier von einem wahren „integrierten Konzept“ der Gleichstellung der Geschlechter sprechen. Mit diesem systematischen Ansatz sollen die strukturellen Wurzeln der geschlechtsspezifischen Benachteiligung zwischen den Welten von Männern und Frauen bekämpft werden. Das schwedische Modell Die geschlechtsspezifische Benachteiligung wird hier als ein Problem der Machtverhältnisse verstanden, von dem kein Bereich ausgenom- men ist. Das Gender-Mainstreaming nach skandinavischem Modell durchzieht folglich das ganze sozialökonomische Leben, die staatlichen Maßnahmen, die Zivilgesellschaft, die Organisationen und Vereinigungen und im weiteren Sinne auch die Werte und Einstellungen, von denen die Privatsphäre geprägt wird – wie z. B. häusliche Gewalt. Diese Philosophie funktioniert, da sie einen breiten Konsens widerspiegelt und sie förmlich an die politischen Prozesse gebunden ist. Ministerien (von denen sich eines ausschließlich mit der Gleichstellung von Männern und Frauen beschäftigt), Behörden auf sämtlichen Ebenen, Unternehmen und Vereinigungen sind an diesen Bestrebungen beteiligt. Eine zentrale Rolle kommt den Experten zu, deren Studien und Meinungen insbesondere bei öffentlichen Ausgaben großen Einfluss auf wichtige Entscheidungen haben. „Geschlechterforschung“ hat sich zu einem eigenständigen Forschungsgebiet entwickelt, das seit Ende (1) Belgien, Frankreich, Griechenland, das Vereinigte Königreich, Irland, Schweden, Litauen, Spanien. 36 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 der 70er Jahre von der Regierung unterstützt wird. Fast alle Universitäten bieten Studiengänge zu dieser Problematik an. Diese stark institutionalisierte Berücksichtigung ist hier, ganz anders als in fast allen anderen untersuchten Ländern, ein langfristiges Engagement. Zur Bewertung der Auswirkungen wird die 3-R-Methode herangezogen. R steht dabei für Repräsentation (Männer und Frauen teilen sich die Rollen in Politik, Unternehmen usw.), für Ressourcen (Löhne und Gehälter, Renten, Subventionen für kulturelle bzw. sportliche Aktivitäten usw.) und für Realität (qualitative Analyse der Situation sowie der eventuellen kulturellen Unterschiede). „Einer der hier greifenden Erfolgsfaktoren ist die Zeit“, bemerkt Mary Braithwaite, technische Koordinatorin von Equapol. „Schweden kann auf eine lange Tradition bei der Gleichstellung der Geschlechter und auch bei der Gleichstellung im Allgemeinen zurückblicken. Das nordische Modell ist für das übrige Europa von großer Bedeutung, selbst wenn die skandinavische Praxis auch mögliche Übertreibungen der Technokratie, des Legalismus und der Bürokratie zeigt. Es wäre jedoch eine schlechte Ausrede, diese Hemmnisse vorzuschieben, um dieses Konzept nicht gutzuheißen oder anzunehmen.“ Transversalität Andere Länder wenden ein „transversales“ Modell der Chancengleichheit an, das sich durch die verschiedenen Regierungsebenen zieht. Dies trifft besonders auf Staaten bzw. Regionen zu, die durch eine Tradition positiver Maßnahmen geprägt sind, wie Belgien und in gewissem Maß auch Frankreich oder auch Andalusien. „Frankreich und Belgien unterscheiden sich voneinander. In Frankreich kamen die Initiativen aus der Zivilgesellschaft und wurden dann von der Regierung aufgegriffen und berücksichtigt. Das erfolgte jedoch mehr in Form von Prinzipien als in Form von Taten, wodurch zwischen Theorie und Praxis eine CHANCENGLEICHHEIT in kleinen Schritten tiefe Kluft besteht. In Belgien gingen die Initiativen, oftmals im Rahmen positiver Maßnahmen, von politischen Instanzen aus,“ erklärt Salimata Sissoko, Forscherin an der Freien Universität Brüssel. Die belgische Bundesregierung hat 1999 „ihre Rolle bei der Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern“ anerkannt. Dieser Initiative liegt die Forderung zugrunde, dass der übergreifende Charakter der Gleichstellung anerkannt werden muss. Zwei Jahre später nahm die Regierung einen strategischen Plan für die Gleichstellung an und schuf eine Mainstreaming-Einheit (inzwischen abgeschafft). Sie bestand insbesondere aus wissenschaftlichen Sachverständigen, welche die auf diesem Gebiet zutreffenden Maßnahmen ermitteln und bewerten sollten. Seit Dezember 2002 ist das Institut pour l’égalité des femmes et des hommes (Institut für Gleichstellungsfragen) die öffentliche bundesländerübergreifende Institution. Ihre Aufgabe ist es, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu gewährleisten und zu fördern sowie jegliche Form von Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund des Geschlechts zu bekämpfen. Als föderal organisiertes Land profitiert Belgien auch von der Dezentralisierung, die besondere Initiativen auf dem Gebiet der Gleichstellung der Geschlechter möglich macht – Flandern beispielsweise hat zahlreiche Maßnahmen im Bereich der Bildung ausgearbeitet. „Folglich wurde in Belgien ein institutioneller Rahmen geschaffen: Gründung des Instituts, kürzlich vorgenommene Änderungen des Rechtsrahmens, Projekte zur geschlechtlich neutralen Formulierung bei der Klassifizierung von Funktionen bzw. Berufen, Projekte zur Gleichstellung usw.