Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern

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Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) bei Kindern unter besonderer Berücksichtigung soziologischer Gesichtspunkte.
Bachelorarbeit
Vorlesung, Familiensoziologie
Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der Medizinischen Universität Graz
Vorgelegt von
Christopher Guggi
0710377
Begutachterin:
Ass.-Prof. Mag. Dr.rer.soc.oec. Sabine Haring
Institut für Soziologie
Universitätsstraße 15 / G4, 8010 Graz
Graz, am 22. September 2011
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und
ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebene Quellen nicht verwendet
habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als
solche kenntlich gemacht habe. Weiteres erkläre ich, dass ich diese Arbeit in gleicher
oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt habe.
Graz, am 22. September 2011
Unterschrift
Gleichheitsgrundsatz
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde in dieser Arbeit darauf verzichtet, geschlechtsspezifische Formulierungen zu verwenden. Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass die
bei Personen verwendeten maskulinen Formen für beide Geschlechter zu verstehen
sind.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
1. Einleitung............................................................................................................ 6
1.1 Forschungsfragen ................................................................................................ 6
1.2 Ziel der Arbeit ....................................................................................................... 6
1.3 Aufbau der Arbeit .................................................................................................. 6
1.4 Begründung der Themenwahl / Problemstellung .................................................. 7
2. Allgemeines ........................................................................................................ 8
2.1 Theoretischer Hintergrund zur Thematik ADHS ................................................... 9
2.2 Biomedizinisches Modell von Gesundheit .......................................................... 13
3. ADHS – Wie erkenne ich das? ........................................................................ 16
3.1 Hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten – Verhaltensbeschreibung ................ 16
3.2 Diagnose ADHS ................................................................................................. 20
4. Modelle zu Ursachen von ADHS........................................................................ 25
4.1 Funktionsstörungen des Gehirns ........................................................................ 25
4.2 Psychosoziale Faktoren...................................................................................... 26
5. Auswirkungen von Etikettierungen und ihre soziologischen Erklärungen 29
6. Verhalten bei Diagnose ADHS ........................................................................ 34
6.1 Verhalten in der Familie ...................................................................................... 34
6.2 Verhalten im Kindergarten und in der Schule ..................................................... 35
6.3 Was soll mit dem Kind passieren? ...................................................................... 36
7. Soziologie von Gesundheit und Krankheit im Vergleich mit dem Phänomen
ADHS ....................................................................................................................... 37
8. Schlussfolgerung, Ausblick ............................................................................ 39
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Häufigkeit problematischer Situationen in Familien. Vergleichsgruppe.
................................................................................................................................. 19
Abbildung 2: 3 Ebenen ........................................................................................... 29
Zusammenfassung
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS ist eine heute gesellschaftlich, speziell bei Kindern sehr aktuelle und oft mit Widerspruch verbundene Erkrankung. Ziel dieser Arbeit war es, einen allgemeinen Überblick zur vorhandenen Literatur
und aktuellen Forschungsarbeit zu schaffen. Die genaue Darstellung des Prozesses
der Diagnosestellung bei Kindern steht im Vordergrund, da in unserer Gesellschaft
sehr viele verschiedene Auffassungen und Meinungen dazu vorhanden sind. Des
Weiteren wird auf aktuelle Zahlen und Entwicklungen eingegangen. Wie kann es sein,
dass heute laut Statistiken 5-12 Prozent der Kinder und Jugendlichen davon betroffen
sind?
Verschiedenste Verhaltensauffälligkeiten im Besonderen bei Kindern werden erläutert
und Modelle zu den wissenschaftlich unzureichend untersuchten Ursachen für ADHS,
wie psychosoziale Faktoren oder Funktionsstörungen des Gehirns, werden beschrieben und kritisch hinterfragt. Kinder mit Diagnose ADHS werden von unserer Gesellschaft auf eine gewisse Art und Weise etikettiert und sind dadurch in ihrer sozialen
Entwicklung kolossal beeinträchtigt. Daher ist es von großer Bedeutung, dass Verhalten, speziell von der betroffenen Familie, aber auch jenes im Kindergarten und in der
Schule, auf das Kind anzupassen und Gegebenheiten zu verändern.
Das Phänomen ADHS mit seinen Entwicklungen wird außerdem von soziologischer
Seite betrachtet. Dazu wird die Frage aufgeworfen, warum sich ADHS zu dem entwickelt hat, was es heute ist? Wurden Kinder mit Auffälligkeiten früher einfach als aktivere und lebendigere Kinder bezeichnet, werden sie heute als krank angesehen und in
weiterer Folge medikamentös ruhig gestellt. Wer hat das Recht zu bestimmen, ab
welchem Zeitpunkt ein Verhalten als krank einzustufen ist und bis wohin Auffälligkeiten
als normal zu betrachten sind? Auf diese Schwerpunkte wird näher eingegangen und
es wird versucht Ansätze zu finden, um diese sehr umstrittene und breit diskutierte
Erkrankung zu verstehen und zu erklären.
1. Einleitung
In diesem Einleitungskapitel geht es darum, den Hintergrund und das Motiv der Arbeit
zu erläutern. Die zwei wesentlichen Forschungsfragen werden vorgestellt und es wird
ein grober Überblick zur gesamten Arbeit geschaffen. Außerdem wird der Faktor Umwelt näher betrachtet und die Problemstellungen zu diesem sehr komplexen Thema
behandelt.
1.1 Forschungsfragen
F1:
Was genau ist ADHS, wie wird es diagnostiziert und welche physiologischen,
aber vor allem soziologischen Faktoren sind für die Entwicklung der Erkrankung ausschlaggebend?
F2:
Welche Auswirkungen hat ADHS auf Betroffene und wie sollten verschiedene
Lebensbereiche (Familie, Kindergarten, Schule, soziales Umfeld), aber auch
die Gesellschaft gerecht reagieren, wenn ADHS aus soziologischer Sichtweise
betrachtet wird?
1.2 Ziel der Arbeit
Ziel meiner Arbeit war es, einen groben Überblick über allgemeine Inhalte zum Thema
ADHS zu schaffen und danach genau darzustellen, was in der Literatur über ADHS
bei Kindern in Bezug auf Familie vorhanden ist. Wichtig war es mir auch, den soziologischen Bezug zur Thematik aufzuarbeiten und zu erläutern.
1.3 Aufbau der Arbeit
Als Methode dieser Arbeit, wurde ein Literaturreview gewählt. Fachliteratur habe ich in
diversen Bibliotheken gefunden. Viel wissenschaftliches Material konnte ich durch die
Medizinische Universität Graz bekommen. Weitere unterstützende Bibliotheken waren
jene der Karl-Franzens-Universität Graz und der Stadtbibliothek Graz. Nach umfang6
reicher Suche, wurde die gefundene Literatur durchgearbeitet und anhand meiner
Vorstellungen zur Thematik ein Konzept inklusive Forschungsfragen aufgestellt. Es
gibt sehr viel Material zu diesem Thema, aber es gibt sehr wenig exaktes Fachwissen,
welches wissenschaftlich hinterlegt ist. Deswegen war es schwierig das Wichtigste
aus dem vielen vorhandenen herauszufiltern und zusammen zu fassen. Bei der Ausarbeitung habe ich mich auch ausschließlich auf Daten und Material von Kindern und
Jugendlichen beschränkt. Heute gibt es auch schon viel Forschungsarbeit zum Thema
ADHS im Erwachsenenalter. Dies würde jedoch den Umfang dieser Arbeit sprengen.
1.4 Begründung der Themenwahl / Problemstellung
Schon immer hat mich das Thema AS(H)S bei Kindern interessiert. Gründe dafür sind,
dass meine Mutter als Kindergärtnerin tätig ist und immer häufiger mit auffälligen Kindern konfrontiert ist bzw. davon berichtet. Ein weiterer Grund dafür ist, dass mein
Cousin Auffälligkeiten zeigt. Oft hört man in unserer Gesellschaft Aussagen von Mitmenschen wie „der Kleine ist krank“, „das Kind ist hyperaktiv“ oder ähnliches, aber
niemand weiß so genau etwas über diese Erkrankung, ihre Folgen und Auswirkungen.
Wie und wann kann man ADHS diagnostizieren? Welche Therapiemöglichkeiten gibt
es? Wo bekommen Betroffene Hilfe?
Das alles sind Probleme, mit denen wir in unserer heutigen Gesellschaft zu kämpfen
haben. War dies immer so? Wie war die Situation noch vor Jahrzehnten? Wie hat sich
die Krankheit ADHS in den letzten Jahren entwickelt? Ist der gesellschaftliche Wandel
schuld daran? Wie kann es sein, dass immer mehr Kinder Auffälligkeiten zeigen?
Fragen, die für mich sehr entscheidend und interessant sind. Deswegen habe ich
dieses Thema für meine Arbeit gewählt und mich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt.
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2. Allgemeines
„Schon morgens ist der fünfjährige Markus kaum zu bremsen! Bereits um sieben
Uhr steht er auf der Matte und trällert munter und vor allem laut ein Liedchen nach
dem anderen. Ständig ist er in Aktion, an keiner Stelle, bei keiner Tätigkeit hält er
es länger als ein paar Minuten aus. Selbst beim Spiel kann er nicht lange verweilen. Vor allem muss er seine Mutter ständig irgendetwas Wichtiges fragen oder ihr
ganz dringend etwas Unaufschiebbares erzählen. Die Mutter kommt zu gar nichts
mehr und hat schon kurz nach dem Aufstehen das Gefühl, dass ihr alles zu viel
wird.“ (Döpfner et al. 2000, S.1)
Dieses Beispiel schildert die Herausforderung „Alltag“ einer Mutter mit einem Kind, das
Auffälligkeiten in Bezug auf ADHS zeigt. Schon in der Früh ist Markus kaum zu beruhigen und beschäftigt seine Mutter. Er springt von einer Aktivität zur nächsten über.
