Jorge Galindo Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz Forschung Gesellschaft Jorge Galindo Zwischen Notwend igkeit und Kontingenz Theoretische Selbstbeobachtung der Soziologie VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet (Jber <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universit~t MQnchen, 2005. Gedruckt mit freundlicher UnterstQtzung des DAAD. 1. Auflage Juni 2006 Alle Rechte vorbehalten 9 VS Verlag fer Sozialwissenschaften I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika M01hausen / Tanja KShler Der VS Verlag f(3r Sozialwissenschaften ist ein Unternehmenvon Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlie61ich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschetzt. Jede Verwertung au6erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzul~ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fLir Vervielf~ltigungen, 0bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w~ren und daher von jedermann benutzt werden d(~rften. Umschlaggestaltung: K0nkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Sche61itz Gedruckt auf s~urefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14917-2 ISBN-13 978-3-531-14917-2 Danksagung Mein Aufenthalt in Mianchen w~e ohne die Untersttitzung eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nicht m6glich gewesen, deshalb m6chte ich mich beim DAAD fiir diese Chance bedanken. Von Anfang an hat Armin Nassehi an mein Projekt geglaubt und meine Arbeit durch Kommentare und Kritik untersttitzt. Dafiir und auch ffir die Gelegenheit, an seinem Lehrstuhl arbeiten zu k6nnen, m6chte ich mich bei ihm ganz herzlich bedanken. Irmhild Saake hat immer Interesse an meiner Forschung gezeigt und mir geholfen, endlich zu kapieren, dass ich zur Mannschaft geh6re. Ganz herzlich will ich mich auch bei Susanne BriJggen, Hubertus Niedermeier, Eveline Reisenauer und Andreas Wenninger bedanken. Ohne eure Freundschaft, Kommentare und Korrekturen w~ire alles viel schwieriger gewesen. Es lebe die soziologische Leidenschaft! Bei Elke Wagner bedanke ich mich fiar ihre Hilfe und Anregungen. Bei Cristina Arag6n will ich mich vielmals fur ihre Freundschaft und Hilfe bedanken (was h~itte ich ohne dich in Europa getan!). Auf der anderen Seite des Atlantiks gibt es auch Leute, bei denen ich mich ganz kurz bedanken m6chte. Stundenlange Gespr~iche mit Kollegen und Freunden haben mir geholfen, viele der Ideen dieser Untersuchungen zu entwickeln. Ganz besonders danke ich Adriana Garcfa, Olga Sabido und H6ctor Vera. In Deutschland ist es vielleicht altmodisch, aber in Mexiko gliicklicherweise immer noch ganz normal, sich bei der Familie zu bedanken, deshalb danke ich meinen Eltern Jorge Galindo und Rosa Monteagudo und meinen drei Schwestern Scarlet, Geraldine und Michelle f'tir ihre Unterstiitzung. Worte reichen nicht aus, um zu sagen, wie viel diese Arbeit Karen Manning schuldet. Auch dafiJr bedanke ich mich bei ihr yon ganzem Herzen. Inhalt E i n l e i t u n g ......................................................................................................... 11 A Die Soziologie der Soziologie ................................................................ 17 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 Wissenssoziologische Grundlagen .......................................................... Die Klassiker ........................................................................................... Institutionalisierung der Wissenssoziologie ........................................... Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ............................. Kommunikative Wende der Wissenssoziologie ...................................... 17 17 20 22 24 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ....................................... Strukturelle Bedingungen der Wissenschaft ........................................... Programmierung der Wissenschaft .......................................................... Die Operativit~it der Soziologie ............................................................... Kampf um Positionierung: Aufl6sung und Rekombination .................... 30 30 34 38 39 B Gesellschaftliche S t r u k t u r i e r u n g ......................................................... 43 3. 3.1 Klassische Perspektiven zum Problem der Struktur ................................. 43 Das Proletariat als Subjekt der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels ........................................................................................ 43 Zwischen Form und Inhalt: Die Soziologie von Georg Simmel ............... 44 Emile Durkheim und die Soziologisierung von Immanuel Kant .............. 45 Das Handlungssystem von Talcott Parsons .............................................. 50 Der Strukturalismus von Claude L6vi-Strauss .......................................... 60 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 Die Revolten gegen die Struktur ............................................................... Kontext der Revolten ................................................................................. Die Darstellung des Selbst: Erving Goffman ............................................ Die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel ......................................... Und noch einmal: Goffman ...................................................................... Systemtheoretische Kritik des Strukturfunktionalismus: Niklas Luhmann ........................................................................................ Strategien statt Regeln" Die Strukturalismuskritik von Pierre Bourdieu ......................................................................................... 67 67 70 73 78 80 83 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 Kontingenz, Rekursivit~it, Strukturierung ................................................. 88 Edgar Morin und die Prinzipien des komplexeren Denkens ..................... 88 Die Struktur autopoietischer Systeme: Niklas Luhmann .......................... 91 Von der Struktur zur Strukturierung: Anthony Giddens .......................... 91 Kontingenz als Fundament des Sozialen: Systemtheorie und Strukturierungstheorie im Vergleich ........................ 107 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 Kontingenzeinschr~inkung I: Der praktische Sinn .................................. Der Begriff der Kontingenzeinschr~inkung ............................................. Kommunikation oder Handlung ............................................................. Die praktischen Grundlagen der Kommunikation .................................. K/Srperlichkeit und indirekte Kommunikation ........................................ Notwendigkeit in der Kontingenz: Der Habitusbegriff ........................... Die Hysterese des Habitus ...................................................................... Drei Theorien und die Bedeutung des Raumes ....................................... C Sachliche und soziale Differenzierung ................................................ 141 7. Das Problem der Differenzierung ........................................................... 7.1 Soziale Differenzierung ........................................................................... 7.1.1 Die Vorl~iufer: Jean-Jacques Rousseau und Claude Henri Saint-Simon .............................................................. 7.1.2 Klassenkampf als Motor der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels .............................................................................. 7.1.3 Eine multidimensionale Stratifizierungstheorie: Max Weber ...................................................................................... 7.2 Sachliche Differenzierung ....................................................................... 7.2.1 Die Vorlaufer: Adam Smith und Herbert Spencer .......................... 7.2.2 Arbeitsteilung als Differenzierung des Konfliktes: Emile Durkheim .............................................................................. 7.2.3 Das AGIL-Schema von Talcott Parsons ......................................... 8. Kontingenzeinschr~inkung II: Systeme, Felder, Programmierung .......... 8.1 Differenzierung nach Funktionen ........................................................... 8.1.1 Die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann ............................... 8.1.2 Die Funktionssysteme ..................................................................... 8.2 Differenzierung nach Positionen im sozialen Raum ............................... 8.2.1 Inklusion / Exklusion: Die systemtheoretischen Analysen ............. 8.2.2 Die Starrheit der sozialen Klassen: Die Klassentheorie von Pierre Bourdieu ........................................................................ 112 112 114 120 126 129 135 136 141 142 142 145 147 150 150 152 156 162 162 162 167 175 175 179 8.2.3 Verteilungskonflikte tiberall" Die Feldtheorie ................................ 184 8.3 Zu einer Theorie der Programmierung .................................................... 191 8.3.1 Immer noch Dichotomien ............................................................... 191 8.3.2 Felder als Programmierungsr~iume ................................................. 193 8.3.3 Die N~ihe und die Ferne: Die Schwerkraft der Felder ..................... 196 8.3.4 Durchsetzungsmechanismen" Kommunikationsmedien und Kapitalformen ................................................................................. 198 D Schlussbetrachtungen: Die kritische Leistung der Soziologie ......... 201 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 203 Einleitung Die Illusion der Einheitlichkeit Nachdem man jahrelange Arbeit einer Forschung gewidmet hat, muss man am Ende zum Anfang zurtickkommen, um eine Einleitung zu schreiben. Gerade ftir diese Forschung finde ich jedoch eine solche Aufgabe unheimlich schwer. Wie kann ich eine Arbeit, die eigentlich sehr unterschiedliche Ziele verfolgt, deren Ergebnisse auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu finden sind, und die unterschiedliche intellektuelle Orte und Ausbildungsphasen verbindet, als eine koh~irente Angelegenheit pr~isentieren? Eine Arbeit, die nur wegen einer Verwaltungsfrist zu einem Ende kommen muss, obwohl sie tats~ichlich noch durch ihre Unvollst~indigkeit charakterisiert ist. Eine Arbeit also, die, wie Norbert Elias sagen wiirde, kein Zustand, sondem eher ein Prozess ist. Aus all diesen Grtinden w~ire es mir teilweise lieber gewesen, keine Einleitung schreiben zu miissen. Diese Einleitung wird allerdings vom wissenschaftlichen Protokoll gefordert. Aul3erdem w~ire es sehr unh6flich gegeniiber meinen Leserinnen und Lesern gewesen, wenn ich keine Einleitung geschrieben h~itte. Deshalb werde ich mich bemiihen, diese