Ausführliche Besprechung zu: Tilman Seidensticker (Hg.): Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011; VIII, 184 S., Index der modernen muslimischen Denker --- ISBN 978-3-447-06534-4 Das Wort „Islam“ verbindet sich für viele mit „Gewalt“. Sich auf den Islam berufende Terroristen rechtfertigen ihr Tun damit, dass sie behaupten, diese Gewalttätigkeiten seien von der islamischen Tradition her gerechtfertigt. Allerdings richtet sich die Gewalt nicht nur gegen „Ungläubige“, sondern vielfach auch gegen Muslime selbst. Nun gibt es durchaus Gewalt befürwortende und Gewalt ablehnende Richtungen innerhalb der islamischen Welt. Der Jenaer Arabist und Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker hat nun mit einer Reihe von FachkollegInnen (überwiegend der jüngeren Wissenschaftler-Generation) bei einer Tagung im September 2008 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald den Versuch unternommen, diese „Islamischen Kontroversen über Berechtigung von Gewalt“ genauer zu untersuchen. Dem Herausgeber kam dabei der glückliche Umstand zugute, dass zwei unterschiedlich denkende international bekannte und teilweise umstrittene islamische Wissenschaftler, nämlich Tariq Ramadan und der 2010 verstorbene Nasr Hamid Abu Zaid ihre Positionen mit einbringen konnten. Innerislamische Kontroversen: Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September in den USA und der Schreckensvision eines „clash of civilizations“, aber zugleich am Beginn des „arabischen Frühlings“ stellt sich die Frage nach der möglichen Zwangsmentalität einer Religion besonders intensiv. Es lässt sich kaum vorhersagen, welche Entwicklungen in der islamischen Welt insgesamt dominieren werden. Die dogmatisch auftretenden Fundamentalisten fordern eine Rückkehr zu den Regeln und Statuten der Urgemeinde, wohlgemerkt, wie sie diese verstehen. Die Konsequenz ist oft genug, dass sie ihr Verständnis auf konfliktreiche Art und gegen alles „Westliche“ in die Gegenwart zu übertragen versuchen. Andersdenkende werden als Häretiker oder Ungläubige diffamiert. Aber das ist nur die eine Seite, wenn man einmal genauer die innerislamischen Kontroversen betrachtet. Zwischen Glaubensengagement, Toleranz und Gewalt: Facetten des djihad: Rainer Brunner, seit 2005 Forschungsdirektor am renommierten Pariser CRNS, untersucht Religionsfreiheit unter islamischen Bedingungen, die sich am Verständnis von giziya (Kopfgeld, Schutzgeld, Wehrersatzsteuer?), ikrah (ohne Zwang) und dhimma (Status der Schutzbefohlenen) festhaken. Ein Teil der Gelehrten hält die dhimma-Situation heute für veraltet. Die dazu immer wieder herangezogenen Koranverse scheinen keine eindeutige Antwort zu erlauben, so dass man bei der Forderung nach Religionsfreiheit und Toleranz offensichtlich wesentlich sorgfältiger analysieren muss. Aber wenn man sich nicht mehr – wie der Autor meint – auf Koran und Hadithe berufen soll, worauf dann? Der im Brunnerschen Beitrag schon angesprochene Begriff djihad erfährt bei Rüdiger Lohlker, Islamwissenschaftler an der Universität Wien, eine Zuspitzung im Blick auf die Frage der rechtlichen Beurteilung (Fatwas) von Massenvernichtungswaffen gegen die Ungläubigen. Der saudi-arabische Rechtsprofessor Nasir Hamad al-Fahd liefert dazu eine zweifelhafte theologisch-juristische Rückendeckung. Auf diese Weise können die „dschihadististischen“ Techniker und salafistischen Scharfmacher mit ihren apokalyptischen Denkmustern den Koran und die Hadithe entsprechend funktionalisieren und instrumentalisieren. Die Freiburger Islamwissenschaftlerin Mariella Ourghi erörtert die Spannbreite von djihad zwischen Verteidigung von islamischen Errungenschaften und Kampfansage an die Ungläubigen. Sie bezieht sich dabei auf die ägyptischen Muslimbrüder und besonders auf Sayyid Qutb (Ägypten, 1906–1966), dem sie in der Kontroverse um das Verständnis von djihad die gefährlichste gewaltsame Auslegung zuschreibt. Im Zusammenhang dieser Debatte wird dem aus der Südosttürkei stammenden und in Syrien wirkenden Muhammad Sa’id Ramadan Al-Buti (geb. 1929) von dem saudischen(?) Gelehrten ‘Abd al-Malik al-Barrak vorgeworden, dass er sich dem Westen mit seinem defensiven djihad-Begriff angedient habe. Die Unterschiedlichkeit in der Beurteilung der beiden liegt in ihrer Koran-Hermeneutik und den daraus folgenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Die jeweiligen