Der Fünfjährige kann seine Aufmerksamkeit nicht länger als ein paar Minuten auf ein
Geschehen lenken. Durch sein Verhalten ist die Mutter den ganzen Tag über beschäftigt. Sie ist mit der Situation überfordert. Die Verhaltensauffälligkeiten sind so stark
ausgeprägt, dass dadurch das harmonische Zusammenleben in der Familie an seine
Grenzen stößt. Wenn man diesen Fall allgemeiner betrachtet, so ist zu berücksichtigen, dass es nun einmal aktivere Kinder gibt, die den ganzen Tag nicht zu bremsen
sind und „Action“ brauchen. Ab wann ist ein Verhalten als „krankhaft“ einzustufen?
Eltern versuchen alles, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und hoffen,
dass es in naher Zukunft besser wird. Spätestens wenn das Kind in den Kindergarten
oder in die Schule kommt, sind die Auffälligkeiten nicht mehr zu verbergen und bereiten sehr oft massive Probleme. Dieses einfache Beispiel aus der Praxis zeigt sehr gut,
wie schwierig es ist, mit auffälligen Kindern richtig umzugehen, diese Kinder richtig zu
fördern und auf sie einzugehen. Wie werden diese Kinder richtig therapiert? Wie wird
die Diagnose gestellt und welche Zukunftsaussichten haben Kinder, wie in diesem Fall
Markus (Döpfner et al. 2000, S.1)?
ADHS polarisiert und ist eine ungemein komplexe Thematik. Selten wird ein Thema
seit Jahrzehnten so kontrovers diskutiert. In diesem Teil wird darauf Bezug genommen
und es werden viele Bereiche aufgearbeitet, in denen es in den letzten Jahren immer
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wieder Diskussionen und Veränderungen gegeben hat. Weiteres werden kurz die
Zukunftstendenzen angeschnitten.
2.1 Theoretischer Hintergrund zur Thematik ADHS
ADHS steht als Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Was
genau ist das? Es handelt sich dabei um eine Erkrankung, vor allem bei Kindern und
Jugendlichen. Die verringerte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ist als Kern der Krankheit
zu sehen. Die Diagnosestellung basiert weder durch Blutbilder, noch durch Röntgenbilder oder andere bildgebende Diagnosemöglichkeiten. Sie wird ausschließlich durch
Befragung des Betroffenen diagnostiziert. Die jeweilige Einordnung der Antworten
bzw. des Gesprächs, beruhen immer auf den subjektiven Einschätzungen des Arztes.
Wobei die Medizin heute stark zu medikamentöser Behandlung tendiert und damit die
Kinder einfach ruhig stellt. Psychologen, bevorzugen diese Art der Therapie nicht. Oft
ist es auch so, dass die Krankheit ADHS nur nach sogenannter Ausschlussdiagnostik
festgestellt wird, nachdem andere psychische Erkrankungen ausgeschlossen wurden.
Nach dem Motto, wenn nichts anderes mehr übrig bleibt, dann hat der Klient eben
ADHS. Viele Kritiker meinen, dass die Diagnose ADHS als Beschreibung des Krankheitsbildes untauglich ist und vieles mehr dazu gehört. Die Aufmerksamkeit bei ADHS
Kindern ist oft nur auf andere Dinge gerichtet, Dinge die nicht unbedingt von unserer
Gesellschaft erwünscht sind (Baer & Barnowski-Geiser 2009, S.154).
Die gesellschaftliche Entwicklung ist auch stark mitverantwortlich dafür, wie ADHS
heute in unserer Umwelt gesehen und beurteilt wird. Auf diesen gesellschaftlichen
Hintergrund wird etwas später genauer eingegangen. Es gibt zu viele verschiedene
Meinungen über ADHS. Niemand weiß genau darüber Bescheid. Menschen haben
allgemein zwei Standpunkte, der eine ist, dass ADHS erfunden ist und der andere,
dass ADHS eine ernsthafte Erkrankung ist, die es schon sehr lange gibt. Gegenwärtige Aussagen wie, ADHS sei ein rein pädagogisches Problem, welches nur auf dieser
Ebene zu lösen ist, stehen im Raum. Wobei die andere Seite wiederum meint, es sei
im Wesentlichen ein medizinisches Problem, welches höchstens von der pädagogischen Ebene beeinflusst werden kann. Was stimmt wirklich? Ärzte, Pflege, Lehrer,
Erzieher, Sprachtherapeuten, Sozialpädagogen, Psychologen, all diese Berufsgruppen betreuen irgendwann in irgendeiner Weise Kinder mit ADHS. Heute sehen sich
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auch viele Elternteile bei ihren Kindern mit dieser Thematik konfrontiert (Dietrich 2011,
S.1).
In diesem Kapitel gehe ich sehr stark auf Dr. med. Karsten Dietrich, den deutschen
Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde ein und erläutere seine Erkenntnisse. Dietrich befasste sich in den letzten Jahren sehr stark mit der Thematik ADHS bei Kindern
und Jugendlichen und veröffentlichte seine Erkenntnisse und Meinungen 2011 in seinem Buch - Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, ADHS – die Einsamkeit in unserer Mitte
(Dietrich 2011, S.1).
Auch die WHO (World Health Organization) hat keinen einheitlichen Standpunkt zum
Thema ADHS. Diagnostiziert wird es nach wie vor als Syndrom, durch spezielle Auflistung spezifischer Symptome. Die aktuelle Definition der ICN (International Classification of Diseases), worauf ich später noch genauer eingehe, splittet ADHS mittels drei
Kernkriterien (Dietrich 2011, S.1). Die Meinungen gehen jedoch auseinander, wenn es
darum geht, ob alle Probleme auf der Ursache der verminderten Aufmerksamkeit
beruhen. Es gibt viele Fachleute, die der Auffassung sind, Medikamente von Kindern
fernzuhalten, im speziellen die Behandlung mit Ritalin. Es gäbe nichts Unverantwortlicheres, als Kinder mit Ritalin vollzupumpen. Dadurch werden die Betroffenen ruhig
gestellt und die erhöhte Aktivität eingeschränkt. Die eigentliche Ursache der Erkrankung wird nicht berücksichtigt. Es gibt aber auch Experten, die diese Meinung nicht
teilen. Sie sind der Auffassung, dass es ab einem gewissen Grad der Erkrankung
sinnvoll ist, die Erkrankung medikamentös als Unterstützung zu behandeln. Wie soll
nun die optimale Behandlung aussehen? Unumstritten ist, dass das Wohl der Kinder
an erster Stelle steht. Die Einschätzungen zum Problem und den Lösungsmöglichkeiten sind extrem kontrovers, das Bemühen um die Kinder ist hingegen in beiden Fällen
gegeben und steht an erster Stelle (Dietrich 2011, S.1 f.).
Wenn man der Wissenschaft glauben darf, so sind etwas 5-12 Prozent der Kinder und
Jugendlichen davon betroffen. Eine vom Robert-Koch-Institut durchgeführte Erhebung
ergab für Deutschland eine Prävalenz von rund 7 Prozent. Das sind zum Beispiel für
ein Land wie Deutschland 1,1 Millionen erkrankte Kinder und Jugendliche. Auch was
die Anzahl der Medikamentenverordnung angeht, hat sich in den letzten Jahren einigen verändert. So wurden im Jahr 2007, 39 Millionen Tagesdosen an Stimulanzien
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verordnet. Zu diesen Stimulanzien zählt unter anderem auch Ritalin. Da es immer
wieder Behandlungspausen gibt, kann von ungefähr 260 Behandlungstagen pro Jahr
ausgegangen werden. Somit spricht man von etwa 150.000 Patienten. Diese Zahl hat
in den vergangenen Jahren sehr stark zugenommen. Auch die Menge an Stimulanzien, die verabreicht werden, ist stark gestiegen. Wie kann es zu solchen Entwicklungen kommen? Wer hat die „Definitionsmacht“ zu sagen, das ist krank und das ist gesund (Dietrich 2011, S.2 f.)?
In Österreich hat sich diese Situation auch zum Negativen entwickelt. Im Jahr 2000
waren es ca. 15.000 verschriebene Packungen. Im Jahr 2008 sprach man bereits von
rund 40.000 Packungen Ritalin (Giddens et al. 2009, S.297). Hier gibt es Kritik, weil
die Diagnosestellung nicht immer mit hinreichender Sicherheit gestellt wird und die
Verordnung in dieser Hinsicht sehr freigiebig erfolgt. Pharmamarketing ist ein Grund
dafür. Die Wissenschaft meint auch, dass die Anzahl der Erkrankten nicht derart
schnell angestiegen sein kann, obwohl heute die Diagnostik um einiges besser geworden ist und auch vielerorts schon eine gewisse Vertrautheit mit dem Krankheitsbild
aufgebaut wurde. Die genaue Betrachtung der Zahlen ergibt eine medikamentöse
Behandlung der Patienten mit positiver Diagnose von rund 15 Prozent. Dabei muss
jedoch unbedingt betrachtet werden, dass eine große Anzahl an Erkrankten noch nicht
diagnostiziert wurde. Bei vielen behandelnden Ärzten liegt die Zahl der Patienten, die
medikamentös behandelt werden bei über 50 Prozent. Das bedeutet für die Praxis,
dass rund 15 Prozent der Betroffenen medikamentös und 15 Prozent nicht medikamentös behandelt werden. Bei fünf Prozent geht man davon aus, dass sie noch gar
keine Behandlung bekommen. Gesamt gesehen ist es also so, dass 35 Prozent in
Betreuung bzw. bald in Betreuung sind und rund zwei Drittel der Betroffenen, aktuell
noch nicht diagnostiziert wurden. Über Österreich spezifisch, habe ich keine relevanten und vergleichbaren Daten gefunden, die Situation ist aber durchaus mit Deutschland vergleichbar. Die Behandlungskosten sind jetzt schon sehr stark angestiegen und
werden auch in Zukunft weiter explodieren, soviel kann heute schon vorausgesagt
werden. Die Situation ist heute schon komplex und wird in Zukunft noch viel schwieriger zu betrachten sein. Das große Problem in diesem Aspekt ist, dass immer nur die
Medizin oder das Gesundheitssystem evaluiert werden, die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung wird dabei meist außer Acht gelassen. Wie viel an Kosten es für ein Land
bedeuten kann, wird also meist nicht berücksichtigt, dieser Aspekt ist sicherlich schwer
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abzuwägen, jedoch ist es von großer Bedeutung ihn zu beachten (Dietrich 2011, S.2
f.).
