SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Filmmusik im 21. Jahrhundert – Die dritte Generation (2) Mit Thomas Rübenacker Sendung: 25. Juli 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker 24. Juli – 28. Juli 2017 Filmmusik im 21. Jahrhundert – Die dritte Generation (2) Signet … mit Thomas Rübenacker. Mein Thema ist: „Die dritte Generation: Filmmusik im 21. Jahrhundert“, heute: Teil 2. MUSIK Eines der zähestlebigen Vorurteile über Filmmusik ist: Dass man im Prinzip einem Film alles unterlegen könne, es würde schon irgendwie passen. Ich glaube, es war Mauricio Kagel, der das mal gesagt – und dann ja auch praktiziert hat. Das stimmt aber so nicht; und überhaupt auch eingeschränkt nur, wenn man bereit ist, die Erzählung der Bilder subtil sich verändern zu lassen, ihre emotionale Wirkung ebenfalls. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Sagen wir, Charlie Chaplin rutscht auf einer Bananenschale aus. Gibt man dazu einen Zirkusmarsch, wird die Komik noch derber. Spielt man aber Chopins Trauermarsch, hat der Zuschauer anfangs Mitleid – das aber bald verdrängt wird von hämischer Schadenfreude. Untermalt man den Rutsch mit dem Anfang von Beethovens „Schicksals-Sinfonie“, dann scheint es Charlie's Steißbein besonders hart zu treffen – undsoweiter. Wie sehr die Filmmusik das Bild verändert, wurde in der Sowjetunion mit einem Experiment bewiesen: Das Standfoto eines berühmten Schauspielers wurde mal mit lustiger, mal mit trauriger Musik undsoweiter untermalt. Jeder, der es sah, rühmte des Schauspielers Ausdruckskraft: Wie er mit den sparsamsten Details die verschiedenen Gemütsverfassungen übermitteln konnte! Dabei war es immer ein und das gleiche Foto … Gelegentlich passt aber eine Musik so gar nicht zum Film, sogar eine eigens dafür komponierte nicht. Sogar von einem gewieften Tonsetzer wie Leonard Bernstein! Dessen – bezeichnenderweise – einzige Filmmusik blieb die zu „On The Waterfront“ von Elia Kazan, jenem bitteren Gewerkschaftsdrama im New Yorker Hafen, Marlon Brando spielte damals eindrucksvoll den „Abtrünnigen“. Wahrscheinlich hatte Kazan 2 Bernstein angeheuert, weil der mit New-York-Musik sich auskannte: Seine Stadt hatte er bereits in Musicals, in Balletten und Tongemälden verewigt. Auch die Musik zu „On The Waterfront“ ist natürlich von exquisitem Métier, so in Richtung Aaron Copland. Nur hat sie leider nicht viel mit dem Film zu tun – sie läuft sozusagen nebenher. MUSIK 1: (1’40) L. Bernstein: On The Waterfront New York Philharmonic Leonard Bernstein CBS MK 42263 (LC 0149) Ausschnitt aus Leonard Bernsteins Filmmusik zu „On The Waterfront“, deutsch: Die Faust im Nacken, zusammengebacken als Suite für den Konzertsaal. Dafür ist sie 1954 eigentlich auch komponiert, nicht für den Gewerkschafts-Thriller; Mords ein Getue findet statt, aber mit dem Film hat es wenig zu tun. Ansonsten dirigierte der Komponist die New Yorker Philharmoniker. Einem der Talentiertesten der „Dritten Generation“ Filmkomponisten, dem Amerikaner James Newton Howard, passierte das nie: dass seine Musik „neben dem Film her“ lief. Howard wurde 1951 in Los Angeles geboren und brauchte dann ziemlich lange, bis er seine eigentliche Berufung gefunden hatte – er arbeitete als Keyboarder in diversen Bands, darunter der von Elton John, und arrangierte alle möglichen Songs für alle möglichen