Situationsdiagnose scheint dabei (Ägypten / Türkei) eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zwischen Absolutheit und Flexibilität: Johanna Pink von der Freien Universität Berlin stellt die Absolutheitsfrage, die sich ergibt, wenn ein Monopolanspruch auf das Paradies gestellt wird (S. 59). Spannend wird hier die theologische Einordnung von Nichtmuslimen, die – exkusivistisch gedacht – nur in die Hölle kommen können. Diese Haltung hat allerdings erhebliche Konsequenzen für die Begegnung mit Nichtmuslimen. Die Vertreter reformerischer Richtungen seit dem 19. Jahrhundert um Mohammed Abduh (1849-1905), Mohammed Iqbal, (1877–1938), Muhammad Asad (1900-1992), bis hin zu religionspluralistischen Ansätzen bei Fazlur 1 Rahman (1919-1988), Mahmoud Ayoub (geb. 1935), Mahmut Aydın , Süleyman Ateş (geb. 1933) und Nurcholish Madjid (Indonesien, 1939–2005) sprechen sich z.T. sehr deutlich – und ebenfalls koranisch begründet – für eine Heilsperspektive aus, die anderen an Gott Glaubenden ebenfalls das „Paradies“ eröffnet. Mit Bediüzzaman Said Nursî (Türkei, 1878–1960) und Maḥmūd Muḥammad Ṭaha (sudanischer Theologe und Sufi, 1909/1911–1985 – wegen Apostasie hingerichtet) sind bei aller Unterschiedenheit zwei Exponenten, die auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen islamisch-theologisch flexibel reagieren. Martin Riexinger (Aarhus) zeigt, wie sie Bestimmungen des herkömmlichen islamischen Rechts relativieren und damit zu einer „Pazifizierung“ des Islams beitragen. Für Taha kann sogar Mohammed als Vorbild in der Menschheitsgeschichte weiter entwickelt werden. Behnam Said (Hamburg) geht auf die berühmte, aber unterschiedlich zu interpretierende Mardin-Fatwa von Ibn 1 Vgl. z.B. sein Buch: Modern Western Theological Understanding of Muslims since the Second Vatican Council. Cultural Heritage und Contemporary Change. Series IIA – Islam, Vol. 13. Washington D.C. 2002 Taimiya (1263–1328) ein. Sie ist deshalb so berühmt, weil je nach Lesart, das im Südosten der heutigen Türkei gelegene Mardin im Rahmen des Djihad-Verständnisses damals entweder zum Land des Krieges oder zum Land des Friedens bzw. zum Gebiet des Glaubens oder Unglaubens gehörte. In der Mardin-Konferenz des Jahres 2010 mit ihrer „neuen Mardin-Erklärung“ betonen die Autoren nun deutlich die Beschränkung des Djihad auf den Verteidigungsfall. Dieser erlaube nicht, gegen Muslime und Nichtmuslime gewalttätig vorzugehen. Es liegt auf der Hand, dass die fundamentalistisch-djihadistische Szene polemisch und disqualifizierend dagegen hält. Außerdem verzichten einige auf die Berufung auf Ibn Taimiyas Fatwa für ihre scharf abgrenzende Haltung, die z.T. durch Verbalattacken gegen den Westen verstärkt wurde und weiterhin wird. Wichtigstes Ergebnis dieser gemäßigt reformerischen Mardin-Initiative von 2010 ist, „dass ein Teil der muslimischen Intellektuellen begriffen hat, dass der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den der jihadistischen Doktrin zugrundelegenden Texten … erfordert“ (S. 126). Auslegungen der Prophetentradition: Der Herausgeber Tilman Seidensticker widmet sich einer weiteren brisanten Frage, nämlich der Bewertung der Prophetentradition (Hadithe) unter ihrer Unterordnung unter die koranischen Aussagen. In der stärker rationalistisch geprägten Hermeneutik wurde sogar die Prophetentradition für manche Zwecke abgelehnt, ja sogar Fälschungen in den Hadithen halten einige für möglich! Bei den Traditionalisten spielen nun die „Bellizisten“ eine verschärfende Rolle, weil diese ein gewaltsames Vorgehen gegen nicht Muslime teilweise sogar für geboten halten. Das gilt insbesondere für den Salafisten Sayyid Qutb (Ägypten, 1906–1966), aber ebenso für Leute aus dem Kreis der Sadat-Attentäter von 1981 und Mördern von Islamismus-Kritikern. Zu den Cheftheoretikern dieser gewaltsam-gefährlichen Haltung dürfte auch der vermutlich aus Saudi-Arabien stammende Abd al-Malik al-Barrak gehören. Ihm hat der kurdische Traditionalist al-Buti heftig widersprochen, worauf schon Mariella Ourghi in ihrem Beitrag (s.o.) aufmerksam gemacht hatte. Seidensticker kommt noch auf einige weitere djihadistische Theoretiker zu sprechen, deren Hadith-Verwendung für einen offensiven Djihad letztlich nicht eindeutig wird. Innerislamisch wird die Auslegung der Prophetentraditionen zwischen Ablehnung und Bejahung vielleicht einen „mittleren Weg“ erlauben (S. 