Warum ändert sich die Situation mit ADHS seit Jahrzehnten nicht? Es ist leider so,
dass wir heute noch weit von einem gesellschaftlichen und fachlichen Konsens der
Erkrankung ADHS entfernt sind. Dieses Gesamtgeschehen kann als Kreislauf betrachtet werden. Es gibt bis heute keine Einigkeit zur Thematik und es wird sie wahrscheinlich auch in Zukunft nicht geben. Verantwortlich dafür ist die gesellschaftliche Entwicklung. Macht und Beeinflussung stehen im Vordergrund. Expertenmeinungen widersprechen sich ständig und es gibt nur sehr wenige signifikante Ergebnisse und wissenschaftlich überprüftes Wissen über ADHS. In wirtschaftlich schlechten Zeiten und
knapp angemessenem Gesundheitssystem werden die kontinuierlich ansteigenden
Medikamentenkosten bei ADHS immer mehr zum Anreiz, Einsparungen zu treffen.
Daher ist auch von politischer Seite keine Motivation zu erkennen, die Krankheit wirklich ernst zu nehmen und es zu schaffen, steigende wirtschaftliche Ausgaben zu vermindern (Dietrich 2011, S.3).
Anders gesehen gibt es keine einheitliche Einschätzung zum Thema. Sowohl Ärzte,
Therapeuten, Patienten und Eltern von betroffenen Kindern, haben unterschiedliche
Ansichten, was die Definition vom Krankheitsbild betrifft und den Auswirkungen auf
das Leben der Betroffenen und ihren Familien. Wenn betroffene Kinder zum Beispiel
gefragt werden, was sie genau haben, so bekommt man oft Antworten wie: „Ich bin zu
wenig aufmerksam und störe immer die anderen Kinder.“ Dieses Beispiel und viele
mehr, zeigen auf, wie schwach der Faktor Verständnis und Wissen im Zusammenhang mit ADHS heute noch ist. Es gibt kaum Wissen in der Bevölkerung über etwaige
Folgen und Auswirkungen einer ADHS Erkrankung. Wissenschaftliche Studien über
nicht medikamentös behandelte Klienten sind im Umlauf. Diese ergaben einen nur
sehr schlechten bis keinen Ausbildungsstatus, Scheidung, Inanspruchnahme von
Sozialhilfe, Kriminalität, Sucht, Angststörung, Depression und eine ausgeprägte Lebensunzufriedenheit bei Betroffenen (Dietrich 2011, S.3 f.).
Auch dieses Beispiel zeigt auf, wie stark gegeneinander gearbeitet wird. Die Einen
sagen, es muss medikamentös behandelt werden, nämlich die Ärzte. Wobei die Anderen, die Psychologen sagen, genau diese Art der Behandlung ist für Kinder schlecht
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und kontraproduktiv. Es reicht, Veränderungen im Umfeld einzuleiten. Darauf wird in
einer meiner nächsten Kapitel genauer Bezug genommen. In diesem Abschnitt wurde
versucht, einen groben Gesamtüberblick zur sehr komplexen Situation zu geben und
auf die vielen offenen Fragestellungen und Themen aufmerksam zu machen.
Wie schon beschrieben, besteht bei diesem Krankheitsbild eine große wissenschaftliche und gesellschaftliche Kontroverse. Ein Grund dafür ist mit Sicherheit, dass es bis
heute kein allgemeinverständliches Modell gibt und keine umfassende Theorie vorhanden ist (Dietrich 2011, S.4).
2.2 Biomedizinisches Modell von Gesundheit
In diesem Abschnitt wird die vorhin angesprochene gesellschaftliche Perspektive miteinbezogen. Durch die Erläuterung des Modells, wird ein Zusammenhang zur Entstehung und Entwicklung der Erkrankung ADHS hergestellt und kritisch betrachtet.
Wann ist der Mensch krank und wann ist er gesund? Diese Frage kann auch sehr gut
auf die Diagnosestellung von ADHS umgelegt werden. Sie ist nur schwer zu beantworten. Auch bei der Diagnostizierung von ADHS gibt es bis heute keine Trennlinie, die
zeigt, ab welchem Zeitpunkt das Verhalten eines Kindes als krank einzustufen ist.
<http://www.adhs-schweiz.ch/adhs_krankheit3.htm>
Die Phänomene „Gesundheit“ und „Krankheit“ sind heute sozial aber auch stark kulturell bestimmt. Die verschiedenen Kulturen haben ihre eigenen Ansichten darüber, was
als gesund zu beurteilen ist und was als krank betrachtet wird. Heute spielen diese
Auffassungen aber nur noch eine geringe Rolle. Die moderne Medizin hat diese Aufgabe übernommen. Sie ist auch verantwortlich für die Entwicklungen in den westlichen
Gesellschaften. Früher war die Institution Familie für Krankheit verantwortlich, heutzutage kann nicht mehr behauptet werden, dass die Familie für Gesundheit und Krankheit verantwortlich ist (Giddens et al. 2009, S.290 ff.).
„Seit ca. 200 Jahren allerdings drückt sich die vorherrschende westliche Vorstellung von Medizin im biomedizinischen Gesundheitsmodell aus“. Dieses
Verständnis von Gesundheit und Krankheit entwickelt sich mit der Ausformung
moderner Gesellschaften. (Giddens et al. 2009, S.290 ff.)
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Der Staat übernimmt heute diese Aufgabe für uns Menschen. Die Entwicklung von
wissenschaftlich hinterlegten Merkmalen, von Heilung und Diagnose war hauptverantwortlich für die Entstehung moderner Gesundheitssysteme. Krankheit wurde nun
anhand von objektiven „Zeichen“ am Körper definiert (Giddens et al. 2009, S.290 ff.).
Das ´biomedizinische Modell` besteht aus drei Hauptaussagen. Als erstes wird Krankheit als Störung des Körpers wahrgenommen. Für diese Störung ist ein biologischer
Auslöser verantwortlich. Zweitens, geht man davon aus, dass es möglich ist, Körper
und Seele voneinander zu trennen. Der Patient wird als passives Wesen betrachtet.
Und Drittens werden in diesem Modell „medizinische Spezialisten“ als einzige Fähige
angesehen, um Krankheit zu behandeln. Das Modell musste sich in letzter Zeit immer
mehr Kritik unterziehen. Soziologen kritisieren vor allem, dass Ärzte eine enorme
Macht ausüben, da nur sie bestimmen, was als krank zu sehen ist und was nicht.
Somit wird auch die Vermutung laut, dass immer mehr Bereiche des menschlichen
Lebens unter medizinische Kontrolle gebracht werden. So gibt es exzessive Kritik
daran, dass der natürliche Prozess der Schwangerschaft und der Geburt „medikalisiert“ wurden. Die heute gelebte Schwangerschaft wird wie eine Art „Krankheit“ gesehen, welche überschwemmt ist von Gefahren und Risiken. Sollte es normal nicht ein
natürliches Phänomen sein, ein Kind zu bekommen? Ganz gleiche Bedenken gibt es
bei der Medikalisierung normaler Zustände bei Hyperaktivität von Kindern. Zahlen
über den drastischen Anstieg der Verschreibung von Ritalin zeigen diese Entwicklung
sehr gut auf. Im Jahr 2000 wurden ca. 15.000 Packungen an Kinder zwischen 10 und
15 Jahren in Österreich verschrieben. Acht Jahre danach, waren es über 40.000 Packungen. Wie kommt es dazu? In Amerika ist die Problematik noch drastischer. Etwa
drei Prozent der Kinder zwischen fünf und fünfzehn Jahren erhalten Ritalin. Wissenschaftler kritisieren auch, dass Grundannahmen des biomedizinischen Modells, oft für
politische Machenschaften missbraucht werden (Giddens et al. 2009, S.292 ff.).
Ist die „Volkskrankheit“ ADHS durch die komplexe gesellschaftliche Weiterentwicklung
entstanden und heute soweit manipuliert, dass dieses Image in den Köpfen unsere
Mitmenschen festsitzt? Diese beiden Beispiele, egal ob Schwangerschaft oder ADHS,
sie zeigen sehr gut auf, wie sehr sich Gegebenheiten im Laufe der Zeit verändern
können und wie sehr die Menschheit von verschiedensten Faktoren beeinflusst wird.
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Darum bin ich in diesem Kapitel, auf den Aspekt der soziologischen Sichtweise eingegangen (Giddens et al. 2009, S.292ff.).
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3. ADHS – Wie erkenne ich das?
Im folgenden Teil wird genauer illustriert, wie hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten
in der Praxis aussehen können. Des Weiteren werden die speziellen Kriterien zur
Diagnosestellung genau aufgezeigt und beschrieben. Der sehr schwierige und umstrittene Prozess der Diagnosestellung wird behandelt.
3.1 Hyperkinetische Verhaltensauffälligkeiten – Verhaltensbeschreibung
Wie erkenne ich ein Kind mit hyperkinetischen Verhaltensauffälligkeiten? Diese Frage
haben sich schon viele Menschen in gewissen Situationen gestellt. Die berechtigte
Frage ist nur sehr schwer zu beantworten. Es gibt immer wieder Kinder, die lebhafter
und aufgeweckter sind als andere, sind diese deswegen als krank zu charakterisieren? Irgendwann ist jedes Kind einmal unruhig und kann sich nicht gut konzentrieren
bzw. lässt sich leicht ablenken. Es ist auch logisch, dass es jüngeren Kindern schwerer fällt, sich ruhig zu verhalten und sich auf eine Sache zu konzentrieren. Mit dem
Alter verbessern sich aber die Konzentrationsfähigkeit und die Ausdauer von Kindern
(Döpfner et al. 2000, S.11). ADHS hat also in den verschiedenen Altersgruppen ein
unterschiedliches Erscheinungsbild. Hyperkinetische Auffälligkeiten im Säuglings- und
Kleinkindalter zeigen sich mittels einem überdurchschnittlich hohem Aktivitätsniveau.