Besetzungen. Erst in den Achtzigerjahren – da war er schon Mitte 30 – kam er über die Schallplattenproduktion zum Film, dem er immer subtilere Scores schenkte. Zeitweise verirrte er sich allerdings auch in den „Stall“ des Hans Zimmer, eines gebürtigen Frankfurters und wohl bestverdienenden Film“komponisten“ Hollywoods. Zimmer, der nie eine solide Ausbildung genoss, mixt am Keyboard improvisierend kurze „Themen“ zusammen, die dann im Film so oft wiederholt werden, bis sie einem zu den Ohren rauskommen; Beispiel: Das knappe Südstaatenthema von „Driving Miss Daisy“ quäkt über 120 Mal - unverändert. Wahlweise schart Hans Zimmer auch wirklich talentierte junge Leute um sich, die 3 gerade anfangen, und erntet dann deren Lorbeeren. So eben auch eine Zeitlang James Newton Howards. Aber der hat sich, gottlob, längst freigeschwommen … MUSIK 2: (4:35) James Newton Howard: Treasure Planet Walt Disney 5050466-1797-2-2 Es beginnt sehr schön mit gälischer Fiddlelei und führt dann in eine rauschende Fanfare à la John Williams: John Newton Howards Score zum DisneyZeichentrickfilm „Der Schatzplanet“ von 2002. Aber, wie gesagt, Howard wurde subtiler und subtiler in seiner „Illumination“ der Filme, die er vertonte. Beispiel „King Kong“: Die Geschichte vom urweltlichen Riesenaffen, der sich in die kleine blonde Menschenfrau verliebt, ihr – wenn auch nicht ganz freiwillig - in die Zivilisation folgt und dann darin umkommt, wurde schon dreimal verfilmt, von Schoedsack und Pichel in den 30er-Jahren, von John Guillermin in Farbe und Breitwand und 2005 von Peter Jackson, dem Neuseeländer, der vor allem mit dem „Herrn der Ringe“ berühmt wurde. Alle drei Versionen sind vorzüglich, die jüngste auch deswegen, weil nach Max Steiner und John Barry nun James Newton Howard die Musik schrieb. Wie Beethoven, der für seine einzige Oper vier Ouvertüren versuchte, dreimal „Leonore“ und einmal „Fidelio“, komponierte Howard den entscheidenden Cue, „Beauty Killed the Beast“, fünfmal. Der Aspekt war natürlich neu; in den ersten beiden „King Kongs“ tötet die geballte Staatsmacht die sie scheinbar bedrohende Bestie; in Jacksons Film ist es „die Schönheit“; Hinweis darauf, dass erst die eigene Menschlichkeit das Ungeheuer verwundbar macht. Es stirbt, weil es liebt. Am schönsten zeichnet James Newton Howard diesen Aspekt in seinen beiden Versuchen IV und V, „Beauty Killed the Beast“. Die häufig rauhe, auch bewusst ungelenke Harmonik weist auf die Fremdheit des Urtieres im modernen New York, das Liebesthema wandert herein und auch wieder hinaus, starke Rhythmik steht für die Erinnerung an die Rituale auf der entlegenen Südseeinsel, wo die Zeit noch stillestand. Ein geradezu waghalsiger, aber wunderbarer Einfall ist es dann – einen 4 einzelnen englischen Knabensopran zu exponieren, wie verloren in dieser Klanglandschaft; klar wird auch nicht, ob er einen liturgischen Text singt oder schlicht eine Vokalise. Zweierlei aber macht James Newton Howard mit diesem Kunstgriff schlagartig klar: Der Knabensopran steht für die Einsamkeit King Kongs ebenso wie für dessen Unschuld. In dieser Filmmusik verdichtet sich ein beinahe Drei-StundenFilm zu ein paar erhellenden Minuten – und mehr kann die Gattung wirklich nicht erreichen! MUSIK 3: (8:56) J. N. Howard: King Kong Decca 476 5224 „Es waren nicht die Flugzeuge und die Kanonen – die Schönheit tötete die Bestie!