144f). Eine neue Hermeneutik gegen islamistische Gewalt? Der Beitrag von Rotraud Wielandt (Bamberg) steht sinnvollerweise am Schluss des Bandes, weil innerhalb des islamistischen Spektrums wohlgemerkt eine erhebliche Ablehnungsfront gegen extrem-islamistische Gewaltbereitschaft zu verzeichnen ist. Die Autorin verdeutlicht dies im Kontext der Ermordung Sadats und weiterer Attentate auf Touristen, aber eben auch auf ägyptische Intellektuelle, Literaten und Kulturschaffende, und zwar bereits vor dem 11. September 2001. Dem stellten sich säkular offene und pluralitätsfreundliche WissenschaftlerInnen, Philosophen, Künstler und Juristen entgegen wie Said al-Asmawi (geb. 1932), Hamid Nasr Abu Zaid (1943-2010), Fu’ad Zakariya (1927–2010), Nawal as-Sa‘dawi (geb. 1931), Adil Imam (1940/1946), Nagib Mahfus (1911–2006). Einige von ihnen bezahlten ihre klaren Stellungnahmen mit dem Tode. Das Fatale einer eindeutigen Bewertung hängt auch daran, dass die islamistischen Attentäter anders als die säkular orientierten Kritiker mit der umma, der Gemeinde der Muslime, argumentierten und darauf verwiesen, dass Ägypten im Grunde gar kein islamischer Staat mehr sei. Und die höchsten theologisch-juristischen Vertreter (ulama) urteilten keineswegs so eindeutig wie die eher die Vernunft ins Feld führenden innermuslimischen Kritiker. Nach dem 11. September zeigten sich nun auch in der islamistischen „Szene“ Tendenzen, die Gewaltbereitschaft und besonders den Terrorismus einzugrenzen. Dazu gehören die international medienwirksam Agierenden, der Scheich Yusuf Muhammad al-Qaradawi (geb. 1926, Ägypter in Qatar lebend) und der Rechtsgelehrte Mu‘tazz alHatib (geb 1976 in Damaskus, ebenfalls in Qatar lebend). Diese durchaus konservativen Denker legen großen Wert darauf, dass – islamisch gesehen – Attentate als Terror gegen Zivilisten generell verboten sind. Darum muss bei ausgeübter Gewalt zwischen legitimem djihad und verbotener Gewalttätigkeit (‚unf) unterschieden werden. Gewaltbereite Islamisten sind also ihrer falschen islamischen Denkweise aufgesessen. Heutige Fatwas zur Rechtmäßigkeit von Gewalt im djihad dürfen nicht mehr nur aus den alten Texten abgeleitet werden. Also muss das Djihad-Recht offensichtlich neu interpretiert werden. Ob dies allerdings angesichts der meist traditionalistisch eingestellten ulama realisiert werden kann, bleibt die Frage. Angesichts der UNOMenschenrechtserklärung kann selbst ein djihad nicht als unbedenklich eingestuft werden, wenn er sich im Rahmen der Scharia bewegt. Ob Nasr Hamid Abu Zaid mit seiner geschichtlich ansetzenden Koran- und HadithHermeneutik doch einmal Gehör finden wird, muss derzeit offen bleiben. Fazit : Der Sammelband ist nicht nur für diejenigen empfehlenswert, die sich für Fragen des Friedens und der Gewalt im Islam in Vergangenheit und Gegenwart interessieren. Die Beiträge machen auch die innerislamischtheologische und gesellschaftspolitische Bewegung deutlich, die sich je nach den (staats-)politischen Möglichkeiten in den einzelnen islamisch geprägten Ländern erstaunlich weitreichend zeigt. Allerdings hätte man sich gewünscht, dass zeitgenössische Reformimpulse in ihrer Unterschiedlichkeit noch deutlicher herausgestellt worden wären, denn die extreme Spannbreite zwischen rückwärts gewandter Veränderung und liberaler Reform reicht von „ultra-orthodoxen“ Theoretikern wie Abul A'ala al-Maududi (1903-1979, Indien/Pakistan) und Sayyid 2 Qutb bis zu „liberalen“ wie Denkern Fazlur Rahman (1919-1988) und Mahmoud Taha. Die Namen im „Index der modernen muslimischen Denker“ könnten darum zu viele progressive Hoffnungen im Blick auf die genannten Autoren wecken. Es wäre schön, wenn die hier angestoßene wichtige Debatte in einem weiteren Band fortgesetzt würde. Reinhard Kirste, Rz-Seidensticker-isl-Gewalt, 26.02.12 2 Es müsste ausführlicher diskutiert werden, dass eine im vorgestellten Band weniger in den Fokus gerückte Gruppe „liberaler“ Theologen durchaus zunehmende Bedeutung gewinnen könnte, vgl. dazu: • Charles KURZMAN (ed.): Liberal Islam. A Sourcebook. New York / Oxford: Oxford Univ. Press 1998 • Omid SAFI (ed.): Progressive Muslims on Justice, Gender and Pluralism. Oxford (UK): OneWorld 2003 • Abdou FILALI-ANSARI: Réformer l’islam. Une introduction aux débats contemporains. Paris: La Découverte 2003 • Rachid BENZINE: Les nouveaux penseurs de l’islam. Paris. Albin Michel 2004