Es kommt sehr oft zu negativen Interaktionen zwischen den Bezugspersonen und dem
Kleinkind, welche auch bis in die Unkontrollierbarkeit ausarten können. Wenn das Kind
in den Kindergarten kommt oder sich im Vorschulalter befindet, hat es mit extremer
motorischer Unruhe zu kämpfen. Es leidet auch unter nur geringer Spielausdauer und
Spielintensität (Paletta 2010, S.8 f.). Kinder können nicht dauerhaft eine Aufgabe bearbeiten, sie sind sehr leicht ablenkbar und brechen die ihnen gegebene Aufgabe
meist vorzeitig ab. Bei Tätigkeiten, die geistige Anstrengung benötigen, ist dieses
Phänomen sehr gut zu beobachten. Aufgaben, die fremdbestimmt sind, d.h. jene, die
Lehrer, Sporttrainer etc. stellen, werden gerne ignoriert und nicht bewältigt. Bei Kindern im Kindergartenalter lässt sich diese Schwäche auch bei selbstbestimmten Tätigkeiten, wie dem Spielen mit Gegenständen, gut beobachten. Es ist oft ein Hin- und
Herspringen zu erkennen. Kinder beschäftigen sich interessiert mit einem Spiel, bre16
chen dieses Geschehen abrupt ab und gehen zur nächsten Aktivität über. Bei Kindern
mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwächen ist dies auch bei selbstgewählten Spielen der Fall. Normalerweise kommt es nur dann zu solchen Reaktionen, wenn
Spiele fremdbestimmt sind und für Kinder zum Beispiel nicht als angenehm empfunden werden (Döpfner et al. 2000, S.11 f.). Auch oppositionelles Verhalten kann sehr
häufig beobachtet werden. Die Erziehung gestaltet sich als Herausforderung und am
Kind können auch Entwicklungsdefizite entstehen. Wenn das Schulalter erreicht ist,
fällt das Kind mit starker Unruhe und Ablenkbarkeit im Unterricht auf. Es hat Lernschwächen, und es kommt zu Klassenwiederholungen (Paletta 2010, S.8 f.). Kinder
mit Auffälligkeiten handeln oft sehr schnell und unüberlegt, sie haben ein äußerst
impulsives Verhalten. Folgen ihres Verhaltens werden in keiner Weise bedacht, stattdessen leben sie ihre Ideen und setzen sie um. Dies ist ein großes Problem im Alltag,
denn sie können nicht akzeptieren, Wünsche aufzuschieben und abzuwarten, bis sie
an der Reihe sind. Diese Kinder benehmen sich so, wie es bei ganz kleinen Kindern
eigentlich üblich ist (Döpfner et al. 2000, S.11 f.).
Es herrscht oft eine Art Ablehnung durch Gleichaltrige. Die Kinder sind unsicher, was
ihre Leistung betrifft und haben auch häufig Selbstwertprobleme. Dies lässt sich vor
allem im Kindergarten- und Grundschulalter sehr gut beobachten. Typisch für diese
Kinder sind das ständige Zappeln und die Ruhelosigkeit. In Situationen, die relative
Ruhe verlangen, ist dieses Phänomen besonders auffällig. Eine solche Situation ist
zum Beispiel der Unterricht. Auch nach Ermahnungen durch Lehrer oder Eltern fällt
das Kind wieder in das alte Klischee zurück (Döpfner et al. 2000, S.12 f.). ADHS auffällige Kinder lassen sich auch durch Misserfolge schnell frustrieren. Sie haben
Schwächen mit Ihrer Fein- und Grobmotorik, wenn man eine Gegenüberstellung mit
Gleichaltrigen macht. Es fällt ihnen schwer, Freunde zu finden und dauerhafte soziale
Kontakte zu knüpfen. Betroffene Kinder können auch oft ihr persönliches Potential
nicht nutzen und bleiben dann weit hinter ihrer eigentlich möglichen Leistungsfähigkeit
(Paal 2007, S.22). Im Jugendalter verändert sich das Bild ein wenig. Die motorische
Unruhe nimmt eher ab und es kommt zu einem aggressiven-dissozialen Verhalten der
Jugendlichen. Das kann Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch und andere Missbräuche bedeuten. Das Bildungsniveau ist meist sehr gering und es kommt zu emotionalen Auffälligkeiten (Paletta 2010, S.8 f.). Fachleute vertreten auch die Meinung,
dass erst ab dem Alter von drei Jahren, zwischen normalem Verhalten und hyperkine17
tischem Verhalten differenziert und abgegrenzt werden darf. Es gibt jedoch immer
wieder Säuglinge, die starke Auffälligkeiten zeigen, wie gerade beschrieben (Paal
2007, S.22). Kinder und Jugendliche mit hyperkinetischen Verhaltensauffälligkeiten
differenzieren sich von jenen mit altersbedingten und ganz normalen Erscheinungen in
Ausmaß und Stärke der Probleme (Döpfner et al. 2000, S.11 f.).
Der Umgang mit diesen Kindern ist nicht einfach und kann als große Herausforderung
gesehen werden. Denn diese Auffälligkeiten kommen eben in den verschiedensten
Lebensbereichen des Kindes vor, sei es Kindergarten, Schule, Sportverein, Freizeitaktivitäten, soziales Umfeld und nicht ausschließlich in der Familie. Wissenschaftlich
belegt ist die Beobachtung, dass dieses beschriebene Verhaltensmuster nur selten
auftritt, wenn das Kind sich in einer neuen Umgebung befindet, oder wenn das Kind
sich ausschließlich mit einer Person beschäftigt (Döpfner et al. 2000, S.13).
Döpfner, Schürmann und Lehmkuhl haben eine Untersuchung zu dieser Thematik
durchgeführt und Eltern von Kindern mit ADHS zwischen sechs und zehn Jahren gefragt, welche familiären Situationen als besonders belastend empfunden werden.
Dieselben Fragen wurden Eltern mit unauffälligen Kindern im gleichen Alter gestellt.
Die Auswahl erfolgte per Zufallsprinzip. Wie in der nachfolgenden Grafik ersichtlich,
beschreiben über 50 Prozent der Eltern mit ADHS diagnostizierten Kindern die Erledigung der Hausaufgaben als größte Herausforderung, gefolgt von Telefonaten der
Mutter und Besuch, der ins Haus kommt. In der Kontrollgruppe werden bei weniger als
10 Prozent diese Situationen als belastend beschrieben. Wie stark letztendlich die
Probleme und Anzeichen ausgeprägt sind, ist individuell und sehr unterschiedlich.
Deswegen ist es so schwierig, die Diagnose ADHS bei Kindern zu stellen (Döpfner et
al. 2000, S.13 ff.).
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Abbildung 1: Häufigkeit problematischer Situationen in Familien. Vergleichsgruppe.
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Döpfner et al. 2000, S.14)
19
3.2 Diagnose ADHS
Alle Kriterien und Verhaltensbeschreibungen sind in ihrer Kombination, ihrem immer
wiederkehrenden Auftreten und ihrer Ausprägung signifikant für ADHS. Es gibt aber
individuelle Leitbilder mit seinen Ausprägungen, für jeden Betroffenen. Ein Symptom
ist nicht beweisend und es müssen keine Symptome unabdingbar vorhanden sein, um
die Diagnose zu stellen (Dietrich 2011, S.117). Nur ein Fachmann kann die Diagnose
ADHS bei auffälligen Kindern stellen. In den meisten Fällen sind Kinderärzte die ersten Anlaufstellen von Eltern mit auffälligen Kindern. Kinderärzte verweisen die Betroffenen dann zu den entsprechenden Spezialisten wie, Kinder- und Jugendpsychiater
oder fachlich ausgebildete Kinderpsychologen weiter (Döpfner et al. 2000, S.15).
Die Diagnosestellung und richtige Behandlung von ADHS ist so differenziert und komplex, dass den Ärzten und Fachleuten entsprechende Leitlinien zur Verfügung stehen,
um den Prozess zu vereinfachen. Diese Leitlinien werden immer wieder anhand des
aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes adaptiert und bilden eine einheitliche
Orientierungshilfe. Kriterien sind von großer Bedeutung, um Kinder von einer zu Unrecht gestellten Diagnose zu schützen. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass
Kinder falsch diagnostiziert werden und den Stempel ADHS aufgedrückt bekommen.
Für die Diagnosekriterien gibt es das sogenannte ICD-10. Dabei handelt es sich um
ein internationales Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Weiteres gibt es das DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
Modell der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, welches als sehr ähnlich,
wie jenes der WHO zu betrachten ist (Paal 2007, S.28 f.).
20
Im folgenden Abschnitt wird genauer auf diese Kriterien eingegangen und somit versucht, ein besseres Verständnis dafür zu erzeugen.
Forschungskriterien des ICD-10 zur Eingrenzung des Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätssyndroms
G1. Unaufmerksamkeit
Mindestens sechs der Folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit bestanden
mindestens sechs Monate lang in einem mit Entwicklungszustand des Kindes nicht
zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:
1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Flüchtigkeitsfehler
bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten oder Aktivitäten,
2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgabe und beim Spielen
aufrechtzuerhalten,
3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird,
4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder
Pflichten nicht erfüllen,
5. sind häufig beeinträchtigt, wenn sie Aufgaben und Aktivitäten organisieren sollen,
6. vermeiden ungeliebte Aufgaben wie Hausaufgaben, die geistiges Durchhaltevermögen erfordern
7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten
wichtig sind, z.B. Unterrichtsmaterialien, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und
Werkzeuge,
8. werden leicht von externen Stimuli abgelenkt,
9. sind im Verlauf von alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich.
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Paal 2007, S.30 f.)