“, fügt Salimata Sissoko hinzu. „Was fehlt, sind die Verpflichtungen, die über die einfachen formellen Antworten auf supranationale Anforderungen (Europa, Vereinte Nationen und andere) hinausgehen. Außerdem scheinen die Akteure vor Ort nicht unbedingt über die notwendigen Kenntnisse und ausreichenden Finanzmittel zu verfügen.“ Impuls durch die Europäische Union Das von der EU angeregte Modell wird von den Forschern von Equapol als ein dritter Weg angesehen. Die Einbeziehung der Gleichstellungsthematik in die Politik ist nämlich eine Forderung der EU, die an die im Rahmen der europäischen Struktur- und Sozialfonds angebotenen Finanzierungen gebunden ist. „Dieser Impuls von oben konnte nur umgesetzt werden, weil eine derartige Politik mit den formellen und informellen Erwartungen der Basis, insbesondere denen der Frauenrechtsorganisationen und Netzwerke, zusammentraf“, bemerkt Mary Braithwaite. „Die Intervention der Europäischen Union, insbesondere die Finanzierungspolitik des Europäischen Sozialfonds, war für Griechenland von großer Bedeutung“, meint Maria Stratigaki, Professorin an der PanteionUniversität Athen und wissenschaftliche Koordinatorin von Equapol. „Auch wenn das europäische Aufbauwerk in erster Linie wirtschaftlicher Art ist, können wir dennoch durch die Unterstützung der sozialen Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt auch auf der Bildungsebene, bei der Chancengleichheit in Schulen, bei der Berufsausbildung, der Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen usw. tätig werden. Ich weiß nicht, wo wir heute ohne Europa wären.“ In Griechenland wie auch anderswo hat dieser externe Impuls nicht wirklich zu einem „integrierten Konzept“ geführt.“ Für die Forscher von Equapol wird das EU-Modell in den meisten Fällen auf der bürokratischen bzw. technologischen Seite als Selbstzweck research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 37 CHANCENGLEICHHEIT Mit oder gegen den Strom? ender-Mainstreaming. Diese unnatürliche Formulierung erinnert an den Hauptstrom eines Flusses, der die „Hydrologie“ der Gesellschaft strukturiert. Sie bezieht sich nicht auf die biologischen Unterschiede sondern auf die sozialen, die Männer und Frauen trennen können. Das Mainstreaming beinhaltet eine globale Strategie, welche diese Gender-Dimension berücksichtigt, um existierende bzw. potenzielle Benachteiligungen zu beseitigen. Eine derartige Strategie unterstützt idealerweise alle Maßnahmen, Aktionen bzw. Politiken, die Diskriminierung zur Folge haben könnte, und wird auf ein breites Spektrum von Bereichen angewandt (Governance, Bildung, Wandel der Einstellungen usw.). Das Gender-Mainstreaming kam 1995 nach der dritten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen (Peking) auf und wird seit 1991 in den Maßnahmenprogrammen der Europäischen Union in Bezug auf die Chancengleichheit berücksichtigt. Zum Gender-Mainstreaming hat die Kommission eine Mitteilung und der Europarat eine Empfehlung verfasst. Bereits im Vertrag von Amsterdam von 1997 wird die Gleichstellung von Frauen und Männern „zu einer besonderen Aufgabe der Gemeinschaft erklärt und als horizontales Ziel festgeschrieben, das alle Gemeinschaftsaufgaben berührt“. G umgesetzt. Der umfassende Ansatz wird verfehlt und es wird keine Verbindung zu den anderen Elementen hergestellt, die ebenfalls auf Chancengleichheit abzielen. Trotz der Grundsätze, die der Europäischen Union wichtig sind, lässt das wahre GenderMainstreaming offensichtlich auf sich warten. Gleichstellung über das Geschlechterproblem hinaus Andere Strategien sind auf dem Vormarsch. Ausgehend von dem Prinzip, dass die Probleme der Benachteiligung sich nicht auf das Geschlecht beschränken, werden seit einigen Jahren im Vereinigten Königreich, insbesondere in Schottland, Nordirland und Wales, Gleichstellungskonzepte auf allen Gebieten umgesetzt. Diese politischen Maßnahmen zur „Wiederherstellung des Gleichgewichts“ berücksichtigen Situationen, bei denen das Geschlecht eine Rolle spielt, genauso wie Behinderungen, Rasse oder sexuelle Ausrichtung. Ihre Befürworter sind davon überzeugt, dass dadurch die Unterstützung, die Mittel, aber auch die Möglichkeiten für den Aufbau von Verbindungen über „Identitätsschnittpunkte“ (Geschlecht und Rasse, Geschlecht und Alter) möglich sind. 38 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 „Ob es uns gefällt oder nicht, ein generelleres Gleichstellungskonzept ist auf dem Vormarsch“, erklärt Mary Braithwaite. „Einige Anhänger des Gender-Mainstreamings sehen im Übrigen auch Vorteile in dieser globalen Furcht vor Benachteiligungen, unter der Bedingung, dass die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern nicht verblasst und ihre ganz speziellen Probleme berücksichtigt werden.