Elemente eines Zeichens  Die Linie Die imaginäre Linie Von einem Punkt zum anderen zieht der Betrachter die imaginäre Linie. Die Urmenschen haben beim Betrachten des Himmels zwischen den nahe stehenden Sternen gedankliche Linien gezogen, und aus der Zusammenstellung der Sterngruppen sind dann Bilder entstanden, die zu den Sternbildern führten. Punkte auf einer Geraden, mit konstantem Abstand aneinandergereiht, werden als Linie (Schreiblinie) erkannt. In einem Würfelspiel z. B. haben wir die Anordnung von drei Punkten, die die Vorstellung eines Dreiecks hervorruft. In der Fixierung eines Sechsecks mit Punkten können wir beobachten, dass die Vorstellung einer Kreisbewegung entsteht. Mit einer noch stärkeren Einbildungskraft kann man sich aber auch zwei ineinander verschränkte Dreiecke vorstellen, welche zum Zeichen des jüdischen Symbols, des sechseckigen Davidsterns, führen. Aus diesen Feststellungen schließen wir, dass das Auge in einer Phase eine Linie zwischen den kürzesten Distanzen von zwei Punkten zieht und erst im zweiten Überlegungsakt sich Überschneidungen vorzustellen vermag. Die Linie an sich Der Prototyp «Linie» wird von Anfang an als eine Gerade aufgefasst. Wir nehmen an, dass durch die Nebeneinanderstellung von Punkten der Ausdruck einer Linie vorgetäuscht wird, dass sie zu einer Vervollständigung einlädt. Gestützt auf diese Überlegung, möchten wir sagen, dass jeder lineare Ausdruck aus einem in Bewegung gesetzten Punkt entsteht. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Bleistift, dessen Spitze bei der Berührung des Papiers punktartig ist, durch die Bewegung der zeichnenden Hand eine gerade Linie sichtbar werden lässt. Diese Vorstellung ist abstrakt, denn wenn eine Gerade ohne Lineal gezogen werden muss, bedeutet dies für die Anatomie der Hand und des Armes eine bestimmte geistige Überlegung, denn das spontane Ziehen eines Strichs ist durch die Aufhängung des Ellbogens, der Achsel oder des Handgelenks bedingt und führt in diesem Falle zuerst zu einer Kreisbewegung. Dabei ist zu bemerken, dass das Ziehen einer Vertikalen nicht den gleichen Bewegungsgesetzen folgt wie das Ziehen einer Horizontalen. Die Anziehungskraft der Erde wird der menschlichen Hand immer eine Hilfe sein, eine vertikale Gerade bestimmter zu ziehen als eine horizontale, die aus vielen Gründen unbestimmbar ist. Wir denken zuerst an die Vorstellung des unebenen Landes (Hügel, Berge), dann an den Vergleich des Festlandes mit der Unendlichkeit des Universums und nicht zuletzt vielleicht an die tief in uns liegende Vorstellung, dass die Erde rund sei und es deshalb eine horizontale Gerade für uns theoretisch überhaupt nicht gibt. Steinmetze, Maurer und Architekten wissen genau, dass nur im Senkblei die einzige feste Gerade besteht und dass hieraus alle anderen dimensionalen Maße festgelegt und abgeleitet werden können. Die Horizontale und die Vertikale Der Mensch bewegte sich von Anfang an auf horizontaler Ebene. Aus diesem Grund hat sich die Kraft seiner Optik vorwiegend in die Breite orientiert, denn die Gefahrenzone lag hauptsächlich seitlich. Aus einer jahrtausendealten, vererbten Anstrengung können wir heute feststellen, dass unser Sichtfeld in der horizontalen Dimension viel weiter ausgedehnt ist als in der vertikalen. Verglichen mit dem Sichtfeld der Vögel und der Fische wissen wir, dass diese keine Differenzierung zwischen der Horizontalen und Vertikalen besitzen, da sich ihre Bewegung und ihre Gefahrenwahrnehmung nicht nur auf der horizontalen Ebene befinden, sondern in der Luft oder im Wasser richtungsungebunden sind. Aus diesen Beobachtungen geht klar hervor, dass das optische Verhalten des Menschen hierdurch stark eingeschränkt ist. Die Abschätzung eines horizontalen Maßes steht in keinem Verhältnis zu derjenigen eines vertikalen. Wir finden z. B. einen Turm von 300 m riesig hoch, während eine Distanz von 300 m, auf der Straße abgeschätzt, eine Kleinigkeit zum Überwinden bedeutet. Die Bewegung des Menschen ist fast ausschließlich horizontal; deshalb gibt er der horizontalen eine ganz andere Bedeutung als der vertikalen Dimension. Die Horizontale ist ein konkretes Maß, etwas, das man dominieren, abschreiten kann. Die Erde ist flach, die theoretische Horizontale ist ein bestehender Begriff. Im Gegensatz dazu folgt alles, was auf diese Erde fällt, einer vertikalen Bewegung, ist deshalb etwas, das nicht ist, sondern geschieht (ohne Aktivität des Menschen), wie Blitz, Regen oder Sonnenstrahlen. Es erscheint uns hier notwendig zu unterstreichen, in welchem Maße horizontale und vertikale Bewegungen im Unterbewussten des Menschen ganz verschiedene Reaktionen auslösen können. Der Mensch liebt es, sich mit der Vertikalen zu vergleichen. Sie ist das aktive Element auf einer gegebenen Ebene. Sie ist auch das Symbol des lebenden Wesens, das