21
G2. Überaktivität
Mindestens drei der folgenden Symptome von Überaktivität bestanden mindestens
sechs Monate lang in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:
1. zappelten häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf ihrem Platz,
2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen
Sitzenbleiben erwartet wird,
3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in unpassenden Situationen,
4. sie sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten, sich ruhig
mit einer Freizeitbeschäftigung zu befassen,
5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die durch die
Soziale Umgebung oder Vorschriften nicht durchgreifend zu beeinflussen sind.
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Paal 2007, S.31)
G3. Impulsivität
Mindestens einer der folgenden Symptome von Impulsivität bestanden mindestens
sechs Monate lang in einer mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:
1. platzen häufig mit Antworten heraus, bevor die Fragen zu Ende gestellt sind,
2. können häufig weder in einer Reihe noch beim Spielen oder in Gruppensituationen warten, bis sie an die Reihe kommen,
3. unterbrechen und stören andere häufig (mischen sich z.B. ins Gespräch oder
Spiel anderer ein),
4. reden häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Paal 2007, S.30 f.)
22
G 4. Beginn der Störung
Die Symptome beginnen vor dem siebten Lebensjahr.
G 5. Symptomausprägung
Die Kriterien sollten in mehr als einer Situation erfüllt sein. Die Kombination der
Symptome von Unaufmerksamkeit sollte sowohl zu Hause als auch in der Schule
bestehen, oder in der Schule und an einem anderen Ort, wo die Kinder beobachtet
werden können, z.B. in der Klinik. Der Nachweis situationsübergreifender Symptome
erfordert normalerweise Informationen aus mehr als einer Quelle. Elternberichte
über das Verhalten des Kindes im Klassenzimmer sind nur Informationen aus zweiter Hand und aus diesem Grunde unzureichend.
G 6. Störungsfolgen
Die Symptome von G1 bis G3 verursachen einen erheblichen Leidensdruck oder
beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit.
G 7. Ausschluss
Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, eine
manische Episode, eine depressive Episode oder eine Angststörung.
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Paal 2007, S.30 f.)
Diese Kriterien geben einen guten Überblick zur Thematik. Aber sie sind nicht ausreichend, um ADHS sicher diagnostizieren zu können. Es muss die Sicherheit vorhanden
sein, dass keine andere Erkrankung für die negativen Symptome verantwortlich ist.
Um dies festzustellen, muss das Kind genau untersucht werden. Komponenten wie
Gewicht, Körpergröße oder Blutdruck werden gemessen und genaue Laboruntersuchungen werden durchgeführt. Des Weiteren werden die Hirnströme mittels EEG
(Elektroenzephalogramm) gemessen, um zum Beispiel Epilepsien ausschließen zu
können. Seh- und Hörvermögen müssen überprüft werden, denn diese Faktoren können das Verhalten eines Kindes stark beeinflussen. Eltern müssen solche Einschrän23
kungen nicht bemerken, denn das Kind empfindet dieses Handicap als völlig normal,
weil es nie etwas anderes gewohnt war. Es gibt aber noch viele weitere Ursachen für
auffälliges Verhalten, ohne dass eine ADHS Erkrankung dahinter steckt. So kann es
sein, dass Lebenssituationen, wie die Scheidung der Eltern oder Todesfälle in der
Familie ausschlaggebend dafür sein können (Paal 2007, S.33 ff.).
Die Diagnose ADHS kann nicht immer so leicht gestellt werden, wie es zum Beispiel
bei einer völlig normalen Grippe der Fall ist. Es ist schwierig eine fachlich korrekte
Diagnose zu stellen. Deswegen obliegt diese Aufgabe auch Fachleuten. Es darf bei
Kindern aber keine entwicklungsbedingte Hyperaktivität mit einer ADHS Diagnose
verwechselt werden. Krankheit und Entwicklungsphase müssen klar voneinander
getrennt werden. Wichtig zu diesem Punkt ist auch die veränderte Akzeptanz von
kindlichem Verhalten in unserer Gesellschaft. Heute empfinden Menschen kindlichen
Mitteilungs- oder Bewegungsdrang schnell als störend und stigmatisieren dieses Verhalten mit dem Krankheitsbild. Auf die Veränderung in unserer Gesellschaft möchte
ich in einer meiner nächsten Kapitel genauer eingehen und den soziologischen Aspekt
zu dieser Thematik erarbeiten. Es darf jedoch nicht sein, dass es zu Fehldiagnosen
kommt und Kinder medikamentös behandelt werden und dadurch schlimmstenfalls
bleibende Schäden entstehen. In der Praxis kommen solche Fälle leider vor (Paal
2007, S.35 ff.).
24
4. Modelle zu Ursachen von ADHS
ADHS hat ein äußerst komplexes Krankheitsbild. Die Wissenschaft konnte schon
einige Risikofaktoren, Ursachen und Auslöser der Krankheit erforschen, jedoch hat sie
es bis heute nicht geschafft, diese Erkrankung genauestens zu durchleuchten. Mit
großer Wahrscheinlichkeit müssen viele unterschiedliche Faktoren zusammentreffen,
um einen Ausbruch der Erkrankung zu bewirken (Paal 2007, S.43). Bei ADHS wird
von einem multifaktoriellen Geschehen ausgegangen (Döpfner et al. 2000, S.27).
In diesem Kapitel wird auf bisherige Ursachen zur Thematik ADHS bei Kindern genauer eingegangen und aktuelle Forschungsergebnisse verglichen. Es wird ein allgemeines Resümee gezogen und der Istzustand geschildert.
4.1 Funktionsstörungen des Gehirns
Bei Funktionsstörungen im Gehirn von betroffenen Kindern wird heute versucht, diese
mittels EEG nachzuweisen. Die Veränderungen sind aber so kompliziert, dass sie
nicht einmal mittels EEG genau nachweisbar sind. Untersuchungen haben ergeben,
dass Neurotransmitter (darunter versteht man sogenannte Botenstoffe, die eine Verbindung zwischen den verschiedenen Hirnzellen herstellen) von typischen Veränderungen geprägt sind. Die Ursachen für diese Veränderungen bei den Botenstoffen,
konnten allerdings bis heute nicht wissenschaftlich belegt werden. Es handelt sich
dabei um Vermutungen. Neurotransmitter könnten divergent sein durch etwaige Komplikationen in der Schwangerschaft, während der Geburt oder bei Neugeborenen. Vor
Jahrzehnten hatte man ADHS immer wieder in Zusammenhang mit Komplikationen in
der Schwangerschaft, Geburt, Neugeborenen gebracht. Diese Störungen wurden als
Minimale Cerebrale Dysfunktionen (MCD) deklariert. Heute weiß die Forschung, dass
der Zusammenhang nicht so groß ist, wie anfangs vermutet. Bei den meisten Kindern
mit ADHS konnten fast keine Hinweise auf sogenannte Störungen gefunden werden.
Einem höheren Risiko sind eher Kinder mit nur geringem Geburtsgewicht ausgesetzt
und Kinder, deren Mutter während der Schwangerschaft kontinuierlich Alkoholmissbrauch praktiziert hat (Döpfner et al. 2000, S.28 f.).
25
Des Weiteren wurde durch Studien festgestellt, dass erbliche Faktoren bei der Entwicklung von ADHS auch einen bedeutenden Einfluss haben. Es wird behauptet, dass
der erbliche Einfluss sogar der gravierendste ist. Wissenschaftler haben durch die
ungleiche Häufigkeit, von ADHS bei Mädchen und Buben und das oftmalige Vorkommen ganz gleicher Störungen bei den Eltern von Kindern mit ADHS, schon lange vermutet, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Bei Studien mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen ist die Situation noch eindeutiger. Bei eineiigen Zwillingen ist die Erbinformation identisch. Zweieiige Zwillinge sind von der Erbfolge wie Geschwister zu
betrachten und besitzen deswegen nur die Hälfte der Erbinformation. Durch Studien
konnte nun gezeigt werden, dass bei eineiigen Zwillingen das Risiko an ADHS zu
erkranken, um einiges höher ist als bei zweieiigen Zwillingen. Durch molekulargenetische Untersuchungen wird nun versucht Erbinformationen zu identifizieren, die dafür
verantwortlich sind. Dieser Prozess gestaltet sich jedoch als äußerst schwierig und
langfristig. Bisher konnten nur vereinzelte Stellen im Erbgut gefunden werden, die
daran beteiligt sind (Döpfner et al. 2000, S.29 f.).
Eine weitere Vermutung ist, dass Bestandteile unserer Nahrung für eine Entstehung
von Auffälligkeiten verantwortlich sein könnten. Davon betroffen sind Zucker und
Phosphate, sowie Nahrungsmittelzusätze wie Farbstoffe. Außerdem wird von Nahrungsmitteln gesprochen, welche für Allergien verantwortlich sind. Diese Vermutungen
konnten aktuell aber noch nicht ausreichend durch Studien belegt werden und sind
daher nur gering bei der Entwicklung von ADHS beteiligt. Ein Zusammenhang mit
Ernährung und ADHS ist also deutlich in Frage zu stellen (Döpfner et al. 2000, S.30).
Auch Themen wie Umweltverschmutzung und die Vorliebe für Fastfood werden in der
Forschung breit diskutiert und als beeinflussende Faktoren vermutet (Paal 2007,
S.46).
4.2 Psychosoziale Faktoren
Durch Störungen in diesem Bereich kann das Kind als Folge eine Entwicklung von
ADHS nicht mehr gut kompensieren (Paal 2007, S.46). Als primäre Ursache wurden
psychosoziale Faktoren allerdings bisher noch nicht ausreichend untersucht (Sacher
2007, S.11). Ungünstige Familienverhältnisse und Umgebungsbedingungen sind die
bedeutendsten psychosozialen Faktoren die mit der Entwicklung von ADHS in Zu26
sammenhang stehen (Rieser 2007, S.3). Dazu gehören unvollständige Familien,
überbelegte Wohnungen, eine psychische Störung der Eltern, aber vor allem der Mutter (Scahill et al. 1999, in Sacher 2007, S.11). Es muss berücksichtigt werden, dass
erschwerte familiäre Bedingungen sich häufiger in dissozialem und aggressivem Verhalten äußern und nicht immer zu einer hyperkinetischen Störung ausarten. In einigen
durchgeführten Studien konnte ein Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der Entstehung von ADHS gefunden werden. Psychosoziale Faktoren sind ausschlaggebend für den Schweregrad der Erkrankung (Sacher 2007, S.11).
