• NEUERSCHEINUNGEN • überlieferte Anzahl der jeweils hergestellten Flöten und die Angabe der heute noch vorhandenen Originalflöten. Mit dieser Darstellung leistet der Autor einen bemerkenswerten und neuartigen Beitrag zum wissenschaftlichen Forschungsstand des Blasinstrumentes. Einen gänzlich anderen Zugang und Blick auf das Instrument liefern Karsten Erik Ose und Dorothee Oberlinger mit ihren »Betrachtungen zum stilistischen Wandel der Interpretationen hochbarocker Blockflötenmusik von 1960 bis 2000«. Obwohl die Autoren gleich zu Beginn ihrer Ausführungen angeben, dass im Zentrum ihrer Arbeit der – verständlicherweise nur schwerlich objektive – Vergleich von Schallplattenaufnahmen der vergangenen Jahrzehnte steht, regt der knappe Beitrag sehr zur eigenen Reflexion an. Zwar fehlen dem Originalbeitrag durch seine nunmehr schriftliche Form die erwähnten Klangbeispiele aus dem mündlichen Vortrag – sowohl in Form von Tonträgern als auch durch die eigene Interpretation der Autoren –, aber gerade durch die vielen Klanghinweise wird der Leser unmittelbar zum Selbststudium angeregt. Obwohl alle abgedruckten Referate auf sehr informative und nachvollziehbare Weise den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung wiedergeben und für die Musiker der historischen Aufführungspraxis von großem Interesse sein sollten, sei stellvertretend für alle hier nicht explizit angesprochenen Beiträge auf den englischsprachigen Aufsatz von Rachel Brown verwiesen. Die Autorin setzt sich auf gut 20 Seiten mit dem wissenschaftlich vielfach erörterten Problem der Flötenkadenzen zu Mozarts Konzerten auseinander. Bereits die auffällige Titelbezeichnung »To breathe or not to breathe in Cadenzas for Mozart – that is the question« verweist auf einen lebendigen, lebhaften Diskurs über die Formgestaltung von Kadenzen in den beiden Flötenkonzerten. Brown stellt eine beachtliche Anzahl an Thesen auf, die hier nicht alle aufgeführt werden können. Durch ihre konsequenten, mitunter nicht immer ganz unkritischen Gedankengänge kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass man sich zwar bei der Komposition und Gestaltung einer eigenen Kadenz zu Mozart an jenen Quellen orientieren kann, welche in theoretischer Hinsicht Kadenzen thematisieren. Jedoch stellt Brown fest, dass Mozart in seinen überlieferten Klavierkadenzen mitunter deutlich von solchen traditionellen, theoretischen Schemata abweicht. Dadurch legitimiert die Autorin die Ausgestaltung von Kadenzen späterer Epochen, die meist hinsichtlich ihrer Länge, den vielen harmonischen Modulationen und auch dem technischen Anspruch nicht mehr im engen Rahmen der zeitgenössischen Musiktheorie liegen. Wie auch viele andere der Referenten betont Rachel Brown, dass oftmals nicht nur das Quellenwissen allein zum Verständnis und zur lebendigen Interpretation von musikalischen Werken der Vergangenheit ausreicht. Letztendlich kann dem Leser zwischen den Zeilen der abgedruckten Tagungsbeiträge bewusst werden, dass sich die historisch informierte Aufführungspraxis hinsichtlich der Traversflöte und auch der lange Zeit sehr stiefmütterlich behandelten Blockflöte so weit im Musikleben etabliert hat, dass heutzutage bereits vielfach ohne jegliche Quellenkenntnis und selbst auf modernen Instrumenten stilgerecht interpretiert wird. [Marion Beyer] Thomas Schipperges (Hg.): George Onslow Studien zu seinem Werk, Hildesheim (Olms) 2009 I n den letzten Jahren ist erfreulicherweise eine gewisse Konjunktur von deutschsprachigen musikwissenschaftlichen Publikationen zu in Frankreich wirkenden Komponisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu registrieren. Standen lange vor allem Frédéric Chopin, Mauri- ce Ravel und Claude Debussy einerseits, die Welt der Pariser Oper mit ihren führenden Protagonisten andererseits im Zentrum hiesiger historiographischer Aufmerksamkeit, ergänzt um die Beschäftigung mit der Rezeption deutscher Komponisten in Frankreich, allen voran Ludwig van © DIE TONKUNST, Oktober 2010, Nr. 4, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 575 • NEUERSCHEINUNGEN • Beethoven und Richard Wagner, so haben mittlerweile eine Reihe von Komponisten Aufmerksamkeit erfahren, deren – wenn auch mitnichten alleinige – Betätigungsfelder sich im Bereich instrumentaler Musik, Kirchenmusik oder kleiner Formen wie Kunstlied konzentrierten und die zudem bisweilen als wirkungsmächtige Pädagogen mit prominenten Schülerkreisen wirkten. Man denke etwa an die jüngeren Veröffentlichungen zu César Franck und Gabriel Fauré. In diesem Kontext steht das vorliegende Buch zu George Onslow (1784–1853), herausgegeben von Thomas Schipperges als erster Teil einer neuen Schriftenreihe der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig, und 2009 erschienen in optisch wie graphisch sehr ansprechend gestalteter Form beim Hildesheimer Georg Olms Verlag. Das Buch schließt zugleich an einen gewissem Auftrieb der Onslow-Forschung in den letzten Jahren an, in deren Zentrum vor allem zwei französische Arbeiten von Baudime Jam und Viviane Niaux (beide 2003). Die letzte umfängliche Onslow-Studie in Deutschland (Christina Nobach: »Untersuchungen zu Georg Onslows Kammermusik«, Kassel 1985) liegt dagegen bereits ein Vierteljahrhundert zurück. Umso begrüßenswerter ist das Unterfangen der Autoren, die sich mit der thematischen Disposition der hier versammelten, nicht zuletzt auf Basis des runderneuerten französischen Forschungsstandes verfassten Aufsätze zuvorderst darum bemühen, eine Einführung in die verschiedenen Arbeitsfelder Onslows zu geben und so ein fundiertes Gespür für die Vielfalt wie zugleich für die stilistischen Eigenheiten und kreativen Schwerpunkte dieses Künstlers zu vermitteln. Der vorliegende Band ist dabei der erste von angekündigten zweien. Der ausstehende Komplementär soll insbesondere Werkverzeichnis und Bibliographie bereithalten. Der Mangel an Forschungslage zu einem Komponisten wäre nun für sich allein genommen freilich eine historiographisch schwache Motivation, ihm gesteigerte Aufmerksamkeit zu Teil werden zu lassen. Es ist schon augenfällig, wie bescheiden Onslows Rezeption bislang jenseits kleiner Anhängerkreise ausgebildet war. Große Überblickswerke zum 19. Jahrhundert verzichten z. B. regelmäßig darauf, Onslow auch nur zu erwähnen. Die Frage nach den Gründen hierfür drängt sich natürlich auf (der Herausgeber hält in seiner Einleitung auch einige Thesen dazu bereit). Dass Liebhabervereinigungen Onslow als »Le Beethoven français« (Association George Onslow) bzw. »The French Beethoven« (The George Onslow Website) bewerben, lässt zwar aufgrund der Qualität des Vergleichs innehalten, doch aus demselben Grund unmittelbar an dessen Ernsthaftigkeit zweifeln, gerade mit Blick auf Onslows frappierende Nichtrezeption heutzutage. Doch es war bereits 1829 niemand geringeres als Hector Berlioz, der verkündete, dass Onslow »seit Beethovens Tod das Zepter der Instrumentalmusik in Händen« halte. Dies mag einen Hinweis geben, dass Onslows gegenwärtige Rezeption im auffallenden Gegensatz zu jener zu seinen Lebzeiten steht. Obwohl nachdrücklich ein Einzelgänger, wirtschaftlich unabhängig vom musikalischen Establishment, namentlich dem von Paris, wurde sein Wirken über Frankreichs Grenzen hinweg wahrgenommen. Viele seiner Werke fanden wohlwollende Aufnahme durch die zeitgenössische Presse und Kritik (wofür einige Beiträge Beispiele auch aus deutschen Zeitschriften des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts bringen) und wurden von etablierten Verlagshäusern publiziert. Onslows internationales Renommee lässt sich auch unschwer an Ehrungen ablesen. 