“ Für Maria Stratigaki ist es jedoch nicht unbedingt positiv, wenn „die Gleichstellung der Geschlechter in den anderen Benachteiligungsproblemen untergeht“. „Frauen sind keine Minderheit… Die Struktur und die Art der geschlechtsspezifischen Benachteiligung sind völlig anders, sodass andere Strategien und andere Projekte zum Tragen kommen müssen.“ Mehr Forschung … Wenn auch die europäische Politik generell die Rechtmäßigkeit und die Glaubwürdigkeit der nationalen Bemühungen bei der Chancengleichheit bestätigt hat, so „scheint doch die Unterstützung positiver Maßnahmen durch die Europäische Union zu versiegen“, kann man im Bericht von Equapol lesen. Was sind die Gründe für diesen Abwärtstrend? Die allgemeinen Ziele der Gleichstellung wurden zu einem Zeitpunkt ausgearbeitet, zu dem das internationale und das skandinavische Konzept großen Einfluss auf die Gleichstellung der Geschlechter hatten, während die aktuelle Bildungs- und Sozialschutzpolitik (und die Sozialpolitik generell) im Rahmen der Prioritäten von Lissabon berücksichtigt werden. Diese sind viel stärker auf „Wettbewerbsfähigkeit“ und den „Arbeitsmarkt“ ausgerichtet. Die Forscher von Equapol plädieren für eine Konzentration der Maßnahmen auf die vorrangigen Bereiche unter Einbeziehung weiterer Interessengruppen, ohne sich dabei auf kurzfristige Projekte zu beschränken. In ihrem Abschlussbericht kommen sie zu dem Schluss, dass „die Politik der Gleichstellung von Frauen und Männern sowie das Konzept der Integration nicht nur den Politikern oder den politischen Strukturen, in denen Männer dominieren, überlassen werden dürfen.“ Weiterhin kommen sie zum Schluss, dass zusätzliche Kenntnisse über die Gleichstellung der Geschlechter, die Benachteiligung sowie die Auswirkung der politischen Maßnahmen auf diesem Gebiet erforderlich sind. Daher wären weitere Beurteilungen, Statistiken, Datensammlungen, Forschungen nötig. „Wie lässt sich erklären, dass die Unterschiede bei Löhnen und Gehältern von Frauen und Männern weiter bestehen, obwohl wir doch Belege dafür haben, dass diese Benachteiligung nicht auf den beruflichen Fähigkeiten von Männern und Frauen beruht? Wie kommt es, dass Medien und Werbung auch weiterhin ein derart konservatives und sexistisches Bild der Frauen und Männer und ihrer Beziehung untereinander verbreiten? Zahlreiche Forschungsstudien müssten noch durchgeführt werden, wie z. B. die Untersuchung der unsichtbaren Barrieren (psychologischer, kultureller, sozialer oder religiöser Art), die einer Gleichstellung der Geschlechter im Weg stehen“, schlussfolgert Mary Braithwaite. Christine Rugemer www.equapol.gr/ Maria Stratigaki [email protected] Mary Braithwaite [email protected] FORSCHUNG UND MEDIEN Mehr Wissenschaft auf dem Bildschirm die Eröffnung mehrerer pädagogisch und wissenschaftlich orientierter Zonen sowie eine Reihe innovativer Dienstleistungen für interessierte Jugendliche und Fachleute. Sind Form und Inhalt „gut konzipiert“, können Wissenschaft und Technik im Fernsehen Erfolg haben. Einige Wissenschaftsmagazine im Fernsehen haben bemerkenswerte Einschaltquoten allerdings sind diese oftmals auf die landesweite Forschung beschränkt. Um die Bedeutung der europäischen Dimension in diesem Bereich zu veranschaulichen, hat die Kommission vor zwei Jahren eine Reihe von Initiativen ins Leben gerufen. Hervorzuheben sind hier insbesondere AthenaWeb, die professionelle Online-Plattform für wissenschaftliche Fernsehprogramme, und Futuris, das neue mehrsprachige Magazin zur europäischen Forschung, eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Sender Euronews. AthenaWeb online Nur sehr wenige europäische Wissenschaftssendungen berichten über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus. „Die Produzenten kennen die Forschungserfolge und die Wissenschaftler ihres eigenen Landes und die der USA, wissen aber oft nicht, was in den anderen europäischen Ländern passiert“, betont Patrick Vittet-Philippe, Medienkoordinator in der Generaldirektion Forschung und Initiator dieser beiden Projekte. „Wir möchten erreichen, dass die Forschung auch in ihrer europäischen Dimension gezeigt wird. Über viele Jahre hinweg konnte mithilfe der Forschungsrahmenprogramme in ganz Europa und sogar weiteren, darüber hinausgehenden Ländern ein Kooperationsnetzwerk zwischen Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen aufgebaut werden. Das wissenschaftliche Fernsehen muss dieser Tatsache unbedingt Rechnung tragen.