Arbeit zu pr~isentieren, als ob sie von Anfang an eine einheitliche und koh/irente Angelegenheit gewesen w~e. An den Anfang einer solchen Presentation m6chte ich die Entstehungsgeschichte dieses Projektes stellen. Geschichte und Aussichten einer soziologischen Intuition Wie alle Forschungen ist diese das Ergebnis sozusagen vieler ,,wissenschaftlicher Unf'~ille". Vor vielen Jahren wurde sie in Mexiko als eine Intuition geboren. Nachdem ich mein Studium in Soziologie beendet habe und mit meiner Magisterarbeit angefangen habe, wurde mir klar, dass viele der gegenw~.rtigen soziologischen Theorien, die mir als absolut gegens/itzliche und unvertr~igliche Perspektiven unterrichtet worden waren, in der Tat nicht so inkommensurabel sind. Seitdem habe ich mich fiir die Integration diverser theoretischer Ans~itze interessiert. Aus diesem Interesse sind zwei Ziele entstanden. Erstens wollte ich die ,,grundlegenden Strukturen" des gegenw~irtigen soziologischen Wissens erforschen, und zweitens wollte ich eine neue Theorie (damals habe ich noch von einer ,,vereinheitlichten Theorie der Soziologie" gesprochen) entwickeln. Eine Theorie, die in der Lage ware, die eigentliche Komplexit~it der sozialen Welt ,,besser" zu erforschen. Es ist klar, dass beide Ziele fiir einen gerade diplomierten Soziologen sehr anspruchsvoll sind. Aber wenn man jung ist, sieht alles immer einfacher aus. Deshalb habe ich meine Magisterarbeit diesen Zielen ge11 widmet. I Aus diesem ersten Versuch habe ich vor allem gelernt, wie schwer es eigentlich ist, eine Theorie zu entwickeln. Mit dieser aus der Erfahrung gewonnenen Bescheidenheit bin ich nach meiner Magisterarbeit nach Deutschland gekommen, um meine Dissertation zu schreiben. Inzwischen haben sich die Ziele gewissermal3en transformiert. Auf die Idee einer ,,vereinheitlichten Theorie der Soziologie" habe ich aus mehreren Griinden verzichtet. Es interessierte mich nicht mehr, viele Theorien zu vergleichen, um die ,,grundlegenden Strukturen" des gegenw~irtigen soziologischen Wissens zu erforschen, sondern Theorien in Bezug auf zwei klassische soziologische Bezugsprobleme, n~imlich das Problem der Struktur und das Problem der Differenzierung zu vergleichen, um die Plausibilitat und Erg~inzbarkeit der LEsungen, die drei der wichtigsten gegenw~irtigen Theorien auf diese Probleme gegeben haben, zu zeigen. Die drei Theorien, die dieser Untersuchungen sowohl als Gegenstand als auch als Werkzeuge gelten, sind der genetische Strukturalismus von Pierre Bourdieu, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und die systemtheoretisch basierte Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Ergebnis dieser Analyse und Erg~inzung ist der Entwurf einer relativ neuen Theorie, deren Weiterentwicklung mich nach meiner Riickkehr nach Mexiko besch~iftigen soll. Schwerpunkt dieser zuktinftigen Entwicklung soil die Oberpriifung und Pr~isierung der in diesem Entwurf gewonnenen Begrifflichkeit anhand der empirischen Forschung sein. Der rote Faden: Die Verhfiltnisse zwischen Notwendigkeit und Kontingenz Wenn man an so einem vielschichtigen Projekt arbeitet, ist es sehr schwer, einen konzeptuellen roten Faden zu bewahren. Die Beobachtung der dynamischen Verh~iltnisse, die es in der sozialen Welt zwischen Notwendigkeit und Kontingenz gibt, hat mir allerdings ermEglicht, die oben erw~ihnten Bezugsprobleme miteinander zu verbinden. In der Analyse der Theorien wird gezeigt, wie es der Soziologie nach einer Zeit des Vorrangs starrer strukturalistischer Theorien gelungen ist, die Kontingenz als Fundament des Sozialen zu identifizieren. Die soziale Welt ist aber dadurch charakterisiert, dass sie diese grundlegende Kontingenz niemals (oder fast niemals) als Kontingenz erscheinen l~isst. Aus der Kontingenz macht sie Notwendigkeit. Es gibt soziologische Theorien, wie die Strukturierungstheorie von Giddens oder die Gesellschaftstheorie von Luhmann, die besonders geeignet sind, diese grundlegende Kontingenz zu beobachten. Meiner Meinung nach ist es aber problematisch, mit Hilfe dieser Theorien die andere Seite, n~imlich die der NotwenJorge Galindo, Investigaciones sociol6gicas. Hacia una teorfa unificada de la sociedad, Universidad Iberoamericana,MExico,2000. 12 digkeit des Sozialen wieder zu rekonstruieren. FUr die Analyse dieser auf der Kontingenz basierten Notwendigkeit ist der genetische Strukturalismus von Bourdieu viel besser geeignet. Obwohl die drei Theorien vom kontingenten Charakter des Sozialen ausgehen, kann man deutliche Unterschiede in der Betonung des M6glichen bzw. Unm6glichen in der sozialen Welt konstatieren. W~ihrend Giddens und Luhmann sich mehr fur die M6glichkeiten (Agency und doppelte Kontingenz) interessieren, besch~iftigt sich Bourdieu fast immer mit den Grenzen des M6glichen (Korrespondenz zwischen Habitus und Feld). Dies heiBt selbstverst~indlich nicht, dass weder Giddens noch Luhmann tiber keine Begriffe ftir die Erkl~il'ung der Kontingenzeinschr~inkung verftigen wtirden (Struktur, System, usw.). Beide haben sich sicher mit solchen Problemen auseinandergesetzt. Meiner Meinung nach lassen sich jedoch diese Mechanismen der Kontingenzeinschr~inkung besser mit Hilfe der Theorie von Bourdieu erkl~en. Da aber Bourdieu dazu neigt, deterministische Thesen zu formulieren, also Thesen, in denen es fast unm6glich ist, die Kontingenz des Sozialen wieder zu entdecken, denke ich, dass es wichtig ist, die Beitr~ige von Giddens