nach oben wächst. Die Horizontale ist gegeben, die Vertikale ist zu machen. Der Mensch ist gewohnt, seine Aktivität mit der Passivität zu vergleichen. In demselben Sinne besteht eine Vertikale nur im Vergleich mit einer gegebenen Horizontalen. Bevor man zu schreiben beginnt, zieht man zuerst horizontale Linien, auf die man schreibt. Die Schräge Im Gegensatz zur Sicherheit, zur Präzision, mit der eine Vertikale erkannt wird, empfindet der Mensch der Schrägen gegenüber eine gewisse fragwürdige Resonanz von Unsicherheit. Die schräge Stellung ist nicht mit Sicherheit zu erfassen, allein vielleicht der Winkel von 45° kann vom Auge als Position zwischen Horizontale und Vertikale mit einer gewissen Schärfe abgeschätzt werden. Als Beispiel können wir die Stellung der Uhrzeiger anführen, im Zusammenhang mit der Einteilung der Stunden eines Tages. Die wichtigste Position ist auf die Vertikale gelegt: da am Mittag die Sonne im Zenit steht, vom Morgen her steigt und gegen den Abend hin sinkt. Beim Ablesen der Zeit können wir abschätzen, wie sensibel das Auge auf ständig wechselnde Winkel zwischen den Zeigern reagiert, selbst bei Zifferblättern ohne Ziffern, wobei aber die Markierung der vertikal und horizontal liegenden Stellen unerlässlich ist. Eine Schräge wird immer beurteilt in Bezug auf die nächstliegende Horizontale oder Vertikale. Je mehr sich eine Schräge der einen oder der anderen nähert oder von ihr entfernt (also vom idealen Winkel der 45° abweicht), desto mehr ändert sich ihr Ausdruck: Je mehr sich die Schräge der Horizontalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck eines Anstiegs, je mehr sie sich der Vertikalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck des Fallens. Unsere normale Lesegewohnheit von links nach rechts beeinflusst die Beurteilung einer Schrägen; die Schräge von links unten nach rechts oben gerichtet ergibt den Eindruck einer «Steigung», umgekehrt, von links oben nach rechts unten gerichtet, den einer «Abfahrt». Die Kurve Das Himmelsgewölbe und die Erdkugel sind der Ursprung des Kreiskonzepts, das in das Leben des Menschen eingeführt ist: Der Mensch empfindet das Gewölbe; sein Leben spielt sich im Kreis ab. Dieses Empfinden des Kreises führt zu einem Konzept der Ewigkeit: Sonne und Gestirne «drehen» sich über dem Menschen, der sie seit Jahrtausenden beobachtet. Wenn er den Himmel betrachtet, von welchem Punkt auch immer, befindet er sich stets im Zentrum eines Kreises; sein wirklicher Platz ist immer die Mitte, die menschliche Konstellation ist unvermeidlich egozentrisch. Wohin er auch geht, der Mensch nimmt seine Mitte mit. Aus diesem Grunde ruft eine kreisförmige Kurve für den Betrachter ein ganz anderes «Gefühl» hervor als die strenge Gerade. Im grafischen Ausdruck gibt es zwei verschiedene Arten von Kurvenlinien: Die eine entspringt der genauen Geometrie, die andere ist das Resultat einer spontanen Bewegung der Hand des Zeichners. Diese Studie, die ihrer Definition nach «grafisch organisieren» will, kann sich nicht mit dem spontanen Bewegungsausdruck abgeben, obwohl wir uns bewusst sind, dass hinter jedem auf Geometrie basierenden grafischen Konzept ein spontaner, in des Zeichners Intuition steckender Impuls vorhanden ist, oder: Um die Überlegung anders zu deuten, können wir sagen, dass der Grafiker seine Idee durch die gedankliche Anwendung der Geometrie realisiert. Es ist klar, dass die ideale Kreislinie mit Hilfe des Zirkels gezogen wird. Der geschlossene Zirkelkreis sowie partielle Zirkelkreissegmente sind abhängig von einem bestimmten unsichtbaren Radius. Die Gegenwart dieses unsichtbaren Radius lässt aus dieser gegebenen kreisförmigen Linie ein geheimes Gefühl der Exaktheit und die Gegenwart einer unsichtbaren Mitte ahnen. In dem ovalen Bogen wird der Radius zum Vektor (beweglicher Vektor-Radius) und auch dort ist das Empfinden einer unsichtbaren Gesetzmäßigkeit vorhanden. Kurven mit konstantem Radius, d. h. Zirkelkreis oder partieller Zirkelkreis, erzeugen nur einen primären Ausdruck, während Kurven mit veränderlichem Radius unbeschränkte Ausdrucksmöglichkeiten ergeben (logarithmische Kurven). Alle Formen, von welcher Natur auch immer, von der Arabeske bis zu freihändig spontanen Skizzen, könnten theoretisch aufgeteilt und in geometrische, wenn auch kleinste Elemente zerlegt werden. Morphologische Tafel 1 Das Verhalten des Betrachters gegenüber einer Figur ist sehr komplex. Um den Aufnahmevorgang verstehen zu lernen, ist es notwendig, sich vom Beginn an auf ein Schema zu beschränken, dessen Gliederung in seiner Einfachheit die größten Chancen bietet, den Ursprung erfassen zu können. Aus diesem Grund wurde die erste morphologische Tafel aufgestellt, die nur aus einem Quadrat mit einem Kreuz in der Mitte besteht, um allen «parasitischen» oder «anekdotischen» Einflüssen auszuweichen.