“ (1) Damit mehr audiovisuelle Dokumente in Europa zirkulieren und der Zugang zu wissenschaftlichen Bildern erleichtert wird, hat die Kommission vor zwei Jahren die Plattform AthenaWeb ins Leben gerufen. Diese wendet sich an Kommunikationsfachleute im Bereich des wissenschaftlichen Fernsehens. Mithilfe dieses Netzwerks konnte eine Online-Datenbank eingerichtet werden, die heute über 750 verfügbare Titel umfasst. Das Beste, was das wissenschaftliche Fernsehen in Europa zu bieten hat, ist per Webstreaming in hoher Qualität abrufbar. Gegenwärtig sind 7 500 Fachleute auf dieser Website registriert. Hier können sie ihre Produktionen anbieten, nach Projekten suchen, Bilder kaufen und austauschen, aber vor allem auch neue Programme produzieren. Nachdem es bereits mit dem Preis QuickTime 2006 ausgezeichnet wurde, hat AthenaWeb bei den Rencontres Internationales Image et Science (Paris im Oktober 2006) den Argos-Preis für die beste wissenschaftliche Website erhalten. Es wurden besonders „die Qualität des pädagogischen und kulturellen Ansatzes, die Reichhaltigkeit und Vielfalt der Inhalte, die elegante Form und die stringente Anordnung der angebotenen Navigationsmöglichkeiten“ gewürdigt. Damit ist auch schon alles gesagt… oder fast alles, denn AthenaWeb blickt in die Zukunft und bereitet aktiv die Revolution des „Breitbandfernsehens“ vor. AthenaWeb beabsichtigt nämlich, 2007 der ultimative europäische Fernsehsender für Wissenschaft im Internet zu werden. Die Website bietet Fachleuten und der breiten Öffentlichkeit neue Funktionen. Dazu gehören u. a. Futuris auf dem Bildschirm Im letzten Jahr hat die Generaldirektion Forschung mit einer wissenschaftlichen Gemeinschaftsproduktion mit Euronews einen weiteren originellen Weg beschritten. Die Programme dieses Senders werden gleichzeitig in sieben Sprachen ausgestrahlt und können in 120 Ländern von 188 Millionen Haushalten empfangen werden. Täglich sehen mehr als 7 Millionen Fernsehzuschauer diesen Sender. Futuris ist ein Magazin zur europäischen Forschung, das zweimal in der Woche ausgestrahlt und täglich wiederholt wird (2). Es besteht aus 8-minütigen Sequenzen, in denen Projekte aus allen Bereichen der Forschung vorgestellt werden (Gesundheit, Umwelt, Industrietechnologien usw.), die direkten Einfluss auf den Alltag nehmen bzw. Antwort auf allgemeine Fragen der Gesellschaft geben. Mit insgesamt 15 Millionen Fernsehzuschauern in zwei Wochen (1,5 bis 2 Millionen über Euronews und 12 bis 14 Millionen bei den Wiederholungen auf anderen Sendern) ist Futuris grandios gestartet und die Einschaltquoten steigen weiterhin konstant an. Außerdem sind eine japanische Version und eine Version in Mandarin für die Ausstrahlung in China in Vorbereitung. „Die öffentlichen Fernsehanstalten müssen im Prinzip einen Dreisatz respektieren: informieren, bilden, unterhalten. Häufig kommt jedoch die Wissenschaft im Lastenheft der Fernsehsender gar nicht vor. Durch Initiativen wie Futuris und die Gemeinschaftsproduktion von wissenschaftlichen Filmen, die vor einem Jahr von der Generaldirektion Forschung gestartet wurden, kann diesem Trend etwas entgegengesetzt, und Wissenschaft und europäische Forscher einem breiten Publikum besser bekannt gemacht werden.“ Christine Rugemer (1) Alle Zitate stammen von Patrick Vittet-Philippe. (2) Futuris ist auch den 74 Sendern der European Broadcasting Union (EBU), privaten Fernsehsendern sowie professionellen Vertretern aus dem wissenschaftlichen Medienbereich zugänglich, die es als Bilddatenbank und Informationsquelle nutzen können. Die Episoden von Futuris sind im Webstreaming auf verschiedenen Websites abrufbar (Euronews, GD Forschung usw.). Außerdem ist eine Auswahl kostenlos auf DVD erhältlich (auf Anfrage per E-Mail bei <[email protected]>) www.athenaweb.org www.euronews.net/index.php?page=futuris&lng=2 www.euronews.net research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 39 KURZ GEFASST WISSENSCHAFT GRIFFBEREIT Warum, wie und mit wem kommunizieren? Wenn Wissenschaft und Forschung anerkannt werden wollen, müssen sie sich nach außen öffnen und bekannt machen. Zwei Bücher über die Wissenschaftskommunikation wollen zusätzliche Aufklärung bieten. Das Ganze wird von einer DVD der Europäischen Organisation für Molekularbiologie EMBO perfekt ergänzt. Communicating European Research 2005 sammelt Beiträge von Experten, die an der von der Europäischen Kommission zu diesem Thema organisierten Konferenz (Brüssel, November 2005) teilgenommen haben. Darunter sind Analysen von Wissenschaftlern und europäischen „Vermittlern“ zum Sinn der Wissenschaftskommunikation zu finden, zu den Pflichten und den neuen dazugehörigen Strategien sowie zu den manchmal schwierigen Beziehungen zwischen den an diesem Prozess beteiligten Akteuren. Ist es so schwierig „wissenschaftlich“ zu Laien zu sprechen? Wie steht es mit den wahren und falschen Auffassungen über die Beziehungen zwischen Forschern und Journalisten? Kann die Medialisierung den Wissenschaftlern eine Falle stellen? Müssen Sie dennoch die Kommunikation als eine 40 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Zwangsaufgabe ihres Metiers ansehen? In Rund vierzig Artikeln werden einige wichtige Ansätze der Wissenschaftskommunikation behandelt, während Beispiele für die Verbreitung der Wissenschaft in speziellen Gebieten (Umwelt, Nanotechnologien usw.) diesen Rundgang abschließen. „Die Teilnehmer an von der Union geförderten Projekten sind seit dem 6. Rahmenprogramm 2002 bis 2006 zur Verbreitung der Ergebnisse verpflichtet“, bemerkt Michel Claessens, Konferenzleiter und Herausgeber des Buches. „Ziel ist es, die Wissensverbreitung zu fördern, die Öffentlichkeit für die Forschung stärker zu sensibilisieren sowie das Niveau der Transparenz und der Ausbildung zu erhöhen. Kommunikation ist der Schlüssel für eine Gesellschaft des Wissens.