und Luhmann beizubehalten. Deshalb spreche ich von einer dialogischen Integration im Sinne von Edgar Morin. In Bezug auf die Strukturproblematik integriere ich diese Theorien, indem ich den praktischen Sinn als ein Medium struktureller Kopplung zwischen der Kommunikation und ihrer menschlichen Umwelt begreife. Diese Entscheidung erm6glicht die Berticksichtigung in einer systemtheoretisch gepragten Kommunikationsanalyse von Begriffe (wie den des praktischen Bewusstseins) und Forschungsbereiche (wie die indirekte und k6rperliche Kommunikation), mit denen sich diese Art Analyse bis heute kaum auseinandergesetzt hat. In Bezug auf die Differenzierungsproblematik versuche ich zwei wichtige Ebenen der Differenzierungsanalyse zu integrieren, n~imlich die der sozialen Differenzierung als Bereich der sozialen Ungleichheit, und die der sachlichen Differenzierung als Bereich der gesellschaftlichen Funktionen. Es wird vorgeschlagen, den habitusbezogen Feldbegriff neben den Begriffen von Funktionssystem, Organisation und Interaktion als kommunikativen Zusammenhang zu konzipieren, um die gesellschaftliche Programmierung als Ergebnis einer Dynamik der Asymmetrisierung analysieren zu k6nnen. In beiden F~illen wird gezeigt, wie die Gesellschaft (immer verstanden als Horizont aller m6glichen Kommunikationen) aus einer im Prinzip kontingenten Ordnung eine Ordnung voller Tragheiten macht. 13 Rechtfertigung der Theorieauswahl Nach dem Fall des ,,orthodoxen Konsenses" und der daraus abgeleiteten ,,Paradigmenkrise" hat die Soziologie eine theoretische Renaissance erfahren. Zu dieser theoretischen Renaissance gehtiren zweifellos der genetische Strukturalismus von Pierre Bourdieu, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und die systemtheoretisch gepr~igte Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Obwohl es selbstverst~indlich andere wichtige Theoretiker gegeben hat, wie etwa Jiirgen Habermas und Ulrich Beck in Deutschland, Michel Foucault, Alain Touraine, Raymond Boudon in Frankreich oder James Coleman in den USA, kann man behaupten, dass keine anderen Autoren die theoretische Debatte der Weltsoziologie 2 in den letzten 25 Jahren so stark wie Bourdieu, Giddens und Luhmann beeinflusst haben. Selbstverst~indlich ist Habermas ein ,,lebendiger Klassiker". Allerdings finden seit langem seine Reflexionen mehr Resonanz auBerha!b der Soziologie als in der Soziologie selbst. Trotz seiner Bedeutung ist Foucault immer eine periphere Figur in der Soziologie geblieben. Als Vertreter des methodologischen Individualismus haben zweifellos Boudon und Coleman zur Soziologie viel beigetragen. Es ist ihnen aber nicht gelungen, eine herrschende Position weltweit zu erlangen. Im Gegensatz zu ihnen haben wir im Fall von Beck und Touraine mit Autoren zu tun, die fast iiberall bekannt sind. Mit seiner Theorie retiexiver Modernisierung hat Beck zweifellos wichtige Beitr~ige zur Gesellschaftstheorie geleistet. Durch seine Handlungsanalyse ist es Touraine wiederum gelungen, sich als einer der wichtigsten Soziologen in den Bereichen der Arbeitssoziologie und der Soziologie sozialer Bewegungen zu etablieren. Es ist aber nur den Theorien von Bourdieu, Giddens und Luhmann gelungen, sich als eigentliche Beitr~ige zur allgemeinen weltsoziologischen Theorie zu etablieren. Zu einer kosmopolitischen Soziologie Gerade diese weltsoziologische Relevanz dieser Theorien ist fiir diese Untersuchungen von groBer Bedeutung, weil sie sich als eine kosmopolitische Angelegenheit verstehen. Hier werden Theorien aus unterschiedlichen Landern und wissenschaftlichen Traditionen von einem mexikanischen Soziologen analysiert, um einige ihrer ,,blinden Flecke" iiberwinden zu ktinnen. Dieser mexikanische Soziologe pr~isentiert allerdings seine Ergebnisse nicht im eigenen Land oder Kontinent, sondern zun~ichst in Deutschland. 2 Mit Weltsoziologiemeine ich nicht eine Soziologieder Globalisierung, sondern eine globalisierte Soziologie. 14 Eine nicht geschriebene Regel der Soziologie besagt, dass sich die Autoren aus der ,,soziologischen Peripherie" entweder mit Problemen dieser ,,Peripherie" oder mit der Interpretation und Verbreitung der ,,zentralen" Autoren besch~iftigen sollen. Diese habitusm~iBige Vorstellung kann ich anhand des folgenden Beispiels beweisen. W~ihrend es in Mexiko schwer war, Leute zu Uberzeugen, dass das Ziel meiner Reise nicht der eventuelle Import ,,frischer" europ~iischer Ideen war, sondern die Entwicklung einer eigenen Beobachtungsposition und die Etablierung eines wissenschaftlichen Dialogs, habe ich hier in Deutschland genauso viel Probleme gehabt, um meine Kollegen und Kolleginnen zu iJberzeugen, dass diese Theorie keine Theorie der ,,mexikanischen Gesellschaft" oder der ,,Peripherie der Moderne" ist, sondern ein Beitrag zur allgemeinen internationalen soziologischen Theorie. Der Aufbau der Arbeit Diese Forschung besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird anhand der Wissenssoziologie eine Perspektive fiir die Beobachtung soziologischer Theorien als ,,Akteure im Feld der Soziologie" entwickelt. Nach einer kurzen Pr~isentation klassischer wissenssoziologischer Theorien schlage ich im ersten Kapitel anhand der Systemtheorie von Luhmann vor, die Kommunikation als angemessenen Forschungsgegenstand der Wissenssoziologie zu begreifen. Im zweiten Kapitel analysiere ich die Wissenschaft und die Soziologie als kommunikative Zusammenh~inge, die sich durch