Ein weiterer Faktor ist das inkonsequente Erziehungsverhalten, welches sich auf eine
Entstehung von ADHS auswirken kann. Eine Korrelation zwischen negativen ElternKind-Interaktionen im Vorschulalter und der Stabilität von hyperkinetischen Symptomen konnte mittels Längsschnittstudien bewiesen werden. Durch Forschung konnte
auch gezeigt werden, dass gute psychosoziale Bedingungen biologische Risikofaktoren, wie ein geringes Geburtsgewicht, durchaus kompensieren können (Schneider
2009, S.436).
Eine weitere Entwicklung, welche auch zu den psychosozialen Faktoren zählt, ist die
Mediatisierung. Der Fernsehkonsum bei Kindern hat in den vergangenen Jahrzehnten
konstant zugenommen. Kinder können heute ohne Fernseher oft nicht mehr einschlafen und brauchen das Medium, um in der Früh wach zu werden (Bergmann 2008,
S.29). Die heutige Gesellschaft ist abhängig von sozialen Netzwerken und verschiedensten Medien. Diese wirken sich zunehmend negativ auf Kinder aus und können für
eine Entstehung von hyperkinetischen Symptomen verantwortlich sein. Auch der Bewegungsmangel, dem unsere Jugend und auch schon Kleinkinder ausgesetzt sind, ist
dafür federführend. Es fehlt heute vor allem in Städten an Bewegungsflächen. Kinder
können ihre Bewegungsimpulse nicht umsetzen. Moderne Wohn- und Siedlungsbauten vernichten oftmals Spielparadiese von Kindern (Köckenberger 2004, in Paletta
2010, S.15). Kinder im Kindergarten- und Schulalter sind auch von Reizüberflutungen
betroffen. Kind sein ist heutzutage schon regelrecht angeleitet und vorbestimmt. Auch
Kinder müssen heute mit Stresssituationen umgehen können. Ein Vergleich von Spielzeug vor zwanzig Jahren und heute zeigt, welch enorme Veränderungen es in diesem
Sektor gegeben hat. Heute ist Spielzeug weit technisiert. Unser Leben ist starken
Lärmbelastungen durch Industrie und Verkehr ausgesetzt. Kinder werden durch Werbung beeinflusst und geprägt (Luckert 1997, in Paletta 2010, S.15).
27
Dies alles sind weitreichende Faktoren, die nicht primär als Ursache zu sehen sind,
jedoch den Verlauf der Erkrankung ADHS bei Kindern stark beeinflussen können (Sacher 2007, S.11).
28
5. Auswirkungen von Etikettierungen und ihre soziologischen Erklärungen
Kinder, welche von klein auf Schwierigkeiten damit haben, sich gut zu konzentrieren
und Verhaltensauffälligkeiten zeigen, sind ständig mit vielen negativen Sinnbildern
konfrontiert. Schon bei Gleichaltrigen stoßen sie oft auf Ablehnung, was für Kinder die
gerade einmal im Kindergarten sind, sehr schmerzvoll und schwierig sein kann. Kinder
wie diese haben es schwer, sozialen Anschluss zu finden. Sie haben mit Etikettierungen wie „Tollpatsch“ oder „Wackelpeter“ zu kämpfen. Betroffene befinden sich von
klein auf in einer Art „Außenseiterposition“ und müssen damit zu Recht kommen
(Kleeb 2008, S.16).
Die soziale Entwicklung ist durch das regelrechte Abstempeln kolossal beeinträchtigt.
Dies betrifft die gesellschaftliche Ebene und die persönliche Entwicklung. Aus soziologischer Sicht wird das Verhalten des Einzelnen immer als Ganzes gesehen und nicht
als etwas, was nur das Individuum persönlich betrifft. Damit ist gemeint, dass der
Mensch ständig im Austausch mit der ganzen Gesellschaft steht und auch von dieser
stark abhängig ist. Die Aufgabe der Soziologie ist es, Situationen und Gegebenheiten
wie diese zu verstehen und aufzuarbeiten und dann in einen überindividuellen Zusammenhang zu bringen. Für die soziale Realität unserer Gesellschaft gibt es spezielle Aufteilungen. Aufteilungen in die Gebiete des Einzelnen, als sogenannte „Individuelle Ebene“, das Gebiet der sozialen Gruppe, als „Mikroebene“ und jenes der Gesellschaft, als „Makroebene“. Diese Gruppen oder Ebenen sind stark voneinander abhängig und können auch nicht immer klar voneinander unterschieden werden (Gammenthaler 2005, in Kleeb 2008, S.16 f.).
Doch was ist genau unter diesen Ebenen zu verstehen? Die individuelle Plattform
zeigt die Einflüsse auf die Persönlichkeit des betroffenen Individuums. Hier ist von
einer einzigen Person die Rede. Die Mikroebene meint alle Kleingruppen, wie die
Familie, den Freundeskreis, die Peergroups usw. Die größte Ebene, die Makroebene
hat zum Ziel, alle Einflüsse der Gesellschaft oder der Kultur, also gesamtgesellschaftliche Phänomene zu erörtern und aufzuzeigen. Sie arbeitet mit Nationalität, Schule,
Hochschule, Medien, Arbeitsplatz oder der jeweiligen Schichtzugehörigkeit und behandelt diese Einflüsse auf die Gesellschaft (Kleeb 2008, S.17).
29
Abbildung 2: 3 Ebenen
(Eigene Darstellung in Anlehnung an Kleeb 2008, S.17)
Wenn diese drei Ebenen nun auf das Kuriosum ADHS umgelegt werden, so können
diese Auswirkungen in die verschiedensten Bereiche ausarten. In der individuellen
Ebene kann das betroffene Kind kein ideales Selbstbild aufbauen und entwickelt folglich Ängste zu versagen. Die Entfaltung sozialer Kompetenzen ist durch die ständige
Außenseiterrolle, welcher das Kind ausgesetzt ist, nicht gegeben. Es hat absolut kein
positives Selbstwertgefühl und kann sich nicht altersgerecht entwickeln. Wenn die
Einflüsse auf die nächste Stufe, der Mikroebene umgelegt werden, so hat der Betroffene Probleme damit, Freundschaften zu schließen. Durch die aufgedrängte Außenseiterposition, kommt es zu einer Art sozialer Isolation. Es ist schwer, Anschluss zu
finden. Es fällt schwer, sich in Vereine oder Gruppen zu integrieren. Oft kommt es zu
einem sozialen Rückzug der gesamten Familie, weil es in der Öffentlichkeit nur schwer
gelingt, Kontakte aufzubauen. Was passiert in der Makroebene? Die gesellschaftliche
Integration wird verhindert. Für die zukünftige Entwicklung des Kindes ist dadurch eine
positive Berufsausbildung fast unmöglich und dies kann letztendlich Arbeitslosigkeit
bedeuten. Durch ADHS wird einem von der Gesellschaft ein Stempel aufgedrückt, mit
30
dem der Einzelne nur sehr schwer umgehen kann. Es muss nicht sein, dass Kinder
mit ADHS von solchen Etikettierungen betroffen sind. In der heutigen schnelllebigen
und weit entwickelnden Gesellschaft ist diese Tendenz aber häufig zu beobachten
(Kleeb 2008, S.18).
Was bewegt unsere Gesellschaft dazu, Kinder mit ADHS diesen Belastungen auszusetzen? Wie entstehen Etikettierungen in unserer Gesellschaft? Sehr viel hängt vom
Denken allgemein und von der Denkweise unserer Gesellschaft ab. Leben banal betrachtet kann sehr viel bedeuten. Es besteht aus Gedanken, Gefühlen, Handlungen
und Ereignissen. Teile unserer Gedanken rotieren in unserem Kopf, andere helfen uns
Dinge zu verstehen, zu deuten, Ereignisse einzuordnen und folglich Handlungen zu
realisieren. Unsere Wortwahl und unsere Ausdrucksweise sind mitverantwortlich dafür,
wie wir in unserem Alltag handeln, wie wir Denken und vor allem wie wir Dinge wahrnehmen. Durch unsere gelebte Kultur werden uns gewisse Sicht- und Denkweisen
nahegelegt. Die verschiedenen Kulturkreise unterscheiden sich aber stark voneinander. In unserer Gesellschaft ist zu beobachten, dass wir Geschehnisse immer stärker
vom Individuum ableiten, anstatt die Umwelt, unser soziales Umfeld und die damit
verbundenen verschiedenen Gruppen mit einzubeziehen. Diese Art zu denken wird in
der Literatur als „individualisierendes Denken“ beschrieben. Wir denken in Kategorien
und bewerten sehr stark. Alles wird mittels Begriffen, wie „richtig“ und „falsch“ oder
„Schuld“ und „Unschuld“ beurteilt. Dadurch werden Etiketten an uns und an andere
verteilt, was letztendlich wieder bestimmte Verhaltensweisen entstehen lässt. Individuelles Denken meint auch, dass wir sehr stark von individuellen Perspektiven ausgehen und nur wenig Bezug auf unsere Mitmenschen nehmen und ihre Interpretationen
berücksichtigen. Der Mensch beharrt auch zu sehr auf eigene Gefühle und Eindrücke
und betrachtet gefestigte Strukturen, welche eine Situation zum Beispiel beeinflussen,
nur sehr schwach. Unsere Art zu denken ist stark pauschalierend und oberflächlich
(Dechmann & Ryffel 2006, S.16).
Wird diese Art zu denken mit ADHS bei Kindern in Zusammenhang gebracht, so
kommt es nicht selten vor, dass Eltern von Kindern mit Diagnose ADHS verletzende
Phrasen zu Ohren bekommen, wie: „Sie haben versagt und ihr Kind falsch erzogen!“
Das Verhalten von Kindern, die eine etwas träge Erziehung erhalten und das Verhalten bei Kindern mit ADHS ist in manchen Verhaltensweisen durchaus ähnlich zu be31
trachten. Es gibt aber einen beträchtlichen Unterschied. Kinder mit ADHS haben einen
medizinisch diagnostischen Hintergrund (Kleeb 2008, S.19).