“ Communicating European Research 2005 – Herausgegeben von Michel Claessens, 248 Seiten, Springer 2007 www.springer.com Hands-On Guide for Science Communicators: A Step-by-Step Approach to Public Outreach stellt sich als ein (sehr) praktischer Führer durch die Wissenschaftskommunikation dar. „Der Kampf um ein offenes Ohr bei den Medien ist endlos. Wissenschaft konkurriert mit politischen Ereignissen und spannenderen Themen. Die beiden Hauptakteure, Forscher und Journalisten, haben viele Gemeinsamkeiten, beispielsweise die Objektivität und die Neugier. Aber es gibt auch viele Unterschiede, die zu Konflikten führen können. Deshalb wird die Rolle des Referenten für Öffentlichkeitsarbeit (PIO) als professioneller Vermittler immer wichtiger und trägt zur bestmöglichen Wissenschaftskommunikation bei“, erklärt Lars Lindberg Christensen von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Mit oder ohne PIO, mit seinem Werk kann man in die Geheimnisse der „Öffentlichkeitsarbeit“ vordringen: Methoden, Strategien, Budgets, Zielgruppen, verschiedene Akteure, „Produktarten“, Krisenkommunikation, Werbung. Hier findet man nützliche Links und ein Glossar (Terminologie und Konzepte). Eine Fallstudie zum Hubble, Spezialgebiet des Autors, der bei dieser Gelegenheit außerdem spannende Bilder aus der Astrophysik vorstellt, ist auch dabei. Eine „Gebrauchsanweisung“ für einen wirksamen Sprung ins kalte Wasser, der auch noch jene überzeugen wird, die bislang davor zurückschreckten. Lars Lindberg Christensen, Hands-On Guide for Science Communicators: A Step-by-Step Approach to Public Outreach, 270 Seiten, Springer 2007 www.springer.com Your Science in Their Hands. Das ist der direkte und ausdrucksreiche Titel einer DVD, die von der Europäischen Organisation für Molekularbiologie EMBO herausgegeben wurde. Sie soll die Wissenschaftler im Umgang mit Kommunikationsstrategien vertraut machen. 45 Minuten Argumente, Beispiele und Ratschläge, um ihnen Appetit auf ein Interview zu machen und sie zu ermutigen, an Debatten teilzunehmen und ihre Forschungen vorzustellen. Andrew Moore, der für das Programm Wissenschaft und Gesellschaft der EMBO verantwortlich ist, hat sich nicht ohne Erfahrung in dieses audiovisuelle Abenteuer gestürzt. Bereits seit Jahren veranstaltet er Workshops und Konferenzen über die Beziehung zwischen Forschern und Medien und arbeitet dazu mit Bernard Dixon Obe (Chefredakteur des Magazins New Scientist und anerkannter britischer Wissenschaftsautor) zusammen. In diesem Dokument werden auch Auszüge aus einem von Dixon Obe moderierten Workshop der EMBO aufgenommen und durch weiteres didaktisches Material ergänzt, mit dem das Thema zusammenhängend dargestellt werden kann. KURZ GEFASST DVD www.embo.org/scisoc/media_dvd.htm Workshops www.embo.org/scisoc/media.html Darwins gesammelte Werke online. Das Gesamtwerk von Charles Darwin im Internet zu veröffentlichen, ist die Aufgabe, die sich die renommierte britische Universität Cambridge gestellt hat. The Complete Work of Charles Darwin Online umfasst derzeit über 50 000 Seiten Texte (Manuskripte, Originalausgaben und spätere Ausgaben, Kataloge usw.) und 45 000 Bilder. Bislang unveröffentlichte Werke sollen ebenso der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Darunter fallen Expeditionsberichte © Abdruck mit der freundlichen Genehmigung der Cambridge University Library und William Darwin http://darwin-online.org.uk/ Wissenschaftsläden bilden eine Brücke. Anwohner eines Viertels beschweren sich über die Wasserqualität. Studenten bestätigen dies, nehmen Kontakt mit den Verantwortlichen der städtischen Versorgungsbetriebe auf und schlagen technische Lösungen vor, mit denen die Lage verbessert werden kann. Dies ist ein Beispiel für die Dienstleistungen, die ein Wissenschaftsladen anbieten kann. Diese „Läden“ schlagen auf ihre Weise eine Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und der Welt der Forschung. Sie sind häufig mit Universitäten verbunden und ihre Verantwortlichen beantworten die eingebrachten Fragen zum größten Teil kostenfrei oder in seltenen Fällen gegen ein geringes Honorar. Das zugehörige internationale Netzwerk Living knowledge stellt eine Website vor, deren Besuch sich lohnt. Dort findet man Fallstudien, Veröffentlichungen, Datenbanken, nützliche Adressen, einen Newsletter des Netzwerkes und die Möglichkeit, an Foren teilzunehmen. Die Initiative wird von der Europäischen Kommission gefördert. Experimente bei sich zu Hause machen, durch die Forschungseinrichtungen in aller Welt wandeln und