eine Dynamik der Aufltisung und Rekombination von Elementen charakterisieren lassen. Die Wissenschaft und die Soziologie werden sowohl als Subsysteme (im ersten Fall der Gesellschaft und im zweiten Fall der Wissenschaft) als auch als aus Theorien und Methoden bestehende Positionierungsfelder begriffen. Anhand der im ersten Teil gewonnenen Begrifflichkeit werde ich mich im zweiten und dritten Teil mit verschiedenen Theorien in Bezug auf zwei grundlegende Problematiken der soziologischen Theorie, n~imlich der Strukturproblematik und der Differenzierungsproblematik auseinandersetzen. Im dritten Kapitel pr~isentiere ich die klassischen ,,strukturalistischen" Ans~itze (Durkheim, Parsons, L6vi-Strauss). Das vierte Kapitel besch~iftigt sich mit den sogenannten ,,Revolten gegen die Struktur". Sowohl die Interaktionsanalyse von Goffman, die Ethnomethodologie von Garfinkel als auch frtihe Texte von Bourdieu und Luhmann werden in diesem Kapitel in Anspruch genommen, um die Kritik der strukturalistischen Ans~itze und die Riickkehr der Kontingenz zu exemplifizieren. Im f'tinften Kapitel pr~isentiere ich die Strukturbegriffe der Systemtheorie von Luhmann und der Strukturierungstheorie von Giddens als paradigmatische Beispiele von auf der Kontingenz und der Rekursivit~it basier15 ten Strukturbegriffen. Im sechsten Kapitel schlage ich vor, den Kommunikationsbegriff von Luhmann mit dem Praxisbegriff zu erg~inzen. In dieser Erg~inzung spielt der Habitusbegriff yon Bourdieu eine entscheidende Rolle. Im dritten Teil setze ich mich mit der Problematik der Differenzierung auseinander. Im siebten Kapitel werden noch einmal verschiedene Theorien als ,,Akteure im Feld der Soziologie" begriffen, um die Kluft, die zwischen der Beobachtung der sozialen und der sachlichen Differenzierung entstanden ist, beobachten zu k6nnen. Nach der Pr~isentation der Gesellschaftstheorie von Luhmann als paradigmatischem Beispiel der Analyse sachlicher Differenzierung und der Klassen- und Feldtheorien von Bourdieu als paradigmatischem Beispiel der Analyse sozialer Differenzierung f'tihre ich im achten Kapitel einen Integrationsversuch anhand des Programmierungsbegriffs beider Theorien dutch. 16 A Die Soziologie der Soziologie WissenssoziologischeGrundlagen 1.1 Die Klassiker So alt wie die Soziologie selbst ist die Behauptung, dass das Wissen ein soziales Ph~inomen ist. Sowohl im Werk von Comte als auch in dem von Marx ktJnnen bereits entscheidende Beitr~.ge zur Wissenssoziologie gefunden werden. In seiner Reflexion tiber die Gesellschaftsevolution (bekannt als die ,,DreiStadien-Gesetz") entwickelt Comte eine wissenssoziologische Perspektive, die auf die klassischen philosophisch-psychologischen Orientierungen verzichtete. 3 Das Drei-Stadien-Gesetz zeigt das Verh~iltnis, das zwischen Gesellschaftsstruktur und Wissenserwerb existiert. Ftir Comte war es also deutlich, dass es eine Wechselwirkung zwischen diesen zwei Faktoren gab, deren Ergebnis die soziale Evolution ist. Die drei Stadien beziehen sich auf drei evolution~e Momente des kognitiven Zugangs zur Welt, die nicht vom Individuum her verstanden werden ktJnnen. In diesem Sinne kann der evolution~e Fortschritt nur auf der Gesellschaftsebene vorkommen. In Bezug auf Pascal dachte Comte, dass die Generationskette, die im Laufe der Jahrhunderte existiert hat, als ein einziger Mensch, der tiberlebt und lernt, beobachtet werden sollte. Obwohl diese Generationsidee selbstverst~.ndlich die Menschen als Mtiglichkeitsbedingung der Evolution einschliel3t, verwechselte Comte nicht das konkrete Individuum mit der Gesellschaft: ,,Car il serait impossible de traiter l'6tude collective de l'esp~ce comme une pure d6duction de l'6tude de l'individu, puisque les conditions sociales, qui modifient l'action des lois physiologiques, sont pr6cis6ment alors la consid6ration la plus essentielle. Ainsi, la physique sociale doit ~tre fond6e sur un corps d'observations directes qui lui soit propre, tout en ayant 6gard, comme il convient, h son intime relation n6cessaire avec la physiologie proprement dite". 4 In ihrer Geschlossenheit muss die Soziologie, als einst~ndige Wissenschaft und nicht als Anhang der Biologie oder der Psychologie, das Wissen nur als soziales Ph~inomen beobachten. Bereits 1847 hatten Marx und Engels darauf hingewiesen, dass ,,nicht das Bewusstsein bestimmt (...) das Leben (bestimmt), sondern das Leben (...) das 3 Wie Norbert Elias behauptet: ,,Der 0bergang von einer philosophischen zu einer soziologischen Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, den Comte vollzog, zeigt sich also zun~ichsteinmal darin, dass er als ,Subjekt' der Erkenntnis nicht einen einzelnen Menschen, sondern die menschliche Gesellschaft ansetzte". Siehe: Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weihheim/Mtinchen,2000, S. 37. 4 Auguste Comte, Cours de philosophiepositive. Band 1 (6 B~inde, 1830-1842),Paris, 1877, S. 74. 