Die Menschheit lässt sich auch stark von Alltagstheorien und Stereotypen leiten. Alltagssituationen werden mittels Alltagstheorien erklärt. Ein gutes Beispiel dafür ist das
Schulversagen bei Kindern. Die Alltagssituation „Schulversagen“ wird häufig mit der
Erklärung „angeborene Dummheit“, als Alltagstheorie geschildert. Die Gesellschaft
sucht nicht nach sozialen Einflüssen für das Eintreten von Situationen wie Versagen,
sondern definiert einen Schuldigen für das Geschehen. Individuen reduzieren die
Wirklichkeit und Realität auf einige wenige Merkmale und schränken dadurch die eigentliche Wahrnehmung stark ein. Wir handeln stark nach fertigen Stereotypen die
durch die Gesellschaft definiert werden. Warum sind Stereotypen und Alltagstheorien
im Zusammenhang mit ADHS bei Kindern zu sehen? Weil sie auch unser Denkverhalten zu diesem Thema sehr stark beeinflussen (Kleeb 2008, S.19 f.).
Es gibt verschiedene Ursachen und Schuldige für die momentane Situation, was Ansichten der Gesellschaft bezüglich ADHS betrifft. Ein Faktor sind Medien, welche auch
heute noch Kinder mit ADHS als sogenannte „Horrorkinder“ bezeichnen. Jetzt stellt
sich die Frage, wie sollen jüngere Generationen sich ihre eigene bzw. eine neutrale
Meinung zu diesem Thema bilden, wenn die Gesellschaft nichts anderes zulässt? Wie
sollen betroffene Kinder lernen mit ihrem Handicap richtig umzugehen, wenn sie von
der Gesellschaft regelrecht etikettiert werden? Fragen mit denen sich auch die Gemeinschaft auseinander setzen muss. Bemühungen von betroffenen Kindern, sich
korrekt zu verhalten, werden völlig missachtet. Die Gesellschaft wartet eigentlich nur
darauf, bis es wieder zu Problemen kommt (Kleeb 2008, S.20).
Bei Eltern verursacht die Diagnose ADHS meist ein Wechselbad der Gefühle. Auf der
einen Seite herrscht Erleichterung darüber, dass das Verhalten ihres Kindes nun einen
Namen hat. Sie müssen sich nicht mehr mit dem Gedanken im Kopf herumschlagen,
bei ihrer Erziehung völlig versagt zu haben. Auf der anderen Seite ist die Diagnose
ADHS auch mit Ängsten und Sorgen, über die Zukunft verbunden (Paal
2007, p. 41). Wichtig in dieser Phase ist die Akzeptanz. Betroffene müssen akzeptieren, dass ihr Kind ein Handicap hat, welches es selbst nicht gewollt hat und auch nicht
so einfach wieder loswerden kann. Man muss akzeptieren, dass diese Kinder gewisse
32
Ziele vielleicht niemals erreichen können, aber ihren eigenen Weg gehen und dadurch
andere Qualitäten entdecken. Eltern müssen versuchen nicht das Kind zu verändern,
sondern die Umgebung des Kindes auf das Kind anzupassen (Kleeb 2008, S.21).
33
6. Verhalten bei Diagnose ADHS
Betroffenen wird die Diagnose oft vor die Füße geworfen und diese sind dadurch mit
der Situation überfordert. Wie muss ich mit dem Kind umgehen? Wie kann ich das
Kind optimal fördern? Diese und ähnliche Fragen schwirren den Beteiligten durch den
Kopf. In diesem Kapitel wird näher darauf eingegangen, wie Kinder mit ADHS bestmöglich begleitet und gefördert werden. Die Frage, „Was kann man tun?“ wird in den
Raum gestellt.
Die Literatur weist darauf hin, dass die wichtigste unterstützende Maßnahme jene ist,
dort anzusetzen, wo die Probleme am größten sind. Deswegen gibt es keinen allgemeinen Leitfaden, um Kinder bestmöglich zu fördern. Die Maßnahmen müssen individuell auf das betroffene Kind abgestimmt werden. Die meisten Hilfsmaßnahmen wirken sehr spezifisch. Es ist wichtig, dass Handlungen in verschiedenen Bereichen
getätigt werden, um alle Problembereiche des Kindes abzudecken und optimal zu
unterstützen. Deswegen ist es sinnvoll, diese Maßnahmen auf verschiedene Ansatzpunkte zu verteilen. Diese Möglichkeiten sind die Familie selbst, die Unterstützung im
Kindergarten und in der Schule und die verschiedenen Maßnahmen am Individuum
bzw. dem betroffenen Kind selbst (Döpfner et al. 2000, S.53 f.).
6.1 Verhalten in der Familie
Was kann die Familie tun? Was kann man in der Familie tun? Die Familie, als Gemeinschaft ist Ansatzpunkt bei Kindern mit hyperkinetischen Auffälligkeiten. Es ist
wichtig, Veränderungen in der Familie durchzuführen und Gegebenheiten zu verbessern. Die Familie muss entscheiden, ob die Probleme selbst gelöst werden können
oder ob professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden muss. Professionelle
Unterstützung in Form eines Psychologen zum Beispiel. ADHS ist, wie zuvor schon
beschrieben, äußerst komplex. Die Vorstellung mancher Eltern, ihr Kind für einige
Stunden zu einem Psychologen zu schicken und damit alle Probleme aus dem Weg
zu räumen, ist fehl am Platz. Diesen Erfolg kann es nicht geben. Die Familie muss die
entscheidenden Adaptionen vornehmen, der Arzt oder Therapeut kann dabei nur die
unterstützende Rolle spielen. Aufgabe der Familie ist es, schwierige Situationen und
34
Probleme herauszufiltern und daran anzusetzen. Es können psychologische und für
die Eltern auch wichtige pädagogische Maßnahmen erarbeitet werden, um die Probleme zu vermindern oder sogar aufzulösen. Betroffene Eltern müssen lernen, wie sie
die negativen Auseinandersetzungen verringern und positive Verhaltensweisen fördern. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Kinder in diesem Prozess miteinbezogen
werden. Je älter Kinder sind, desto aktiver sollten sie integriert werden. Als Resümee
kann gesagt werden, dass die Familie viel dazu beitragen kann, Verhaltensauffälligkeiten bei Kinder zu verringern. Im Mittelpunkt dabei steht die Familie selbst (Döpfner et
al. 2000, S.55 ff.).
6.2 Verhalten im Kindergarten und in der Schule
Auch hier ist es wichtig, Maßnahmen richtig und vernünftig einzusetzen. Es herrscht
erst Handlungsbedarf, wenn das Kind in den Bereichen Kindergarten oder Schule
Auffälligkeiten zeigt. Es ist durchaus möglich, dass Kinder leichte Auffälligkeiten in der
Familie zeigen, aber ausgeglichen und neutral von der Schule nach Hause kommen.
Wenn jedoch Auffälligkeiten vorhanden sind, ist es wichtig, die richtigen Maßnahmen
zu setzen. Dazu kann auch wieder ein Therapeut zur Unterstützung und optimalen
Förderung herangezogen werden. Die Betreuungsperson im Kindergarten bzw. die
Lehrerin in der Schule kennt das Kind auch sehr gut und kann entscheidend bei der
Ausarbeitung von fördernden Maßnahmen mitwirken. Berichte zeigen, dass es für
Eltern sehr schwierig ist, in diesen Situationen neutral zu bleiben und sich nicht schützend vor sein Kind zu stellen. Es ist mühsam zu akzeptieren, dass das Kind auch im
Kindergarten und in der Schule Unterstützung braucht (Döpfner et al. 2000, S.57 ff.).
Auch die Thematik „Zurückstellung“ von Kindern mit häufigen Auffälligkeiten von der
Einschulung, ist ein sehr heikles und problematisches Thema. Es kann durchaus sinnvoll sein mit der Einschulung zu warten und während dieser Zeit das Kind optimal auf
die folgende Zeit vorzubereiten und gezielt zu fördern. Dazu gibt es oft sogenannte
„Schulkindergärten“ in denen Betreuer sich besser und länger mit den Kindern beschäftigen können und dadurch Fortschritte sichtbar werden. Die Akzeptanz bei Eltern
ist wiederum nur schwer zu erreichen. Kinder mit Diagnose ADHS haben häufig mit
Leistungsproblemen und vor allem Verhaltensproblemen zu kämpfen und dadurch ist
35
es wichtig, darauf einzugehen und damit die Chance auf Verbesserung zu bewahren
(Döpfner et al. 2000, S.62 ff.).
6.3 Was soll mit dem Kind passieren?
Die mit Abstand kontroverseste Frage zum Thema ADHS ist die Frage, ob und wenn
ja, welche Behandlung sinnvoll und fördernd für das betroffene Kind ist. Die Thematik
„Behandlung von ADHS“ wird so breit diskutiert, dass es heute fast nicht möglich ist,
eine richtige Aussage zu finden, um die Frage zu beantworten. Die bisher beschriebenen Verhaltensmaßnahmen zielen stark auf die Familie und auf Vertrauenspersonen
ab. Lehrer und Kindergärtner werden miteinbezogen, um das Verhalten des Kindes im
realen, alltäglichen Lebensumfeld zum Positiven zu verändern. Eigentlich ist dieses
Verhalten gegensätzlich, denn das Problem hat das betroffene Kind und nicht die
Eltern oder der Kindergärtner bzw. Lehrer. Durch Forschung konnte bewiesen werden,
dass Maßnahmen, die unmittelbar in der Umgebung des Kindes ansetzen, die besten
Outcomes aufweisen. Deswegen ist die Arbeit mit dem Kind persönlich nicht das Entscheidende, sondern die Adaption der Umgebung (Döpfner et al. 2000, S.75 ff.).