sich über aktuelle Neuigkeiten informieren können. Sie können zum Beispiel im Rahmen eines Detektivspiels die Hintergründe der DNA erkunden oder in spielerischen Experimenten feststellen, dass Hefe lebt. www.scienceshops.org/ [email protected] Ein Kinderspiel… TryScience ist ein interaktives Werkzeug, mit dem (selbst junge) Kinder www.tryscience.org/ Dauerausstellung © MHN von Darwin in Südamerika, Australien und auf den Galapagosinseln aus der Zeit zwischen 1831 und 1836. Dieses Projekt wird von John van Wyhe, leidenschaftlicher Forscher am Christ College, geleitet. Aus dem Erfolg dieser Website ist ersichtlich, dass er seine Leidenschaft mit vielen Menschen teilt: sie ist seit dem Oktober 2006 online und wird täglich von 25 000 Besuchern besucht. Voraussichtlich bis zum Jahr 2009 (zweihundert Jahre nach der Geburt dieses Visionärs und 150 Jahre nach der Veröffentlichung des Werks On the Origin of Species) wird die darwinsche Enzyklopädie mit Übersetzungen, neusten Ausgaben und den meisten Archivbildern der Universität Cambridge erweitert worden sein. Brrrr … die Eiszeit ist da Ist der Erde sind. Aber man erfährt vor allem, wie sich diese geheimnisvollen Eismassen „bewegen“ und wodurch das Packeis bedroht wird, vor allem durch den schlimmsten Feind, den Klimawandel. Gleichzeitig wird in dem Schweizer Museum die Ausstellung Die Zeit des Mammuts präsentiert, die das nationale naturgeschichtliche Museum von Paris verwirklicht hat. Ihnen der Name Louis Agassiz ein Begriff? Der schweizer Zoologe, Paläontologe und Gletscherforscher (1807-1873), passionierter und sehr produktiver Naturgeschichtler (über 20 Werke mit 2 000 Zeichnungen in 14 Jahren), interessierte sich erst für die Gletscher seines Landes, bevor er eine steile Karriere in den USA machte. Auf beiden Seiten des Atlantiks gründete er Museen: das Museum für Naturgeschichte von Neuchâtel (CH) und das Museum für vergleichende Zoologie von Cambridge (USA). Das erste würdigt ihn nun mit einer Lehrausstellung über Gletscher. Man erfährt was Findlinge, Moränen und die Albedo Die Ausstellung läuft bis zum 21.10.07 (16.09.07 für die Mammuts). www.museum-neuchatel.ch [email protected] Gletscher Zermatt, von Joseph Bettanier (im Hintergrund). Der Rückzug der alpinen Gletscher ist ein Beweis für die heutige Klimaerwärmung. Der Aletschgletscher (Wallis) 1900 und 2004. © WWF/Gesellschaft für ökologische Forschung „Dieser Film ersetzt keine Treffen, Workshops und praktische Übungen, aber er sensibilisiert für das Thema“, erläutert Andrew Moore. „Ich beobachte bereits seit Jahren, dass junge Wissenschaftler an der Kommunikation mit Laien interessiert sind, aber dass ihre Vorgesetzten damit oft eine große Wertminderung verbinden. Außerdem ist es für den jungen Wissenschaftler oft schwer, das Labor zu verlassen, um an einem Workshop zu diesem Thema teilzunehmen. Ich hoffe, dass unsere DVD dabei hilft, dieses Problem ein wenig zu kompensieren…“ Der nächste Media Workshop, den die EMBO anbietet, hat den Titel Fun and games with media communication und wird im kommenden Juli stattfinden. Hielo Norte glacier (Patagonien, Chile). © Christophe Dufour research*eu Nr. 52 I JUIN 2007 41 KURZ GEFASST PÄDAGOGISCHE ECKE PUBLIKATIONEN Plopp! (rechts) und platsch! (links): die Oberfläche der Bälle, die in der gleichen Geschwindigkeit auf die Oberfläche auftreffen, macht den Unterschied. European Information Technology Observatory 2006 Aktualisiert im Oktober 2006 – 44 Seiten – ISSN 0947-4862 World Energy Technology Outlook – 2050 (WETO-H2) 2006 – 161 Seiten – ISBN 92-79-01636 www.eito.com/order.html Jährlicher Leitfaden zur Markttendenz in der Wirtschaft der EU, nach Produkt-Typ. Platsch! oder plopp? Was gibt es Unspektakuläreres als das Platschen, das hörbar ist, wenn man einen Kieselstein ins Wasser wirft und häufig von aufspritzendem Wasser begleitet wird. Aber manchmal hört man auch nur ein leises „Plopp“, wenn der Kieselstein eintaucht, und die Wasseroberfläche bewegt sich kaum. Wo liegt der Unterschied in diesen beiden Fällen? Die Forscher des Labors für Festkörperphysik und Nanostrukturen (CNRS/Universität Lyon 1) haben gezeigt, dass die Eintrittsgeschwindigkeit eine bestimmte Schwelle überschreiten muss, damit man ein „Platsch“ hört. Das Geräusch entsteht, wenn sich das Luftloch, das sich beim Eintreten des Kieselsteins ins Wasser bildet, verschließt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Das Bemerkenswerte an dieser Forschungsarbeit ist die Feststellung, dass der Wert der Eintrittsgeschwindigkeit von der Oberflächenbeschaffung des Kieselsteines abhängt. Mit anderen Worten: Eine hydrophile, das Wasser anziehende Kugel, zum Beispiel eine spiegelblanke Glaskugel, gibt selbst bei hoher 42 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 Geschwindigkeit nur ein kleines „Plopp“ von sich, während eine hydrophobe, Wasser abweisende Kugel, eine Kugel mit einem mehrere Nanometer dicken