17 Bewusstsein", 5 und dass das menschliche Leben nur in Form von gesellschaftlichen Produktionsverh~iltnisse begriffen werden ktinnte. Die Grundideen dieser Urwissenssoziologie lassen sich folgendermaBen erkl~en. Um tiberhaupt Geschichte machen zu ktinnen, mtissen die Menschen leben. Ihr Leben h~ingt von der Befriedigung bestimmter Grundbedtirfnisse ab (Essen, Trinken, Wohnung, Kleidung, usw.). Die erfolgreiche Befriedigung dieser Grundbedtirfnisse ftihrt zur Entstehung neuer Bedtirfnisse, die wiederum befriedigt werden mtissen. Nur wenn die Menschen diese Bedtirfnisse befriedigt haben, ktinnen sie anfangen, andere Menschen zu produzieren. Am Anfang kennen die Menschen nur Familienverh~iltnisse, aber dieser Zustand wird sich im Laufe der Zeit ~indem. Die sozialen Verhaltnisse vermehren sich und mit ihnen werden neue Bediirfnisse geschaffen. Die Produktion des Lebens bezieht sich also auf soziale Verh~iltnisse. Das Bewusstsein, das sich am Anfang nur auf die unmittelbare Welt beziehen konnte, wurde zum Bewusstsein der Existenz dieser sozialen Verh~iltnisse. Dieses Bewusstsein der Gesellschaft ermtiglicht die Entstehung sozialer Arbeitsteilung als Produktivit~itsprinzip. Diese Arbeitsteilung stellt das eigentliche Problem der Wissenslehre von Marx dar. Da diese Arbeitsteilung jeden Unterschied zwischen materiellen und geistigen Arbeit schafft, taucht hier ein neues Ph~inomen auf: ,,Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen- von diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich vonder Welt zu emanzipieren und zur Bildung einer ,reinen' Theorie, Theologie, Philosophie, Moral, etc. tiberzugehen". 6 Hier befindet sich die eigentliche wissenssoziologische Leistung von Marx. Obwohl die Ideen sich den Menschen als transzendente Ph~inomene darstellen, beziehen sie sich immer auf die immanente Logik des Sozialen. Dies war die Geburtstunde der soziologischen Ideologiekritik. Die ganze Revolutionslehre entsteht von diesem Prinzip aus. Ftir Marx war es also klar, dass die menschlichen Ideen nur durch die Ver~inderung der gesellschaftlichen Umst~inde ge~indert werden k/Snnten. Genau wie Comte gentigte Marx den einzelnen Menschen als Zuschreibungseinheit des Wissens nicht. Beide Autoren haben also diese neue Zuschreibungseinheit auf dem gesellschaftlichen Niveau (als Generationsketten oder Produktionsverh~iltnisse) gefunden. 5 Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repr'~entanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845-1846), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin, 1990, S. 27. 6 A.a.O., S. 31. 18 Mit dem Werk von Emile Durkheim ging die Wissenssoziologie einen Schritt weiter. Als Realit~it sui generis schaffte die Gesellschaft ihre eigene Wissensart. Diese gesellschaftsspezifische Wissensart bezeichnete Durkheim mit dem Begtiff von ,,reprdsentation collectives".7 Die Inhalte solcher kollektiven Vorstellungen unterscheiden sich von den individuellen Vorstellungen, in dem sie das Ergebnis einer Kooperation, die tiber Zeit und Raum hinaus ausdehnt. In diesem Sinne sind diese Vorstellungen reicher und komplexer als diejenigen der Individuen. Die kollektiven Vorstellungen gelten also als M/Sglichkeitsbedingung for die Entstehung logischer Kategorien. In dem zusammen mit Marcel Mauss geschriebenen Text tiber die primitiven Klassifikationsformen 8 zeigt Durkheim, dass es in den ,,primitiven ''9 Gesellschaften einen Zusammenhang zwischen der konzeptuellen Klassifikation der Dinge und der sozialen Klassifikation der Menschen gibt. In der Analyse vieler totemistischer Gesellschaften konnten Durkheim und Mauss feststellen, dass sich die Menschen das ganze Universum als einen grol3en Stamm vorstellen. In diesen Gesellschaften geh6ren sowohl Menschen und Tiere als auch Dinge und Orte zum totemistischen Klassifikationssystem. In diesem System nehmen die logischen Verh~iltnisse die Form von Verwandtschaftsverh~iltnissen an. In seinem letzten Grol3werk Les formes dldmentaires de la vie religieuse 1~ behauptete Durkheim, dass all die Verstandskategorien religi6sen Ursprungs sind, und da die Religion ein sozialer Tatbestand ist, sind sie alle soziale Ph~inomene. Im Prinzip akzeptierte Durkheim die auf Kant bezogene Begrifflichkeit des a priori, aber dachte, dass dieses a priori nicht transzendentalen, sondern sozialen Ursprungs sei. Die Zeitkategorie beispielsweise ist dem Menschen nicht angeboren. Selbstverst~indlich kann ein Mensch zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden, aber was er als Vergangenheit bzw. Gegenwart bezeichnen kann, h~.ngt von einer sozial geteilten Zeitvorstellung, die wie all die anderen sozialen Tatbest~inde sich fiir ihre )i,ul3erlichkeit in Bezug auf den Einzelnen charakterisiert. Aus diesem Grund unterscheidet Durkheim zwischen dem individuellen Wissen, das biologisch begrenzt ist, und dem sozialen Wissen, das aus Sprache, Verstandskategorien und einer Wissenserbmasse besteht. 7 Emile Durkheim, "Repr6sentations individuelles et repr6sentations collectives" in ders.: Sociologie et philosophie, Paris (1898) 1996, S. 1-48. s Emile Durkheim / Marcel Mauss, ,,De quelques formes primitives de classification. Contribution l'6tude des repr6sentations collectives" (1903), in: Emile Durkheim, Journal sociologique, Paris, 1969, 395-461. 9 Ftir Durkheim bezieht sich dieser Begriff immer auf das Prinzip der Einfachheit. Io Emile Durkheim, Les formes 616mentaires de la vie religieuse (1912), Paris, 1998. 19 1.2 Institutionalisierung der Wissenssoziologie Ftir viele Fachleute gilt Max Scheler als eigentlicher Griinder der Wissenssoziologie. ~t 1924 sprach er zum ersten Mal von einer Wissens-soziologie in seinem Aufsatz ,,Probleme einer Soziologie des Wissens". Zwei Jahre sp~iter vertiffentlichte er das Buch Die Wissensformen und die Gesellschaft. 