“ Zwei Varianten des Endes von „King Kong“, die 2005er Version, komponiert von James Newton Howard. Mit das Erstaunlichste aber, was Newton Howard fürs Kino komponierte, war der Score zu M. Night Shyamalans Gruselgeschichte „The Village“ von 2004. Darin wacht eine Handvoll Menschen über ein Dorf, das Ex- und Enklave zugleich ist, Paradies und Hölle. Gelegen inmitten eines Privatwaldes, spiegelt es den Insassen vor, im 19. Jahrhundert zu leben. Warum eigentlich, wird nie ganz klar, aber es hat wohl mit Rousseu, mit „Zurück zur Natur!“ und mit Unschuld zu tun. Jenseits der Dorfgrenze, heißt es, im finstern Thann lauerten Ungeheuer, womit man – kein Zweifel – die Dorfbewohner daran hindern will, allzu naseweis zu werden. Als dann doch ein junges Mädchen ausbricht, den Wald durchquert, ein sie angreifendes Ungeheuer tötet und dabei erkennen muss, dass es sich um einen Dorfbewohner in Maske handelte – erweist das vermeintlich „sichere“ Dorf sich als Kartenhaus, als pure Behauptung wie die Hölle. Dass das Mädel am Waldende fernerhin erkennt, man lebe schon längst in der heutigen Zeit, das verblüfft dann nicht einmal mehr die alte Oma mit dem Hörrohr. Die Geschichte von „The Village“ ist also eher hanebüchen, mit einem Hang zu unfreiwilliger Komik da, wo sie das Märchen „Rotkäppchen“ streift. Aber verflucht soll 5 er sein – James Newton Howard hat gerade dazu seine subtilste Filmmusik geschrieben. Kurz gesagt: Sie ist alles, was der Film nicht ist, aber sein will. Geheimnisvoll. Poetisch. Traumhaft. Alptraumhaft. Tief und immer tiefer blicken lassend … Von A bis Z geistert ein Geigensolo durch das Werk, gespielt von Hilary Hahn: eine Stimme nicht von hier und nicht von dort, sondern unerlöst wie eine arme Seele im Limbus, in Dantes Fegefeuer. MUSIK 4: (6:39) J. N. Howard: The Village Hollywood Records 5050467-4883-2-8 James Newton Howard, „The Village“ von 2004, die Solistin auf dem OriginalSoundtrack war Hilary Hahn. In den Staaten unterscheidet man Filmmusik gern in entweder East Coast oder West Coast: West Coast, also Los Angeles und San Francisco, ist die experimentellere, um Regeln weniger bekümmerte Musik; East Coast, also New York und Boston, die vollendet regelmäßige, aber hochpointierte „sophistication“. Ein gutes Beispiel für West Coast ist James Newton Howard, eines für East Coast Randy Newman. Mit der Pfiffigste aus der New Yorker Sophistikaten-Szene aber ist Marc Shaiman, geboren 1959 in Newark. Shaiman durchlief alle Stationen eines jüdischen, homosexuellen Ostküsten-Intellektuellen: Er war Musikdirektor von Bette Midler, dann entdeckte man sein komisches Talent für die Fernsehsatire „Saturday Night Live“, gleichzeitig mit seiner Kinoarbeit entdeckte er sein Faible für den Broadway („Hairspray“, John Waters' Kultfilm als Musical, ebenso „Charlie And the Chocolate Factory the Musical“ nach Roald Dahl), unzählige Nominierungen, eine Handvoll Gewinne – und als finale Krönung der Henry Mancini Award von ASCAP, der amerikanischen GEMA, also der Musikergewerkschaft. Marc Shaiman hat etwas wiederentdeckt, was schon unter der Asche der Geschichte verschüttet schien: das Mickeymousing. Das war erfunden worden für die Cartoons der 30er- und 40er Jahre, mit Mickymaus, Daffy Duck und all den andern, eine unglaublich farbige, aber oft auch hektische Art von Filmmusik. Ihr Credo ist es, jede 6 Bewegung auf der Leinwand, auch jede Regung musikalisch nachzuzeichnen, sie zuspitzend und so ultimativ zu vergrößern. Das läuft mitunter auf eine Verdoppelung hinaus, steigert aber im Idealfall den Witz der Vorlage, übersetzt sie bruchlos ins akustische Medium. In einem der bekanntesten Shaiman-Scores, zur „Addams Family“ der quasi zivilisierten Monster, klingt das so … MUSIK 5: (5:21) Marc Shaiman: The Addams Family Capitol 7 98172 2 „A Party … For Me?