Silanschichtmantel beispielsweise, mit einem großen „Platsch“ eintaucht, egal bei welcher Eintrittsgeschwindigkeit. Die Forscher haben den Versuch mit zwei Kugeln unter gleichen Geschwindigkeitsbedingungen durchgeführt (siehe Abbildung). Die Eintrittseigenschaften sind also durch die Veränderung der molekularen Eigenschaften der Oberfläche des Festkörpers steuerbar. Man hatte nicht erwartet, dass solche winzig kleinen Details auch Phänomene auf der Makroebene beeinflussen können, weil das den bisherigen physikalischen Erklärungen zur Beschreibung dieser Phänomene entgegensteht. Die Bildung von Luftlöchern steuern zu können, vor allem von unerwünschten, wenn z. B. Schiffe die Wellen brechen, könnte sich als nützlich erweisen. Lydéric Bocquet [email protected] Mit freundlicher Genehmigung des Pressedienstes des CNRS (FR). www2.cnrs.fr/presse/ Nanomedicine – Nanotechnology for Health 2006 – 39 Seiten – ISBN 92-79-02203-2 publications.europa.eu/opoce/ index_en.htm Eine Vorschau zur Entwicklung der Energiefrage in der Welt bis 2050, die ein grundlegendes Szenarium und zwei Alternativen anbietet: die Zwänge der Kohle und die Wasserstoffwirtschaft. An einem Modell zur Simulation der globalen Energieversorgung unterstreicht der Bericht die Aufgaben im Bereich Energie, Umwelt und Technologie, denen Europa in den kommenden Jahren gegenübersteht [email protected] Marine-related Research and the Future European Maritime Policy Strategische Forschungsagenda der Europäischen Technologieplattform zur Nanomedizin. Sustainable Agriculture, Fisheries and Forestry – FP5 Research Results 1998-2006 2006 – 630 Seiten – ISBN 92-79-02243-1 publications.europa.eu/opoce/ index_en.htm Katalog mit 305 Projekten und Forschungsnetzwerken, die über das RP5 finanziert werden. 2006 – 56 Seiten – ISBN 92-79-02687-9 publications.europa.eu/opoce/ index_en.htm Eine Zusammenfassung der Beiträge, die im Rahmen der Europäischen Forschungsrahmenprogramme zur Marine- und Meeresforschung bis jetzt verfasst wurden, aktualisierte Fragen und Maßnahmen. Errata (Druckfehler) In unserer Sonderausgabe „Das Abenteuer der Materie und des Lebens“ – die den Forschungen des Eiroforum gewidmet ist – ist der letzte Satz des Interviews mit David Ward (UK-AEA) über die „Wette“ der Kernfusion (S. 13) beim Seitenlayout verschoben worden. Es muss heißen: „Und um auf ihre anfängliche Frage zurückzukommen, ich glaube, dass es sich für dieses Ziel lohnt.“ Ein weiterer Fehler ist uns am Ende der Seite 2 bei den Referenzen zum Bild auf dem Deckblatt unterlaufen. Es handelt sich nicht, wie angegeben, um ein „Hubble-Bild des Kugelsternhaufens 47 Tuc“ sondern um ein Bild eines Galaxienhaufens, aufgenommen vom VLT der ESO in Chile. (www.eso.org/outreach/press-rel/pr-1999/phot-16-99.html). KURZ GEFASST MEINUNG Das verborgene Gesicht des europäischen Paradoxons Dass es Europa nicht gelungen sein soll, aus den maßgeblichen Investitionen in Forschungsprojekte, die von Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen durchgeführt wurden, auch einen kommerziellen Nutzen zu ziehen, ist eine geläufige Meinung. Das nennt man das europäische Paradoxon. Die Vereinigten Staaten scheinen da viel besser abzuschneiden. Ihre öffentlichen Forschungseinrichtungen sind direkt mit der Gründung von weltweit wettbewerbsfähigen Unternehmen und erfolgreichen Produkten verbunden. Im Gegensatz dazu gelten die europäischen Hochschulforscher als weniger „unternehmerisch“ und das führt zu einem Defizit bei Technologietransfer zwischen Hochschulen und Unternehmen. Bis vor kurzem verhinderte ein Mangel an Vergleichswerten eine geeignete Bewertung der reellen Situation. Eine jüngst veröffentlichte Studie von Cataline Bordoy und Anthony Arundel, Forscher bei UNU-MERIT in den Niederlanden – ein Forschungs- und Bildungszentrum der Universität der Vereinten Nationen (UNU) – zeigt allerdings, dass Europa zumindest hinsichtlich des formellen Technologietransfers besser abschneidet als bisher angenommen. Bei zwei von drei Indikatoren für die aktuelle kommerzielle Verwertung der öffentlichen Forschung – erteilte Lizenzen und Start-ups – liegen Europas öffentliche Forschungseinrichtungen vor denen der USA, mit 20% mehr Lizenzen und 40% mehr Firmenneugründungen pro Millionen Dollar Forschungsausgaben in 2004. Bei einem dritten Indikator – Lizenzeinnahmen als Anteil der Forschungsausgaben – liegt Europa mit 10% weniger Lizenzeinnahmen als amerikanische Universitäten knapp hinter den USA. Die Vergleichbarkeit amerikanischer und europäischer Daten ist problematisch, und das gute Abschneiden Europas bei den Einnahmen aus Lizenzen geht auf die gute Leistung der staatlichen Forschungseinrichtungen zurück. Außerdem, so die Forscher von Unu-Merit, sei keiner der drei Indikatoren Maßstab für die erfolgreiche kommerzielle Verwertung öffentlicher Forschung. „Ein junges Unternehmen kann auch bankrott gehen. Eine Lizenz kann unbrauchbar sein und Einnahmen aus Lizenzen können auch erzielt werden, ohne dass ein Unternehmen eine Erfindung kommerzialisiert oder Gewinne daraus erzielt.