36
7. Soziologie von Gesundheit und Krankheit im Vergleich mit dem
Phänomen ADHS
In diesem Abschnitt wird das Phänomen ADHS von einem anderen Blickwinkel aus
betrachtet. Welche Erklärungen gibt es von soziologischer Seite dafür, dass ADHS
heute in unserer westlichen Gesellschaft so stark verbreitet ist?
Die Soziologie des Körpers erforscht, in welcher Art und Weise unser Körper durch
verschiedenste soziale Einflüsse betroffen ist. In der Literatur wurde als prädestiniertes Beispiel, die Entwicklung von Magersucht in unserer Gesellschaft genannt. Im
europäischen Raum herrschte im 17. Jahrhundert das ideale Frauenbild als ein wohlgerundetes. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand die Vorstellung, dass
Schlankheit ein begehrenswertes Merkmal für das Idealbild der Frau sein kann. Heute
ist diese Thematik so weit fortgeschritten, dass nicht nur in Europa die Zwangsvorstellung herrscht, schlank sein zu müssen. Auch die heute so stigmatisierte Krankheit
ADHS bei Kindern hat eine durchaus vergleichbare Geschichte. Heute sind etwa 5-12
Prozent aller Kinder davon betroffen. Wie kann es sein, dass durch gesellschaftliche
Veränderungen die Prävalenz diese oder ähnliche Zahlen annimmt (Giddens et al.
2009, S.287 f.)?
„Als Mensch sind wir körperliche Wesen – wir alle haben einen Körper. Doch
der Körper ist nicht etwas, dass wir bloß haben, und es ist nicht bloß etwas
Psychisches, dass außerhalb der Gesellschaft existiert. Unsere Körper werden
von unseren sozialen Erfahrungen in profunder Weise beeinflusst, genau wie
durch die Normen und Werte der Gruppen, denen wir angehören.“ (Giddens et
al. 2009, S.288)
Der menschliche Körper trennt sich immer mehr von der „Natur“ ab. Darunter sind die
umgebene Umwelt und biologische Rhythmen zu verstehen. Der Körper des Individuums ist mehr und mehr der Wissenschaft und der Technologie unterworfen. Wissenschaft und Technologie beeinflussen uns im 21. Jahrhundert schon in beträchtlicher Weise. Die Reichweite ist enorm, von diversen Maschinen bis hin zu erzwungenen Diäten und damit verbundenen, neu entstehenden Dilemmata. Der Mensch bekommt nun die Konsequenzen zu spüren (Giddens et al. 2009, S.288).
37
Warum hat sich auch ADHS zu dem weiterentwickelt, was es heute ist? Die Literatur
weist darauf hin, dass ADHS früher in unserer Gesellschaft nicht als Krankheit gesehen wurde. Heute bekommen Betroffene einen Stempel aufgedrückt. Vor Jahrzehnten
wurden Kinder die Auffälligkeiten zeigten, als lebhaft bezeichnet. In der heutigen
schnelllebigen Gesellschaft wird bei diesen Kindern ADHS diagnostiziert. Die Literatur
zeigt, dass ADHS nur ein Beispiel für viele plötzlich entstandene mysteriöse Leiden
und Krankheiten ist, die in Europa entstanden sind und ganze Gruppen von Menschen
infiziert haben. <http://www.adhs-schweiz.ch/gesunde_adhs.htm>
Die Globalisierung und der enorme soziale Wandel, dem unser Körper ausgesetzt ist,
sind mitverantwortlich für diese Situation. Soziologen benennen diese Entwicklung als
„Sozialisierung der Natur“. Durch die Natur werden uns Phänomene vorgegeben, mit
denen wir umgehen müssen. Heute sind viele dieser Phänomene sozial geworden,
sodass sie von unseren eigenen gesellschaftlichen Entscheidungen abhängen (Giddens et al. 2009, S.289 f.).
38
8. Schlussfolgerung, Ausblick
Die Materie ADHS bei Kindern wird heute ausgesprochen kontrovers und breit diskutiert, wie selten eine alternative Thematik. Die Meinungen gehen soweit auseinander,
dass es nur ungemein schwer möglich ist, sich als neutraler Beobachter seinen eigenen Standpunkt zu definieren. Die Entwicklung, welche diese „Krankheit“ durchlebt
hat, ist enorm groß und vielseitig.
Wissenschaftler kritisieren stark, dass bis heute keine deutliche Abgrenzung definiert
wurde, ab wann Auffälligkeiten bei Kindern als krank einzustufen sind bzw. Auffälligkeiten als gesund gesehen werden.
<http://www.adhs-schweiz.ch/adhs_krankheit3.htm>
Die Diagnosestellung ist sehr schwierig und darf nur von Experten durchgeführt werden. Es gibt unterschiedliche Expertenmeinungen dazu, ab wann Diagnosestellungen
sinnvoll und richtig sind. Der Spielraum in diesem Bereich ist enorm breit. Die Gesellschaft selbst hat eine sehr unsichere Meinung zum Thema ADHS. Viele wissen wenig
darüber, und nur wenige wissen viel über ADHS. Es gibt Kinder die aktiv, aufgeweckt,
quirlig, zappelig und unruhig sind. Muss dieses Verhalten als krank eingestuft werden?
Die Forschung liefert viele Ansichten. Breit angelegte Untersuchungen und langjährige
Forschungsarbeiten haben bis heute noch keine exakten Ursachen für ADHS gefunden. Es gibt Modelle über Ursachen von ADHS, diese basieren aber meist auf Vermutungen. Funktionsstörungen des Gehirns sind mittels EEG nur schwer nachzuweisen,
und die Auswertung gestaltet sich als äußerst kompliziert. Bis heute war es nicht möglich, diese Ursache wissenschaftlich zu untermauern. Der genetische Aspekt spielt
aller Wahrscheinlichkeit eine größere Rolle. Aktuell versucht die Forschung Erbinformation zu identifizieren, welche für die Entstehung von hyperkinetischem Verhalten
verantwortlich sind. Eine weitere Ursache, die Ernährung in Zusammenhang mit
ADHS bringt, ist heute weitgehend widerlegt. Ein sehr wichtiger Punkt bei Ursachen
von ADHS sind psychosoziale Faktoren. Unter diesen Faktoren sind zum Beispiel,
ungünstige Familienverhältnisse, nicht konsequente Erziehung, die entstandene Mediatisierung, der oft vorhandene Bewegungsmangel und die vielen Reizüberflutungen,
denen Kinder in der heutigen Zeit ausgesetzt sind, zu verstehen. Wird die Diagnose
ADHS jedoch gestellt, so hat diese Diagnose oft schwerwiegende Folgen für das be39
troffene Kind, inklusive seiner Umgebung. Dem Kind wird ein Stempel aufgedrückt,
und es wird in eine Art „Schublade“ gesteckt. Von unserer Gesellschaft wird diesen
Kindern Ablehnung entgegengebracht. Die Belastungen und Auswirkungen sind oft
fatal. Folgen sind, totale Abgrenzung nach außen, soziale Abkoppelung und schlechte
Zukunftsperspektiven, was Bereiche wie Bildung und Arbeit betrifft.
Viele Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten werden heute intensiv kritisiert. Im
Speziellen die medikamentöse Behandlung mittels Ritalin. Trotzdem lassen sich jährlich steigenden Zahlen von Verschreibungen dieser Medikation beobachten. Die Literatur weist auch darauf hin, dass es speziell für Eltern und Menschen in der unmittelbaren Umgebung sehr schwer ist, hyperkinetische Auffälligkeiten zu erkennen, zu
akzeptieren und auch richtig darauf zu reagieren. Die Familie selbst spielt hier eine
entscheidende Rolle. Veränderungen müssen in der Familie vollzogen werden. Der
Kindergarten und die Schule sind auch mitbeteiligt daran, auffälliges Verhalten von
Kindern zu vermindern. Maßnahmen müssen am richtigen Punkt ansetzen und vernünftig aufgebaut sein.
Interessant ist die Gegenüberstellung von ADHS mit soziologischen Ansichten und
Entwicklungen. Die Literatur zeigt auf, dass ADHS nicht immer als Krankheit galt.
Früher wurden Kinder mit Auffälligkeiten einfach als aktivere und lebendigere Individuen bezeichnet. Heute ist ein Großteil von Experten und auch der Gesellschaft davon
überzeugt, dass diese Kinder als krank einzustufen sind und dementsprechend behandelt werden müssen. Sie werden mit Medikamenten wie Ritalin vollgepumpt und
ihre hyperaktiven Auffälligkeiten auf diese Weise eingeschränkt. Die Soziologie hinterfragt diese Entwicklung und liefert verschiedenste Erklärungen. Es ist schwierig abzugrenzen, ab welchem Zeitpunkt ein Verhalten als krank einzustufen ist. Ansichten über
Gesundheit und Krankheit sind heute sehr stark von Kultur und Sozialisation beeinflusst. „Krankheit“ wird anhand von objektiven Zeichen beurteilt und durch eine dementsprechende Definition bestärkt. Dadurch kann klar zwischen krank und gesund,
differenziert werden. Bis heute gibt es aber keine empirischen Forschungsergebnisse,
welche das Phänomen ADHS klar eingrenzen und auf den Punkt bringen. Die Entscheidung über die Diagnose ADHS liegt also beim Experten, sprich dem Arzt.
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In Zukunft wird dieses schon aktuelle Thema noch präsenter werden und Meinungen
werden mit sicherer Wahrscheinlichkeit noch breiter diskutiert und hinterfragt werden.
Die Aufgabe der Forschung ist es, in nächster Zeit für Klarheit zu sorgen. Die Aufgabe
der Gesellschaft müsste es sein, die Entwicklung dieser modernen Krankheit zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu diesem Thema zu bilden, um nicht stigmatisierend zu handeln und Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten zu etikettieren und somit
ihr junges Leben zum Negativen zu beeinflussen. Es muss eine gewisse Akzeptanz in
den Köpfen unserer Mitmenschen gegeben sein, um dadurch Auswirkungen für Betroffene zu minimieren. Das große Fragezeichen ist, ob diese Einschätzungen und
Forderungen umgesetzt werden können?
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Literaturverzeichnis
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