12 In diesem Buch wird die Soziologie in zwei Bereiche aufgeteilt. Laut Scheler gibt es eine Kultursoziologie, welche die Religion, die Kunst, das Recht und das Wissen erforscht, und eine Realsoziologie, die Ph~.nomene wie die Politik, die Wirtschaft und die soziale Institutionen analysiert. Nur diese Trennung zwischen sozialem Bau und Uberbau ktinnte die Entstehung einer Wissenssoziologie als Folge haben. Es muss aber gesagt werden, dass sich diese Trennung nicht auf Marx bezieht, sondern auf Schelers eigene philosophische Perspektive (n~imlich die Ph~inomenologie von Husserl). In diesem Sinne war die Wissenssoziologie f'tir Scheler nur ein Teil eines umfassenden philosophischen Programms. Das Ziel, das Scheler mit seiner Wissenssoziologie erreichen wollte, mag widersprtichlich klingen. Eigentlich wollte er einen wesensorientierten Platonismus mit dem Relativismus verstihnen. Scheler dachte, dass die Ideen unver~derlich seien, und dass nur der menschliche Zugang zu diesen Ideen v o n d e r Geschichte abh~ingig sei, so etwa ktinnten Scheler zufolge, bestimmte Figurationen der Realfaktoren (Politik, Wirtschaft, usw.) ideale Faktoren hervorbringen bzw. deren Hervorbringung verhindem. Die Aufgabe der Wissenssoziologie bezieht sich auf die Erforschung der historischen Wissensselektion, um den Relativismus zu tiberwinden. Ftir Scheler war es klar, dass das Wissen sozial ist. Es gilt ihm als eine Art a priori f'tir jede individuelle Erfahrung. In diesem Sinne h~ingt die sinnhafte Einordnung menschlicher Erfahrung von dieser gesellschaftlichen Struktur ab. Da das Individuum vom historischen Relativismus kein Bewusstsein hat, sprach Scheler von einer ,,relativnatiirlichen Weltanschauung". Die Beitr~ige von Scheler haben das Werk der Leitfigur in der Geschichte der Wissenssoziologie, n~imlich Karl Mannheim gepr~igt. Schon ein Jahr nach der Vertiffentlichung des Aufsatzes tiber die ,,Probleme einer Wissenssoziologie" reagierte Mannheim mit einem Werk, das fast denselben Namen als Schelers Werke hat, n~imlich: ,,Das Problem einer Soziologie des Wissens". 13Dieser Aufo. !~ Siehe Peter Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt, 2000, S. 3 ft. ~2Max Scheler, Die Wissensformenund die Gesellschaft (1926), in: ders., Gesammelte Werke Bd. 8, Bern / Mtinchen, 1960. 13Karl Mannheim, "Das Problem einer Soziologie des Wissens", in: Archiv f'tir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik53, 1925, S. 577-652. 20 satz war die Basis fiir die Entstehung des klassischen Buches Ideologie und Utopie, das 1929 in seiner ersten Fassung ver6ffentlicht wurde. ~4 Inspiriert von der Forschung im Bereich der Kunstgeschichte versuchte Mannheim schon in seiner Habilitationsschrift ~5 das Wissen als soziologischen Gegenstand zu begreifen. Da die soziologische Behandlung des Wissens nicht als eine Erz~ihlung von an Individuen gebundene Ideen dargestellt werden konnte, suchte Mannheim im Denkstilbegriff nach einer Antwort. So wie es kiinstlerische Stile gibt, die uns die Subsumtion eines bestimmten Werkes erlauben, ohne Informationen fiber den (individuellen) Sch6pfer des Werkes zu haben, dachte Mannheim, dass die Denkstile behilflich sein k6nnten, um die Entstehung, Aufrechterhaltung und das Verschwinden von Gedanken zu verstehen. Da die Ideenver~inderungen auf Anderungen in den Gruppenstrukturen beruht, sollte diese Analyse von einer soziologischen Perspektive geleitet werden. Mannheim entwickelte diese Ideen in Ideologie und Utopie weiter. Mit Hilfe der allgemeinen Fassung des totalen Ideologiebegriffes erreichte Mannheim die Trennung zwischen Ideologieanalyse und Wissenssoziologie. Im Gegensatz zum partikularen Ideologiebegriff, der sich nur auf bestimmte (falsche) Ideen und Vorstellungen des ideologischen Gegners bezieht, schliel3t die allgemeine Fassung des totalen Ideologiebegriffes nicht nur die gegnerische, sondern auch die eigene Position ein. Die Wissenssoziologie versteht also, dass nicht nur die (sozialen) Gegenst~.nde, die sie erforscht, sondern auch sie selbst ideologisch gepr~igt ist. Aus diesem Grund muss man akzeptieren, dasses keine privilegierte Beobachtungsposition gibt. All die Ideologien sind immer unvollkommen, partiell und perspektivistisch. Durch diesen entscheidenden Schritt ist es Mannheim gelungen tiber die Analyse von Marx hinaus zu gehen. In ihren entsprechenden Gesellschaften finden also die Individuen immer Denk- und Verhaltensmuster vor, die ihnen helfen, bestimmte Probleme zu 16sen. Es gibt aber auch einen st~indigen Trieb, neue Antworten zu suchen. Fiir Mannheim war es also klar, dass es immer gegens~itzliche Gruppen gibt, die versuchen, die Grundvorstellungen einer Gesellschaft zu ~indern. In der modernen Gesellschaft findet dieser Interpretationskampf im Bereich der Intellektuellen statt. Die Vielf'~iltigkeit von intellektuellen Gruppierungen fungiert als Beweis der modemen Entmonopolisierung der Weltinterpretation. 14Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, 1965. Das heutige Buch besteht aus fiinf Aufs~itze (Kapitel), die in sehr unterschiedlichen Zeitpunkte und Orte geschrieben wurden. Die zweite und vierte Kapitel erschienen 1929 als Mannheim immer noch in Deutschland war. Der Rest des Buches wurde im Exil geschrieben. ~5 Karl Mannheim, Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt, (1925) 1984. 