“ Gleichwohl sind die Ergebnisse faszinierend und zeigen, dass die europäischen Hochschulforscher einen weitaus besseren Geschäftssinn besitzen, als gemeinhin angenommen. Offene Wissenschaft Arundel und Bordoy betonen, dass die Unternehmen von Forschungsergebnissen nicht nur über die direkten und formalen AGENDA „Jacques Monod Conference“ – Umweltgenomik European BioPerspectives – En Route to the Knowledge-Based Bioeconomy 9.-13.06.2007 – Roscoff (FR) Die Konferenz wird vom französischen nationalen Forschungszentrum CNRS veranstaltet. Bei dieser 3. Konferenz der Begegnungsreihe Jacques Monod über Biowissenschaften und die nachhaltige Umwelt stehen Beiträge von 29 Referenten im Vordergrund. Sie befassen sich mit genomischen Ansätzen, die auf unterschiedliche Modelle angewandt werden, von Bakterien über Mikroalgen oder Pflanzen bis zu den Fischen. Der letzte Termin mit dem Thema: „Evolutionäre Genetik der Beziehungen zwischen Wirt und Parasit“ ist für September (22.-26.09.2007) vorgesehen. 30.05 – 01.06.2007 – Köln (DE) Im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft wird diese Veranstaltung die wichtigsten Veränderungen vorstellen, die die Biotechnologien bei allen größeren industriellen Aktivitäten im Laufe der nächsten 25 Jahre bewirken werden. Abschluss wird die Präsentation einer EntwicklungsCharta in der Form des „Kölner Appells“ sein. www.bioperspectives.org/ Verbindungen zu den Forschungsinstituten (auf Vertragsbasis und durch Lizenzvergabe) profitieren können, sondern auch durch die sogenannte „offene“ Wissenschaft. Dabei wird Wissenschaft über wissenschaftliche Zeitschriftenartikel kommuniziert, es werden Konferenzen besucht und lockere Kontakte zu Wissenschaftlern gepflegt. „Eine zu starke Fokussierung auf Indikatoren des formellen Technologietransfers könnte die politischen Entscheidungsträger dazu verleiten, diesen auf Kosten eines Technologietransfers über Medien der offenen Wissenschaft stärker zu unterstützen. Das könnte sich als Irrtum herausstellen. Das europäische Paradoxon geht vielleicht eher auf eine schwache Leistung des Systems der offenen Wissenschaft zurück, da der formelle europäische Technologietransfer im Großen und Ganzen recht gut abschneidet. Da offene Wissenschaft aber keine klaren Spuren hinterlässt, im Gegensatz zu Patenten, Lizenzverträgen und Firmenneugründungen, sollten neue Indikatoren entwickelt werden, mit denen man die Auswirkungen der offenen Wissenschaft auf die kommerzielle Verwertung der öffentlichen Forschung messen kann. EuroNanoForum 2007 Nanotechnology in Industrial Application 19.-21. 06. 2007 – Düsseldorf (DE) Der große jährliche Termin des EuroNanoForum 2007 www.euronanoforum2007.eu/ 8th EMBO/EMBL Conference on Science and Society – ‘The Future of our Species – evolution, disease and sustainable development’ 2.-3.11.2007 – Heidelberg (DE) Diese multidisziplinäre Konferenz befasst sich mit Überlegungen über das evolutionäre Schicksal der Menschheit und dem Zusammenhang mit der Biosphäre, auf die sie einen immer Wangu Mwangi Unu-Merit, Maastricht (NL) [email protected] größeren Einfluss nimmt – wie es die Klimaerwärmung zeigt. www.embo.org/scisoc/ conference07.html TSCF 2007 Hawaii Conference on Ethnic Diversity 15.-19.11.2007 – Oahu, Hawaii (USA) Diese Konferenz über die wachsende multiethnische Dimension der Gesellschaft wird von der Social Capital Foundation (TSCF), einer unabhängigen internationalen gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Brüssel, veranstaltet. www.socialcapital-foundation.org/ conferences/2007/aboutus.htm research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 www.cnrs.fr/sdv/cjm/cjmyoung.html 43 COMMUNICATION BILD DER WISSENSCHAFT DE LA SCIENCE Auf dieser Falschfarbenaufnahme ist der große Gletscher San-Quintin im Süden Chiles abgebildet. Er erstreckt sich bis in die Ebene. Die Vegetation auf den Hängen ist rot dargestellt. Die Gletscherzunge mündet in einen See (im Bild links). Sie ist umgeben von Endmoränen, die sie vor sich herschiebt. Tal- und Muldengletscher reagieren sehr viel schneller auf Temperaturschwankungen als polare Gletscher. Bei einigen Andengletschern wurde ein starker Rückgang festgestellt. In der Mitte des Bildes ist ein Gebiet zu sehen, das 1994 noch zu einem großen Teil mit Eis bedeckt war. Auf dieser Seite zeigen sich die Wissenschaften von einer ihrer schönen Seiten. Die Abbildung verweist indirekt auf das Dossier zum Klima und auf den Start des Polarjahres. Sie ist Teil der Ausstellung Kunstwerk Erde. Diese Wanderausstellung wird von der Helmholtz-Gesellschaft organisiert und in ganz Europa zu sehen sein. Eine Sonderausgabe unseres Magazins wird demnächst 44 research*eu Nr. 52 I JUNI 2007 ganz dem Thema „Die Erde aus der Weltraumperspektive“ gewidmet sein. © Nasa KI-AB-06-052-DE-C Gletscherschmelze