1829 wurde Onslow z. B. gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdy nach Carl Maria von Weber 1826 zum erst zweiten Ehrenmitglied der Philharmonic Society of London ernannt, 1836 zum Ehrenmitglied der Wiener Gesellschaft für Musikfreunde und 1842 in der Nachfolge des verstorbenen Luigi Cherubini zum Mitglied der Pariser Académie der Beaux-Arts berufen. Ein Œuvre, das nicht zuletzt vier Bühnenwerke, vier Symphonien, 34 Streichquintette, 36 Streichquartette und zehn Klavier- © DIE TONKUNST, Oktober 2010, Nr. 4, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 576 • NEUERSCHEINUNGEN • trios umfasst, tut das seine dazu, neugierig darauf zu machen, mehr über diesen Künstler und die Hintergründe seiner derart auffallend gebrochenen Rezeptionen zu erfahren. Das vorliegende Buch widmet sich der Aufgabe mit einer kurzen Einleitung, der sodann insgesamt neun Aufsätze folgen, welche durchweg nicht mit Tabellen, Abbildungen, Notenbeispielen und Textauszügen (bei Vokalwerken) sparen, was bei einem derart schlecht erschlossenen Schaffen eines Komponisten wie in Onslows Fall unbedingt sachdienlich erscheint. Gemeinsam ist den Texten auch der konkrete analytische Zugriff, der von einer allgemeinen Vorstellung des Werkbereichs rasch in musikalische Details und damit in Onslows Musik hinein strebt. Auffallend an der Disposition des Bandes ist, dass der Akzent nicht auf der Streicherkammermusik liegt, was angesichts der quantitativen Schaffensund frühen Rezeptionsschwerpunkte vielleicht zu erwarten stand. Gleich drei Artikel (Muriel Boulan zu den Symphonien Nr. 1 und 2, Bert Hagels zu Nr. 3 und Stefan Keym zu Nr. 4) arbeiten das symphonische Schaffen auf, zwei weitere (Arnold Jacobshagen und Herbert Schneider) widmen sich Onslows Musiktheaterschaffen, einer (Marianne Stoelzel) führt in das Klavierwerk ein. Nur ein Drittel des Bandes ist der Kammermusik vorbehalten und nach zwei Aufsätzen zur Klavierkammermusik (Thomas Schmidt-Beste und Gottfried HeinzKronberger) verbleibt überhaupt nur einer für die 36 Streichquartette (Friedhelm Krummacher). Die 34 Streichquintette stehen sogar noch aus. Diese Konzeption der thematischen Akzente des Buches macht das Bemühen der Verantwortlichen sichtbar, die Onslow-Rezeption auf eine möglichst breite Basis zu stellen und auf andere Betätigungsfelder des Komponisten abseits der Streicherkammermusik aufmerksam zu machen: Angesichts dessen, dass – soweit eine Onslow-Rezeption in Deutschland heute überhaupt festzustellen ist – sich diese auf die Streicherkammermusik konzentriert, ein durchaus sinnvolles, die Forschungslage angemessen ergänzendes Unterfangen. Die Beschäftigung mit Onslow lohnt aus vielerlei Gründen, u. a. (1.) aufgrund der – in diesem Band ausführlich behandelten – spezifischen Qualitäten seiner Musik, (2.) wegen seiner Stellung unter den Komponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Sicht seiner Zeitgenossen, (3.) als Ausweis der sich im Wandel und bald schon im Schwinden befindenden, von Amateurmusikern geprägten und daher von Komponisten mit entsprechenden spieltechnischen Rücksichten versorgten Salon- und Privatkonzertkultur dieser Zeit, oder (4.) schließlich mit Blick auf die große Welle erstrangiger französischer Instrumentalmusik – symphonische Literatur, aber vor allem Kammerund Klaviermusik – nach 1870/71 als Hinweis auf entsprechende, zu ihrer Zeit vor allem eben auch wahrgenommene Vorläufer in Frankreich selbst. Hinsichtlich des letzten Punktes denke man etwa an die zahlreichen ausgezeichneten Quintette für Klavier und Streicher der langen Jahrhundertwende wie die Werke von Cras, Dupont, Hahn, Huré, Franck, Fauré, d’Indy, Le Flem, Pierné, Schmitt, Vierne oder Widor, denen neben den Stücken von Farrenc (1840), Saint-Saëns (1855) Gouvy (1861) und Castillon (1864) eben auch die beiden eleganten, klassizistisch gehaltenen Stücke von Onslow, op. 70 (1847) und op. 76 (1849, eine Bearbeitung der Symphonie Nr. 4 G-Dur op. 71) vorausgegangen waren (sie werden eingehend von Gottfried Heinz-Kronberger besprochen). In diesem Sinne bekommt man hier nicht nur einen instruktiven Einstieg in Onslows kompositorisches Wirken geboten, sondern zugleich eine vergleichsweise wenig beachte Seite der Musikkultur Frankreichs in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Man darf auf den angekündigten Folgeband gespannt sein. [Frédéric Döhl] © DIE TONKUNST, Oktober 2010, Nr. 4, Jg. 4 (2010), ISSN: 1863-3536 577