21 1.3 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 1966 erschien The Social Construction of Reality von Peter Berger und Thomas Luckmann. ~6 Dieses Buch hat den Bereich der Wissenssoziologie neu definiert, indem es die Aufmerksamkeit der Disziplin auf das Alltagsleben gelenkt hat. Im Gegensatz zur herktimmlichen Wissenssoziologie haben Berger und Luckmann sich nicht mit der Politik besch~iftigt, sondern mit dem allt~iglichen Wissen. Was die Wirklichkeit des Alltags ist, war eine der wichtigsten Fragen, die sie sich gestellt haben. Um diese Wirklichkeitsanalyse durchftihren zu k6nnen, haben sie sowohl das Werk von Durkheim als auch dasjenige von Weber in Anspruch genommen. Eine gute soziologische Analyse der Mechanismen, welche die Konstruktion der Realit~it erm/Sglichen, brauchte sowohl die Idee, dass die Gesellschaft gegentiber den Menschen ein ~iul3erliches und zwingendes Ph~omen ist (Durkheim) als auch die Idee, dass diese Gesellschaft aus den sinnhaften Handlungen der Individuen besteht (Weber). In diesem Sinne ist die Gesellschaft nicht nur ein menschliches Produkt, sondern auch eine objektive Wirklichkeit, die wiederum die Menschen produziert. Dieser logische Zusammenhang l~isst sich gut verstehen, wenn wir die Gesellschaft als ein dialektisches Phiinomen begreifen. ~7 Die Mechanismen, die diese dialektische Wirklichkeit erkl~en, beziehen sich auf drei konstitutive Merkmale: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Um diese konstitutiven Merkmale zu erkl~en, schlieBen Berger und Luckmann an die philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen an. Diese philosophische Anthropologie versteht den Menschen als ein Tier besonderer Art, das weder eine spezifische Umwelt, noch einen festen Instinktapparat hat. Im Gegensatz zu anderen Tieren, die in der geschlossenen Welt ihrer Instinkte leben, charakterisiert sich der Mensch durch seine Weltoffenheit. Dies geschieht, weil die ontogenetische Entwicklung des Menschen sich erst nach der Geburt vollzieht. Der Mensch wird also zum Menschen durch Umweltkontakte. Diese Umwelt ist jedoch keineswegs nur nattirlicher Art. Diese Umwelt besteht tiberwiegend aus menschlichen Konstruktionen. ,,Das heiBt, der sich entwickelnde Mensch steht in Verbindung nicht nur mit einer besonderen nattirlichen Umwelt, sondern auch mit einer kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung, welche ihm durch ,signifikante Andere' vermittelt wird, die f'tir ihn verantwortlich sind". ~8Die Vermittlung solcher kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung setzt immer die schon erw~ihnte Externalisierung 16 Peter Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (New York 1966), Frankfurt,2000. 17A.a.O., S. 65. 18Berger/ Luckmanna.a.O., S. 51. 22 voraus. All die menschlichen Sch6pfungen sind ein Produkt solcher anthropologischen Notwendigkeit. Diese Sch6pfungen sind aber nicht chaotisch. Durch Habitualisierungsprozesse gewinnt diese menschlich konstruierte Welt allm~ihlich an Stabilit~it und diese stabile Redundanz f'tihrt zur Institutionalisierung. Wenn die kulturellen und gesellschaftlichen Sch6pfungen institutionalisiert worden sind, k6nnen sie sich den Willen ihrer Sch6pfer wiedersetzen. Es ist also f'tir die Menschen nicht mehr m6glich, diese von ihnen geschaffene Welt freiwillig zu ~indem. Hier befinden wir uns vor dem zweiten konstitutiven Merkmal der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, n~imlich die Objektivation. Um diese gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu vollenden, muss die exteme und objektive Welt in die Menschen zurtickkehren. Dies bringt uns zum Internalisierungsprozess. Nur durch diesen Prozess kann der Mensch sich mit seinen Produkten wieder identifizieren. Durch diese Internalisierung wird der Mensch selbst zum gesellschaftlichen Produkt. Das Wissen spielt eine entscheidende Rolle in der Entstehung und Reproduktion dieser drei Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion und dieses Wissen h~ilt eine enge Beziehung zur Sprache. Externalisierung, Objektivation und Internalisierung werden also durch Wissen und Sprache ermtiglicht. In diesem Sinne besch~iftigt sich die Wissenssoziologie mit den dialektischen Verh~iltnisse zwischen Wissen und Gesellschaft. Die eigentliche Leistung von Berger und Luckmann liegt darin, dass sie im Gegensatz zu Mannheim die Wissenssoziologie mit einer umfassenden soziologischen Theorie verbunden haben. In diesem Sinne beschaftigen sie sich nicht nur mit der kognitiven Konstruktion dieser sozialen Wirklichkeit, sondern auch mit der Konstruktion der Gesellschaft (als Realit~it sui generis) iiberhaupt. Indem die Gesellschaft durch die Sprache eine Wirklichkeit konstruiert, konstruiert (und reproduziert) sie sich selbst. Diese ist eine entscheidende Dimension. Die kognitiven Mechanismen treffen sich also mit den alltaglichen konstitutiven Mechanismen zusammen. Die Entdeckung dieser Dimension mag nicht neu sein. Die Deutlichkeit der Formulierung muss jedoch anerkennt werden. Obwohl Berger und Luckmann ihrer eigenen Anktindigung zufolge grunds~itzlich nur zum Bereich der Wissenssoziologie einen Beitrag leisten wollten, haben sie mit ihrer wissenssoziologischen Analyse auch eine konstitutive Theorie des Sozialen entwickelt, indem sie gezeigt haben, dass die Produktion und Reproduktion von sprachlich vermitteltem Wissen zur Konstruktion der Gesellschaft beitr~igt. Die Grenzen zwischen Wissenssoziologie und Soziologie sind undeutlicher geworden, weil eine soziologische Analyse (der Realit~it) eines sozialen Ph~inomens immer die Analyse seiner Realitatsvorstellungen voraussetzt. Hier befin23