“ fragt der tumbe Fester, sozusagen das Frankenstein-Monster der Monsterfamilie Addams, im ersten der Addams-Family-Filme. Der Komponist, der New Yorker Marc Shaiman, belebte hier deliziös das Mickeymousing wieder, mit dem Vertragskomponisten der 30er- und 40er-Jahre die Cartoons mit Micky Maus, Daffy Duck oder Bugs Bunny vorangepeitscht hatten. Noch ohrenfälliger folgt Marc Shaiman der Route Mickeymousing im zweiten Teil der Reihe, „Addams Family Values“. Da kommt es, beispielsweise, zur folgenden frenetischen Dekonstruktion eines Tangos ... MUSIK 6: (2:44) Marc Shaiman: Addams Family Values Varèse-Sarabande VSD-5465 (LC 6083) Dekonstruktion eines Tangos mit Mitteln des Mickeymousing: Der New Yorker Marc Shaiman vertonte so die zweite Tranche der Horror-Komödie „Addams Family Values“. In einem Interview, das sich so irritierend liest wie ein Dialog des Plato (Sokrates redet zwei Seiten lang, dann wirft irgendein Schüler ein „Ach? Vermeint Euch, o Sokrates?“ ein, dann redet der Weise wieder zwei Seiten lang usw.), ließ Shaiman sich über einige filmsprachliche Besonderheiten aus, in Relation zur Musik. „Das sogenannte Mickeymousing ist aus der Mode gekommen“, sprach er, „es wird 7 belächelt. Dabei kann es einem Film immer noch zu Diensten sein, wenn auch natürlich nicht jedem: Die meisten dramatischen Filme würden damit (…) zur unfreiwilligen Parodie ihrer selbst, sozusagen 'Die Wendeltreppe' würde 'Arsen und Spitzenhäubchen' … Aber die Komödie könnte die Methode brauchen wie Blumen den Dünger. Nicht nur würde die visuelle Ebene unterstrichen und vertieft, sodass ihr Witz im Idealfall noch gesteigert würde; das Mickeymousing würde auch das Tempo der Ereignisse erhöhen (...), denn gibt es etwas Enervierenderes, ja Quälenderes als eine zu langsam abgespulte Komödie?“ In seinem wahrscheinlich bekanntesten Film, der Urban-Cowboy-Burleske „City Slickers“, realisiert Shaiman diese Maximen – er setzt immer noch „eins drauf“ in seiner Musik, lässt die Ereignisse ineinander gleiten und steigert das Tempo bis zum Genickbruch. Ein Virtuose der 30er- und 40erJahre-Cartoons wie Carl Stalling hätte das nicht frenetischer hingekriegt. MUSIK 7: (2:40) Marc Shaiman: City Slickers Varèse-Sarabande VSD-5321 (LC 6083) „City Slickers“ goes Mickeymousing: Marc Shaiman fand für die Burleske, worin Großstadt-Hippies als Cowboys Urlaub machen wollen, exakt den rechten Tonfall. Eine Zeitlang nahm Shaiman Privatstunden bei dem großen Westernkomponisten Elmer Bernstein, dem wir die Musik zur Marlboro-Werbung verdanken – die nämlich rührt von Bernsteins Score zum Film „Die glorreichen Sieben“. Und dass Shaimans „City Slickers“ auch eine freundschaftliche Parodie auf Elmer Bernstein sind, verrät uns spätestens der Titel, mit dem ich mich für heute verabschiede: „Mitchy the Kid“. MUSIK 8: (4:42) Marc Shaiman: City Slickers Varèse-Sarabande VSD-5321 (LC 6083) 8